Читать книгу Der Weihnachtsabend. Ein Weihnachtslied in Prosa; oder: Eine Geistergeschichte zum Weihnachtsfest - Charles Dickens, Чарльз Диккенс, Geoffrey Palmer - Страница 6
Marleys Geist
ОглавлениеMarley war tot, um damit anzufangen. Darüber gibt es gar keinen Zweifel. Der Totenschein war vom Geistlichen, vom Schreiber, vom Leichenbestatter und vom Hauptleidtragenden unterzeichnet. Scrooge hatte ihn unterschrieben, und Scrooges Name war gut an der Börse, wohin auch immer er seine Unterschrift setzte. Der alte Marley war tot wie ein Türnagel.
Wohlgemerkt! Ich will nicht behaupten, dass ich aus eigener Erfahrung wüsste, was an einem Türnagel so besonders Totes sei. Ich selbst wäre wohl geneigt, einen Sargnagel für das toteste Stück Eisen anzusehen, das im Handel vorkommt. Doch in dem Gleichnis steckt die Weisheit unserer Vorfahren, und hieran sollen meine unheiligen Hände nicht rühren, sonst ist es um unser Land geschehen. Erlaubt mir daher, mit Nachdruck zu wiederholen, dass Marley so tot war wie ein Türnagel.
Scrooge wusste doch, dass er tot war? Selbstverständlich wusste er das. Wie hätte es auch anders sein können! Scrooge und er waren Geschäftsteilhaber seit ich weiß nicht wie viel Jahren. Scrooge war sein alleiniger Testamentsvollstrecker, Nachlassverwalter, Bevollmächtigter, sein alleiniger Erbe, sein einziger Freund und sein einziger Leidtragender. Und selbst Scrooge war durch dies traurige Ereignis nicht so schrecklich getroffen, dass er nicht als ausgezeichneter Kaufmann noch am Tage des Begräbnisses den doch unbezweifelbar günstigen Abschluss dieses Geschäftes feierlich gebucht hätte.
Die Erwähnung von Marleys Begräbnis bringt mich zum Ausgangspunkt meiner Erzählung zurück. Es gibt also gar keinen Zweifel, dass Marley tot war. Das versteht sich ausdrücklich, sonst ist nichts Wunderbares an der Geschichte, die ich erzählen will. Wären wir nicht völlig davon überzeugt, dass Hamlets Vater tot war, bevor das Stück beginnt, so wäre an seinem nächtlichen Umherwandeln im Ostwind auf den Wällen seines Schlosses nichts Merkwürdigeres, als wenn sich irgendein Herr mittleren Alters unbesonnenerweise nach Dunkelwerden an einen zugigen Ort begäbe – sagen wir auf den St.-Pauls-Kirchhof –, bloß um den lahmen Geist seines Sohnes in Erstaunen zu setzen.
Scrooge ließ des alten Marley Namen nicht überpinseln. Nach Jahren noch stand er über der Ladentüre: Scrooge & Marley. Die Firma war unter dem Namen Scrooge & Marley bekannt. Leute, die neu ins Geschäft kamen, nannten Scrooge zuweilen Scrooge, zuweilen auch Marley, doch er hörte auf beide Namen, es war ihm gleich.
Oh, er war ein Blutsauger, dieser Scrooge, ein Erpresser, ein zusammenscharrender, raffender, sich einkrallender, habgieriger alter Sünder. Hart und scharf wie ein Feuerstein, aus dem kein Stahl je einen wohltuenden Funken geschlagen, verschlossen und selbstsüchtig und einsiedlerisch wie eine Auster. Seine innere Kälte ließ seine alten Gesichtszüge erstarren, machte seine spitze Nase noch spitzer, seine Wangen noch runzliger und versteifte seinen Gang. Sie machte seine Augen rot und seine dünnen Lippen blau und krächzte aus seiner schrillen Stimme. Wie ein frostiger Reif lag es auf seinem Haupt, seinen Augenbrauen und um sein stoppeliges Kinn. Er trug seine niedrige Temperatur überall mit sich herum, er vereiste sein Kontor in den Hundstagen und erwärmte es um keinen Grad mehr an Weihnachten.
Äußere Wärme oder Kälte hatten wenig Einfluss auf Scrooge. Keine Hitze konnte ihn erwärmen, kein winterliches Wetter ihn zum Frösteln bringen. Kein Wind, der blies, war schneidender als er, kein Schneefall grimmiger auf sein Ziel bedacht, kein Regenguss unerbittlicher. Böses Wetter war ihm gegenüber machtlos. Der heftigste Schnee, Regen und Hagel konnten ihn nur in einer Hinsicht übertrumpfen: sie gaben oft reichlich, und das tat Scrooge nie.
Niemals hielt auf der Straße ihn jemand an, um freudigen Blickes zu sagen: »Mein lieber Scrooge, wie geht es Ihnen, wann werden Sie mich einmal besuchen?« Kein Bettler flehte ihn um eine kleine Gabe an, kein Kind fragte ihn, wie spät es sei, und in seinem ganzen Leben hatte ihn weder Mann noch Weib je nach dem Weg gefragt. Selbst die Hunde der Blinden schienen ihn zu kennen und zogen, wenn sie ihn kommen sahen, ihre Herren in einen Torweg oder Hof hinein und wedelten dabei mit dem Schwanz, als wollten sie sagen: ›Gar keine Augen zu haben, ist immer noch besser als böse, blinder Herr!‹
Doch was kümmerte das Scrooge? Ihm war es so gerade recht. Sich ganz allein an den von Menschen überlaufenen Lebenspfaden entlangzuwinden, alles menschliche Mitgefühl sich fernzuhalten, das war, wie die Leute wussten, durchaus nach seinem Geschmack.
Einst – es war von allen guten Tagen des Jahres gerade der Heilige Abend – saß der alte Scrooge über seiner Arbeit im Kontor. Es war bitterkaltes, beißendes Frostwetter und überdies neblig; er konnte hören, wie die Leute draußen auf dem Hof schnaubend auf und ab gingen und die Arme über die Brust schlugen und mit den Füßen das Pflaster stampften, um sich zu erwärmen. Die Uhren in der City hatten eben erst drei geschlagen, aber es war bereits ganz dunkel: Den ganzen Tag über war es nicht richtig hell geworden. Kerzenschein flackerte aus den Fenstern der benachbarten Kontore, rötliche Flecken in der zum Greifen dicken, braunen Luft. Durch jeden Spalt und jedes Schlüsselloch drang der Nebel herein, und draußen war er so dicht, dass die gegenüberliegenden Häuser, trotz der Enge des Hofes, wie Schemen erschienen. Wenn man die schmutzigen Wolken sich langsam heruntersenken und alles verdunkeln sah, konnte man meinen, Mutter Natur wohne dicht nebenan und braue sie dort im Großen.
Die Tür von Scrooges Kontor stand offen, damit er seinen Buchhalter beaufsichtigen konnte, der in einem öden kleinen Loch, einem Brunnenschacht ähnlich, saß und mit dem Abschreiben von Briefen beschäftigt war. Bei Scrooge brannte ein recht kleines Feuer, aber das Feuer bei dem Buchhalter war um so vieles kleiner, dass es nur wie eine einzige Kohle aussah. Doch er konnte nicht nachlegen, denn Scrooge bewahrte die Kohlenkiste in seinem Zimmer, und jedes Mal, wenn der Buchhalter mit der Schaufel hereinkam, sagte ihm sein Chef voraus, dass sie sich wohl bald würden trennen müssen. So band der Buchhalter sich seinen weißen Schal um und versuchte, sich an der Kerze zu erwärmen; in dieser Bemühung aber hatte er, als ein Mann von geringer Einbildungskraft, keinen Erfolg.
»Fröhliche Weihnachten, Onkel! Gott segne Sie!«, rief eine frohe Stimme. Es war die Stimme von Scrooges Neffen, der so rasch eingetreten war, dass dieser ihn erst jetzt bemerkte.
»Ach was!«, entgegnete Scrooge. »Dummes Zeug!«
Der Neffe war vom schnellen Laufen durch Nebel und Kälte so erhitzt, dass sein hübsches Gesicht glühte, seine Augen funkelten und sein Atem rauchte.
»Weihnachten dummes Zeug? Onkel!«, entgegnete er. »Das meinen Sie doch sicher nicht im Ernst!«
»Doch, das tue ich!«, sagte Scrooge. »Fröhliche Weihnachten! Welches Recht hast du, fröhlich zu sein? Welchen Grund hast du dazu? Du bist arm genug!«
»Na, hören Sie einmal!«, gab der Neffe heiter zurück. »Welches Recht haben Sie, trübsinnig zu sein? Welches Recht für Ihren Griesgram? Sie sind doch reich genug!«
Da Scrooge im Augenblick nichts Besseres einfiel, brummte er nur: »Ach was!«, und dann noch einmal: »Dummes Zeug!«
»Seien Sie doch nicht so verdrießlich, Onkel!«, sagte der Neffe.
»Was kann ich denn sonst sein«, entgegnete der Onkel, »wenn ich in solch einer Welt voller Narren lebe? Fröhliche Weihnachten! Lass mich in Ruhe mit deinen Fröhlichen Weihnachten! Was ist denn Weihnachten anderes für dich als eine Zeit, da du Rechnungen bezahlen sollst, ohne dass du das Geld dazu hast; eine Zeit, in der du feststellst, dass du wieder um ein Jahr älter, aber um keine Stunde reicher geworden bist, eine Zeit, in der du deine Bücher abschließt und durch ein rundes Dutzend von Monaten nur Außenstände findest. Wenn es nach mir ginge«, fuhr Scrooge entrüstet fort, »so müsste jeder Narr, der herumläuft und Fröhliche Weihnachten wünscht, in seinem eigenen Pudding gekocht und mit einem Stechpalmzweig durchs Herz begraben werden. Wahrhaftig!«
»Aber Onkel!«, widersetzte sich der Neffe.
»Neffe!«, gab ihm der Onkel schroff zurück, »feiere du Weihnachten auf deine Weise, und lass es mich auf die meinige feiern!«
»Feiern!«, wiederholte der Neffe, »aber Sie feiern es ja gar nicht!«
»Lass das meine Sache sein«, sagte Scrooge. »Soll es dir Gutes bringen! Es hat dir ja schon viel Gutes eingebracht!«
»Es gibt vieles, das mir Gutes hätte bringen können und das ich doch nicht recht genutzt habe, und so war es wohl auch mit Weihnachten. Aber gewiss habe ich das Weihnachtsfest – ganz abgesehen von der Verehrung, die wir seinem heiligen Namen und seinem Ursprung schulden, wenn man etwas, was so zu ihm gehört, überhaupt davon trennen kann – stets als eine gute Zeit angesehen; eine Zeit der Güte, der Vergebung, der Barmherzigkeit und der Freude, die einzige Zeit im ganzen langen Jahr, da Männern und Frauen die verschlossenen Herzen aufgehen und sie ihre ärmeren Mitmenschen als das ansehen, was sie wirklich sind: Reisegefährten auf dem Weg zum Grabe – und nicht als eine andere Art von Geschöpfen, die andere Wege wandern müssen. Und deshalb, Onkel, glaube ich, wenn es mir auch nie ein Stäubchen Gold oder Silber einbrachte, dass Weihnachten mir doch Gutes gebracht hat und noch bringen wird. Und darum sage ich, Gott segne es!«
Der Buchhalter im Brunnenschacht spendete unwillkürlich Beifall. Sogleich aber wurde er sich des Unschicklichen seines Benehmens bewusst, er stocherte im Feuer herum und löschte damit den letzten schwachen Funken endgültig aus.
»Lassen Sie mich noch einmal so etwas von Ihnen hören«, sagte Scrooge, »und Sie werden Weihnachten feiern, indem Sie Ihre Stellung verlieren! Und du«, fuhr er, zu seinem Neffen gewandt, fort, »bist ja ein ganz gewaltiger Redner, mein Lieber. Ich wundere mich nur, warum du nicht ins Parlament gehst.«
»Seien Sie nicht böse, Onkel! Machen Sie uns die Freude, essen Sie morgen bei uns!«
Scrooge sagte, dass er ihn zur – ja, er sprach den Satz ganz aus und sagte tatsächlich, dass er ihn nur an diesem Ort des Entsetzens wiederzusehen wünsche.
»Aber warum nur?«, rief sein Neffe aus, »warum denn nur?«
»Warum hast du dich verheiratet?«
»Weil ich das Mädchen liebte!«
»Weil du liebtest«, knurrte Scrooge, als wäre dies das einzige in der Welt, das noch lächerlicher wäre als Fröhliche Weihnachten. »Guten Abend!«
»Aber Onkel, Sie haben mich zuvor auch nie besucht. Warum geben Sie dies nun als Grund dafür an, dass Sie nicht kommen?«
»Guten Abend!«, sagte Scrooge.
»Ich will nichts von Ihnen, ich verlange nichts. Warum können wir nicht gut Freund sein?«
» Guten Abend!«, sagte Scrooge.
»Es tut mir von ganzem Herzen leid, dass Sie so abweisend sind. Nie haben wir Streit miteinander gehabt, an dem ich schuld gewesen wäre. Weihnachten zu Ehren habe ich diesen Versuch unternommen und will mir meine Weihnachtsstimmung bewahren. Darum nochmals: Fröhliche Weihnachten, Onkel!«
»Guten Abend!«, sagte Scrooge noch einmal.
»Und ein glückliches neues Jahr!«
»Guten Abend!«, sagte Scrooge.
Sein Neffe verließ den Raum ohne ein böses Wort. An der äußeren Tür blieb er stehen, um dem Buchhalter ein frohes Fest zu wünschen. Dieser, sosehr ihn auch fror, war doch wärmer als Scrooge, er erwiderte den Glückwunsch herzlich.
»Das ist auch solch ein Narr!«, knurrte Scrooge, als er dies hörte, »mein Buchhalter, fünfzehn Schilling die Woche und mit Frau und Kindern, schwatzt von fröhlichen Weihnachten! Ich gehe nach Bedlam!«
Dieser »Narr« hatte, als er Scrooges Neffen hinausgeleitete, zwei andere Personen hereingelassen. Es waren stattliche Herren von angenehmem Äußeren, die jetzt in Scrooges Kontor dastanden, den Hut in der einen, Bücher und Papiere in der andern Hand, und sich vor ihm verbeugten.
»Scrooge & Marley, wie ich annehmen darf«, sagte einer der Herren mit einem Blick in seine Liste. »Habe ich das Vergnügen mit Mr. Scrooge oder mit Mr. Marley?«
»Mr. Marley ist seit sieben Jahren tot«, erwiderte Scrooge. »Er starb vor sieben Jahren gerade in dieser Nacht.«
»Wir zweifeln nicht daran, dass seine Freigebigkeit durch seinen überlebenden Partner genauso ausgeübt wird«, bemerkte der Herr und überreichte seinen Ausweis.
Er hatte übrigens recht, denn sie waren zwei verwandte Seelen gewesen. Bei dem verhängnisvollen Wort Freigebigkeit runzelte Scrooge die Stirne, schüttelte den Kopf und gab das Schreiben zurück.
»In diesen festlichen Tagen, Mr. Scrooge«, fuhr der Herr fort und nahm eine Feder zur Hand, »ist es noch dringender als sonst, dass man Sorge trägt für die Armen und Verlassenen, die gerade jetzt große Not leiden. Vielen Tausenden fehlt es am Notwendigsten und Hunderttausenden an der einfachsten Behaglichkeit, mein Herr.«
»Gibt es denn keine Gefängnisse?«, fragte Scrooge.
»Mehr als genug«, sagte der Herr und legte die Feder wieder hin.
»Und die öffentlichen Arbeitshäuser«, fragte Scrooge weiter. »Sind sie nicht mehr in Betrieb?«
»Ja. Immer noch. Aber«, entgegnete der Herr, »ich wünschte, ich könnte sagen: nein.«
»Und die Tretmühle und das Armengesetz, sind die noch in Kraft?«
»Beide, mein Herr, nur allzu sehr.«
»Oh, nach dem, was Sie sagten, fürchtete ich schon, dass irgendetwas passiert sei, was sie in ihrer nützlichen Wirksamkeit hindere«, meinte Scrooge. »Es freut mich, das Gegenteil zu erfahren.«
»Unter dem Eindruck, dass den Armen dort schwerlich eine christliche Stärkung an Leib oder Seele zuteilwird«, erwiderte der Herr, »haben einige von uns eine Sammlung veranstaltet, um den Bedürftigen Essen, Trinken und Feuerung zu beschaffen. Wir haben diese Tage gewählt, weil jetzt der Mangel besonders bitter fühlbar ist, während andere ihren Überfluss genießen. Was darf ich für Sie notieren?«
»Nichts«, erwiderte Scrooge.
»Sie wünschen ungenannt zu bleiben?«
»Ich wünsche in Ruhe gelassen zu werden, meine Herren«, entgegnete Scrooge. »Wenn Sie mich fragen, was ich wünsche, so ist dies meine Antwort. Ich mache mir selbst keine fröhlichen Weihnachten und kann es mir nicht leisten, Faulpelze vergnügt zu machen. Ich trage zum Unterhalt der Einrichtungen bei, die ich erwähnt habe – sie kosten genug. Wem es schlecht geht, der mag sich dahin wenden.«
»Viele können es nicht, und viele würden lieber sterben.«
»Wenn sie lieber sterben«, meinte Scrooge, »dann sollen sie es tun und den Bevölkerungsüberschuss vermindern. Übrigens – entschuldigen Sie –, davon weiß ich nichts!«
»Aber Sie müssten etwas davon wissen«, bemerkte der Herr.
»Das ist nicht meine Sache«, entgegnete Scrooge. »Es genügt, wenn ein Mann seine eigenen Angelegenheiten versteht und sich nicht in die anderer Leute hineinmischt. Meine nehmen mich vollauf in Anspruch. Guten Abend, meine Herren!«
Da sie einsahen, dass jeder weitere Versuch hier zwecklos war, zogen die Herren sich zurück. Scrooge nahm seine Arbeit wieder auf, mit gehobenem Selbstgefühl und in besserer Laune, als er für gewöhnlich zu sein pflegte.
Inzwischen hatten Nebel und Dunkelheit so zugenommen, dass Leute mit brennenden Fackeln umherliefen und sich anboten, vor den Pferden und Fuhrwerken herzugehen und ihnen den Weg zu weisen. Ein alter Kirchturm, dessen brummige alte Glocke durch ein gotisches Fenster verstohlen auf Scrooge herabzublicken pflegte, wurde unsichtbar und schlug die Stunden und Viertelstunden aus den Wolken mit einem scheppernden Nachklang, so als ob in seinem alten Haupt ihm vor Frost die Zähne klapperten. Die Kälte wurde schneidend. In der Hauptstraße an der Ecke des Platzes hatten einige Arbeiter, die dabei waren, Gasrohre auszubessern, ein großes Feuer in einem Kohlenbecken angezündet, um welches eine Schar zerlumpter Männer und Jungen sich angesammelt hatte, die sich die Hände rieben und ganz entzückt in die Flammen blinzelten. Der Wasserhahn blieb sich selbst überlassen, sein Ausfluss erstarrte mürrisch und wurde zu feindlichem Eis. Der Schein der Schaufenster, wo Stechpalmenzweige mit ihren roten Beeren in der Wärme der Lampen knisterten, überhauchte die bleichen Gesichter der Vorübereilenden mit rosigem Schimmer. Die Geflügelhandlungen und Feinkostläden waren die reine Lustbarkeit, prunkvolle Schaustücke, mit denen so nüchterne Vorstellungen wie Handel und Umsatz kaum in Verbindung zu bringen waren. Der Oberbürgermeister im Rathaus gab seinen fünfzig Köchen und Kellermeistern Befehl, Weihnachten so festlich auszurichten, wie sich dies für das Haus eines Oberbürgermeisters geziemt, und selbst der kleine Schneider, den er am vergangenen Montag wegen Trunkenheit und Randalierens auf der Straße mit fünf Schilling in Strafe genommen hatte, selbst der rührte in seiner Dachstube den Pudding für morgen an, während sein mageres Weib mit dem Kind auf dem Arm davoneilte, um den Rinderbraten einzukaufen.
Kälter noch und nebliger wurde es! Durchdringend, beißend, schneidend kalt. Wenn der gute St. Dunstan den Teufel nur mit dem Hauch solch eines Wetters in die Nase gezwickt hätte, statt die ihm vertrauten Waffen zu gebrauchen – dann würde der erst recht in ein fürchterliches Gebrüll ausgebrochen sein. Der Eigentümer einer kleinen jungen Nase, die von der hungrigen Kälte benagt und beknabbert war wie ein Knochen von einem Hunde, beugte sich nieder zu Scrooges Schlüsselloch, um ihn mit einem Weihnachtslied zu erfreuen, aber bei dem ersten Ton des Verses
»Gott grüße Euch, Ihr frohen Herrn,
Es mag Euch nichts beschweren …«
ergriff Scrooge das Lineal mit so energischer Bewegung, dass der Sänger erschreckt entfloh und das Schlüsselloch dem Nebel und dem – Scrooge noch wesensverwandteren – Frost überließ.
Endlich war die Stunde da, das Kontor zu schließen. Widerwillig stieg Scrooge von seinem Stuhl herab und gab damit stillschweigend dem im Brunnenschacht wartenden Buchhalter das Zeichen; der blies augenblicklich seine Kerze aus und setzte den Hut auf.
»Sie werden morgen den ganzen Tag freihaben wollen, nehme ich an«, sagte Scrooge.
»Wenn es Ihnen so recht ist, Sir!«
»Es ist mir nicht recht«, entgegnete Scrooge, »und es ist nicht billig. Wenn ich Ihnen dafür eine halbe Krone abziehen wollte, würden Sie sich schlecht behandelt vorkommen, stimmt’s?«
Der Buchhalter lächelte schwach.
»Und doch«, sagte Scrooge, »halten Sie mich nicht für schlecht behandelt, wenn ich Ihnen Lohn zahle für einen Tag, an dem Sie nichts tun.«
Es komme ja nur einmal im Jahr vor, bemerkte der Buchhalter.
»Eine armselige Entschuldigung dafür, um einem an jedem 25. Dezember das Geld aus der Tasche zu stehlen«, sagte Scrooge, während er seinen Überrock bis ans Kinn zuknöpfte. »Doch ich nehme an, Sie müssen den ganzen Tag haben. Seien Sie am nächsten Morgen umso früher hier.«
Der Buchhalter versprach dies, und Scrooge ging mit einem Knurren zur Türe hinaus. Im Nu war das Kontor geschlossen, und der Buchhalter, mit den lang herunterbaumelnden Enden seines weißen Schals über dem Leibe (denn eines Mantels konnte er sich nicht rühmen), schlitterte dem Heiligen Abend zu Ehren in Cornhill hinter einer langen Reihe von Buben zwanzigmal eine Glitsche hinab und rannte dann, so schnell er konnte, heim nach Camden Town, um Blindekuh zu spielen.
Scrooge nahm sein trübseliges Abendessen in seiner gewohnten trübseligen Kneipe ein; und nachdem er alle Zeitungen gelesen und den Rest des Abends sich die Zeit mit seinen Börsennotizen vertrieben hatte, ging er heim, um sich schlafen zu legen. Er bewohnte die Räume, die sein verstorbener Teilhaber einst innegehabt hatte. Es war eine düstere Flucht von Zimmern in einem plumpen, niedrigen Gebäude, das zwischen hohen, finstern Häusern eines Hofes so eingeklemmt dastand und so wenig hinpasste, dass man versucht war, sich vorzustellen, es habe, als es noch ein junges Häuschen war, beim Versteckenspielen sich verlaufen und den Weg hinaus nicht wiedergefunden. Nun war es alt genug und öde genug, denn niemand wohnte darin als Scrooge; die andern Räume waren alle als Kontore vermietet. Der Hof war so dunkel, dass selbst Scrooge, der jeden Stein hier kannte, sich mit den Händen vorwärtstasten musste. Nebel und Frost hingen so schwer um das altersschwarze Tor, als säße der Wettergeist selbst in trübe Gedanken versunken auf der Schwelle.
Nun steht fest, dass an dem Türklopfer nichts außergewöhnlich war als seine Größe. Und ebenso steht fest, dass Scrooge ihn jeden Abend und jeden Morgen gesehen hatte während all der Zeit, die er dort hauste, und fest steht auch, dass Scrooge so wenig von dem besaß, was man Phantasie nennt, als irgendein Mensch in der City of London, selbst einschließlich – und das ist eine kühne Behauptung – der Gemeindeversammlung, der Ratsherren und der Zünfte. Man bedenke auch, dass Scrooge keinen Gedanken mehr an Marley verschwendet hatte seit seiner Erwähnung des gerade vor sieben Jahren verstorbenen Teilhabers am Nachmittag. Und nun soll mir einer erklären, wenn er es vermag, dass Scrooge, als er seinen Schlüssel ins Schloss steckte, in dem Türklopfer, ohne dass der sich unmittelbar verändert hätte, mit einem Mal nicht einen Türklopfer, sondern Marleys Gesicht erblickte.
Marleys Gesicht! Es lag nicht in undurchdringlichem Dunkel wie die andern Dinge auf dem Hofe, sondern leuchtete unheimlich wie ein faulender Hummer in einem finstern Keller. Es sah nicht böse oder wild aus, sondern blickte ihn an, wie Marley Scrooge anzublicken pflegte: eine geisterhafte Brille auf eine geisterhafte Stirne geschoben. Das Haar war sonderbar gesträubt, wie von Zug oder heißer Luft, und obwohl die Augen weit offen standen, waren sie doch vollkommen unbeweglich. Dies und die bleierne Farbe gaben ihm ein schreckliches Aussehen, aber dies Schreckliche schien mehr noch als vom Ausdruck des Gesichtes von irgendetwas herzurühren, das außerhalb seiner Macht lag.
Als Scrooge die Erscheinung fest ins Auge fasste, war es wieder ein Türklopfer.
Zu behaupten, dass er nicht erschrocken wäre oder nicht bis ins Blut hinein ein kaltes Grausen gespürt hätte, wie es ihm seit seiner Kindheit fremd geworden, das wäre unwahr. Aber er legte seine Hand an den Schlüssel, den er losgelassen hatte, und drehte ihn energisch herum, trat ein und zündete seine Kerze an.
Allerdings zauderte er einen Augenblick lang, bevor er die Türe schloss, und schaute erst vorsichtig dahinter, wie wenn er beinahe erwartete, durch den Anblick von Marleys in die Diele hineinragendem Zopf erschreckt zu werden. Doch auf der Rückseite der Türe gab es nichts als Schrauben und ihre Muttern, die den Klopfer hielten, und so sagte Scrooge nur »Ach was!«, und warf sie mit einem Knall zu.
Wie Donner hallte der Laut durch das Haus. Jedes Zimmer droben und jedes Fass drunten im Keller des Weinhändlers schien mit seinem eigenen Echo zu antworten. Doch Scrooge war nicht der Mann, der sich durch Echos schrecken ließ. Er verriegelte die Türe und ging durch die Diele und die Treppe hinauf; langsam obendrein, dabei putzte er den Kerzendocht.
Nun sagt man wohl so obenhin, über eine gute alte Treppe oder durch eine dehnbare neue Parlamentsakte könne man sechsspännig fahren, aber ich meine es buchstäblich, wenn ich behaupte, dass man auf dieser Treppe einen Leichenwagen hätte hinaufziehen können und auch noch der Breite nach, mit der Deichsel zur Wand und der Tür nach dem Geländer hin; und leicht wäre das auch noch gegangen. Platz dafür war genug da, und vielleicht war dies der Grund, warum es Scrooge schien, als sähe er im Finstern vor sich einen Leichenwagen. Ein halb Dutzend Gaslaternen von der Straße draußen hätten die Treppe kaum richtig erhellt, so könnt ihr euch denken, dass es mit Scrooges Kerzenstümpfchen hübsch dunkel war.
Doch Scrooge stieg hinauf und scherte sich keinen Deut darum. Dunkelheit ist billig, und so war sie ihm recht. Doch bevor er seine schwere Türe schloss, ging er durch seine Wohnung, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei. Die Erinnerung an das Gesicht war noch stark genug, um dies für geboten zu halten.
Wohnzimmer, Schlafzimmer, Rumpelkammer, alles wie es sein sollte. Niemand unter dem Tisch, niemand unter dem Sofa; ein kleines Feuerchen im Kamin; Löffel und Napf bereitgelegt; und eine kleine Schüssel mit Haferschleim (Scrooge hatte Schnupfen) stand auf dem Wärmrost. Niemand unter dem Bett, niemand im Wandschrank, niemand im Schlafrock, der in ganz verdächtiger Weise an der Wand hing. Die Rumpelkammer wie immer. Ein alter Ofenschirm, alte Schuhe, zwei Fischkörbe, ein dreibeiniger Waschtisch und ein Schürhaken.
Durchaus befriedigt schloss er seine Türe und riegelte sich ein; riegelte – entgegen seiner sonstigen Gewohnheit – sich doppelt ein. So gegen jede Überraschung gesichert, nahm er seine Halsbinde ab, zog Schlafrock und Pantoffeln an und setzte die Nachtmütze auf. Dann ließ er sich am Feuer nieder, um seinen Haferschleim zu verzehren.
Es war wirklich ein sehr kleines Feuer; ein Nichts für eine so bitterkalte Nacht. Er war gezwungen, ganz dicht an ihm dran zu sitzen und sich darüber zu beugen, um nur ein wenig Wärme von dieser Handvoll Kohlen zu verspüren. Es war ein altmodischer Kamin, von einem holländischen Kaufmann vor langer Zeit gebaut und mit seltsamen Kacheln belegt, die Darstellungen aus der Heiligen Schrift trugen. Da waren Kains und Abels, Pharaos Töchter, Königinnen von Saba, Engel, die als Boten auf Wolken wie Federbetten herabschwebten, Abrahame und Belsazars, Apostel, die in Frachtbooten zur See fuhren, Hunderte von Gestalten, um seine Gedanken gefangen zu nehmen; und doch erschien ihm dies Gesicht von Marley, der sieben Jahre tot war, und ließ wie der Stab des alten Propheten alles verschwinden. Wenn jede glatte Kachel weiß gewesen wäre und die Macht besessen hätte, auf ihrer Fläche die wirren Bruchstücke seiner Gedanken festzuhalten, so wäre auf jeder einzelnen ein Abbild von des alten Marley Kopf erschienen.
»Dummes Zeug!«, knurrte Scrooge und wanderte durch den Raum. Nachdem er einige Male auf und ab gegangen war, setzte er sich wieder hin. Als er den Kopf im Stuhl zurücklehnte, fiel sein Blick auf eine Glocke, eine nicht mehr benützte Glocke, die noch da hing und zu einem längst vergessenen Zweck die Verbindung mit einem Zimmer im obersten Stock des Hauses herstellte. Es geschah mit großem Erstaunen und einem fremden, unerklärlichen Grauen, dass er, als er so hinblickte, sah, wie die Glocke zu schwingen begann. Anfangs schwang sie so sacht, dass sie kaum einen Ton von sich gab; doch bald schlug sie laut aus und mit ihr alle Glocken im ganzen Haus.
Dies mochte eine halbe Minute gedauert haben oder eine ganze, doch es schien wie eine Stunde. Die Glocken verstummten, alle zugleich. Ein rasselndes Geräusch folgte ihnen von tief unten her, als ob jemand eine schwere Kette über die Fässer des Weinhändlers zöge. Da erinnerte Scrooge sich, gehört zu haben, dass Gespenster in Spukhäusern Ketten hinter sich herschleppten.
Dröhnend flog die Kellertüre auf, und dann hörte er das Kettengerassel viel lauter noch im untern Stockwerk, dann die Treppe heraufkommen und dann geradewegs auf seine Türe zu.
»Ist doch dummes Zeug!«, brummte Scrooge. »Ich glaube es einfach nicht.«
Doch wechselte er die Farbe, als Es, ohne einzuhalten, durch die schwere Tür herein ins Zimmer und vor seine Augen trat. Bei seinem Erscheinen flackerte die erlöschende Flamme noch einmal auf, als ob sie ausrufen wollte: ›Ich kenne ihn, es ist Marleys Geist!‹, und fiel wieder in sich zusammen.
Das gleiche Gesicht: genau das gleiche. Marley mit seinem Zopf, der gewohnten Weste, Beinkleidern und Stiefeln, deren Troddeln sich sträubten wie sein Zopf und die Rockschöße und das Haar auf seinem Kopf. Die Kette, die er hinter sich herzog, war um seine Hüften geschlungen. Sie war lang und wand sich um ihn herum wie ein Schweif; und sie bestand (denn Scrooge beobachtete das genau) aus Geldkassetten, Schlüsseln, Vorhängeschlössern, Hauptbüchern, Dokumenten und schweren Börsen aus Stahldraht. Sein Körper war durchsichtig, so dass Scrooge, als er ihn betrachtete, durch seine Weste hindurch die beiden rückwärtigen Knöpfe auf seinem Rock erblicken konnte. Scrooge hatte oft sagen hören, dass Marley kein Herz im Leibe habe, doch er hatte das bis jetzt nie geglaubt.
Nein, auch jetzt noch glaubte er es nicht. Obgleich er durch das Gespenst hindurchschauen konnte und es doch vor ihm stand, obgleich er die vereisende Ausstrahlung seiner todkalten Augen verspürte und sogar die Webart des gefalteten Tuches bemerkte, das ihm um Kopf und Kinn gebunden war und das er zuvor nicht beachtet hatte, blieb er doch ungläubig und kämpfte gegen die Wahrnehmung seiner Sinne an.
»Und was nun?«, fragte er scharf und kalt wie immer. »Was wünschen Sie von mir?«
»Viel!« Marleys Stimme, kein Zweifel.
»Wer sind Sie?«
»Frage mich, wer ich war!«
»Wer also waren Sie?«, fragte Scrooge mit erhobener Stimme. »Sie nehmen es um einen Schatten zu genau«, er war nahe daran zu sagen ›für einen Schatten‹, doch dann fand er es passender, sich so auszudrücken.
»Im Leben war ich dein Teilhaber Jacob Marley.«
»Können Sie – kannst du dich setzen?«, fragte Scrooge, indem er ihn zweifelnd anblickte.
»Das kann ich.«
»Dann tu’s!«
Scrooge hatte diese Frage gestellt, weil er nicht wusste, ob ein so durchsichtiger Geist imstande sei, sich hinzusetzen, und weil er fürchtete, dass, wenn dies nicht möglich wäre, es die Notwendigkeit einer peinlichen Erklärung nach sich ziehen könnte. Aber der Geist setzte sich auf die andere Seite des Kaminplatzes, als sei er es so gewohnt.
»Du glaubst nicht an mich«, bemerkte der Geist.
»Nein«, versetzte Scrooge.
»Was für einen Beweis für meine Wirklichkeit willst du noch außer dem Zeugnis deiner Sinne?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Scrooge.
»Warum zweifelst du an deinen Sinnen?«
»Weil«, sagte Scrooge, »eine Kleinigkeit schon sie verwirren kann. Eine leichte Magenverstimmung lässt sie trügen. Du magst ein unverdautes Stück Rindfleisch sein, ein Klecks Senf, ein Käsekrümel, das Stück einer nicht gar gewordenen Kartoffel. Du kommst eher aus meinem Magen als aus dem Grabe – was immer du auch sein magst!«
Es lag nicht in Scrooges Gewohnheit, Witze zu machen, noch fühlte er sich im Grund seines Herzens gerade jetzt dazu aufgelegt. In Wahrheit versuchte er nur schneidig zu tun, um sich selbst abzulenken und sein Entsetzen niederzuhalten, denn die Stimme des Geistes ließ ihn bis ins innerste Mark hinein erschauern.
Dazusitzen und schweigend auch nur einen Augenblick in diese starren verglasten Augen zu sehen, das, fühlte er, würde ihn von Sinnen bringen. Es lag auch etwas so Fürchterliches darin, dass das Gespenst in seine eigene, höllische Atmosphäre eingehüllt war. Scrooge selbst konnte diese zwar nicht spüren, doch es war ganz klar der Fall; denn obgleich der Geist vollkommen bewegungslos dasaß, so wurden doch seine Haare, seine Rockschöße, seine Troddeln wie durch den heißen Luftzug eines Backofens bewegt.
»Du siehst diesen Zahnstocher?«, fragte Scrooge, rasch aus dem eben erwähnten Grunde wieder zum Angriff übergehend, um – und wäre es nur für eine Sekunde – den steinernen Blick der Erscheinung von sich abzulenken.
»Ich sehe ihn«, antwortete der Geist.
»Aber du siehst ja nicht hin!«, sagte Scrooge.
»Ich sehe ihn dennoch!«, sagte der Geist.
»Nun also«, erwiderte Scrooge, »ich brauche ihn nur zu verschlucken, um für den Rest meines Lebens von einer Legion von Kobolden, die ich selbst mir geschaffen habe, verfolgt zu werden. Schwindel, sag ich dir – alles Schwindel!«
Auf diese Worte hin stieß der Geist einen so furchtbaren Schrei aus und schüttelte seine Ketten mit solch einem entsetzlichen, grauenerregenden Getöse, dass Scrooge sich fest an seinen Stuhl klammerte, um nicht herunter und in Ohnmacht zu fallen. Doch um wie viel größer noch wurde sein Entsetzen, als das Gespenst die Binde, die es um den Kopf trug, abnahm, als wäre sie ihm hier zu heiß, und seine Kinnlade ihm nun auf die Brust herabklappte.
Scrooge fiel auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. »Gnade!«, rief er, »furchtbare Erscheinung, warum verfolgst du mich?«
»Du weltlich gesinnter Mensch«, erwiderte der Geist, »glaubst du an mich oder nicht?«
»Ich glaube an dich«, sagte Scrooge, »ich muss es ja! Aber warum gehen Geister auf Erden um, und warum kommen sie zu mir?«
»Von jedermann wird verlangt«, entgegnete der Geist, »dass seine Seele mit seinen Mitmenschen wandle weit und breit und teilnehme an ihnen; und wenn sie dies zu Lebzeiten nicht tut, so ist sie nach dem Tode dazu verdammt. Sie ist dazu verurteilt, durch die Welt zu wandern und zuzusehen – oh, weh mir! –, wo sie nicht mehr helfen kann, doch hätte helfen können und Glück bringen, als sie noch auf Erden war.«
Wiederum stieß das Gespenst einen Schrei aus, schüttelte seine Ketten und rang seine geisterhaften Hände.
»Du bist gefesselt«, sagte Scrooge zitternd, »sag mir, warum?«
»Ich trage die Kette, die ich mir im Leben geschmiedet habe«, antwortete der Geist, »Glied um Glied und Elle um Elle habe ich sie gemacht. Freiwillig habe ich sie um mich geschlungen, und aus freiem Willen habe ich sie getragen. Erscheint sie dir fremd?«
Scrooge erzitterte mehr und mehr.
»Oder willst du wissen«, fuhr der Geist fort, »wie schwer und lang die Fessel ist, die du selber trägst? Sie war vor sieben Weihnachten genauso schwer und lang wie diese hier. Du hast seitdem weiter an ihr gearbeitet. Es ist eine gewichtige Kette!«
Scrooge schielte auf den Boden hinunter, in der Erwartung, sich von einem fünfzig oder sechzig Faden langen Eisenkabel umgeben zu sehen, doch er konnte nichts erblicken.
»Jacob«, sagte er flehentlich, »alter Jacob Marley, erzähl mir mehr. Sprich mir Trost zu, Jacob!«
»Ich habe keinen zu vergeben«, antwortete der Geist, »der kommt aus andern Regionen, Ebenezer Scrooge, und wird von andern Boten überbracht und an eine andere Art von Menschen. Auch darf ich dir nicht sagen, was ich möchte. Nur ein Weniges noch ist mir erlaubt. Ich kann nicht rasten und nicht ruhen und kann nirgends verweilen. Mein Geist ging niemals hinaus über unser Kontor – merk wohl auf! –, im Leben schweifte meine Seele niemals über die engen Grenzen unserer Schacherhöhle hinaus; und mühselige Wanderungen liegen nun vor mir.«
Scrooge hatte die Gewohnheit, wenn er nachdenklich wurde, die Hände in die Hosentaschen zu stecken. Dem nachgrübelnd, was der Geist gesagt hatte, tat er dies auch jetzt, doch ohne aufzublicken oder sich von den Knien zu erheben.
»Da musst du aber schon lange dahinterher sein«, bemerkte Scrooge geschäftsmäßig, wenn auch voll bescheidener Ehrerbietung.
»Eine lange Zeit«, sagte der Geist.
»Sieben Jahre tot, und die ganze Zeit auf Reisen«, grübelte Scrooge.
»Die ganze Zeit über«, sagte der Geist, »keine Rast, keinen Frieden. Unaufhörliche Qualen der Reue.«
»Wanderst du schnell?«, fragte Scrooge.
»Auf den Flügeln des Windes«, antwortete der Geist.
»Da kannst du ja große Strecken Landes hinter dich gebracht haben in diesen sieben Jahren«, meinte Scrooge.
Als der Geist diese Worte hörte, stieß er wieder einen Schrei aus und klirrte mit seinen Ketten so schauerlich in der Totenstille der Nacht, dass die Polizei ihn mit Recht wegen groben Unfugs hätte belangen können.
»Oh, gefangen, gefesselt und zweifach in Eisen geschlossen«, schrie das Gespenst, »oh, und nicht gewusst zu haben, dass noch lange Zeiten ununterbrochener Bemühungen unsterblicher Wesen vergehen müssen, ehe all das Gute, das auf Erden möglich ist, sich entfalten kann. Oh, nicht gewusst zu haben, dass jeder christlich Gesinnte, der liebreich in seinem kleinen Kreise wirkt, was immer es sei, das irdische Dasein zu kurz finden wird, gegenüber den weiten Möglichkeiten, Gutes zu tun. Oh, nicht gewusst zu haben, dass keine noch so bittere Reue die ungenützten Gelegenheiten eines Lebens wiedergutmachen kann. Aber so ging es mir! Oh ja, so war ich!«
»Aber du warst doch immer ein guter Geschäftsmann, Jacob«, stammelte Scrooge, der nun anfing, all dieses auf sich zu beziehen.
»Geschäft!«, schrie der Geist und rang wiederum die Hände. »Die Menschlichkeit hätte mein Geschäft sein sollen. Das allgemeine Wohl, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Nachsicht und Gutes tun, das alles hätte mein Geschäft sein sollen. Meine Tätigkeit als Kaufmann hätte nur ein Tropfen in dem Meer meiner Geschäfte sein sollen!«
Er hob seine Kette von sich weg, so weit sein Arm reichte, als wäre sie die Ursache seines fruchtlosen Kummers, und dann schmetterte er sie wieder zu Boden.
»In dieser Zeit des dahinschwindenden Jahres«, sagte das Gespenst, »habe ich am meisten zu leiden. Warum ging ich mit zu Boden gesenktem Blick durch die Schar meiner Mitmenschen und erhob ihn nie zu dem gesegneten Stern, der die Weisen zu einer armen Hütte leitete? Gab es denn keine armen Hütten, zu denen er mich hätte führen können?«
Mit Entsetzen hörte Scrooge das Gespenst in dieser Weise fortfahren, und er zitterte immer heftiger.
»Höre mich an!«, rief der Geist, »meine Zeit ist bald um.«
»Ich höre«, sagte Scrooge, »aber sei nicht zu hart mit mir, mach nicht mehr Umschweife als nötig, Jacob. Ich bitte dich!«
»Wie es kommt, dass ich in sichtbarer Gestalt vor dir erscheine, das darf ich dir nicht sagen. Manchen und manchen Tag habe ich unsichtbar dir zur Seite gesessen.«
Dies war kein angenehmer Gedanke – Scrooge erschauerte und wischte sich den Schweiß von der Stirne.
»Und dies ist kein leichter Teil meiner Buße«, fuhr der Geist fort. »Heute Nacht bin ich hier, um dich zu warnen, noch hast du die Hoffnung, die Möglichkeit, meinem Schicksal zu entgehen. Eine Möglichkeit, eine Hoffnung, die ich dir verschaffe, Ebenezer!«
»Du warst mir stets ein guter Freund«, sagte Scrooge, »ich danke dir!«
»Drei Geister«, fuhr das Gespenst fort, »werden dich noch heimsuchen!«
Scrooges Miene wurde beinahe so elend wie die des Geistes.
»Ist das die Möglichkeit und die Hoffnung, die du meinst?«, fragte er stammelnd.
»Ja!«
»Ich – ich glaube, das möchte ich lieber nicht«, antwortete Scrooge.
»Ohne ihr Erscheinen«, sagte der Geist, »kannst du nicht hoffen, den Weg zu vermeiden, den ich wandeln muss. Erwarte den ersten Geist morgen, wenn die Glocke eins schlägt!«
»Könnte ich sie nicht alle auf einmal abmachen, Jacob«, wagte Scrooge zu fragen, »und hätte es dann hinter mir?«
»Erwarte den zweiten in der nächsten Nacht zur gleichen Stunde. Den dritten in der darauffolgenden Nacht, wenn der letzte Schlag von Mitternacht verhallt. Sorge dafür, dass du mich nie wieder erblickst; und sieh zu, dass du – zu deinem eigenen Heil – dessen eingedenk bleibst, was sich zwischen uns begeben hat.«
Hierauf nahm das Gespenst sein Halstuch vom Tisch und band es wieder um den Kopf wie zuvor. Scrooge erkannte das an dem klirrenden Laut, mit dem die Zähne aufeinanderschlugen, als die Bandage die Kinnbacken zusammenbrachte. Er wagte es, seinen Blick wieder zu erheben, und sah seinen übernatürlichen Besucher hoch aufgerichtet vor sich stehen, die Kette um den Leib geschlungen und über den Arm gehängt.
Die Erscheinung entfernte sich rückwärtsgehend von ihm, und bei jedem Schritt, den sie tat, öffnete sich von selbst das Fenster ein wenig, so dass es, als das Gespenst es erreichte, weit offenstand. Es winkte Scrooge, sich zu nähern, was dieser auch tat. Als noch zwei Schritte zwischen ihnen lagen, erhob Marleys Geist warnend die Hand, nicht näher heranzukommen. Scrooge blieb stehen.
Nicht so sehr aus Gehorsam als vor Überraschung und Furcht, denn als die Hand sich erhob, vernahm er einen wirren Lärm in der Luft, unzusammenhängende Laute des Jammers und der Reue und unaussprechlich trostlose Selbstanklagen. Das Gespenst – nachdem es einen Augenblick gelauscht hatte – stimmte mit ein in diesen traurigen Klagegesang und entschwand hinaus in die finstere kalte Nacht.
Scrooge folgte ihm in verzweifelter Neugierde ans Fenster und blickte hinaus.
Die Luft war von Gespenstern erfüllt, die in ruheloser Hast hierhin und dorthin strebten und dabei erbärmlich stöhnten. Ein jedes trug Ketten wie Marleys Geist; einige von ihnen (es mochten schuldige Regierungsmitglieder sein) waren damit aneinandergefesselt; kein einziges war frei. Manche waren Scrooge im Leben persönlich bekannt gewesen. Ja, mit dem alten Geist in der weißen Weste hatte er geradezu auf vertrautem Fuß gestanden, und jetzt trug der einen riesigen eisernen Geldkasten an seinem Knöchel und heulte erbärmlich, weil es ihm unmöglich war, der verhärmten Frau beizustehen, die er mit ihrem Kinde auf einer Türschwelle unter sich sitzen sah. Das Elend all dieser Gespenster war offenbar, dass sie danach verlangten, menschliche Geschicke zum Guten zu wenden, und dass sie die Möglichkeit dazu für immer verloren hatten.
Ob diese Wesen sich in Nebel auflösten oder ob der Nebel sie einhüllte, konnte Scrooge nicht feststellen. Doch sie und ihre geisterhaften Stimmen verschwanden miteinander; und die Nacht wurde wieder, wie sie gewesen, als er nach Hause gekommen war.
Scrooge schloss das Fenster und untersuchte die Türe, durch die der Geist eingetreten war. Sie war doppelt verriegelt, so wie er sie mit eigener Hand verschlossen hatte, und die Riegel waren in Ordnung. Er versuchte »Dummes Zeug« zu sagen, doch er stockte schon bei der ersten Silbe. Und mochte es nun von der Aufregung herrühren, die er durchgemacht, oder von der Anstrengung des Tages oder dem Blick in die Welt des Unsichtbaren oder dem traurigen Gespräch mit dem Gespenst oder der späten Stunde – er war dringend der Ruhe bedürftig; er ging, ohne sich auszukleiden, zu Bett und fiel sogleich in einen tiefen Schlaf.