Читать книгу Märchen für Dich - Celina Weithaas - Страница 6
ОглавлениеWer den Thron besteigt, muss sich selbst vergessen, um nur ihm zu dienen
Oder das Märchen vom Froschkönig
Liu steht mit dem Rücken zu mir, die dunklen Haare wirr und die Muskeln zum Zerreißen gespannt. Seine Hände liegen auf dem schlichten, silbernen Bilderrahmen, der das Gemälde des Froschkönigs behütet. Hohe Nadelbäume umgeben einen kühlen Brunnen. Mit dem Rücken zum Betrachter kniet die Prinzessin, das pastellfarbene Kleid um sich herum ausgebreitet wie eine Blüte.
Der Frosch sitzt mit ihr auf Augenhöhe, eine goldene, schwere Kugel neben sich. In verschnörkelten Lettern steht auf dem Bilderrahmen: In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat. Ich liebäugle mit diesem Märchen, seitdem ich den Korridor das erste Mal betreten habe. Es ist einzigartig, es ist verlockend und es ist eines meiner Liebsten. Seit jeher. Die Geschichte der Prinzessin, die den Prinzen rettet. Die Geschichte einer bösen Zauberin, deren Magie einfach im Nichts verpuffte. Unter gewöhnlichen Umständen würde ich aufgeregt auf den Fußballen auf und ab wippen.
Je länger ich auf die eingeritzten Buchstaben blicke, desto mehr verzehre ich mich danach, die fadenscheinige Barriere zu durchschreiten. Auf der anderen Seite wartet das Glück auf mich. Oder zumindest eine Ahnung dessen.
Liu sieht mich über seine Schulter hinweg an, ein gequältes Lächeln auf den Lippen. Er ist ein wandelndes Mahnmal. Er erinnert mich an die finstere Seite der Märchen. An ein düsteres Versprechen, das im Herzen einer kleinen Kapelle gesprochen wurde. Schützend schlinge ich die Arme um mich. Die Temperatur in dem regenbogenhellen Korridor scheint drastisch zu sinken. Dieses Märchen hier wird besser werden. Schöner. Der Froschkönig begleitet mich, seitdem ich denken kann. Das zarte Mädchen auf dem Gemälde würde niemals zulassen, dass irgendwem etwas zustößt.
„Du hast lange gebraucht“, stellt Liu fest. Seine Stimme klingt anders. Leer. Blechern. Unwillkürlich strecke ich eine Hand nach ihm aus und verschränke unsere Finger miteinander. Die Hitze seiner Berührung sinkt in meinen Körper. Wie eine zweite Haut haftet der Geruch nach Wald und frischer Luft an ihm. Hat er den Morgen im Garten verbracht?
„Aufwachen, duschen“, zähle ich auf und versuche mich an einem leichten Kichern. Ich scheitere kläglich. Liu gibt einen zustimmenden Laut von sich. Seine Lippen wirken unnatürlich rot. Hat er sie sich nervös zerbissen? Nachdenklich sehe ich ihm in die bernsteinklaren Augen. „Hast du gut geschlafen?“
„Keine Sekunde.“ Liu umklammert meine Hand krampfhaft. Mein Herz stockt. Beinahe fühlt es sich an, als glaubte er, dass ich verpuffe, wenn er nur einen Zentimeter von meiner Seite weicht. „Uns bleiben ungefähr drei Wochen.“ Er räuspert sich, den Daumen nervös über meine Haut kreisend. „Ich glaube nicht, dass ich je wieder schlafen kann.“
Ein glühendes Band legt sich um meine Kehle und schnürt sie zu. Drei Wochen. Ein Wimpernschlag.
Schwer schluckend stelle ich mich auf die Zehenspitzen und hauche ihm ein Kuss auf die Lippen. „Du hättest bei mir schlafen können“, flüstere ich.
Eine tiefe Falte gräbt sich zwischen Lius Brauen. „Das wollte ich“, sagt er und hält meine Hand fester. Die Knochen scheinen aneinander zu schaben. Es kümmert mich nicht. „Das wollte ich wirklich. Nur hat es sich falsch angefühlt, wann immer ich mich dir genähert habe. Als würde ich dir wehtun, wenn ich nur da bin.“ Die Verzweiflung in seinen bernsteinklaren Augen raubt mir den Atem. Wo ist das Lachen hin? Seine beißende Arroganz? Lius hochmütiger Stolz. „Es war einfach verrückt, verstehst du? Ich konnte nicht zu dir gehen.“ Er lehnt seine Stirn gegen meine und streichelt mir mit dem Daumen erschreckend sanft über die Wange. „Ich konnte es nicht, Adeline.“
Bebend schlinge ich die Arme um ihn. In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, da waren wir glücklich. Jede Freude scheint zu purer Qual zu verkümmern, die sich grau und staubig in unsere Sinne frisst. „Alles ist gut“, belüge ich uns und küsse Liu scheu auf das Kinn. „Alles wird gut.“ Er nickt und atmet tief durch. Wie lange? Wie lange werden wir in dieser Lüge leben können, ohne davon zerfressen zu werden? Ich stehle mir einen Kuss. Süß schmeckt er und nach Sicherheit. Wir werden es ertragen. Lang genug, damit alles gut wird.
„Ich liebe dich“, murmelt Liu und hält mich so fest, als würden die drei Wochen in dieser Sekunde vorübersein, wenn er mich jetzt loslässt. „Ich liebe dich und ich liebe dich und ich werde dich ewig lieben.“ Das Regenbogenlicht küsst sein Gesicht. Weiche Farben stehlen ihm einen Teil der Anspannung. Sanft streichle ich ihm über die Stirn.
„Ich liebe dich und ich liebe dich und ich liebe dich und ich werde dich bis in alle Ewigkeit lieben“, schwöre ich Liu. Dabei rinnt uns unser Immer in dieser Sekunde durch die tauben Finger.
Lius Nicken wirkt ebenso gefasst wie zu der Sekunde, als Dante uns schmal anlächelte und verschwand, die düsterste aller Wahrheiten zurücklassend. „Glaubtest du wirklich, du hättest eine Zukunft, während du über den Wolken lebst?“ Dantes letzte Worte geistern mir durch die Sinne. Habe ich darauf gehofft? Oder habe ich einfach verlernt, an das Morgen zu denken? Wir leben in diesem Moment und bis vor Kurzem war das mehr als genug.
Liu macht keine Anstalten, sich aus unserer Umarmung zu lösen. Sein Herz schlägt sicher und regelmäßig über meinem. Befinden wir uns im Auge des Sturms oder warten wir noch darauf, dass er losbricht? Haben wir den Sturm längst überstanden und versinken wir in den Trümmerbergen?
„Wir sollten in das Märchen verschwinden“, wispere ich.
„Sollten wir?“
Mein tapferer, tapferer Held wirft mir einen zweifelnden Blick zu. Sprang Liu einst mit dem Kopf zuerst in den Kampf, scheint er nun wankend am Rand des Schlachtfeldes zu verharren, bereit jederzeit die Flucht zu ergreifen.
„Sollten wir“, bestätige ich leise und löse mich behutsam von ihm. Ein zartes Frösteln kriecht durch meinen Körper. Wird es sich so anfühlen, wenn ich Liu verliere? So endgültig? So eisig kalt.
Als ich meine Hand auf das Ölgemälde lege, rührt Liu sich nicht. Wir stehen starr nebeneinander. Unsere Träume verblühen vor unseren Augen, doch anstatt sich danach mit Vogelschwingen in die Lüfte zu erheben, brennen sie nieder und verlieren sich im düsteren Erdreich.
„Liu?“, wispere ich und werfe ihm ein zaghaftes Lächeln zu. „Kommst du?“
Er steht direkt hinter mir, eine Hand beschützend auf meiner Hüfte, während er die andere über meine auf das Märchen presst. Weich fühlen sich die Farben des Ölgemäldes unter meinen Kuppen an. Kühl. Ich versinke in dem Gefühl. Der Brunnen verschwindet mitsamt dem Froschkönig unter unseren miteinander verschränkten Fingern. Ich glaube, Lius Puls durch meinen Körper donnern zu fühlen. Der Regenbogen zu unseren Füßen fließt in demütigender Schönheit unter uns dahin. Er leuchtet, er funkelt, er lebt und scheint unendlich, genährt von tausend Hoffnungen und Träumen, während das Märchen uns behutsam die Handflächen küsst.
Ich glaube, die Kiefern riechen zu können, die mit dunklem Grün auf die Leinwand gebannt wurden, und ich höre ein leises Plätschern wie von Wasser, das gegen Stein spielt.
Ein neues Schicksal wartet auf uns. Eines, das wir retten können und werden.
Eines, das nicht zu unserem werden wird.
Eine seltsame Schwerelosigkeit schlingt ihre behutsamen Arme um mich und ich glaube zu fliegen in der Unendlichkeit des Unmöglichen. Für einen Moment trennt mich das pure Glücksgefühl von Liu, dann berühren meine Füße neuen Boden.
Er fühlt sich weich unter den Sohlen der Schuhe an und der Duft des Waldes lässt mich seufzend tief einatmen. Vögel zwitschern fröhlich und tanzende Sonnenstrahlen stehlen sich über die spiegelglatte Oberfläche eines malerischen Sees. Unter weißen und rosa Seerosen huschen goldene und silberne Fischchen entlang. Die Kiesel liegen sauber und schimmernd am sandigen Grund und beschützen die halb geöffneten Süßwassermuscheln zwischen sich. Ein Frosch bläst die Backen auf und wirft Liu und mir von seiner Seerose aus einen vorwurfsvollen Blick zu.
Neben mir räuspert Liu sich und verschränkt erneut seine Finger mit meinen. An seiner Hüfte hängt der verdammte Degen. Hatten wir nicht gesagt, dass er auf den künftig verzichtet? Augenrollend lehne ich den Kopf gegen seine Schulter.
Vor uns baut sich ein gigantisches Schloss auf. In sanften Wellen fließen die Hügel auf es zu und die Sonne wirbelt um die hohen, mit Fahnen bestückten Türme. Aus der Entfernung kann ich das Wappen nicht richtig erkennen. Prangt darauf ein Löwe? Die goldene, rote und schwarze Zier um das Herzstück herum blendet mich selbst aus der Entfernung. „Hier lebt also die kleine Prinzessin“, bricht Liu das Schweigen, einen Arm schützend um mich gelegt. „Sieht nicht so aus, als gäbe es hier viel zu tun. Also als würde hier überhaupt demnächst ein Märchen stattfinden.“ Liu reibt sich über den Hinterkopf. „Du musst die Prinzessin dazu bringen, in der Nähe des Brunnens mit ihrer goldenen Kugel zu spielen und los geht es.“
Ich ringe mir ein kleines Lächeln ab. „Du lässt das so klingen, als wäre es einfach.“
„Wird es sein.“ Liu zuckt die Schultern. „Du bist die Königin eines anderen Landes. Sie wird sich freuen, mit jemandem spielen zu können, der auch französisch spricht.“
Mir klappt der Mund auf. „Aber ich kann kein Französisch!“ „Das wird das Märchen dir schon noch rechtzeitig beibringen“, sagt Liu augenrollend.
Ich ziehe die Brauen zusammen. Selbst wenn, wer sagt, dass ich mit der Prinzessin Zeit verbringen will? Vielleicht ist sie nicht, wie ich sie mir vorgestellt habe. Oder sie mag mich nicht leiden.
Seufzend betrachte ich den Brunnen. Er ist nah an den Ausläufen des Waldes gelegen. Eine kecke Buche streichelt mit ihren Zweigen bei jedem starken Windstoß den grauen Stein und die kleinen Pflänzchen zwischen dem Gestein blinzeln uns fröhlich entgegen.
„Warum umgarnst du die Prinzessin nicht?“, seufze ich und zupfe an Lius Arm. Seite an Seite machen wir uns auf den Weg zu dem Schloss. Die Hügel wallen unter uns auf und werfen sich nieder wie ein unruhiges Meer. Der Duft von Rosen liegt in der Luft und scheint mit jedem fröhlichen Sonnenstrahl intensiver zu werden. „Damit hast du schon Dornröschens Märchen gerettet. Warum nicht auch das hier?“ Der Schalk blitzt in Lius Augen auf, als er mir einen verschmitzten Blick zuwirft. „Zuerst einmal, weil du krankhaft eifersüchtig bist.“
„Ich bin nicht eifersüchtig!“, rufe ich aus. „Aber ich muss es auch wirklich nicht gutheißen, wenn du mehr Zeit mit dieser attraktiven Prinzessin verbringst als mit mir, nur, weil sie so toll nach Blumen duftet.“ Die Bestie in meinem Inneren fährt schon wieder die Krallen aus und will sie in mein Herz schlagen. Ungeduldig dränge ich sie zurück. Wenn ich mal das Recht hatte, eifersüchtig auf jedes Mädchen zu sein, das sich Liu nähert, dann ist das jetzt vorbei. Unsere Zeit läuft ab. Ich glaube, die Bombe ticken zu hören, die bei ihrer Explosion alles mit sich reißt, was uns gehörte.
„Und zum Zweiten“, fährt Liu fort, ein selbstgefälliges Lächeln auf den Lippen, „soll die Prinzessin sich in ihren Froschkönig verlieben und nicht in mich. Dem Märchen zuliebe lasse ich dieses eine Mal die Finger von den schönen Frauen anderer Länder.“
Ich strecke ihm die Zunge raus. „Das glaubst du doch selbst nicht.“
„Und wie ich das glaube!“ Sorglos hebt Liu unsere miteinander verschränkten Hände und drückt mir einen Kuss auf die Fingerspitzen. „Das wird ein gutes Märchen“, prophezeit er mir. „Du wirst Französisch lernen und eine neue Spielkameradin gewinnen und ich genieße den Sonnenschein.“
Ich rolle die Augen. Mit Sicherheit. Damit Liu sich auf diese Wiese legt und in der Mittagssonne badet, muss ein Wunder geschehen.
Rauschend rascheln meine Röcke über das grünende Gras. Am liebsten würde ich sie raffen. Das Kleid sieht hübsch aus, bestimmt. Und es ist mindestens ebenso schwer wie schön. Zumindest hat das Märchen mich nicht wieder in eine Korsage eingeschnürt. Atmen lernt man erst schätzen, wenn man von einer fremden Epoche eingekleidet wurde.
Schwer seufzend lasse ich mich von Liu über die Hügel ziehen. Das Zwitschern der buntesten Vögel schwillt an und verschwimmt zu der süßesten aller Melodien. Rosen umringen Springbrunnen und weitläufige Steingärten verzaubern mit ihrem eigenen Charme. Sind das Schwäne, die über uns fliegen? Automatisch halte ich nach einem Vogel Ausschau, dessen Flügel in Brennnesseln gewickelt wurde. Aber die Tiere verschwinden am Horizont und nichts weist auf verwunschene Königskinder hin.
„Wie lange, denkst du, wird das Märchen dauern?“, frage ich Liu und schleppe mich über den nächsten Hügel. Wer hat sich diese Kleider eigentlich ausgedacht?
Liu darf in Strumpfhosen und quietschbunter Weste mit Blumenstickereien herumstolzieren. Und ich? Mich hat man in alle Stoffreste gewickelt, die man in diesem und dem nächsten Königreich auftreiben konnte. Sobald sich mir die Gelegenheit dafür bietet, werde ich die gefühlten fünfzig Oberkleider abstreifen und wenn ich dann nur noch im Nachthemd durch die Gärten tolle, dann ist mir das relativ egal. Ohne die kratzenden Stützstrümpfe würde ich mich längst auf Händen und Knien fortbewegen.
„Woher soll ich das wissen?“, sagt Liu und geht leichtfüßig voran. Wir befinden uns in dem nächsten Märchen, Lius tiefschwarzen Sorgen scheinen wie fortgeschwemmt. Natürlich. Hier, in der Sicherheit von fremder Fiktion und absoluter Gedankenlosigkeit, waren wir nie weiter entfernt von der uns erdrückenden Realität.
Die Sonne zwinkert mir über den Griff von Lius Degen zu. Er sollte den wirklich nicht mehr bei sich tragen. Irgendwann wird er ihm zum Verhängnis werden.
„Das Märchen ist nicht so lang, oder?“, sage ich. „Die Prinzessin verliert die Kugel, der Frosch kommt ihr hinterher, sie muss mit ihm ihr Essen teilen und mit ihm in einem Bett schlafen, aus Wut wirft sie ihn an die Wand und alles ist schön.“
Liu zieht grinsend eine Braue in die Höhe. „So wie du das zusammenfasst, will man fast die Stelle des Prinzen einnehmen.“
Ich spitze die Lippen. Ach, will man das? „Du wärst mit Sicherheit der schleimigste Frosch von allen“, säusle ich lieblich. „Du würdest gar nicht von der Wand abfallen, sondern daran kleben bleiben.“
„Ich liebe dich auch“, sagt Liu leichthin und stiehlt sich einen Kuss. Protestierend öffne ich den Mund. Noch ein Kuss. „Ich hoffe, es ist in deinem Interesse, wenn dein schleimiger Frosch dich als seine Gemahlin vorstellt?“
Ich rolle die Augen. Damit gehen wir zumindest sicher, dass Liu keiner Prinzessin den Kopf verdreht und ich niemandem versprochen werde.
„Natürlich. Nichts wünsche ich mir mehr“, spotte ich und drücke meine Lippen auf seine Wange.
Liu verzieht den Mund. „Na dann, Adeline von Mirlando, benimm dich anständig, sonst nimmt uns das niemand ab.“ Eine sanfte, verspielte Leichtigkeit tollt durch seinen Tonfall. Die Ernsthaftigkeit des Moments bleibt greifbar. Er streicht mir eine dunkelblonde Strähne aus dem Gesicht.
Ich drücke Lius Hand. „Du musst dir keine Sorgen machen“, verspreche ich ihm. „Ich werde die liebste Frau sein, die du dir vorstelle kannst. Zumindest in diesem Märchen.“
Warum sein Lächeln traurig wirkt? Ich brauche einen kurzen Moment, um das zu verstehen. Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich beiße mir auf die Lippe. Fieberhaft suche ich nach Worten, die zurücknehmen, was ich gesagt habe. Ich finde sie nicht.
Vor den Eingangstoren des Schlosses verharren wir und ehe Liu die Hand heben kann, um anzuklopfen, streichle ich ihm behutsam über die Wange und suche seinen Blick. „Ich liebe dich“, flüstere ich und verliere mich in seinen dunklen, bernsteinklaren Augen. „Und ich werde dich immer lieben. Ich liebe dich so sehr.“ Dass ich deinen Antrag ausgeschlagen habe, das hat nichts damit zu tun, dass ich nicht mein Leben mit dir verbringen will. Sondern damit, dass ich nicht bereit dafür war. Bin. Noch nicht.
Vermutlich nie.
Das sollte ich Liu sagen. Das sollte ich ihm erklären. Stattdessen schlinge ich die Arme um Lius Hals und vergrabe das Gesicht an seiner Schulter. Er hält mich fest, bis ich glaube, mich in seiner Nähe verlieren zu können. Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt. Die Sonne scheint mir den Nacken hinab in das Kleid zu kriechen. Lius Fingerspitzen hinterlassen hauchzarte Küsse auf meiner Haut.
„Wir sollten reingehen“, flüstert er mir ins Ohr. „Du hast dich mit einer Prinzessin anzufreunden.“
Schwer seufzend halte ich ihn fester. Das habe ich wohl. „Das wird lustig“, versuche ich uns beide zu überzeugen.
Liu nickt und als er mich vehement von sich schiebt, verziehe ich das Gesicht. Wir werden Zeit füreinander haben, schwöre ich mir. Nach diesem Märchen. Wir werden über alles reden können. Über Dantes Prophezeiung. Darüber, dass ich Lius Antrag abgelehnt habe.
Darüber, dass uns nichts bleiben wird. Womöglich nicht einmal kostbare, wunderschöne Erinnerungen.
Lius Klopfen hallt durch die Gärten und durch den Innenhof des Schlosses. Seite an Seite warten wir auf eine Antwort. Über unseren Köpfen bauschen sich stolz die Fahnen mit dem Landeswappen auf. Der Löwe geht in dem Wappenschmuck haltlos unter.
Ewigkeiten vergehen, bis schwere Schritte auf der anderen Seite ertönen, und man uns mit erhobenen Lanzen und Schwertern die Tore öffnet. Liu gibt den Männern vor uns keine Gelegenheit zu sprechen. Er verneigt sich galant vor ihnen, einen Arm besitzergreifend auf meinem Rücken, und schenkt ihnen ein glattes Lächeln.
„Gestatten? Liutwin von Mirlando und seine Gattin Adeline. Wir sind gekommen, um des Königs Einladung zu folgen.“
Man senkt die Waffen nur wenige Millimeter, aber man senkt sie. Die Männer tauschen einen ratlosen Blick. Ich verschränke meine Finger mit Lius. Momente vergehen, in denen wir nichts als das Zwitschern der Vögel und das Bauschen des Fahnenstoffs hören.
Dann verneigen die Wachposten sich knapp vor uns und lassen die Waffen sinken. „Folgt uns.“ Wir zögern keine Sekunde.
Die Schönheit des Schlosses überwältigt mich. Es ist perfekt, in jeder Hinsicht. Die Hallen wurden hoch gebaut, als wollten sie den Himmel küssen. Zarte Goldranken klettern Seite an Seite mit lebendigen Pflanzen über weißen Stuck. Daneben breiten Engel schützend ihre Arme aus. Ich glaube, durch einen Dom zu schreiten, nicht erstickt von der überbordenden Schönheit des Barocks, sondern bescheiden und doch wundervoll erstrahlend. Unsere Schritte hallen laut wider und hüllen uns in ein fragiles Tuch. Lius Hand umfasst meine sicher und warm, während wir an bunten Fenstern vorbeigehen, deren glühende Schatten unsere Haut bemalen und uns unwillkürlich erstrahlen lassen.
Links und rechts von uns halten sich die bewaffneten Wachen. Sie jagen mir keine Angst ein. Liu ist bei mir. So sehr ich seinen Degen auch hassen gelernt habe, so sicher weiß ich, dass niemand an Liu vorbeikommen wird, solange seine Finger den Griff fest umfassen. Und das tun sie, bei jedem Schritt, bei jeder Bewegung, bei jedem Atemzug.
„Ihr seid nicht geladen“, sagt ein Wachposten, während er uns durch die verwinkelten Korridore führt. Seine Stimme donnert finster zurück.
„Alles andere hätte mich überrascht“, erwidert Liu glatt. „Wir haben uns spontan dazu entschieden, dem König einen Besuch abzustatten. Meiner Ehefrau ist viel daran gelegen, seine Tochter kennenzulernen.“
Die Männer tauschen einen vieldeutigen Blick. „In diesem Fall solltet Ihr hoffen, dass Eure Anliegen denen des Königs entsprechen.“
Warum? Weil er uns andererseits das Leben aus dem Körper sticht? Ich erwarte, dass Liu auf die unterschwellige Drohung etwas erwidert. Dem Wachmann zumindest Paroli bietet. Stattdessen verneigt er sich knapp. Meine Schultern verspannen sich.
Wir bewältigen eine breite Treppe. Die Stufen fließen uns entgegen und der Marmor scheint mit zarten Wasserfällen überzogen zu sein, die bei genauerem Hinsehen durch einen außerordentlichen Schliff des Gesteins bei Sonnenschein erwachen.
„Selbstverständlich wäre ich gewillt, dem König einen Pfand zu überlassen“, sagt Liu ruhig, als wir das neue Stockwerk betreten. Überrascht dreht sich der Wachmann rechts von uns, eine dürre, schmale Nase im Gesicht und die Lippen aufgesprungen, in Lius Richtung. „Während meine Gattin mit der Prinzessin spricht, werde ich selbstverständlich die Zeit mit dem König verbringen und für Adeline bürgen.“ Ein knapper Blick in meine Richtung. Nervös lecke ich mir über die Lippen. Was soll schon passieren? Am Ende wird alles gut.
Ein unruhiges Kribbeln tapst mir durch die Magengegend und verwandelt mein Innerstes in eine schwelende Glut. Liu hält den Kopf für mich hin? Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich werde die beste Spielkameradin werden, die die Prinzessin sich wünschen kann.
„Ihr scheint großes Vertrauen in Eure Ehefrau zu setzen“, merkt ein Wachmann an. Den Körper hält er gerade, als hätte man ihm einen Stock durch das Rückgrat gedrückt.
„Ich würde mein Leben in ihre Hände legen“, sagt Liu ruhig. „Ich vertraue ihr blind.“
Noch ein getauschter Blick zwischen den Männern. Ich glaube die Fragen, die ihnen au den Zungen brennen, sehen zu können. Seufzend schließe ich die Augen und halte mich dichter an Lius Seite. Natürlich sind die Männer überrascht! Wie könnte es auch anders sein? Eine arrangierte Ehe, was ist das schon? Ein Zwang zwischen Mann und Frau, dem beide ungern nachkommen. Giftmorde und Verrat sind keine Seltenheit. Wie viel würde die eine oder andere Ehefrau für eine bessere Partie geben? Wie viel der ein oder andere Mann für ein hübscheres Gesicht an seiner Seite? Ich schüttle die Schatten der Realität ab.
Wir befinden uns in einem Märchen. Hier ist man glücklich. Hier werden Träume und Wünsche wahr und hier lohnt sich ein Gebet. Weil es erhört wird.
„Eure Ehefrau“, sagt der Wachmann mit wirrem, rotem Haar, „ist von außergewöhnlicher Schönheit.“
Meine Wangen werden heiß und ich neige leicht den Kopf. „Danke.“ Mein Herz schlägt schneller. Das Kompliment huscht mir durch die Blutbahnen.
„Deswegen habe ich um ihre Hand angehalten“, sagt Liu wegwerfend.
Meine Brauen schießen in die Höhe. Wie bitte?
Blutig rotes Licht flutet über meine Haut. „Weil ich hübsch bin?“, frage ich ihn leise und halte das brave Lächeln nur mit Mühe aufrecht.
„Unter anderem.“
„Du meintest deswegen.“
Die Männer tauschen über unsere Köpfe hinweg einen raschen Blick. Nach der Sache bei Dornröschen, da mögen Liu und ich uns darauf geeinigt haben, dass es besser sei, würde ich mich im Schweigen üben. Eine dumpfe Wut und beißende Kränkung kriechen durch mich hindurch wie Gift. Wir haben gesagt gehabt, wenn es keinen triftigen Grund gibt, schweige ich.
Das hier ist ein Grund.
„Ich meinte, unter anderem deswegen.“ Warnend sieht Liu mich an.
„Warum sagst du es dann nicht auch so?“, zische ich und versuche meine Finger aus seinem Griff zu winden.
„Weil es gerade nicht um deine geistigen Vorzüge ging, sondern um deine Augen und deine Haare.“
„Meine Augen und meine Haare?“, entfährt es mir.
Die beiden Wachmänner straffen die Schultern und gehen gleichzeitig zügiger. Mit überkreuzten Armen bewacht eine schimmernde Rüstung unseren Weg, das Familienwappen mit Eichenblättern und Löwe über dem Kopf.
„Ich wollte dich nicht nur wegen deiner Augen und Haare heiraten“, zischt Liu heftig. „Hör auf, mir die Worte im Mund umzudrehen!“
Ich will widersprechen. Dringend. Ich will ganz genau wiederholen, was er gesagt hat.
Die Wachposten verharren vor einer gigantischen, geschlossenen Flügeltür. Wütend beiße ich die Zähne zusammen. Wir sind wegen des Märchens hier.
Später. Diese Diskussion können Liu und ich später fortführen.
„Wenn ich bitten darf.“ Den Kopf vor uns neigend, tritt der Wachmann zurück.
„Natürlich dürfen Sie“, sage ich schnippisch und schiebe mich durch die Türen, ehe sie vollständig geöffnet wurden.
Weißes Sonnenlicht strahlt mir entgegen, ähnlich irreal wie ein doppelter Regenbogen und doch auf fürchterliche Weise erhellend schön. In seinen Armen thront ein schmaler Mann mit Falten, tief in sein graues Gesicht gegraben. Ich erstarre auf der Stelle. Die Augäpfel des Mannes wirken gelblich, die Augen ebenso grau und farblos wie die Wangen und die wenigen Haare halten sich schlohweiß auf seiner Platte. Hastig greifen dürre Hände nach einer Perücke.
Hinter mir atmet Liu angespannt aus. Ich werfe einen kurzen Blick über meine Schulter und sehe, wie er in einer tiefen Verbeugung versinkt. Meine Knie beugen sich von allein und ich neige ergeben den Kopf vor einem Mann, der Dante sein könnte. Wäre er jünger. Wäre er stolzer.
Würden sich Narben über seine Finger ziehen wie ein nachlässig um das Handgelenk gewickelter Rosenkranz.
Der König wirkt entrückt und verwirrt, als er mich und Liu in Augenschein nimmt. Er badet in purem Sonnenschein und verblasst in diesem Glanz. „Keinen Besuch“, murmelt er apathisch. „Keinen Besuch für mich.“
Die Wachmänner schlagen die Fersen zusammen und leise klirren die Waffen. „Eure Hoheit.“ Man verneigt sich und als sie die Hände nach Liu ausstrecken, schlüpft er ihnen aus dem Griff wie ein Wiesel und gesellt sich an meine Seite.
„Eure Hoheit, meine Gattin und ich, wir bedanken uns untertänigst für Eure Güte, uns zu empfangen.“
„Keinen Besuch“, wiederholt der König schwach. Dunkel, beinahe schwarz, scheinen sich die Venen gegen seine Haut abzuheben. Liegt der Geruch von Eiter in der Luft? Ich verwerfe den Gedanken. Ein Märchen. Wem stößt da schon Leid zu, außer dem bösen Wolf und den ungepflegten Ratten? „Wir hörten, dass eine schreckliche Pestilenz ihre Klauen in Euer Fleisch gegraben hat“, sagt Liu distanziert und klingt dabei ebenso gekünstelt und geschwollen wie einst sein Vater. Abfällig spitze ich die Lippen. Keine Ahnung, was neuerdings mit Liu los ist, aber es gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht. Hat Dante diese Veränderung angestoßen? Ich selbst? Wer auch immer den Ball zum Rollen brachte, sollte dafür bestraft werden. Es wirkt beinahe, als würde Liu sich bereitmachen, einen großen Schritt zu tun. Hinaus aus unserer naiven, wundervollen Traumwelt, die von Rosen und Versprechen lebt.
„Keinen Besuch“, flüstert der König und vergräbt das Gesicht in den bleichen Händen.
„Eure Hoheit“, Liu verneigt sich erneut und weist die Wachmänner mit der resoluten Geste eines Prinzen zurück. „Wir sind nicht erschienen, um in einem schwachen Moment Eure Hilfe zu erbitten. Meine Frau hörte von Eurem Zustand und, so vernarrt sie in Eure Tochter ist, wollte sie sich um die junge Dame sorgen, bis Ihr wieder in der Lage dazu seid als weiser und ewiger König eines glanzvollen Reichs.“
„Eure Tochter liegt mir mehr am Herzen als mein eigener Mann“, füge ich sanft hinzu.
Langsam hebt der König den Kopf. Liu durchbohrt mich mit Blicken, giftiger als hinterhältige Pfeile. Ich ignoriere Lius unausgesprochene Vorwürfe geflissentlich und gehe einen kleinen Schritt auf den Schlüssel zu der Prinzessin zu. „Eure Hoheit, Hochwohlgeboren, ich verehre Euch und Eure Tochter“, sage ich sanft und sehe durch meine Wimpern zu ihm auf. „Ich würde nichts tun, als mit ihr in Euren Gärten zu spielen und ihr die düsteren Gedanken zu vertreiben, während mein Mann sich um einen passenden Ar…“
„Medicus“, fällt Liu mir ins Wort. „Ich werde Euch den kompetentesten Medicus dieses und der nächsten Königreiche beschaffen. Das schwöre ich Euch bei dem Allmächtigen.“
Die dunkel geäderten Augen des Königs bewegen sich zwischen gespreizten Fingern hin und her. Mal betrachten sie mich, mal Liu und mal scheinen wir beide bedeutungslos, während er ins Nichts starrt. „Warum sollte man mir diesen Gefallen erweisen?“, fragt der Mann. Nagelpfeilen scheinen über seine Stimmbänder zu reiben, während er versucht, einen steten Ton über die bleichen Lippen zu bringen.
„Weil ich Eure Tochter liebe wie meine eigene“, wispere ich, ehe Liu mit geschwollenen Worten um sich werfen kann. Oder falschen Motiven. „Sie ist das schönste und reinste Geschöpf unter der Sonne und es würde mir alles bedeuten, wenn ich mit ihr Zeit verbringen dürfte.“
„Und weil wir Eure Tochter lieben, wollen wir mit allen Mitteln verhindern, dass ihr Vater an einer heilbaren Pestilenz dahinsiecht“, fügt Liu glatt hinzu. „Es mag anmaßend klingen, aber es fühlt sich an, als hätte Gott selbst uns zu Euch gesandt.“
Meine Brauen zucken. Ich werfe Liu einen skeptischen Blick zu. Wirklich? Das ist sein Masterplan? Gott in die Sache mit rein zu ziehen?
Ächzend richtet der König sich auf und zieht sich die Perücke vom Schädel. Seine Atmung geht schwer und keuchend. Als er hustet und die Hand hebt, um seinen Mund zu bedecken, haften zarte Blutstropfen an seinen Fingern. Liu sieht mich so intensiv an, dass ich ihn unmöglich ignorieren kann. Automatisch entziehe ich mich dem strahlenden Licht, in dem der Thron badet, und verschränke meine Finger mit seinen. Es ist mir egal, dass man sich in den Märchen eher nicht berühren sollte und es ist mir egal, dass der König unsere Hände betrachtet, als würden wir uns unter dem hochaufgerichteten Kreuz einer erzkatholischen Kirche küssen.
Liu legt einen Arm um meine Taille und hält mich näher bei sich. Ich wehre mich nicht, sondern atme tief ein, inhaliere seine Nähe und seinen Geruch. Die leuchtenden Strahlen laufen zu unseren Füßen aus. Nie fürchtete ich das Licht mehr als in diesem irrealen Moment. Es küsst den Samt, aus dem der Gehrock des Königs gemacht wurde, und badet in dem satten Rotton. Uns aber? Mich? Es scheint uns zu verbrennen und ich verschwinde aus dem Licht, bevor dunkle Striemen sich wie verblassende Peitschenhiebe über meine Arme ziehen können.
„Gott sandte mir seine Engel?“, fragt der König heiser. Ein Bediensteter tupft mit einem blütenweißen Tuch Lippen und Hände des Herrschers sauber. „Er erhörte meine Gebete.“
„Das tut er zu jeder Zeit“, sagt Liu sanft. „Werdet Ihr Euch in der Lage sehen, uns Euer Vertrauen zu schenken? Meiner Frau insbesondere.“
Der König zögert keinen Moment. Ich habe das Gefühl, er würde überschwänglich von seinem Thron aufspringen, wenn er könnte. Doch verharrt er steif und beinahe voll aufgerichtet und nickt uns so erhaben wie es ihm möglich ist zu. „Ich werde nach meiner Schönen schicken lassen.“
„Wollt Ihr sie zu dem Brunnen senden?“, frage ich und klammere mich fester an Liu. Diese Krankheit des Königs, sie macht mir Angst. Das erste Mal macht mich in einem Märchen mehr nervös als nur eine Intrige oder eine blitzende Klinge. Ist es möglich …? Könnte es sein, dass Menschen in einem Märchen krank werden und schlussendlich sterben? So als würden sie in einer langweiligen, öden Realität leben? So wie ich, ehe ich mein Wolkenschloss betreten durfte?
Der Puls rast mir in den Blutbahnen, während ich auf die Antwort des Königs warte. Die Augenlider wirken blutunterlaufen und jede Farbe ist ihm aus den Wangen gewichen. Rote Farbe versucht verzweifelt Leben nachzueifern, von wo es längst verschwand, und die Perücke heuchelt eine Jugend, die sich längst in vertrocknenden Gebeinen verkroch.
Ich will mich auf die Zehenspitzen stellen und Liu bitten, dass wir von hier verschwinden. Jetzt. Hier. Auf der Stelle.
„Ich würde sie in den Kerker entsenden, wenn Ihr mich darum bittet“, sagt der König mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. „Solange Ihr den Zauber bewirken könnt, mich zu heilen, würde ich mit meiner Ehre bezahlen.“
„Eure Ehre wird nicht von Nöten sein“, sagt Liu und macht einen Schritt nach vorn. Nicht, um Land zu gewinnen. Sondern um sich erneut tief zu verneigen. Automatisch versinke ich neben Liu in einem Knicks. Das Lächeln, das Lius Lippen umspielt, könnte zufriedener nicht sein. Warum? Weil unser fadenscheiniger Plan aufgeht oder weil ich ihm gehorche, ohne dass er den Mund öffnen muss? „Stellt Euch vor“, sagt Liu leise, „Ihr würdet in einem Märchen leben. Zu einer Zeit als das Wünschen noch geholfen hat.“
Das Lächeln, das meine Mundwinkel hebt, es blüht in Aufrichtigkeit. Hier sind wir wieder. Zurück an dem Punkt, an dem alles begonnen hat: mit Magie und Wundern. Glaubt Liu wieder daran? Das muss er wohl. Sonst könnte er sein Versprechen, den König zu heilen, niemals erfüllen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und unterdrücke den Impuls, ihm die Arme um den Hals zu schlingen und ihn zu küssen, bis wir beide nach Luft ringen. Zurück in unserem eigenen Märchen. Die Tage mögen gezählt sein. Fühlt es sich deswegen weniger real an als zuvor?
„Märchen beginnen grausig und enden auch so“, murmelt der König.
„Nicht in meiner Welt“, besänftigt Liu ihn. „Schickt Eure Tochter zu dem Brunnen und sie wird Zeit mit meiner Gattin verbringen. In dieser Zeit werde ich Euch heilen lassen. Man hat mir ein Zaubermittel zur Verfügung gestellt.“ Eine fragwürdige Bekanntschaft mit dem Tod? Einen möglichen Gefallen, den Liu bei dem Gevatter einfordern kann, dafür, dass wir sein Märchen gerettet haben? „Schon zum Abendessen werdet Ihr wieder zu Eurer alten Stärke zurückgefunden haben.“
Die Hoffnung strahlt in den erschöpften und teilnahmslosen Augen des Mannes intensiver als die Sonne in diesen weiten, weißen Raum aus Marmor hinein. Der König hebt eine Hand. „Bringt meine Tochter zu dem Brunnen“, befiehlt er. Ein Schatten von Autorität kämpft sich zurück in seine Stimme. „Für meine Gäste verlange ich freies Geleit.“
„Ihr seid zu gütig“, sagt Liu und verneigt sich erneut. Ich kenne die Etikette. Ich weiß, dass sie vorsieht, dass Liu gebeugt nach der ausgestreckten Hand des Königs greift und sie küsst, bis der Herrscher sie sinken lässt. Aber Liu rührt sich nicht von der Stelle und die Finger des Königs krallen sich in die Armlehne des goldenen Throns. Keuchend wendet er den Blick von Liu und mir. Ein neuerlicher Hustenanfall.
Hilflos sehe ich Liu an. Er hält mich fester. „Ich werde mich darum kümmern“, wispert er mir ins Ohr und macht mir so eines seiner vielen Versprechen. Versprechen, die er noch immer gehalten hat.
„Schaffst du es wirklich, dass er wieder ganz gesund wird?“, flüstere ich hektisch.
Der Diener tupft dem König das Blut von seinem Kinn. Lius Lippen huschen über meine Kehle und lassen eine glühende Feuersspur zurück. „Zweifelst du an mir?“
Manchmal. In düsteren Stunden, in denen Liu mir den Rücken zuzuwenden scheint.
„Niemals“, wispere ich. „Nicht heute, nicht morgen. Niemals.“
Ein weiterer gestohlener Kuss, dann richten sich die energielosen Augen des Königs erneut auf uns. Wie konnte ich ihn nur für einen Moment mit Dante verwechseln? Die Männer haben nichts gemein. Der eine geht aufrecht und stolz, getrieben von seinem ganz eigenen Wahnsinn. Dieser hier erstickt an seinem eigenen Blut.
Liu löst sich sanft von mir. „Wir sollten beginnen“, sagt er. „Werdet Ihr Eure Wachen aus dem Saal weisen?“
Kurz zögert der König. Ich versteife mich. Ist Liu zu weit gegangen? Ein König wird niemals allein gelassen, noch weniger mit einem Fremden.
Einem Fremden, der von Gott entsandt wurde. Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange. Das ist es. Das war der Grund dafür, dass Liu diese ungeheuerliche Lüge anbrachte. Denn selbst sein gnadenloser Vater ging vor dem Gewicht des Kreuzes in die Knie und faltete fromm seine Hände. In verzweifelten Stunden glaubt ein König an alles und nichts. „Man lasse uns allein“, krächzt der Herrscher.
Ich werfe Liu einen letzten Blick zu. Zweifel tapsen in mein Bewusstsein. Was, wenn man in einem Märchen erkranken kann? Was, wenn nicht immer alles gut wird?
Aber Märchen wurden geschaffen, damit wir in unseren schönsten Träumen leben können – und in denen verendet niemals ein Guter grausam, oder? Am wenigsten Liu.
„Wir sehen uns bald“, flüstere ich.
„Bald.“ In Lius Augen lese ich das bedingungslose Versprechen. Ich knickse erneut und verlasse rückwärts den Saal, die Wachen links und rechts von mir. Ihre unregelmäßigen Schritte hallen über den kalten Steinboden. Halb erwarte ich, dass sie mich aus dem Schloss geleiten.
Sie tun es nicht. Wie Ameisen, die ihre Königin verloren haben, wuseln die Bediensteten in alle Richtungen davon und lassen mich mutterseelenallein vor den verschlossenen, hohen Türen zurück.
Als ich angespannt ausatme, hallt das Geräusch überlaut von den Mauern wider. Als ich gehe, da knallen meine Schritte wie Kanonen und die Sonne verfolgt mich durch die bunten Fenster. Dieses Schloss hier, es ist keine alte Festung. Nein, es kommt mir fast vor, als hätte es nichts zu fürchten. Kein rauer Wald erstreckt sich ringsherum, keine Felsen. Die Fenster sind weit und groß und lassen jeden hier in den schönsten Farben baden und wohin ich auch sehe, ich kann keine schweren Geschütze finden. Das untypischste aller Schlösser? Es ist glanzvoll, wunderschön. Nicht mehr, nicht weniger.
Ein Reich, in dem das Wünschen noch etwas bedeutet.
Meine Beine zittern und die kleine Regung huscht in Wellen über mein Kleid. Ich weiß nicht, warum, aber ich falte meine Hände. Schwer atmend schließe ich die Augen und lausche in die plötzliche und unverhoffte Stille hinein. Die Holztüren sind dick genug, damit ich keinen Laut aus dem Inneren wahrnehmen kann. Und Liu mich ebenso wenig hören wird? Räuspernd schlucke ich und richte den Blick zum Himmel. „Alle behaupten, dass das hier eines der magischsten Märchen von allen ist“, sage ich in die Stille hinein. „Ich weiß nicht, ob du es gehört hast, aber ich sterbe. Ich sterbe, weil ich schon längst tot sein müsste, dabei will ich nur, dabei will ich nur eine Chance haben. Eine echte Chance. Ich …“ Ein Strick scheint sich um meine Kehle zu schlingen und mir die Luft abzuschnüren. „Ich wünschte nur, dass du Liu einen Weg finden lässt. Ich wünschte, dass es eine Möglichkeit gibt, um aus all dem hier rauszukommen. Ich will leben, ich will lieben und ich will bleiben und wenn das bedeutet, dass ich mein Wolkenschloss verlassen muss, dann ist das in Ordnung. Solange das bedeutet, dass ich Liu niemals verlieren werde.“ Nervös sehe ich mich um. Kein Mensch scheint mir zuzuhören. Dafür … Er womöglich? „Also, ich wünsche mir nur, dass alles gut wird“, stottere ich. „Nicht nur für die Menschen, die hier in diesem Märchen leben, sondern auch für Liu und mich. Weil ich inzwischen nicht mehr weiter weiß und ich Liu kenne und ich weiß, dass, wenn er keinen Ausweg sieht, wütend und verzweifelt wird und das will ich nicht. Verstehst du?“ Ich atme tief durch. Das hier fühlt sich schwachsinnig an. Aber klammern sich die Sterbenden nicht an jeden Strohhalm? „Also, wenn du uns retten wirst, dann gib uns ein Zeichen. Bitte. Schenk mir ein zweites Herz oder halte die Zeit an oder zeig mir, dass meine Welt und die echte irgendwie wieder verbunden werden können. Damit Liu und ich endlich zurückkehren und wahrhaftig sein können.“
Das Herz trommelt mir in der Brust. Ich glaube, es zu verlieren, während ich angestrengt auf eine Antwort warte. Auf eine Regung.
Nichts geschieht. Der Himmel schweigt. Mein Atem klingt überlaut, mein Zittern lässt die Röcke rascheln und die Sonne badet mich in buntem Licht, das mich an fremde Sorglosigkeit erinnert.
Zittrig lasse ich die Hände sinken. „Klar“, murmle ich. „Ich hab schon verstanden. Für verlorene Seelen gibt es kein Happy End. Das wäre auch zu schön gewesen.“
Steif wende ich der Flügeltür den Rücken zu. Schlussendlich bin ich halt doch nichts weiter als ein Mädchen, das sich in ihren letzten zehn Sekunden in zehn Jahre voller Träume flüchtet.
Die Prinzessin sitzt ratlos vor dem Brunnen, die hellen Röcke um sich herum ausgebreitet und strahlend wie eine majestätische Seerose. Krampfhaft halte ich meine Kinnlade davon ab herunterzufallen. Bloß gut, dass Liu nicht hier ist. Er hätte diese Schönheit schneller in sein Bett gebeten, als ich empört nach Luft schnappen oder mich betrogen fühlen kann. Sie ist das reinste Geschöpf unter der Sonne. Das Licht fängt sich in ihren blonden Haaren. Sie ist ungeschminkt. Ihre Haut ist unberührt und ein dunkler Rosenkranz schmiegt sich um ihren schlanken Hals. Die Iriden schimmern dunkelgrau wie Gewitterwolken und eine fremde Güte liegt in ihrem Blick, der mir eisige Schauer über den Rücken jagt. Kein Dämon wüsste sich diesem Einfluss von purer Schönheit zu entziehen.
Der Kopf der Prinzessin zuckt herum, als ich mich zu ihr setze. Die schweren Röcke breiten sich um meine Beine aus und nehmen das drückende Gewicht von meinen Schultern. Ich lächle sie an.
„Hallo, seid Ihr die Prinzessin?“ Eine völlig überflüssige Frage.
Sacht nickt die strahlendste Schönheit unter der Sonne. „Jean“, bestätigt sie.
„Adeline.“
Sie nickt schwach und ihr Blick schweift zu dem grauen Stein des Brunnens. Ihre schlanken Finger umklammern eine goldene Kugel. Die goldene Kugel. Mein Herz macht einen Satz. Ob sie wirklich aus purem Gold besteht? Das Mädchen dürfte sie kaum heben können. Dabei ist ihr Schatz kleiner als ein Tennisball und strahlt dabei wie eine zweite Sonne. Die Nadelbäume wispern nervös und kratzen mit ihren Nadeln über Stämme.
„Was habt Ihr dem König geboten?“
Skeptisch ziehe ich die Brauen zusammen. „Für was denn?“ „Für mein Leben.“
Mir entgleiten die Gesichtszüge. „Ich will dich nicht umbringen!“
Sie hebt kaum merklich den Kopf. Blonde Wellen umspielen ihr schönes Gesicht und tiefe Falten haben sich zwischen ihre Brauen gegraben. Eine leise Brise streichelt über uns hinweg und kräuselt die Oberfläche des nahen Teichs. „Und was tut Ihr dann hier?“ Mit der rosa Zungenspitze leckt sie sich über die Oberlippe. „Niemand erscheint, um mit der Prinzessin zu spielen. Niemand, nicht einmal meine Zofen.“
Tatsächlich? Ich werfe einen Blick in Lius ungefähre Richtung. Eine Information, die er mir mit bestem Wissen vorenthalten hat.
„Aber ich bin nicht wie die anderen“, sage ich und lehne mich ein kleines Stück zu ihr. Von dem Stoff ihres Kleides geht ein betörender Geruch aus. Obwohl ich ihn nicht einordnen kann, verzaubert er mich.
„Alle, die das sagen, sind die anderen.“ Nervös wischt sich die Prinzessin mit dem Handrücken über die Wangen. Wie alt sie wohl sein mag? Fünfzehn? Sechzehn?
Ich fühle mich ertappt. „Das stimmt wohl“, flüstere ich und strecke zögernd wie nach einem scheuen Kitz die Finger nach ihr aus. „Ich möchte trotzdem nur mit Euch und Eurer Kugel spielen. Wir könnten sie uns über den Brunnen hinweg zuwerfen!“
Die Prinzessin hält ihren Schatz fester. „Damit Ihr sie mir stehlt?“
„Nein! Nein, bloß nicht.“ Abwehrend schüttle ich den Kopf. „Ich dachte nur, dass Euch das vielleicht Spaß machen könnte.“
„Es gibt ein Bildnis, das ich sticken sollte.“ Zögernd rückt das Mädchen ein Stück von mir ab. Ihr heller Rock schlägt Wellen.
Fast glaube ich, fühlen zu können, wie sie mir entgleitet. Das Märchen hängt am seidenen Faden und sie schneidet ihn durch. „Dafür bleibt doch später noch genug Zeit“, sage ich hastig. „Möchtet Ihr denn nicht mit mir spielen?“
Das Mädchen hebt kaum merklich das Kinn. Eine Entschlossenheit liegt in ihrem jungen Blick, die mich erschaudern lässt. Sie ist wundervoll, wertvoll – und unkalkulierbar. „Von Trug und Lug versuche ich mich fernzuhalten“, erwidert die junge Prinzessin bestimmt.
„Ich belüge Euch doch nicht!“ Seufzend vergrabe ich das Gesicht in den Händen. Jetzt verstehe ich Lius Stirnrunzeln. Deswegen belächelte er meine Idee nur. Liu wusste ganz genau, wie unüblich es ist, durch die Schlosstore zu spazieren, um eine Runde mit der Prinzessin Ball zu spielen. Je länger ich darüber nachdenke, umso lächerlicher erscheint mir mein eigener Plan. Und umso wütender bin ich auf Liu, dass er nicht versucht hat, mich vor dieser bitteren Demütigung abzuhalten. Natürlich würde die Prinzessin nicht lachend aufspringen und ihren Schatz in den Schlund des Brunnens werfen! Sie ist kein kleines, dummes Kind mehr. Nein, vielmehr wirkt es, als würde sie Himmel und Hölle gleichermaßen kennen, wann immer ich ihr in die strahlenden, gewitterdunklen Augen sehe.
„Ich bin keine Lügnerin“, wiederhole ich schwach.
„Beweist es.“ Heraufordernd hebt die Prinzessin das Kinn. Eine zarte Narbe zieht sich über ihren Unterkiefer. Von den Krallen einer Katze? Von den Dornen einer Rose?
Frustriert ziehe ich die Knie an die Brust. Laut raschelnd bewegen sich meine Röcke. „Wie denn? Es ist nicht so, als könnte ich einfach mit den Fingern schnippen und schon wisst Ihr, ob ein Mensch lügt oder nicht.“
„Woher stammt Ihr?“, fragt die Prinzessin mich. „Denn, was auch immer Ihr behauptet, von blauem Blut, das seid Ihr nicht.“ Sie betrachtet mich nicht abschätzig. Viel mehr getrieben von einer Neugierde, die ich nicht ganz begreife.
Ratlos verlagere ich das Gewicht und verkrieche mich in meinen Röcken. „Selbst, wenn ich es Euch sagen würde, würdet Ihr mir nicht glauben“, sage ich langsam.
„Einen Versuch sollte es wert sein.“ Ein kleines Stück lehnt Jean sich zu mir. „Nichts könnte mich mehr beleidigen als Eure frevelhafte Behauptung, dem Adel anzugehören.“
Verstohlen sehe ich auf die Innenseiten meiner Handgelenke. Meine Adern schimmern bläulich. „Obwohl ich nicht ganz verstehe, was Ihr meint“, ich räuspere mich, „kann ich es ja mal versuchen, oder?“ Was sollte sie schon tun? Anordnen mich töten zu lassen? Ihr Wort steht unter dem des Königs und der hält Liu und mich für Engel. Er würde uns niemals Leid zufügen lassen. Nervös streiche ich mir die dunklen Haare aus dem Gesicht. „Also, ich bin nicht von hier“, erkläre ich. „Eigentlich ist das eine ganz verrückte Geschichte.“
Unbeeindruckt faltet die Prinzessin fein die Hände.
„Ich bin quasi vor fast zehn Jahren gestorben“, platze ich mit den erschreckendsten Neuigkeiten heraus. „Und dadurch, es mag verrückt klingen, aber dadurch wurde ich in mein Wolkenschloss gebracht und irgendwie Königin über meine eigene magische Welt.“ Entschuldigend hebe ich eine Schulter. „Dort sieht alles immer genau so aus, wie ich es mir wünsche. Es ist wunderschön und verzaubert und im Westflügel, da reihen sich unzählige Gemälde aneinander und hinter jedem lebt ein Märchen. Meine Aufgabe ist es, diese Märchen zu retten. So wie Eures.“
Nachdenklich stützt die Prinzessin das Kinn auf ihrer eigenen Schulter ab. Beinahe als würde sie das, was ich gesagt habe, tatsächlich in Betracht ziehen. Mit schlanken Fingern greift der Wind ihr in das blonde Haar und drapiert es ihr über den schmalen Rücken. „Ich bin kein Teil eines Märchens“, sagt Jean nach langem Schweigen.
Ich beiße mir auf die Lippe. Liu wüsste bestimmt, was er dazu sagen müsste. Er würde schöne Worte finden, die sie umgarnen und von dem Hauptproblem ablenken – dem, dass sie ihre blöde Kugel behütet wie ihren Augapfel. „Eigentlich“, sage ich gedehnt, „seid Ihr genau das. Eine Prinzessin in einem meiner Lieblingsmärchen.“ Ihre Brauen rücken zusammen. Ich fahre hastig fort, ehe sie mich unterbrechen kann. „Ihr seid eine unglaubliche Prinzessin in einem unglaublichen Märchen und mein großer Bruder hat mir von Euch vorgelesen, da war ich noch winzig klein. Da war ich vielleicht vier, fünf Jahre alt. Ihr seid eine meiner Lieblingsprinzessinnen, ich liebe Euch einfach, und deswegen wollte ich Euch unbedingt kennenlernen und deswegen hat Liu eingewilligt, Euch zu besuchen, obwohl es noch viele andere Märchen gibt, die unsere Hilfe brauchen, und die Liu lieber hat. Aber“, atemlos schnappe ich in meinem Redeschwall nach Luft, „ich wollte Euch unbedingt kennenlernen, bevor mein Wolkenschloss in sich zusammenbricht.“
Angespannt warte ich darauf, dass sie in schallendes Gelächter ausbricht. Die Prinzessin zupft an den zarten Löckchen, die ihr Gesicht umspielen. Schließlich fragt sie zögernd, fast schüchtern: „Euch wurde von mir vorgelesen?“ Der unschuldige Blick unter ihren langen Wimpern hervor verschlägt mir den Atem.
Ich nicke heftig. „Ja. Ständig. Direkt nach Aschenputtel wart Ihr dran. Sogar noch vor Dornröschen und Schneewittchen!“
Zarte Falten graben sich in Jeans Stirn. „Warum sollte jemand davon lesen wollen, wie meine Mutter stirbt und die gleichen Flüche nun auch meinen Vater dahinraffen?“
„Weil es“, kurz stocke ich und erinnere mich an all das, was Liu und ich abgemacht hatten, „darum nicht geht“, ende ich vage. Ihre Brauen rücken näher zueinander.
Die strahlende Sonne scheint sich in dem sanften Dämmerlicht der sich heranpirschenden Nacht zu verlieren und der Wind wispert durch Blätter. Der Geruch von Holunder scheint in der Luft zu liegen. Liu hatte beide Arme um mich geschlungen. Damals in Freundschaft. An einem anderen Ort der roch wie dieser. „Du darfst ihnen nie sagen, dass du sie kennst“, sagte er. „Ich meine, sie dürfen nie erfahren, dass ihr gesamtes Leben schon feststeht. Stell dir nur vor, wie hilflos du dir vorkommen würdest, wenn du wüsstest, dass dir alles vorherbestimmt ist.“
Ich nickte. „Genau. Und wir dürfen nicht in ihr Schicksal eingreifen. Nicht wirklich. Es muss immer so enden, wie es auch ohne uns geendet wäre. Also im Märchenbuch.“
„Keine Freundschaften“, zählte Liu auf und strich dabei gedankenverloren über meinen Zeigefinger. „Keine Liebschaften. Wir werden keinen der Hauptakteure verletzen und auch sonst nichts.“
„Wir sorgen nur dafür, dass geschieht, was geschehen soll. Wie Schicksalsgötter!“
Liu schmunzelte über meine Begeisterung, sorgenvolle Falten in die Stirn gegraben. „Du solltest dich dem Göttlichen nicht anmaßen, Adeline. Es könnte sich rächen.“
Aber wie viel mehr könnte man mir jetzt noch nehmen als mein Leben und Liu? Als alles, wovon ich träumte. Ich verwelke in einem sonnenbeschienenen Garten und darf nichts dagegen unternehmen. Aber das hier, dieses Märchen, kann ich einfacher für uns alle gestalten. Wenn Jean auf diese Antwort wartet, wenn sie das hören möchte, die Wahrheit, wer wäre ich, diese ihr vorzuenthalten? In jedem dieser Märchen bin ich eine Schicksalsgöttin.
Liu greift in das Leben des Königs ein. Warum sollte ich nicht versuchen, das Mädchen dazu zu bringen, diese Kugel zu werfen? Denn am Ende, da wird doch alles gut.
„Worum geht es dann?“, fragt die Prinzessin leise und lehnt sich mit einer gequälten Neugierde in den Augen zu mir. „Worum, wenn nicht um mein Leben?“
„Um dein bisheriges Leben“, berichtige ich sie. Was zählen schon die Versprechen, die Liu und ich uns gemacht haben, bevor wir wussten, dass uns nichts bleiben wird. Ganz gleich, was wir tun. Nur weil Liu mich gestern krampfhaft in den Armen hielt und mir beruhigende Worte zuflüsterte, muss dem nicht so bleiben. Ich kenne ihn. Ich kenne ihn seit Ewigkeiten. Ich weiß, wie Liu reagiert, wenn er unter Schock steht. Und ich weiß, was danach kommt.
Und ich kenne mich.
Uns wird nichts bleiben. Nicht einmal die Idee von dem, was wir sein wollten, und Minuten später wird meine Existenz kollabieren. Es gibt keinen Grund mehr dafür, die selbstaufgestellten Regeln zu befolgen. „Dieses Märchen beginnt damit, dass du deine goldene Kugel in diesem Brunnen verlierst, während du damit spielst.“
Ruckartig hält die Prinzessin ihren Schatz fester. Ihre Finger graben sich ähnlich krampfhaft in die glänzende, goldene Oberfläche wie Lius sich in meine Oberarme. Da zerbarst sie, unsere schönste Seifenblase. Weder er noch ich wussten, etwas dagegen zu unternehmen. Unserem selbstgewobenen Märchen sind wir ebenso hilflos ausgeliefert wie Jean diesem hier. Ausdruckslos starre ich auf die dunklen Perlen des Rosenkranzes, die um ihren Hals ruhen. Wofür sie wohl betet?
„Ich verliere meine Kugel nicht“, sagt Jean heftig. „Ich könnte sie niemals verlieren. Schau, ich“, sie kämpft sich wankend auf die Beine, „könnte sie tausendmal in die Höhe werfen, und ihr würde nichts geschehen.“ Der Wind frischt auf und verwandelt die Äste der Bäume in pfeifende, peitschende Segel. Die blonden, nicht von ihrem Zopf gefangenen Strähnen kitzeln ihr Gesicht, als die Königstochter die Hände ausstreckt. Ihr größter Schatz balanciert über ihren zart gekrümmten Fingern. Ein Weidenkäfig für einen Adler.
„Ich verliere nicht, was mir gehört“, sagt Jean fest und erinnert mich dabei auf herzerweichende Weise an Liu. Die Stoffbahnen des Rocks heben sich und erblühen um ihre schlanken Beine herum.
„Natürlich nicht“, verspreche ich ihr. „Man würde sie dir zurückgeben.“
„Ich könnte sie nicht einmal verlieren“, ruft die Prinzessin aus. Tränen schimmern in ihren klaren Augen. „Schau zu. Sieh zu!“ Jean verleiht ihrem Kostbarsten Flügel. Die Sonne breitet ihre Arme aus und ruft die goldene Kugel zu sich. Helligkeit, gebündeltes Licht und regenbogenschimmernde Hitze strahlen von dem kalten Stern aus Gold ab. Er segelt gen Himmel. Der Wind küsst die Oberfläche und legt sich um das Spielzeug wie ein schützender Mantel. Das Mädchen macht einen Schritt nach vorn, um sein Liebstes wieder einzufangen.
Ich verstehe nicht, warum, aber mein eigener Puls rast mir überlaut in den Ohren.
„Ich werde dich niemals verlieren.“ Worte, die Liu flüsterte, während er mich krampfhaft davon abhielt, mich auf Dante zu stürzen. Seine Arme umschlangen mich wie Fesseln und nie war ich dankbarer dafür, gefangen genommen worden zu sein.
Die glatte Oberfläche streift die Fingerspitzen der Prinzessin. Ein hoher Klang perlt durch den gigantischen Garten. Für einen flüchtigen Augenblick balanciert die Kugel auf dem Rand des Brunnens. Das Mädchen stürzt nach vorn. Der Rock ihres hellen Kleides bläht sich auf und erneut erinnert sie mich an die schönste aller Blumen.
Der Ball aus purem Gold verliert das Gleichgewicht. Ein Stern stürzt in die Tiefe. Hände versuchen, ihn zu fassen zu bekommen, die Sonne selbst greift nach ihm. Finsternis schlingt ihre Schwingen um den Schatz und kurz darauf ertönt ein tiefes Ploppen. Das Wasser schließt die Lippen um die Kugel.
Ein entsetzter Schrei entweicht der Kehle der Prinzessin. Ungläubig starre ich hinab. Erkenne ich dort unten die Blüte einer einzelnen Seerose? Ganz ohne Licht. Einsam.
„Nein!“ Kreischend klammert die Prinzessin sich an den Brunnenrand. Als sie ihre Röcke hebt, um ein Bein über den Rand des Brunnens zu schwingen, wirft sich die Zeit zurück in ihre Bahnen.
„Was tut Ihr da?“, rufe ich entsetzt auf und ziehe sie zurück. „Ihr bringt Euch noch um!“
„Nein!“ Jean schüttelt hektisch den Kopf. Wie Perlen laufen ihr Tränen über die Wangen. „Meine Kugel liegt dort unten. Irgendwo da liegt meine Kugel. Ich muss sie zurückholen!“
„Ihr kommt da nie wieder raus. Wer in einen Brunnen fällt, der bleibt da auch.“ Er erfriert, wenn er Glück hat – oder ertrinkt.
Jean wirft sich erstaunlich kraftvoll gegen meine hilflose Umklammerung. „Aber meine Kugel … Da liegt meine Kugel!“
Gab es ein Spielzeug, für das ich gestorben wäre?
Kurz glaube ich, Qualm zu riechen, leckende Flammen zu spüren. Die Antwort ist einfach. Nicht ich hatte das Märchenbuch unter meinen Arm geklemmt und mich in Gefahr gebracht.
Jean duftet nach Orangen und Weihrauch. Sie ist ein entlaufenes Kitz, das ich zurück zu der Mutter bringen will. Ein Kitz, das mich mit seinem Jäger verwechselt und trampelt, kratzt und beißt, bis ich von ihm ablasse. Jeans Ellbogen stoßen in meine Rippen. Empört atme ich aus und spanne den Bauch an. Erstaunlich kräftig für eine Prinzessin. Gerade als ich überlege, nach Liu zu rufen, lässt sie sich kraftlos zurücksinken. Ihre Röcke bauschen sich in dem kühlen Wind zischend auf. Tränen tropfen ihr vom Kinn. Stöhnend legt Jean den Kopf in den Nacken und sieht der blendenden Sonne entgegen.
„Ich habe meine Kugel immer gefangen“, flüstert sie leise.
„Ich weiß“, wispere ich sanft. „Aber, dass sie in den Brunnen gefallen ist, das ist gut. Ihr werdet sie zurückbekommen, das verspreche ich Euch.“
„Ihr habt behauptet, dass niemand einem Brunnen entkommen kann.“
„Ja“, antworte ich gedehnt. „Es sei denn, man ist ein Frosch. Ein Frosch könnte Euch gegen eine kleine Gegenleistung zur Hilfe eilen.“
Mit großen Augen dreht Jean sich zu mir um. Nicht gewittergrau. Nein. Ihre Iriden erinnern viel mehr an regennasse Grabsteine. Unheimlich. Schön. „Er kann alles von mir bekommen. Alles! Meinen Schmuck, unser Gold, das halbe Königreich.“
Meine Mundwinkel heben sich leicht. Das klingt gut. So als wüsste die Prinzessin ganz allein, wie dieses Märchen weitergehen muss.
„Biete ihm doch gleich deine Krone und deine Kleider an“, spottet Liu.
Jean windet sich erschrocken endgültig aus meinem Griff und hebt hilflos die Hände. Als würde sie erwarten, dass wir versuchen, ihr Leid anzutun?
„Was soll ein Frosch mit Eurem Schmuck schon anstellen?“ Das helle Sonnenlicht fängt sich in Lius dunklen Haaren und spielt über den farbenfrohen Stoff seiner Kleidung. Der grüne Gehrock wirkt intensiver und der Duft von Kiefern wird von seiner Haut wie von den Bäumen verströmt. „Sich damit ertränken?“
„Wir hatten über Taktgefühl gesprochen“, sage ich trocken.
Liu rollt die dunklen, bernsteinklaren Augen. „Ich habe ihren Vater gerettet.“ Seine Lippen streifen meinen Hals und die Prinzessin betrachtet uns entgeistert. „Ich darf so taktlos sein, wie ich will.“
Eine hilflose Wut steigt in mir auf und ich weiß, dass ich sie gegen Liu richten sollte, so sicher, wie dass sie nicht ihm gilt. Seine Hände ruhen auf meiner Taille und er vergräbt das Gesicht in meinem Haar. Wenn ich einfach plötzlich verschwunden wäre, niemals hätte sich dieser Moment so bitter, so zerschlagen und so zerstörerisch angefühlt wie unter diesen Umständen.
So wertvoll.
Jean wischt sich rasch die Tränen von den Wangen. „Ihr Betrüger solltet mir aus den Augen gehen“, wispert sie, „ehe ich mich vergesse.“
Ich muss mich nicht zu Liu umdrehen, um zu wissen, dass ein teuflisches Lächeln seine Lippen umspielt. Anstatt sich zu verneigen, richtet er sich stolz auf. „Natürlich, Eure Hoheit. Wir sehen uns beim Dinieren.“
„Der niedere Adel isst nicht mit uns.“ Jean bewegt die vollen Lippen kaum. Angespannt warte ich darauf, dass ihr Widerwillen Lius Aufmerksamkeit erregt und er ihr das gleiche, umwerfende Lächeln schenkt wie jeder Frau, die er umgarnt.
„Dann kann ich wohl erleichtert sein, dass meine Geburt mich zum Prinzen machte. Wir werden Eurer Begleitung einen Platz sichern.“ Spottend verneigt Liu sich und greift nach meiner Hand. „Eure Hoheit.“
Er lässt mir keine Zeit, in einen tiefen Knicks zu versinken. Liu zieht mich einfach mit sich. Ich werfe Jean über die Schulter hinweg ein entschuldigendes Lächeln zu.
„Was soll das?“, fauche ich, sobald wir außer Hörweite sind. Liu hebt eine Braue. „Was soll was?“
Mein Herz setzt einen winzigen Schlag aus. Ob ich das hier werde vermissen können? Sein teuflisches Grinsen, das lebendige Blitzen in den Augen?
Das Gefühl seiner Finger, die meine fest umfassen, während er mich die Hügel hinaufzerrt, die sich türmen wie das unruhige Meer.
Ich schlucke schwer. „Du lässt mich wie eine Idiotin dastehen.“
Wegwerfend zuckt Liu die Schultern. „Du hast keine Armlänge Abstand zu der Prinzessin gehalten. Da musste ich nicht viel machen.“
Ungläubig sehe ich ihn an.
Liu verzieht den Mund. „Was? Ist doch wahr.“ Wir biegen auf einen sich schlängelnden Pfad aus kleinen, runden Kieseln, der in einen wunderschönen Steingarten führt. „Man sollte meinen, du würdest die Etikette bei Hofe verstehen, aber in den wirklich wichtigen Momenten, da benimmst du dich noch immer wie ein Bauerstölpel.“
Mir klappt der Mund auf. „Wie bitte?“
„Wie ein Bauerstölpel“, wiederholt Liu, als hätte ich ihn beim ersten Mal nicht schon verstanden.
„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, fauche ich.
„Die, dass ich dem König das Leben gerettet habe und wir deswegen zum Abendessen bleiben müssen? Ich wollte nach dieser Nummer von hier verschwinden und das Bisschen Zeit, das uns bleibt, allein mit dir genießen. Stattdessen sitzen wir hier fest.“ Mit seiner freien Hand gestikuliert Liu wild in der Gegend herum. Mauerröschen spähen uns schüchtern entgegen. „Nicht zuletzt wegen deiner Unfähigkeit, das Märchen ins Rollen zu bringen.“
„Meiner Unfähigkeit?“, entfährt es mir. „Dann ist es vielleicht ganz gut, dass du mich Klotz am Bein bald wirst ablegen können.“
Liu wirft mir einen mörderischen Blick zu. Seine gute Laune ist verraucht und einem Zorn gewichen, dessen Ursprung ich nicht verstehe.
„Vielleicht solltest du direkt um die Hand der Prinzessin anhalten“, fahre ich fort. „Sie ist wunderschön und bestimmt auch ganz nett. Also genau deine Kragenweite.“
Liu bleibt unvermittelt stehen und schlingt beide Arme um mich. Ich will ihn von mir stoßen. Nicht, weil ich wütend bin. Nein. Mein Blut ruht kühl in meinen Venen und das Herz schlägt nur schneller, weil er mich durch den schönen Steingarten jagt wie Wild. Weil ich den Gedanken nicht ertrage, dass uns die Zeit durch die Finger rinnt. Das alles hier, es ist kostbarer als Gold. Jede Sekunde mit ihm, jede Berührung, jeder Streit, jeder Kuss.
Ob er sich in einigen Jahren überhaupt noch wird an mich erinnern können?
„Ich liebe dich“, flüstert Liu und sucht meinen Blick. „Ich liebe dich so sehr, dass es mich in den Wahnsinn treibt, Adeline. Vergiss das niemals, ganz gleich, was ich sage oder tue. Vergiss das nie.“
Eine eiserne Faust scheint sich um mein Innerstes zu schließen. „Warum sagst du das jetzt?“
Liu presst die Lippen zu einer weißen, kreidebleichen Linie zusammen. Die Falten, die sich in seine Stirn graben, tun mir in der Seele weh. „Weil ich dich noch nicht verlieren kann. Nicht heute, nicht morgen und am wenigsten wegen eines Mädchens.“
Ratlos sehe ich Liu an. Seine Finger streicheln behutsam über die weiche Haut an meinem Nacken, ehe Liu sich zu mir neigt und mir einen winzigen Kuss auf die Nasenspitze haucht.
„Ich liebe dich und ich liebe dich und ich werde dich ewig lieben.“
„Ich liebe dich und ich liebe dich und ich werde dich ewig lieben“, erwidere ich ratlos und streife mit meinen Lippen seine. „Alles wird gut. Ich verspreche es.“
Ein schwaches Lächeln hebt Lius Mundwinkel. „Zwei Lügen in zwei Stunden, Adeline? Wir hatten uns etwas geschworen.“
Ich beiße mir auf die Zunge. Das hatten wir wohl. Aber was zählt das schon, wenn unsere Welt sich in Schutt und Asche legt und womöglich nicht einmal eine Erinnerung bleibt? Wenn ich gehe, verschwinde, mich einfach auflöse, werde ich dann je existiert haben? Wird Liu sich an mich erinnern können? Will ich, dass er sich daran erinnert, wie es war, als er mich liebte – und ich ihn?
Die Vögel zwitschern, der Wind bläst, Holunderblüten fliegen umher. Nie fühlte sich ein Märchen zweitrangiger an. Meine gesamte Aufmerksamkeit richtet sich auf Liu. Die aufziehende Dunkelheit baut uns ein sicheres Nest. „Ich habe Angst“, gestehe ich Liu. „Ich habe so schreckliche Angst und es wird mit jeder Sekunde schlimmer. Ich dachte, das Märchen lenkt mich ab, aber das tut es nicht.“ Weder der König noch die Prinzessin. Es scheint glanzloser als all die anderen Geschichten, die wir gerettet haben. Bedeutungsloser. Als hätte dieses Märchen einen beachtlichen Teil des schönen Scheins eingebüßt.
Liu lehnt seine Stirn gegen meine. Als seine Hände über meine Arme wandern und er seine Finger mit meinen verschränkt, erschaudere ich. Die Welt steht still. Jeder Moment scheint in Stein gehauen, während die Kiesel knirschen, wann immer wir das Gewicht verlagern. Uns nur ein winziges Bisschen rühren. Sie verraten uns dem Schicksal, solange wir atmen und leben.
„Es wird besser werden“, schwört er mir. Ich will ihm glauben, jedes Wort, jedes Versprechen. Ich will mich an ihn lehnen und ihn erneut zu meinem sicheren Felsen machen. Wenn ich könnte, ich würde Liu niemals von der Seite weichen. Aber fremde Wünsche führen mich fort.
„Wie?“, frage ich leise. Die Furcht, Liu zu verlieren, ihn nicht zu erinnern, schnürt mir die Kehle zu. „Wie soll es jemals wieder gut sein?“
„Indem du verstehst, dass wir jede Sekunde auskosten sollten. Jeden Zorn, jede Liebe, jedes Leid, jede Verlockung. Wir sollten darin baden, bis es uns die Sinne raubt.“
Verzweifelt suche ich seinen bernsteinklaren Blick. Das sollten wir. Aber wir werden daran scheitern. Ich kenne ihn. Ich kenne mich. Ich kenne diese Welt voller Märchen und ich verstehe, dass der schöne Schein bricht, sobald man sich auf ihn stützt.
„Ich liebe dich“, wiederhole ich leise und fahre mit den Lippen seinen Kiefer nach. „Und ich werde dich immer lieben, ganz gleich was geschieht. Das wird immer wahr sein.“ Weil das den Kern unseres Märchens ausmacht?
„Ich weiß. Ich weiß.“ Ein Kuss, der mir die Sinne raubt. „Ich weiß.“
In der Ferne singt eine Lerche. Seufzend schließe ich die Augen und gebe vor, dass wir hier und jetzt verschwinden und alle Sorgen hinter uns lassen können. Das Stechen in meinem Herzen bleibt. „Ich wünschte nur“, flüstert Liu an meinen Lippen, „dass du Ja gesagt hättest.“
Unser Atem mischt sich und steigt Hand in Hand zum Himmel auf. Ja. Das wünschte ich auch. Ich wünschte, ich hätte Vertrauen in Liu gehabt. Genug, um ihm zu schwören, an seiner Seite bleiben zu wollen.
Liu schlingt die Arme fest um mich und stützt das Kinn auf meiner Schulter ab. Ich lausche unserem donnernden Herzschlag. Die Kiesel knirschen unter unseren Füßen, als wollten sie uns dazu anhalten, weiterzugehen. Wenn man uns auf diese Weise entdeckt, was wird man von uns denken? Lius sanften Liebesbekundungen in dem Thronsaal des Königs schleichen sich zurück in meinen Sinn.
Mit geschlossenen Augen entspanne ich mich.
„Ich habe dir gestern etwas versprochen“, murmelt Liu mir ins Ohr, „und ich gedenke, das zu halten.“
Nickend klammere ich mich an ihn. Unsere letzten Wochen werden ein Fest sein.
Warum fühlt es sich dann an, als stiege ich in einen Wagen ein, der senkrecht ins Nichts hinabschießt?
Die Tafel des Königs wurde reich gedeckt. Der Duft von gebratenem Fleisch steigt mir in die Nase und unzählige Kronleuchter erhellen den weiten Raum. Unruhig flackern die Kerzen bei jedem noch so kleinen Luftzug und die schweren Vorhänge wiegen sich im Wind. Goldene Stickereien prangen auf dunkelgrünem Grund. Flammend versinkt die Sonne am Horizont in ihrer rosenblühenden Glut und wirft weiche Schatten auf die gebratene Gans vor uns. Dunkelhäutige Diener tragen Karaffen voll Wein in den weiten Saal. Das Licht fängt sich darin und lässt es wie Blut erstrahlen.
Liu verschränkt seine Finger mit meinen, während man uns einschenkt. Sanfte Sorge steht in seinen bernsteinklaren Augen geschrieben. Seine Aufmerksamkeit gilt nicht mir, sondern der Prinzessin neben ihrem Vater. Die gräuliche Blässe des Königs ist einer gesunden Röte gewichen. Kein Husten schüttelt seinen Körper, kein Keuchen zerrüttet seine Lungen.
„Schenkt dem Wunderheiler mehr ein“, befiehlt der Herrscher über das ruhige Reich, als der Diener zurücktreten will. Ein dünnes Rinnsal stiehlt sich in den roten See, gehalten von dem fragilen Glas.
Liu neigt den Kopf leicht. „Ihr seid zu gütig.“
Das Lächeln auf den Lippen des Königs jagt mir Schauer über den Rücken. „Ich danke meinem Medicus.“
Lius Finger krampfen sich fester um meine. „Und ich dem großherzigen König.“
Der König hebt sein Glas und trinkt. Liu tut es ihm gleich und ich Liu. Jean presst ihre Lippen fest aufeinander und starrt auf die goldbraune Gans vor uns. Sie ruht in einem Bett aus Obst und Gemüse und der Geruch ist betörend. Mein Magen knurrt.
Wir trinken. Ich schmecke kaum etwas. Liu leckt sich über die Lippen und lehnt sich ein Stück näher zu mir.
„Was wünscht Ihr als Dank?“, fragt der König, kaum, dass er das Glas abgesetzt hat. „Gold kann ich Euch bieten, Land.“ Ein stolzes Lächeln in Richtung der Prinzessin. „Meine Tochter.“
Ich versteife mich ungläubig. „Wir sind verheiratet“, schalte ich mich ein. Ein Diener mit stechend grünen Augen schneidet die Gans. Das Geflügel zerfällt wie Butter.
„Eine Ehe kann enden“, sagt der König langsam.
Liu schüttelt kaum merklich den Kopf. „Diese nicht.“ Er hält den Blick des Königs, als Liu erneut alle Regeln bricht und mit den Lippen meine Wange streift.
Der König lacht leise. Man legt ihm ein Bruststück der Gans auf den goldenen Teller. „Ich hielt die junge Dame für eure Mätresse.“ Mir entgleiten die Gesichtszüge. „Eure liebste, selbstverständlich“, fügt der König hinzu.
Die Knöchelchen in meinen Fingern knacken leise, als Liu meine Hand noch fester umklammert. „Meine Ehefrau“, sagt Liu gefährlich leise. „Das ist sie und das wird sie bleiben.“
„Ihr Benehmen…“
„…ist nicht von Belang“, fällt Liu dem König ins Wort. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Mir müssen die Sitten nicht in und auswendig bekannt sein, um die unterschwellige Spannung zwischen den beiden spüren zu können. Mein Blick huscht zu dem Degen an Lius Hüfte. Er darf ihn nicht ziehen. Unter keinem Umstand. „Eure Tochter mag atemberaubend schön sein, Eure Hoheit“, fährt Liu in gemäßigterem Ton fort, „aber ich werde ihre Hand ausschlagen müssen. Gold besitze ich selbst mehr als genug und an Eurem Land habe ich kein Interesse. Dennoch könntet Ihr mir einen Wunsch erfüllen.“
Der König nimmt Messer und Gabel auf. „Alles, was mein Medicus sich erträumt.“ Die grauen Augen wirken stechend intensiv. Krank war er mir lieber.
Liu sieht mich an. „Der erste Mann, der um die Hand Eurer Tochter anhält, soll Euer geliebter Schwiegersohn werden.“ Meine Mundwinkel heben sich. Clever. Sehr clever. Wie kann man eine weitere Tücke des Märchens aus dem Weg schaffen? Indem man sichergeht, dass der Vater den Froschkönig ohne zu zögern akzeptiert. Erpressung der schönsten Form.
Die Brauen des Königs rücken zusammen. Er schiebt sich ein Stück des duftenden Gänsefleischs in den Mund. Es juckt mich in den Fingern, selbst zu essen. Der Hunger bringt mich um.
Warmer Sommerwind schlängelt sich durch die geöffneten Fenster und umschmeichelt die schweren, bestickten Vorhänge. Der Duft von Wald und Rosen wird zu uns getragen, angereichert mit dem Geruch schwerer Erde.
„Ihr wünscht die Vermählung meiner Tochter?“
„Mit einem Mann ihrer Wahl.“ Liu hebt den Blick und sieht Jean direkt in die Augen. „Womöglich mit einem König, der zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr als ein Frosch für sie zu sein scheint.“
Der König spült mit Wein nach. Seine Hand zittert kaum merklich. „Die Vermählung meiner Tochter mit einem dahergelaufenen Mann.“
„Er wird nicht mittellos sein“, sagt Liu sorglos und lässt meine Hand los, um das Besteck führen zu können. Mit einem schwachen Lächeln bedeutet er mir, selbst zu essen. Mein knurrender Magen hat sich zu einer schmerzhaften Faust zusammengeballt.
Leicht schüttle ich den Kopf. Liu legt das Messer zur Seite und schlingt einen Arm um meine Taille. Ich lehne mich an ihn. Die Sorge braut sich über mir zusammen wie eine dichte Gewitterwolke. Bis heute dachte ich, die Prinzessin und ihre hohen Ansprüche wären das Problem des Märchens gewesen. Nun sehe ich auf den genesenen Vater und mir jagt eine eisige Gänsehaut über den Rücken. Wenn jemand zwischen den beiden Liebenden stehen wird, dann er. So wie einst Lius Vater zwischen Liu und mir?
„Nun werdet Ihr zum Propheten?“, spottet der König. Der dunkle Wein schwappt sanft und satt in dem Kristallglas.
„Ich verstehe das Leben“, sagt Liu glatt. „Und meine Gattin versteht, was Eure Tochter sich wünscht.“
„Eure Gattin, verzeiht, aber sie scheint mir ein Tölpel vom Lande zu sein.“
Meine Brauen schießen in die Höhe. Dieser König ist mir unsympathischer als Dornröschen und dabei versucht er nicht, mir Liu auszuspannen. „Immerhin ein hübscher Tölpel“, sage ich, ehe Liu die Fassung verlieren kann. Unruhig streichelt sein Daumen über meinen Handrücken. „Ein Weib hat zu schweigen.“
„Vater“, murmelt die Prinzessin. Sie hat das Stück auf ihrem Teller noch nicht angerührt.
„Bedrückt dich etwas?“ Ein gefährlicher Unterton schwingt in der Stimme des Königs mit.
Sie presst die Lippen zu einer weißen Linie zusammen und starrt auf den gedeckten Tisch. Die weichen Schatten, geworfen von den gigantischen Lüstern, huschen zwischen Gedeck und Braten hin und her, hektisch und panisch wie ein fliehendes Kitz. „Nein. Nichts.“
Ihre verlorenen Worte stehlen sich zurück in meine Erinnerung. Was habt ihr dem König geboten? Für mein Leben. Ich habe nicht ganz verstanden, was sie mir damit sagen wollte. Nun, während ich zwischen dem König und seiner Tochter hin und her blicke, verstehe ich. In den düsteren Zeiten wird die Tochter zur Währung und sie ist das Wertvollste, was das Reich besitzt.
Ich räuspere mich. Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen. Wie kommt es, dass die Märchen von Mal zu Mal einen größeren Teil ihres Zaubers einbüßen?
Mit einer gefährlichen Ruhe legt Liu sein Besteck auf zwanzig nach vier und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Der schmiedeeiserne Griff seines Degens blitzt in dem Kerzenlicht verschlagen wie ein Katzenauge. „Wir danken Euch für Eure Gastfreundschaft“, sagt Liu, „und wollen davon absehen, sie weiterhin zu strapazieren. Meine Frau und ich bitten darum, entlassen zu werden.“
Ein ohrenbetäubendes Klopfen hält den König von seiner Antwort ab. Liu und ich tauschen einen knappen Blick. Der Froschkönig.
Heiser lachend schüttelt der Herrscher dieses Reiches den Kopf. Die Perücke sitzt ihm gerade auf dem Kopf und die Krone thront darauf. Er wedelt wegwerfend mit der Hand. Der Prinzessin weicht das letzte Bisschen Farbe aus den Wangen. Nichts und niemand rührt sich. Selbst der Wind scheint innezuhalten. Die Kerzenflammen stellen sich angestrengt auf die Zehenspitzen und die Vorhänge verharren mitten in der Bewegung. Das Gold inmitten des Goldes erinnert mich an das Farbenspiel eines Froschauges in der Sonne.
„Königstochter, jüngste, mach mir auf“, erklingt die vom Holz verzerrte Stimme des Frosches.
Jean wird bleich wie das Tischtuch und sieht ihren Vater flehentlich an.
„Mein Kind, was fürchtest du dich, steht etwa ein Riese vor der Tür und will dich holen?“, fragt dieser. Sein Messer schneidet durch das Gänsefleisch. Der König wirkt nicht besorgt. Nicht einmal beunruhigt.
„Ihr Fiancé“, antwortet Liu knapp und macht Anstalten, sich zu erheben. Ich lege meine Hand über seine. Noch nicht. Das ist der falsche Moment. Jetzt, zu dieser Sekunde, da könnte viel geschehen. Was, wenn die Prinzessin den Frosch nicht gegen die Wand wirft? Wenn der König ihn gar nicht erst einlässt?
Wenn er sein Versprechen an Liu bricht.
„Ach nein“, flüstert Jean mit bebender Stimme und ringt die zarten Hände. Blonde Strähnen umspielen ihr schönes Gesicht und die grauen Augen schimmern gequält. „Es ist kein Riese, sondern ein garstiger Frosch.“
Der König verharrt mitten in der Bewegung, die Gabel auf Höhe seines Mundes. Quälend langsam lässt er sie sinken. Liu legt eine Hand auf den Griff seines Degens. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Im Märchen, da kam mir dieser Moment harmlos vor. Wie selbstverständlich. Aber in diesem Moment scheint es, als würden sich tausend Geschosse auf uns und den Frosch richten und sich bereitmachen, jeden guten Vorsatz blutig zu zerfetzen.
Der König richtet sich auf. „Was will der Frosch von dir?“ Das Kerzenlicht bricht in sich zusammen und in einem rauschenden Inferno erstrahlt es in der Krone. Rubine und Smaragde blitzen um die Wette, teuflische Augen, die in diabolischem Vergnügen den weiten Saal mit harschem Gleißen füllen. Die Sonne ertrinkt in ihrem eigens vergossenen Blut hinter den wellenschlagenden Hügeln und dem duftenden Wald.
Liu zieht den Degen wenige Zentimeter aus der Scheide. Die Luft ist zum Zerreißen gespannt. Bebend atme ich ein. Über uns toben die Lichter dutzender Kerzen. Ihre Hitze brennt sich in meine Haut.
„Ach, lieber Vater, als ich im Wald bei dem Brunnen saß und spielte, da fiel meine goldene Kugel ins Wasser“, flüstert Jean so leise, ich kann sie kaum verstehen, dabei habe ich die Worte, die sie sprechen soll, so oft gelesen, dass sie sich in mein Gedächtnis gebrannt haben. Über die Jahre, irgendwie sind sie da wohl ein Teil von mir geworden. Von meinem Verständnis eines stereotypischen, glücklichen Märchens.
„Und weil ich so weinte, hat sie der Frosch wieder heraufgeholt, und weil er es durchaus verlangte, so versprach ich ihm, er sollte mein Geselle werden; ich dachte aber nimmermehr, dass er aus seinem Wasser herauskönnte. Nun ist er draußen und will zu mir herein.“ Das Wasser des Brunnens kräuselte sich, als Liu mich fortführte.
Liu lacht auf. „Ihr werdet Euch wundern, wozu ein Mann im Stande ist, der auf Eure Liebe hofft.“
Ich zucke zusammen, als hätte Liu mich geohrfeigt. Als ich seinen Blick suche, weicht er mir aus. Genau das sagte er mir, als wir beschlossen, sein Reich zu verlassen.
Die duftenden Rosen kletterten den Bogen hinauf in gelb und rot, orange und rosa, die Dornen gewetzt, und der Mond erklomm das Himmelszelt. Die Frühlingskälte ließ unseren Atem dampfen. Ich hatte mir mein Märchenbuch unter den Arm geklemmt. Damals juckte es mich in den Fingern, die Geschichte des vergessenen Prinzen auf die leeren Seiten ganz hinten zu bannen. Ich war mir sicher, wir würden einander niemals wiedersehen.
Doch da stand Liu, gebadet in weißsilbriges Licht, unwirklich wie ein Geist, gehüllt in seinen lächerlichen, langen Mantel, seinen Degen umgeschnallt, und lächelte mich auf diese Weise an, die niemand außer ihm beherrscht. Diese Weise, die meine Knie in Butter verwandelt.
Während die grünen Vorhänge im auffrischenden Wind sich aufbauschten wie Segel eines verschwindenden Schiffes, glaubte ich meine eigene, angstdünne Stimme zu hören. „Ich dachte, du würdest nicht kommen. Ich dachte, dein Vater hätte es dir verboten.“
Lius samtiges Lachen hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. „Du wärst verwundert, wozu ein Mann im Stande ist, der sich Liebe erhofft.“
Es klopft ein zweites Mal an der Tür. Liu blickt starr auf den Tisch, seine Finger um meine eigenen gekrampft. Erinnert er sich mit mir an diesen unschuldigen Beginn unserer verrückten, glücklichen, zum Scheitern verurteilten Partnerschaft?
„Königstochter, jüngste, mach mir auf!“ Ich versuche mir vorzustellen, wie der Frosch aufgeplustert vor der schweren Holztür sitzt, flankiert von zwei Wachposten, die ihn tatsächlich bis in das Herzstück des Schlosses vorließen. Es mag mir nicht gelingen. „Weißt du nicht, was du zu mir gesagt bei dem kühlen Wasserbrunnen?“ Lius Lippen streifen meine Ohrmuschel. Seine Brust hebt sich langsam. Ich glaube seine Anspannung körperlich fühlen zu können. „Königstochter, jüngste, mach mir auf!“
Jean ist blass, wie ich mich fühle, als Liu herausfordernd das Kinn hebt.
Ein blitzender Zorn zerreißt das aufgesetzt gnädige Gesicht des Königs. Eisige Wut kommt zum Vorschein und macht den Eindruck des dahinsiechenden Kranken zunichte. Niemand lässt sein Schloss unbewacht wie dieser Mann, wenn er irgendetwas zu befürchten hätte. Und jeder muss des Nachts mit einem offenen Auge schlafen – es sei denn, man selbst ist der Menschen Alptraum.
„Was du versprochen hast, das musst du auch halten; geh nur und mach ihm auf.“
Jeans Hände zittern unkontrolliert. Ich lächle ihr aufmunternd zu. Sie rührt sich nicht.
„Geh nur und mach ihm auf“, wiederholt der König. Er wirkt grausig wie eine Schlange kurz vor dem Angriff. Liu verlagert kaum merklich das Gewicht und schiebt eine Schulter vor mich.
Die Prinzessin greift in ihren Schoß und legt die goldene Kugel auf das weiße Tischtuch neben ihrem goldenen Teller. Das fließende Licht fängt sich in dem blutroten Stoff ihres weiten Kleides. Unter den Röcken erahne ich die schmalen Schuhe. Lautlos tapst sie zu der Tür. Mit einer einzigen, harschen Handbewegung untersagt der König jedem Anwesenden außer der Prinzessin, die Tür zu öffnen. Es sind ihre schmalen Finger, die sich um die gigantischen Eisenknaufe schlingen. Das dunkle Grau des Metalls hebt sich unheilvoll gegen ihre unschuldig helle Haut ab. Beinahe scheint es, als öffnete sie die Tore zur Hölle, bereit einen Dämon in ihr Leben zu lassen, der ihr jedes Glück aus dem Körper saugt.
Ich verbiete mir jede Sorge. Ich verbiete es mir, zu denken, dass Liu und ich hier womöglich einen Fehler gemacht haben könnten. Der Froschkönig wurde für diese Prinzessin geschaffen. Diese beiden hier werden glücklich werden. Weil dieses hier eines meiner liebsten Märchen ist. Und eines der Aufrichtigsten.
Ohrenbetäubend laut knackt das Schloss. Nur einen Spalt breit stemmt die zarte, junge Prinzessin die Türen auf. Er genügt. Platschend zwängt sich der Frosch hindurch und macht es sich in dem strahlenden Schein der Kerzen bequem. Bilde ich es mir ein oder schimmert seine grüne Froschhaut golden? Kurz verharrt er dort im Niemandsland. Mit einem betäubenden Krachen fallen die Türen zurück ins Schloss.
Leise schleicht die Prinzessin zurück zu ihrem Platz. Wie ein treuer Hund folgt der Frosch ihr.
Bis zu ihrem Stuhl.
„Heb mich herauf zu dir.“
Die Prinzessin erstarrt auf der Stelle. Hilfesuchend sieht sie erst mich an, dann ihren Vater. Ich lecke mir über die Lippen. Sollte ich ihr sagen, dass ich hiervon gelesen habe? Dass nichts hiervon so schrecklich ist, wie sie vielleicht befürchtet? Der Frosch wird zu dem Menschen werden, den sie unter allen am dringendsten braucht. Zu dem Mann, der sie bedingungslos lieben wird.
Sie muss nur diesen demütigenden Moment überwinden. Diese quälenden Minuten.
„Heb ihn hinauf zu dir“, befiehlt der König harsch.
Zitternd wie Espenlaub geht die Prinzessin in die Knie und setzt den Frosch neben ihre goldene Kugel auf das Tischtuch. „Hygienisch“, murmelt Liu spöttisch.
Ich schüttle strafend den Kopf. „Dieser Frosch hier ist sehr gepflegt und gutaussehend.“
„So gutaussehend ein Frosch halt sein kann.“ Liu fährt sich durch die zerzausten, dunklen Haare. In diesem Licht strahlen sie wie Mahagoni und seine Augen scheinen sich in flüssiges Karamell zu verwandeln. Nie genoss ich es mehr, jemanden unter dem Flammenschein der Kerzen zu sehen.
Neugierig sieht der Froschkönig in Richtung des unangetasteten Fleischstücks. Daneben liegen goldbraune Kartoffeln, angerichtet an Gemüse, und die braune Soße duftet verführerisch genug, damit sich mein verkrampfter Magen beinahe lockert. „Nun schieb mir dein goldenes Tellerlein näher, damit wir zusammen essen“, verlangt der Froschkönig.
Jean ballt die Hände zu Fäusten. Ich begreife sie nicht. Ihre Abwehrhaltung. Es ist doch nur ein kleiner Frosch. Was tut hieran schon weh? Hat er Jean doch ihre Kugel zurückgebracht.
Sie erinnert mich an Liu, der das erste Mal mit mir an einem Tisch essen sollte. Wir waren damals keine zehn Jahre alt und er so rund, dass man ihn beinahe hätte rollen können. Ein verzogenes, feistes Kind mit einem Faible für Blut und Tod. Das Bild von unserem ersten gemeinsamen Abendessen habe ich deutlich vor Augen, als wäre es gestern gewesen.
Liu trug eine weiße Perücke, das Gesicht schneeweiß geschminkt, die Lippen und Wangen mit roter Farbe bemalt und ein überhebliches Funkeln in den kleinen Schlitzaugen. Die Nägel hatte man ihm manikürt und seine Weste und der Gehrock waren gelb und himmelblau und farbenfroher als alles, was ich mir bis dato ausmalen konnte.
Ich kam mir vor wie der einzige vernünftige Mensch auf Erden, als man mich anwies, mich auf den harten Stuhl neben ihm zu setzen. Liu trug Absatzschuhe mit einer goldenen Schnalle darauf. Seine Strümpfe waren mit Ranken bestickt gewesen. Dieses Abendessen war das Anstrengendste meines Lebens. Nicht, weil ich eingeschüchtert war und mit der Gesellschaft in diesem Märchen nichts anzufangen wusste. Sondern weil ich nicht lachen durfte.
Liu sprach geschwollen und zumeist mit vollem Mund. Er tupfte sich die Lippen nie selbst ab und er stank bestialisch. „Nur der Bauer wäscht sich“, spottete er damals und überdeckte den unangenehmen Geruch mit Parfum, das nach Aprikosen roch.
Als ich mich das erste Mal auf den Platz neben Liutwin von Mirlando setzte, da betrachtete er mich wie eine Amöbe. Die Zofen hatte ich wispern hören von Lius Gefühlskälte und seiner Freude daran, kleinen Tieren die Beine auszureißen. Mir kletterte eine Gänsehaut über die Schultern, als ich mich neben diesen Jungen setzte. Niemanden sonst behandelte er je wieder wie mich an diesem Abend. Nie lehnte er erneut einen Menschen derart offensichtlich ab. Nie spottete er über jede Silbe, die jemand sprach und nie wieder versuchte er ein Mädchen zu verprellen wie mich an diesem Abend.
Weil er mich auf die gleiche Weise fürchtete wie Jean den Froschkönig?
Unter den zentnerschweren Blicken ihres Vaters schiebt die Prinzessin den goldenen Teller näher zu dem Frosch heran.
Seite an Seite beobachten Liu und ich, wie die Prinzessin pflichtbewusst die Gans schneidet und dem Frosch kleine Stückchen an den Rand ihres Tellerchens schiebt.
„Der frisst mehr als ich, wenn ich am Verhungern bin“, flüstert Liu mir zu, während der Frosch mehr Fleisch in sich hineinstopft, als er groß ist. Jean hingegen bekommt kaum einen Happen herunter.
„Sei froh“, erwidere ich leise. „Sonst würde dir nur schlecht werden.“
Liu rollt grinsend die Augen. „Du hast ja keine Ahnung.“
Dunkel erinnere ich mich an das Festmahl bei Dornröschen zurück. Nein. Nein, das habe ich wohl wirklich nicht. Geht es ums Essen, da ist Liu wie eine Kuh. Ein Magen reicht nicht. Er hat vier davon.
Eine angespannte Stille hängt über uns, nur hin und wieder unterbrochen von dem Kratzen von Besteck auf Gold oder dem lauten Rascheln der Vorhänge. Ich bringe es nicht über mich, auch nur einen Bissen hinunter zu zwingen. Liu hat sein Abendessen längst beendet.
Endlich stolpert der Frosch rückwärts. Sein Bauch ist genauso rund wie die goldene Kugel der Prinzessin. Hoffnungsvoll sieht sie auf den kleinen, grünen Mann hinab. Fast als wollte sie fragen: Reicht es dir nun endlich? Wirst du nun gehen?
Aber wenn ich eines von Liu gelernt habe, dann, dass Männer nicht nur überall hinkommen, wenn sie es sich in den Kopf gesetzt haben. Sie sind ebenso ungenügsam.
„Ich habe mich sattgegessen und bin müde“, sagt der Froschkönig gedehnt. Jeans Schultern sinken erleichtert hinab. Ein Funken Mitleid stiehlt sich in mein Herz. Wenn ich ihr jetzt sagen würde, dass das hier der Beginn ihres glücklichen Lebens ist, sie würde mir wohl kaum glauben. Mit einer schwimmhautbehafteten Hand fährt der Frosch sich über den kugelrunden, weißen Bauch. „Nun trag mich in dein Kämmerlein und mach dein seiden Bettelein zurecht, da wollen wir uns schlafen legen.“
Ein entsetztes Geräusch entweicht Jeans Kehle. Mit weitaufgerissenen Augen sieht sie in Richtung des Königs. Der Herrscher des Landes betrachtet den Frosch mit gemessener Abscheu.
„Ich gab meinem Medicus ein Versprechen“, antwortet er auf Jeans stummes Flehen. „Der erste Mann, der dich zur Frau will, soll dich haben, und wenn es ein Frosch ist, dann soll es so sein.“
„Ein Frosch!“, ruft sie aus. „Ihr verdammt mich, mit einem glitschigen Frosch mein Bett zu teilen?“
Desinteressiert rückt der König an die Kante seines Stuhls. Augenblicklich eilen zwei Diener heran und ziehen ihn zurück. Ohne ein weiteres Wort verlässt der König den kerzenlichtdurchfluteten Raum.
Mir klappt der Mund auf. Es war wohl nicht einmal ein schmeichelhaftes Angebot, sie Liu schenken zu wollen. Der König übergibt seine Tochter tatsächlich ohne mit der Wimper zu zucken an einen Frosch.
„Ihr habt behauptet“, ruft Jean aus und deutet mit dem Finger auf mich, „dass du mein Märchen liebst.“ Ihre Stimme hallt hilflos durch den weiten Saal. Unter einem heftigen Windstoß neigen sich die Kerzenflammen und die Fenster schlagen zu. Langsam beruhigen sich die schweren, dunkelgrünen Vorhänge.
Liu fährt zu mir herum. „Du hast was?“
Was bringen Versprechen uns schon noch, wenn wir keine Zeit haben werden, sie auf ewig zu halten?
„Ich liebe Euer Märchen“, bestätige ich. „Das tu ich, weil es wundervoll wird. Glaubt mir, Ihr müsst ihn nur mit Euch in Euer Zimmer nehmen.“
Blanke Verzweiflung verzerrt Jeans Gesicht. Sie nimmt die goldene Kugel in beide Hände und presst sie fest an sich. War dieses Spielzeug diese Tortur wirklich wert? Aus irgendeinem Grund erinnert mich der Ball an mein Märchenbuch. Hat sich alles gelohnt für diese bunten Seiten, was für sie gegeben wurde? Ist es richtig, dass Liu und ich unser Leben mit dem Retten der Märchen verbracht haben?
„Und dort solltet Ihr tun, was meiner Gattin gebührt“, sagt Liu eisig. Sein Blick bohrt sich in mein Gesicht. Ich ignoriere ihn geflissentlich. Dafür wird es ein Donnerwetter geben. Sag einer Figur niemals, dass sie nur ein Teil eines Märchens ist. Aber was kümmert mich das schon. „Werft den Frosch an die Wand, wenn er unverschämt wird.“ Lius Finger krampfen sich um mein Handgelenk. „Er wird es Euch danken.“
„Das wird er wirklich“, sage ich hastig, als Jean gerade entrüstet den Mund öffnet. „Genießt die Zeit mit ihm. Er ist Euer Frosch. Nur Euer. Und er wird Euch lieben.“
Der Miniaturkönig rülpst ungeniert. Besäße er Manieren, bestimmt könnte die Prinzessin ihn müheloser ins Herz schließen. Erneut steigen Jean Tränen in die Augen. Sie beißt sich auf die rosa Unterlippe, die Mundwinkel zitternd.
„Ihr verspracht mir Glück“, wispert die Prinzessin. Anschuldigen sieht sie mich an. Das Licht fängt sich in ihren zarten Löckchen und setzt ihr einen Heiligenschein auf. „Nun verdammt Ihr mich hierzu?“
Liu rollt die Augen. „Ich werde nie verstehen, warum ihr Frauen solche Probleme damit habt, einen Mann in euer Bett zu holen“, murmelt Liu, ehe er laut sagt: „Wir werden einander am morgigen Tag sehen. Vergesst nicht den Frosch.“
„Vergesst nicht den Frosch?“, wiederholt die Prinzessin aufgebracht.
Es ist wohl das Beste, dass der Froschkönig sich neben dem geleerten Teller in Schweigen hüllt. Vermutlich hätte man ihn sonst lange vor dem Zubettgehen gegen die Wand geschmettert.
Aus großen, goldgrünen Augen sieht er die Prinzessin an, als sie ihn endlich mit zwei Fingern greift, und mir einen letzten, wütenden Blick zuwirft. „Ihr hattet Recht“, flüstert sie. „Ihr seid nicht wie die anderen, Adeline. Ihr seid schlimmer.“
Mir klappt der Mund auf. Ungläubig beobachte ich, wie die Prinzessin aus dem Saal rauscht, die blutrote Robe sich blähend und die Vorhänge raschelnd. Als die Tür zurück ins Schloss fällt, zucke ich zusammen, als hätte man mich geschlagen.
„Da hat sie wohl Recht.“ Liu lässt von meinem Handgelenk ab. „Was ist in dich gefahren?“
„Der Teufel?“, frotzle ich und stehe auf.
„Nicht nur der, wie es aussieht.“ Liu springt auf und stapft in Richtung der geöffneten, weiten Fenster. Sie weisen auf den Steingarten hinaus. Dort, in einem zarten Mondschimmer, badet der Steinbrunnen, hinter ihm der schützende Wald. „Du erzählst einer Prinzessin, dass sie nur Teil eines Märchens ist?“ Eine aufgebrachte Röte breitet sich auf Lius Wangen aus. „Ich dachte, wir hätten das besprochen!“
„Haben wir auch.“ Als wären wir nicht da, treten die Diener an die Kronleuchter heran und kurbeln sie nach unten, um nach und nach die Kerzen zu löschen. „Aber hättest du irgendeine geniale Idee gehabt, wie ich die Prinzessin dazu bringen soll, mit ihrer Kugel zu spielen, mit ihrem größten Schatz, wenn nicht so?“
Liu reißt die Hände in die Luft und funkelt mich an. Ein düsterer Racheengel. „Was weiß ich? Du hättest ihr ein besseres Spielzeug versprechen können.“
„Nicht jeder ist du.“
„Sie ist eine Prinzessin“, faucht Liu. „Sie ist ganz genau wie ich. Du hast keine Ahnung, wie sie reagiert hätte, weil du Menschen wie sie und mich niemals begreifen wirst.“ Fuchsteufelswild tippt er sich mit dem Finger gegen die Schläfen. Eine eisige Hand krampft sich um meine Kehle und schnürt mir die Erleichterung ab, die ich empfand, als Jean den Frosch mit in ihr Zimmer trug. Und das Märchen rettete? „Der König hat Recht! Du bist nur ein kleines, dummes Mädchen.“
Mir entgleiten die Gesichtszüge. „Was ist in dich gefahren?“
„Dass du jemandem verraten hast, dass das hier nur ein Märchen ist!“
„Sie hat es doch gut aufgenommen!“
„Und was, wenn sie das nicht getan hätte? Was dann?“ Liu stapft auf mich zu. „Was dann, Adeline? Hättest du sie dazu gezwungen, das Märchen zu durchlaufen?“
Ich schweige. Keine Ahnung. Wir sind in diese Situation nicht gekommen, warum sich also darüber den Kopf zerbrechen?
„Du bist zu unvorsichtig“, schleudert Liu mir entgegen. „Würdest du einmal nachdenken, dann wäre nichts hiervon geschehen.“
„Wie bitte?“ Ich lache ungläubig auf. „Es ist doch alles glatt gelaufen.“
Die sich verdichtenden Schatten eines erlöschenden Raumes fressen sich in Lius Gesicht. „Nichts ist glatt gelaufen. Wir befinden uns in einem Märchen, weit weg von Zuhause. Wir beide.“
Ich schlucke schwer. Dieses Ambiente hier, hat es Liu zum Umdenken gezwungen? Dazu seine übereilte Entscheidung zu bereuen? Eine Entscheidung, zu der ich ihn unwillentlich zwang, als ich Hals über Kopf den Hof verließ? Die, sein Königreich für mich zu verlassen und den Thron aufzugeben. „Liu“, wispere ich und strecke die Hände nach ihm aus. Er macht einen großen Schritt rückwärts. Die schweren Vorhänge schlingen ihre Arme um ihn wie dunkle Schwingen.
„Wärst du vorsichtiger gewesen, wäre nichts hiervon geschehen“, wirft Liu mir atemlos vor, leichenblass, während das Licht erlischt.
„Ich habe ihr nur gesagt, dass das hier ein Märchen ist“, flehe ich halb. „Es wird nie wieder vorkommen. Das verspreche ich dir. Es war nur eine dumme Idee in einem dummen Moment. Es wird nicht wieder passieren.“
Ruckartig wendet Liu mir den Rücken zu. Das Mondlicht zieht jede Wärme aus seiner Erscheinung. Ein kühler, ablehnender Prinz starrt in die Nacht hinaus. Mir wird übel. Das war Liu damals, bevor wir verschwanden. Ein ausdrucksloser Junge, der mit sich haderte und sich weigerte, seine Sorgen mit jemandem zu teilen. Am wenigsten mit mir. „Ich hasse dich für deinen Leichtsinn, Adeline“, flüstert Liu heiser. Die letzte Kerze erlischt hinter uns. Erstickende Finsternis breitet sich in dem großen Saal aus. Die Erinnerung an einen köstlichen Braten liegt in der Luft. Bebend schlinge ich die Arme um mich. „Wenn du mehr auf dich achtgegeben hättest, dann wärst du nie gestorben. Ich hätte dich niemals kennengelernt und ich müsste nicht jedes Märchen mit der Gewissheit durchleben, dass es unser letztes sein könnte. Kannst du dir ausmalen, wie quälend das ist?“
Lius schmerzhaftes Geständnis bohrt sich als vergifteter Pfeil in meine Brust. Wortlos schüttle ich den Kopf. Liu kann diese Regung nicht gesehen, noch weniger gehört haben, dennoch fährt er fort. „Es bringt mich um“, sagt er leise. „Es bringt dich um.“ Er wirft mir einen kurzen Blick über die Schulter zu. „Das weiß ich, Adeline. Andererseits würdest du unsere Regeln nicht brechen. Niemals. Weil sie manifestiert haben, was wir sein wollten. Wer wir sein wollten.“
Ich schlucke schwer. Was auch immer mich dazu bewegt hat, Jean die Wahrheit zu sagen, es spielt keine Rolle mehr.
„Wir sollten zu Bett gehen“, wispere ich in dem kalten Schimmern des Mondes. „Das Märchen wird uns erst gehen lassen, wenn Jean mit dem Froschkönig verschwunden ist.“
„Und uns im Schlaf von den Bediensteten des Königs erdolchen lassen?“ Liu schüttelt leicht den Kopf und bietet mir seine Hand an. Ratlos suche ich seinen Blick aus den bernsteinklaren Augen.
Er weicht mir aus. „Das hier könnte unser letztes Märchen sein“, murmelt Liu. „Wir sollten uns daran erinnern, wie es sich angefühlt hat, das erste Mal in diese Welt abzutauchen.“ Mein Herz bricht. Tage. Stunden. Behutsam verschränke ich meine Finger mit Lius und stelle mich auf die Zehenspitzen. Einen kleinen Kuss stehle ich ihm. Fast erwarte ich, dass er mich abweist.
Stattdessen schlingt Liu beide Arme um mich und zieht mich so nah an sich, dass ich seinen Puls über meiner eigenen Brust rasen spüre. „Ich wollte immer nur eines: Märchen für dich. Es fühlt sich an, als hätte ich versagt.“
„Das hast du nicht“, schwöre ich ihm und fahre Liu sanft mit dem Daumen über die Wange. „Das könntest du nie, Liu. Ich liebe dich.“
Er muss den Schwur nicht erwidern, damit ich weiß, dass sich diese eine Wahrheit niemals ändern wird.
Das Morgengrauen wird begleitet von klappernden Hufen und quietschenden Rädern. Die Erschöpfung zerrt an meinen Gliedern, als ich den Kopf von Lius Brust hebe und den Rücken durchstrecke. Der Teich plätschert zu unserer Rechten und die Fische nehmen träge ihre Bahnen auf. Gähnend vergräbt Liu das Gesicht in meinem Haar, die Hände entspannt auf meiner Taille ruhend. Die Sonne sendet goldene Strahlen über den Steingarten und fängt sich in den seidigen Blättern der Rosen.
„Das Märchen geht zu Ende“, murmelt Liu und setzt sich gerädert auf. Unsere Nacht war kurz. Zu kurz. Im bleichen Mondlicht schwiegen wir für Stunden, langsam nebeneinander hergehend, einander an den Händen haltend wie ein unschuldiges Geschwisterpaar in einem unschuldigen Märchen. Wir haben kaum zehn Worte miteinander gewechselt. Dennoch fühlte ich mich Liu selten näher. Als wir uns neben dem Teich in dem kühlen, taufeuchten Gras niederließen, dämmerte bereits der Morgen.
Ich nicke. „Sobald die Prinzessin eingestiegen ist, können wir zurück nach Hause.“
Seufzend lehnt Liu sich zu mir. Seine weichen Lippen wandern über meinen Hals, mein Schlüsselbein, und hinterlassen eine prickelnd warme Spur. Er verfolgt den schmalen Pfad mit den Fingerspitzen. „Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen“, flüstert Liu.
„Und in das nächste Märchen zu stolpern?“ Die Sonne blendet mich. Liu gibt einen unwilligen Laut von sich und ich schmiege mich dichter an ihn. Seine Körperwärme lullt mich ein. Am liebsten würde ich ewig hier bleiben, an diesem Ort, sicher gehalten von seinen Armen, während die Seerosenblüten sich scheu dem neuen Tag öffnen.
„Das Bürle“, stöhnt Liu. „Ich hatte selten so wenig Lust auf ein Märchen. Der Typ ist ein Arsch. Warum sollten wir für ihn auch nur einen Finger krümmen?“
„Wir könnten das Märchen zum Besseren wenden“, schlage ich leise vor. „Es möchte geheilt werden. Das muss nicht heißen, dass wir es sklavisch zurück in die Bahnen bringen müssen. Vielleicht sucht es nach einem Weg, um endlich schön zu werden.“
„Schön?“ Liu lacht leise. „Ein Märchen, schön?“
„Ja“, wispere ich. „Ja. Ein schönes Märchen.“ Ich drehe mich zu ihm um und suche seinen Blick. Letzte Müdigkeit hängt schwer in seinen bernsteinklaren Augen. Zarte Falten haben sich in seine Stirn gegraben und es kommt mir vor, als hätte diese Nacht einen weiteren Teil seiner kindlichen Unbedarftheit mit sich genommen.
„Schön und Märchen“, sagt Liu, „das widerspricht sich. Denkst du nicht auch?“
Mit schwerem Herzen beobachte ich, wie Liu seine Hände über meinem Bauch verschränkt. Diese Worte aus dem Mund einer Märchenfigur schmerzen tiefer als ein giftiger Speer im Leib. „Du bist ein Teil eines Märchens“, erinnere ich Liu. Behutsam streichle ich ihm mit dem Zeigefinger über die Wange. „Solange du zu ihnen gehörst, können sie nur fantastisch sein.“
Ein melancholisches Lächeln umspielt Lius weiche Lippen. Zögernd neige ich mich zu ihm. Sein Kuss schmeckt weich, tröstlich, rettend. Ich möchte mich ewig in diesen Berührungen verlieren, dem leisen Plätschern des Wassers und dem Rauschen von Blättern, die sich im Wind zu stabilisieren versuchen, bereit für ihren letzten Flug.
„Wir sollten die Prinzessin in diese Kutsche zerren“, murmelt Liu, als das Knirschen von Kutschenrädern auf Kies verstummt. „Das Märchen beginnt mir auf die Nerven zu gehen.“
Kichernd ziehe ich die Brauen zusammen. „Jetzt erst?“
Ein winziger Kuss auf die Nasenspitze, dann kämpft Liu sich auf die Beine und bietet mir seine Hand an. Ich ergreife sie, ohne zu zögern.
Wir gehen den gleichen Weg zurück, der uns bei Nacht zu dem Teich führte. Die Hügel wellen sich hinauf bis zum Schloss, geschlagen in Stein und links und rechts von grünen Gräsern überwachsen. Springbrunnen, gigantisch groß und ausladend, schleudern Wasserfontänen in die Luft. Die Sonne erschafft tausend Regenbögen und schickt sie hin zu dem hochaufragenden Schloss. Laut bläht sich die Fahne im Wind, dort auf dem höchsten Turm. In dem Teich stimmen die Frösche ihren Morgengesang an. Irgendwo zwitschern Amseln.
Vor den Haupttoren steht eine prächtige Kutsche mit acht weißen Pferden. Stolz haben sie die Köpfe gehoben und das Geschirr schimmert im Morgenlicht. Auf dem Bock sitzt ein Mann mittleren Alters, einen Schlapphut tief ins Gesicht gezogen.
Aufgeregt zupfe ich an Lius Ärmel, während wir uns durch den glänzenden Steingarten schlängeln. „Das ist der eiserne Heinrich!“
Desinteressier folgt Liu meinem Blick. „Das ist gut.“
„Das ist gut?“ Ungläubig sehe ich ihn an. „Mehr sagst du nicht dazu? Das ist der märchenhafteste Kutscher von allen. Ein Held! Er hätte alles für seinen Herrn getan.“
Liu zuckt die Schultern. „Von mir aus. Schlussendlich musste dieser aber doch von einem kleinen Mädchen gegen die Wand geworfen werden, um ihn von seinem Fluch zu befreien.“
„Ja, aber, Liu!“ Die Aufregung nimmt mir den Atem. Ich strahle ihn an. „Das ist der eiserne Heinrich! Der, der gesagt hat: ‚Nein Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen, als Ihr in dem Brunnen saßt, als Ihr eine Fetsche wast.‘ Das ist dieser Heinrich!“
Ein schwaches Lächeln hebt Lius Mundwinkel. „Dein persönlicher Held also?“
Atemlos zucke ich die Achseln. Ich hatte ihn mir größer vorgestellt. Glänzender. Aber Heinrich, er ist nichts weiter als ein Mann. Ein Mann mit Schlapphut und leichenblassen Händen. Er beweist einmal mehr, dass Helden keine Umhänge tragen müssen. So einen treuen Diener und Freund zu haben, das macht den Prinzen zu einem der glücklichsten Menschen überhaupt. Die braunen Locken stehlen sich wild unter dem Hut hervor und er sitzt krampfhaft aufrecht. Wegen der eisernen Bänder, die er um seinen Oberkörper spannte, damit ihm das Herz nicht bricht?
„Ja“, gestehe ich aufgeregt. „Ja. Er ist einer meiner Helden. Ich meine, wie könnte er das nicht sein? Er ist der eiserne Heinrich!“ Wenn ich Heinrich nur erklären könnte, warum er mich dermaßen begeistert. Ich würde ihn auf der Stelle um ein Autogramm bitten. Er ist der Held. Dieser Mann, der alles tat, um seinen Prinzen zu retten.
Liu muss mich nicht zurückhalten. Mir bleibt keine Zeit, aufgeregt auf den Kutscher zuzulaufen. In gemessenem Schritt führt der menschgewordene Froschkönig Jean die breite, weiße Treppe hinab, hin zu seiner verzauberten Kutsche. Ihre Hände umfassen die goldene Kugel.
Das Haar des Prinzen ist ebenso lockig und dunkel wie Heinrichs. Seine Augen schimmern in einem warmen Braun und jeder seiner Schritte strotzt vor kaum gezügelter Kraft und Energie.
Liu legt eine Hand auf den Griff seines Degens. Seine Muskeln stechen stark hervor. Ich glaube seine Anspannung greifen zu können. Fragend sehe ich ihn an. Will er so dringend, dass das Märchen jetzt endet? Hier? Auf der Stelle? „Gleich sind sie unterwegs“, sage ich beschwichtigend. Mein Herz schlägt schneller. Diesen Moment miterleben zu dürfen, das bedeutet mir alles. Beinahe so viel, wie es ein Tanz mit Aschenputtel täte.
Ein zartes, rosafarbenes Kleid umspielt Jeans Beine. Sie wirkt schrecklich winzig und verloren neben dem Prinzen. Aber ich sorge mich nicht um sie. Dieser Mann wird sie verehren, er wird sie lieben und vor allem wird er sie glücklich zu machen wissen. Weil das hier eines der schönsten Märchen ist.
Der eiserne Heinrich steigt von seinem Kutschbock und öffnet der Prinzessin die Tür. Mit einer tiefen Verbeugung hilft er ihr, in das Gefährt zu steigen. Die violetten Vorhänge vor den Fenstern blähen sich leicht auf. Ein aufgeregtes Quietschen baut sich in meiner Kehle auf und es braucht all meine Willenskraft, um nicht begeistert auf und ab zu springen.
Das schönste aller Märchen. Was sind schon Dornröschen und ihr Prinz hiergegen? Was bedeutet schon Schneewittchen, wenn man das hier beobachten darf?
Der Prinz dreht den Kopf in unsere Richtung. Aufgeregt winke ich ihm zu. Die beiden werden so glücklich werden. Sobald sie dieses Reich verlassen haben und in seines zurückgekehrt sind. Oder, wer weiß, vielleicht wird der König sogar ein Teil seines Schlosses seinem neuen Schwiegersohn vermachen? Er gehört schließlich von heute an zur Familie!
Anstatt in die Kutsche zu steigen, verharrt der Froschkönig mitten in der Bewegung. Ich kann ihn nur anstrahlen. Aufgeregt lächle ich Liu an. „Gib es zu, das hier war den gestrigen Tag wert.“
Die Falten zwischen Lius Brauen vertiefen sich. „Da bin ich mir nicht sicher“, murmelt er.
Ich öffne den Mund, um zu protestieren. Der Prinz neigt sich zu dem eisernen Heinrich und flüstert ihm einige Worte ins Ohr. Dann geht er an der Kutsche vorbei, direkt auf uns zu. Mein Puls schnellt nach oben. Um uns zu danken?
Zarte Sommersprossen ziehen sich über die Nase des Prinzen und die dunklen Locken erinnern mich an Ebenholz, nur erhellt von den samtigen Sonnenstrahlen. Er bewegt sich fließend und kraftvoll wie eine Raubkatze. Völlig grundlos krampfen sich Lius Finger um den Griff seines Degens. Besänftigend streichle ich ihm über die Hand, als der Prinz vor uns zum Stehen kommt und sich knapp verneigt.
„Meine Dame.“
Dame? Geschmeichelt kichere ich. Er hält mich für eine Dame? Ich werfe Liu einen Blick zu, der einem kecken Zungerausstrecken gleicht. Schau, will ich rufen, nicht jeder hält mich für einen Trampel.
„Mein Herr.“
Liu erwidert die Verbeugung des Prinzen unanständig knapp. Seine gesamte Haltung erinnert mich an die eines wütenden Zinnsoldaten.
„Liu“, flüstere ich und grinse ihn breit an. „Das ist nur ein Prinz.“
„Ein Prinz, der geblendet wird von Eurer Schönheit“, sagt der Froschkönig galant.
Das nächste Kichern bleibt mir in der Kehle stecken. Sein Blick ruht unanständig auf meinem Dekolleté. Mich räuspernd verschränke ich die Arme vor meiner Brust. Wie bitte? Das gehört ganz sicher nicht in dieses Märchen. Seine Bewunderung dürfte nur einer einzigen Frau gelten und die wartet in der Kutsche auf ihn.
„Äh, Danke?“ Ich grinse ihn an. „Das ist sehr freundlich von Euch. Wir wollten Euch eine gute Heimreise wünschen.“
Der Prinz greift nach meiner Hand. Liu zieht den Degen wenige Zentimeter aus der Scheide. Ich werfe Liu einen warnenden Blick zu. Er löst die Finger nacheinander von dem silbernen Griff. Weil er ebenso wie ich die Waffe an der Hüfte des Froschkönigs sieht und sehr gut weiß, dass dieses Märchen erneut beginnen würde, wenn wir eine der Hauptfiguren töten?
„Meine Schöne, es wäre mir eine Ehre, Euch mit mir führen zu dürfen“, sagt der Prinz mit samtig weicher Stimme.
Überfordert lache ich auf. Was? Nervös wische ich mir mit dem Handrücken über die Nase. Der rosa Stoff von Jeans Kleid flattert durch die geöffnete Kutschentür. „Eure Hoheit“, bringe ich hervor, „das ist eine gigantische Ehre, wirklich, aber mein Ehemann und ich, wir wollten gerade gehen.“ Kaum merklich entspannt sich Liu.
„Mit diesem zwielichtigen Mann wollt Ihr gehen?“ Die Brauen des Prinzen schießen in die Höhe und plötzlich erscheint er mir ganz und gar nicht mehr liebenswürdig und aufregend. Im Gegenteil. Ich wünschte fast, Liu würde ihn zu der Kutsche zerren, dort einschließen und die Peitsche knallen lassen, bis die Pferde scheuend das Weite suchen.
„Ja“, antworte ich knapp. „Mein Gatte und ich wollten soeben nach Hause gehen. Unsere Aufgabe hier ist erledigt.“
Leise lachend legt der Prinz die zweite Hand über meine. Ich fühle mich eingeengt. Als würde man mir die Luft zum Atmen nehmen. Nervös werfe ich einen Blick in Jeans Richtung. Ich habe ihr ein Versprechen gemacht. Sie wird glücklich sein. Mit diesem Mann. Der versucht, mich davon zu überzeugen, mit ihm zu gehen? Das ist doch verrückt!
„Man sagte mir, mir würde nur das Beste zustehen. Anstatt eines Kindes also will ich Euch als meine Frau.“
Liu schlingt einen Arm um meine Taille. Seine Muskeln sind hart wie Marmor, als er die Finger in meine Hüfte gräbt. „Ihr solltet gehen.“
Der Prinz verneigt sich ein weiteres Mal. „Nichts wünsche ich mir mehr – sobald Eure einstige Gespielin mir zu folgen gedenkt.“
„Ehefrau“, verbessert Liu den Froschkönig.
Ein raues, leises Lächeln schlängelt sich aus der Kehle des Prinzen hervor wie eine Viper. „Selbstverständlich. Bis zur heutigen Nacht werdet Ihr sie so nennen dürfen.“
Liu bewegt sich schneller, als ich reagieren kann. Ein ohrenbetäubendes Krachen hallt durch den friedlichen Garten, als Lius Faustschlag dem Froschkönig die Nase demoliert. Entsetzt kreische ich auf und schlage die Hände vor den Mund. Liu hat … soeben hat Liu einem meiner Kindheitshelden das Gesicht verschandelt. Entsetzen und Amüsement fechten in mir einen unerbittlichen Kampf.
Schließlich breche ich in schallendes Gelächter aus. Liu hat dem Froschkönig die Nase gebrochen!
Eine fiebrige Röte breitet sich auf den Wangen des Prinzen aus. „Ihr wagt es, mich zu verlachen?“ Als er mir erneut seine Aufmerksamkeit schenkt, wirkt der Prinz nicht länger zurechnungsfähig. Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Die Jahre als Frosch haben an seinen Sinnen gekratzt.
„Was? Nein. Nein! Das hier ist nur so lustig“, versuche ich die Situation zu retten. „Wisst Ihr, Liu tut eigentlich keiner Fliege etwas zu Leide“, eine glatte Lüge, „aber Euch hat er geschlagen. Einen Prinzen. Den Prinzen!“
„Weil er schmierig wie ein Frosch ist“, kommentiert Liu kühl. Der Zorn in den dunklen Augen des Prinzen entbrennt wie ein Leuchtfeuer. Beschwichtigend hebe ich die Hände. „Was? Nein. Nein, das meinte er nicht so. Liu wollte nur seine Bewunderung Euch gegenüber kundtun.“
„Händigt mir Euer Weib aus oder ich zerschlage Euer linkes Herz“, ruft der Prinz aus. So laut, dass Jean es in ihrer Kutsche mit Sicherheit hört. Mir weicht die Farbe aus dem Gesicht. Das hier ist nicht gut. Ganz und gar nicht gut. Es ist eine Katastrophe.
Liu hebt herausfordernd das Kinn. „Ihr solltet zu Eurer jungen Braut zurückkehren“, sagt Liu gefährlich leise. „Gegen mich zu gewinnen, wird Euch nicht möglich sein.“
Mit großer Geste richtet der Prinz seine Degenspitze auf Liu. Mir entgleiten die Gesichtszüge. Nein. Ganz sicher nicht. In dieses Gefecht wird Liu sich nicht verwickeln lassen.
„Liu, wir müssen los“, wiederhole ich und greife nach seinem Arm. „Das hier ist doch Unsinn.“
„Auf Leben und Tod!“, ruft der Prinz aus. Lius Finger schlingen sich um den schmiedeeisernen Griff seines Degens. Ich versuche, sie davon zu lösen. Er stößt mich beiseite. „Ehrlos werdet Ihr sterben, wie Ihr gelebt habt.“
Es fühlt sich an, als würde der Froschkönig Liu in und auswendig kennen. Denn er trifft ihn an der einzigen empfindlichen Stelle: seinem angeschlagenen Ehrgefühl.
„Das ist Schwachsinn!“, rufe ich aus und ziehe an Lius Arm. Leise zu Liu sage ich: „Lass uns gehen. Unsere Arbeit ist getan.“
„Unsere Arbeit ist erst getan, wenn er in der Kutsche neben der Prinzessin sitzt“, bringt Liu zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Mit Eurer Frau an meiner Seite.“
Das bringt das Fass zum Überlaufen. Mir bleibt nicht einmal die Zeit, entsetzt aufzuschreien. Wie kleine Kinder gehen die beiden aufeinander los. Eisen zerschneidet Luft und kreischt unter Kraft und Geschwindigkeit.
Es ist leicht zu sehen, wer die Oberhand hat: Liu. Er scheint jede Bewegung des Gegners zu kennen, noch bevor der sich entschieden hat, und jeder Stich zielt auf überlebenswichtige Organe ab. Wenn er sich blenden lässt von seiner Wut, hier und jetzt, dann wird Liu den Prinzen töten und uns dazu verdammen, das Märchen erneut zu durchleben. Ich kann nicht dafür garantieren, Jean erneut in die Arme dieses Mannes zu drängen.
„Liu, leg den bescheuerten Degen weg! Wir müssen nach Hause gehen.“
Ratschend reißt der rechte Ärmel des Froschkönigs. Blut fließt und besudelt den Boden. Hiervon steht nichts in dem Märchen. Angespannt atme ich ein. Sollte ich Jean holen? Aber wer garantiert mir, dass sie in der Lage sein wird, dieses sinnlose Treiben zu beenden?
„Liu, du weißt, dass ich nie mit ihm mitgehen würde. Leg den Degen weg, bevor sich jemand ernsthaft verletzt.“
Ein Stich, der sich durch die Rippenbögen des Froschkönigs drängt. Entsetzt kreische ich auf, als der Prinz rückwärts taumelt. Mit hocherhobenem Kinn steckt Liu den Degen fort und tritt den seines Gegners weg.
„Das verstehst du nicht“, sagt Liu. Nicht einmal den Anstand atemlos zu klingen, besitzt Liu! Grob schiebt er die Arme unter die Achseln des Froschkönigs.
„Nein, ich verstehe es nicht!“, fauche ich. „Was, wenn er jetzt stirbt?“
„Wird er schon nicht.“ Liu wirft sich den Froschkönig über die Schulter, als wäre er ein kleines Mädchen und kein junger Mann, der Liu um wenige Zentimeter überragt. Das Husten des Prinzen klingt ungesund. Nass.
„Wie kannst du dir da so sicher sein?“, schreie ich ihn an. „Hast du den Verstand verloren? Du kannst nicht einfach den Froschkönig aufspießen!“
„Warum? Weil du ihn so toll findest? Weil du unbedingt mit ihm mitgehen wolltest?“
Krankhaft eifersüchtig. Mit diesen beiden Worten kann man Liu am besten beschreiben.
„Weil du nicht einfach einen fremden Märchenprinzen in Schaschlik verwandeln darfst!“
Der eiserne Heinrich sitzt auf seinem Kutschbock wie eingefroren. Weil das hier nicht in das Märchen gehört und es verzweifelt versucht, jeder weiteren Katastrophe vorzubeugen? Um Kutscher und Prinzessin steht die Zeit still. Liu reißt die Kutschentür auf und stößt den Prinzen hinein in das Gefährt. Blubbernd lachend setzt der Froschkönig sich auf. Blutiger Speichel trieft von seinen Lippen. „Ihr solltet mir dankbar sein“, krächzt der Prinz, der ganz sicher nicht gelernt hat, wann man den Mund halten sollte. „Ich hätte aus Eurer Schwester mehr gemacht.“
„Meiner Frau“, bringt Liu zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Keuchend lacht der Froschkönig auf. „Du wirst sie nie besitzen.“
Ich werfe einen besorgten Blick in Jeans Richtung. Wie versteinert starrt sie aus dem Fenster der Kutsche. Hinaus in den Garten. Ihre Brust hebt und senkt sich nicht.
Das Herz donnert mir in den Ohren.
„Liu, wir sollten gehen“, flüstere ich. „Das Märchen will uns nicht länger.“
Liu reckt erneut das Kinn in die Höhe. „Und ich habe jede Achtung vor ihm verloren.“
Endlich macht er einen Schritt zurück. „Warum?“, krächzt der Froschkönig. „Weil Ihr wisst, dass ich die Wahrheit spreche?“
Liu schlägt zu, bevor ich ihn davon abhalten kann. Erneut. Keuchend und mit schwarz anschwellender Nase, hält der Froschkönig sich den Kiefer. Als Liu erneut ausholt, eine Wut um sich, die mir eine Heidenangst einjagt, umklammere ich seine Hand mit meiner und ziehe ihn rückwärts.
„Das ergibt doch alles keinen Sinn“, flüstere ich. „Wir sollten gehen, Liu. Wirklich. Sonst dauert das Märchen noch länger. Möchtest du das wirklich?“
Der Blick aus den bernsteinklaren Augen wirkt fremd. Zerschmettert.
„Wenn er dann zahlt“, keucht Liu. Ich schlucke schwer. Die einzigen, die zahlen werden, sind wir. Wir. Die Eindringlinge in diesem Märchen.
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und stehle Liu einen winzigen Kuss. „Komm mit mir“, bitte ich ihn leise. „Wir sind hier fertig. Es wird Zeit, nach Hause zu gehen.“
Hinter uns schlägt die Turmuhr.
In der nächsten Sekunde fließen Regenbögen unter uns dahin. Wutentbrannt entreißt Liu mir seine Hand und tritt von der Wand voller Gemälde zurück. „Was sollte das?“ Stolz hat er den Kopf gehoben und die Arme vor der Brust verschränkt. „Was das sollte? Wirklich?“ Ich lache ungläubig auf. „Das sollte ich wohl eher dich fragen. Bist du von allen guten Geistern verlassen?“
„Ich? Von Gott verlassen?“ Als Liu den Degen aus der Scheide reißt, befürchte ich für einen Atemzug, dass er ihn gegen mich richten wird. Ich zucke zurück. Schwere Schatten schleichen über Lius schönes Gesicht. „Man sollte den Froschkönig verfluchen und im Moor versenken.“
„Liu!“
„Nicht ‚Liu‘. Hör auf damit!“
„Womit denn?“ Ich gehe auf ihn zu. „Womit? Damit, dich vor schrecklichen Fehlern bewahren zu wollen?“
„Du bist doch mein schrecklichster Fehler“, schleudert er mir entgegen. Mir weicht alle Luft aus den Lungen. Was? Wie von Sinnen blinzle ich und versuche einen Sinn hinter seinen Worten zu erkennen. Ich bin was? Lius Adamsapfel hüpft, als er schwer schluckt. „Hör einfach auf zu heucheln.“ Er strafft die Schultern und wendet mir den Rücken zu. Strammen Schrittes lässt er mich zurück und ich vergesse, was es bedeutet, sich rühren zu können.
Ungläubig starre ich ihm hinterher. Allein durchquert Liutwin die Tore des Westflügels. Sonnenstrahlen empfangen ihn und erheben ihn zu einem Engel, der er nie war. Der Degen entflammt in seinen Händen zu einem Schwert, ehe die Schatten ihn verzehren.
Schwer atmend gehe ich in die Hocke. Das massige Kleid ist meiner bequemen Hose gewichen und als mir die braunen Haare ins Gesicht fallen, da glaube ich, dass sie die übrige Welt verschlingen. Ich will Liu hinterherlaufen. Ich will ihn anschreien, bis er wieder bei Sinnen ist und zurücknimmt, was er soeben gesagt hat.
Aber wäre nicht gerade das am frevelhaftesten? Er hat die Wahrheit gesagt. Ich bin sein größter Fehler. Ohne mich würde er den Thron in seinem Reich besteigen und dort herrschen. Dank mir wird er niemals zurückkönnen. Man verbannte ihn vor die Tore seiner Heimat und wird ihm den Kopf abschlagen, sollte er versuchen, zurückzukehren.
Man könnte all diese Auflagen und Verluste wohl ertragen. Wenn ich bliebe.
Mein eigener Puls lähmt meine Lungen. Ich will mich schluchzend auf den Regenbögen zusammenrollen. Stattdessen straffe ich die Schultern und richte mich auf. Liu und ich, wir haben schon grausigere Schlachten ausgefochten. Einen Teufel werde ich tun, damit ein dämliches Märchen uns die letzten Wochen vergiftet.
Ich laufe ihm nach. Ich folge ihm durch mein Wolkenschloss. Weil, wie könnte ich ihn jemals allein lassen?
Das Herz schlägt mir überlaut in der Brust. In seinem Zimmer finde ich nur seinen Degen, geschleudert hinter das Bücherregal. Der Garten liegt leer und verlassen da. Niemand sitzt in der Küche und Liu schleicht nicht durch die reich bestückte Bibliothek.
Er wartet vor den Toren zum Westflügel auf mich, beinahe, als wäre er zu Sinnen gekommen, sobald er den Degen von sich stieß. Ich glaube die Entschuldigung erkennen zu können, die sich auf seine Lippen brannte, sie aber nie verlassen wird.
„Wo warst du?“, fragt Liu mich nüchtern.
Ich hebe eine Schulter und stelle mich nah zu ihm. Alles ist gut, versuche ich ihm stumm zu zeigen. Alles wird erträglich bleiben. „Ich habe dich gesucht.“
Liu wendet den Blick ab. „Du solltest wissen, dass ich zu dir zurückkehre.“
Hilflos suche ich nach Worten. Sie haben ihren Sinn verloren und sind in ihrer eigenen Bedeutung ertrunken. Liu greift nicht nach meiner Hand, um mich durch die Tore zu führen. Er geht voran, ich folge ihm.
„Wollen wir uns nicht erst erholen?“, frage ich ihn leise. „Das Bürle wird kein einfaches Märchen werden.“
„Welches Märchen war je einfach?“
Liu legt seine Hand auf die Leinwand und für einen flüchtigen Moment sieht er mich an. „Der Korridor ertrinkt in Märchen, die niemand jemals wird retten können. Wir sollten unser Bestes geben, um möglichst vielen gerecht zu werden.“ Das sind nicht seine Worte. Das sind meine. Die Erschöpfung liegt mir in den Knochen und der Wunsch nach einem weichen Bett macht meine Lider tonnenschwer. Schluckend verschränke ich meine Finger mit Lius auf der Ölleinwand und starre auf das triste Bild von toten, grauen Feldern und einer winzigen Hütte unter gewitterschwarzen Wolken.
„Wir sollten dabei nur nicht vergessen“, beginne ich heiser, „unser eigenes Leben zu leben.“
Liu dreht den Kopf. Der Blick aus den dunklen, bernsteinklaren Augen bricht mir das Herz. Bilde ich es mir ein oder schimmern Tränen in ihnen? „Welches Leben?“, flüstert Liu. „Wer den Thron besteigt, muss sich selbst vergessen, um nur ihm zu dienen. Wir haben kein eigenes, echtes Leben, Adeline.“
Mein Kopf dreht sich. Meine Beine geben nach.
Die Klappe fällt.