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Charles Dickens
ОглавлениеUnter den großen Humoristen des vorigen Jahrhunderts, die zugleich Tendenzschriftsteller im besten Sinne waren, nimmt Charles Dickens einen hervorragenden Platz ein, den er trotz des schnellen Wandels des literarischen Geschmacks und der Kunstanschauung in der Weltliteratur behaupten wird. Dickens ist nicht nur der Lieblingsdichter seines Volkes, sondern er ist schon zu Lebzeiten in allen Ländern des Erdenrunds heimisch geworden. In Hütte und Palast sind seine Werke gedrungen und haben überall starke und nachhaltige Wirkungen ausgeübt. Begabt mit dem köstlichen Humor, der mit dem einen Auge weint und dem anderen lacht, ist Dickens allen denen, die auf der Höhe des Lebens wandeln, ein treuer Mentor geworden, den Elenden und Enterbten des Lebensglücks aber ein aufrichtiger Freund und Tröster.
Charles Dickens konnte zum ganzen Volke von allen den Dingen, die unsre Welt ausmachen, sprechen, weil er das Leben gründlich kannte, weil er selbst alle Wechselfälle des Lebens an sich selbst erfahren hatte. Als Kind wenig bemittelter Eltern am 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth geboren, mußte er schon im Alter von zehn Jahren, als sein Vater in London ins Schuldgefängnis gewandert war, für den eigenen Lebensunterhalt sorgen. Während er als Laufbursche gegen einen kärglichen Wochenlohn tätig war, vernachlässigte er naturgemäß seine Schulbildung gänzlich, und er genoß erst, nachdem der Vater eine bescheidene Stellung in London erlangt hatte, als zwölfjähriger Knabe einen besseren Unterricht. Den Mangel eines systematischen Unterrichts hat er durch Selbstunterricht, der sich auf alle Gebiete des Wissens erstreckte, namentlich aber durch das Studium der englischen Schriftsteller ausgeglichen. Im Jahre 1833 veröffentlichte er, nachdem er sich schon als Journalist an führenden Blättern unter dem Pseudonym Boz mit großem Erfolge betätigt hatte, sein erstes Buch, eine Reihe von Skizzen aus dem Londoner Volksleben in zwei Bänden. Einige Jahre später folgten die «Pickwick papers», die ihn mit einem Schlage zu einem gelesenen und in allen Schichten gleich geschätzten Autor machten. Das Buch, das in einer Reihe von lose aneinandergefügten Skizzen die Abenteuer einiger Mitglieder des Pickwickklubs auf ihrer Reise durch England schildert, enthält in gewissem Sinne das Programm des späteren Dickens, der das Leben schildert, wie es sich ihm darbietet, immer von dem Gedanken getragen, moralische Wirkungen zu erzielen und den Menschen mit seiner Umwelt zu versöhnen. Um dieses Ziel zu erreichen, schrickt er nicht vor Übertreibungen eines Zustandes oder einer Handlung zurück und macht selbst, um möglichst eindringlich zu wirken, seine Figuren, die meistens sehr lebensvoll einsetzen, zu menschlichen Karikaturen.
In rascher Folge erscheinen in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Hauptwerke Dickens. Die Reihe eröffnet «Oliver Twist» (1838), das als das erste realistische, aus dem Volkstum geschöpfte Buch mit außerordentlichem Enthusiasmus in England aufgenommen wurde und bald seinen Weg über den Erdball machte. Es folgten: «Nicholas Nickleby» (1839) und «Master Humphrey's clock» (1840), ein Werk, das sich ähnlich wie die «Pickwickier» aus Einzelerzählungen zusammensetzt, sich aber vor einem ernsteren Hintergrund abspielt und tiefergreifende Menschenschicksale darstellt.
In den vierziger Jahren unternahm Dickens, der inzwischen zu einem gewissen Wohlstand gelangt war, große Auslandsreisen. Die Hauptfrucht seiner ersten Amerikareise (1842) ist der Roman «Martin Chuzzlewit», in dem er die Heuchelei der Amerikaner mit scharfen Hieben geißelt. Auch in seinen «American notes» läßt er es an harten Bemerkungen über die Amerikaner und amerikanischen Einrichtungen nicht fehlen. Die Amerikaner haben ihm die geringe Meinung über sie und ihr Land, der er zu wiederholten Malen Ausdruck gegeben hat, nicht nachgetragen, sondern ihm in Neuyork, Chicago und anderen Städten prächtige Denkmäler errichtet.
In Italien schrieb Dickens den Roman «Chimes» (1844), am Genfer See «Battle of Life» (1846). Fast gleichzeitig entstand «Dombey and son», ein Lebensbild aus dem Bürgertum, in dem Episoden von ergreifender Tragik und grotesker Komik einander folgen. Auf der Höhe des Schaffens stehend, schrieb Dickens Ende der vierziger Jahre den autobiographischen Roman «David Copperfield», der nach Plan und Anlage als ein wahrhaft geniales Werk genannt zu werden verdient. In der Charakterisierung der Person hat Dickens hier die höchste Meisterschaft erreicht, auch ist die Handlung einheitlicher und geschlossener als in den Werken seiner ersten Periode.
David Copperfield ist wie die meisten Romane ein sozialer Tendenzroman. Für Dickens, der aus dem Volke hervorgegangen war, der auch als Dichter ein Selfmademan war, war die Kunst immer nur ein Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck, wie es eine spätere französische Richtung durch den Grundsatz «l'art pour l'art» ausdrückt. Dickens ist daher keiner begrenzten Gruppe oder Kunstrichtung einzureihen; er ist weder Realist noch Idealist im herkömmlichen Sinne, sondern auch als Künstler immer nur Moralist. Zwar sind die Zustände stets mit den Augen des Realisten gesehen, er ist sogar ein Kleinmaler von einer Prägnanz des Ausdrucks wie wenige, aber darüber hinaus reicht sein Wirklichkeitssinn nicht. Sobald er an den Menschen herantritt, versagt sein Charakterisierungsvermögen, er schildert die Menschen nicht wie sie sind, aus dem Milieu heraus, sondern wie er wünscht, daß sie sein möchten. Nur selten gelingt es ihm, einen der Wirklichkeit entsprechenden Menschen zu zeichnen; seine Romanfiguren sind entweder idealisiert oder karikiert – im besten Falle Typen, keine Individuen. Entweder sind sie Erzbösewichter oder herzensgute Engel. Und zum Schluß erhalten sie alle, ganz im Einklang mit dem höchsten moralischen Grundgesetz, ihre Strafe oder ihre Belohnung für das, was sie getan oder unterlassen haben.
Am besten gelingen Dickens die Gestalten aus dem Volk, mit ihnen ist der Dichter aufgewachsen, mit ihnen hat er gelitten, mit ihnen kann er daher auch empfinden. Auch in die Seele des Kindes vermag sich Dickens zu versetzen; hier wirkt sein Pathos immer echt, ob er das Elend des ausgesetzten Kindes schildert, die Qualen und Entbehrungen eines kleinen Bettlers oder gar den Tod eines unglücklichen kleinen Wesens.
Je weiter sich Dickens vom Volkstum entfernt, umso unklarer und verschwommener werden seine Gestalten, doch weiß er auch hier wiederum mit glücklichem Griff das Milieu, in dem eine Lordschaft oder gar ein englischer Herzog sich bewegt, festzuhalten. Man sieht gern über die angedeuteten Schwächen hinweg, da der Dichter unerschöpflich in der Erfindung komischer und grotesker Situationen ist und mit einem von Herzen kommenden und zu Herzen gehenden Humor alle menschlichen Schwächen und Verirrungen zu entschuldigen weiß. Selbst dem tiefgesunkenen Verbrecher haftet immer noch ein menschlich liebenswürdiger Zug an. Ohne gerade Kriminalpsychologe zu sein, schildert Dickens seine Gestalten fast durchgängig als Produkte ihrer Umgebung und behandelt auch den schändlichsten Missetäter mit Nachsicht und Milde. So nur konnte er zu einem Anwalt der Unglücklichen und Enterbten werden.
In der zweiten Periode seines dichterischen Schaffens, die die beiden letzten Jahrzehnte seines Lebens umfaßt, treten die Eigenarten und Schwächen des Dichters immer schärfer hervor. Rastlos tätig, lockert sich in seinen Romanen immer mehr die Komposition, auf langatmige Schilderungen folgen knappe dramatische Evolutionen und spannende Konflikte, die zu einem plötzlichen Abschluß drängen. Besonders charakteristisch ist in dieser Beziehung der vierbändige Roman «Our mutual friend», aber auch «Bleakhouse» und «Tale of two cities», wo die französische Revolution den Hintergrund bildet, lassen die Einheitlichkeit des Plans vermissen.
Charles Dickens war während seines ganzen Lebens von einem Arbeitseifer, der weder Rast noch Ruh kennt, beseelt. Während er seine großen Romane schrieb, war er im Nebenfach als Journalist und Redakteur tätig. Im Jahre 1845 trat er in die Redaktion der neubegründeten Zeitung «Daily News», die auch seine italienischen Reisebilder zuerst veröffentlichte, ein. 1849 gab er eine Wochenschrift «Household Words», die der Unterhaltung und Belehrung diente, heraus. Daneben fand er Zeit zu Vortragsreisen in England, Irland und Amerika, die ihm Reichtümer und hohe Ehrungen einbrachten, aber auch die mittelbare Ursache zu seinem plötzlichen Tode wurden. Er starb, vom Schlage getroffen, nach kurzem Krankenlager auf seinem Landsitz Gadshill, am 9. Juli 1870 im Alter von 58 Jahren. Seine Gebeine wurden in der Westminsterabtei, dem Pantheon Englands, beigesetzt.
Wenden wir uns nunmehr der in diesem Bande veröffentlichten Erzählung «Oliver Twist» zu, so werden wir die Vorzüge und Schwächen Dickensscher Erzählungskunst gerade an diesem Werke höchst eindringlich wahrnehmen können. Oliver Twist ist Dickens hervorragendstes Jugendwerk und behandelt die Geschichte einer Jugend. Zweifellos haben eigene Jugendeindrücke dem Dichter die Direktive zu dieser Arbeit gegeben. Wie der kleine Oliver, so hat auch Dickens, zwar unter anderen Verhältnissen, aber ebenso mühselig, sich emporringen müssen. Das Leben hatte den Dichter schon in zarter Jugend hart angepackt, aber wie das Gold sich im Feuer läutert, so läutert sich die Seele im Lebenskampf, der Schmutz haftet nur dem Schmutzigen an, wer gesund und rein empfindet, muß schließlich alle Widerwärtigkeiten des Lebens überwinden. Das ist der Leitgedanke in Oliver Twist. Höchst drastische Bilder läßt der Dichter vor unserem geistigen Auge entstehen, scharf zugespitzte Situationen schildert er mit einer Anschaulichkeit, die uns um das Schicksal des jugendlichen Helden mit banger Sorge erfüllt. Wir empfinden und fühlen mit Oliver Twist, wir fürchten gar um sein Leben und zittern um sein Seelenheil. Oftmals hat es den Anschein, als müsse die Katastrophe jäh über ihn hereinbrechen, aber immer wieder entwirren sich die verworrenen Schicksalsfäden, bis ihm endlich die Erlösung aus unwürdigen Zuständen, in die er ohne seine Schuld geraten ist, wird.
Wenn man den moralischen Maßstab an eine dichterische Arbeit anlegen will, so vollzieht sich in «Oliver Twist» alles ganz folgerichtig: die Tugend muß schließlich siegen, denn so will es die moralische Weltordnung. Vom literarischen Gesichtspunkt betrachtet, ließe sich allerdings mancherlei gegen den Optimismus Dickens einwenden; man merkt gar zu schnell die moralisierende Absicht und wird verstimmt. Dagegen kann Dickens als Zustandsschilderer auch hier vor jeder literarischen Kritik bestehen. Wie anschaulich sind allein die Verbrecherschlupfwinkel geschildert! Wie überzeugend die Örtlichkeiten des dunkelsten Londons! Man gewinnt hier überall den Eindruck des Selbstgeschauten. Dickens bedient sich zur Erreichung seines Zwecks oft ungewöhnlicher Mittel und verblüffender Wendungen. Er konstruiert die unwahrscheinlichsten Situationen und nimmt es auch mit den Tatsachen nicht so genau, um eine Kontrastwirkung zu erzielen. Einzelne Begebenheiten streifen fast das Niveau des Kolportageromans, während andere den Eindruck höchster Künstlerschaft auf den Leser machen.
«Oliver Twist» ist eine Arbeit, die nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen geschrieben ist. Es ist der Roman des Kindes, vielleicht der erste dieser Art in der neueren Literatur. Der maßlose Jammer der ausgesetzten und verlassenen Kinder, von denen es im heutigen London noch hunderte und aberhunderte gibt, hat den Dichter angeregt zu einer Arbeit, die ein Appell an die Welt zur Abhilfe der verrotteten Zustände sein soll. Wir leben im «Jahrhundert des Kindes»! Männer und Frauen aller Kreise haben zusammengewirkt, um eine Hebung des sittlichen Niveaus, aber auch der materiellen Lage der Kinder der Ärmsten zu erzielen. Der Dichter des «Oliver Twist» verdient als Vorläufer dieser Bewegung bezeichnet zu werden. Menschengüte und Kinderliebe sprechen aus jeder Zeile des Buches; ohne diese Qualitäten hätte es schwerlich seinen Platz in der Weltliteratur behauptet.
Von dem feinen Verständnis der Kinderseele und den Bedürfnissen des Kindes legt neben «Oliver Twist» auch Dickens «A child's history of England» ein glänzendes Zeugnis ab. In einer, den Anschauungskreis des Kindes angemessenen Form schildert Dickens hier die Hauptereignisse der englischen Geschichte mit höchster Eindringlichkeit und Wahrhaftigkeit, aber auch zugleich frei von jeder aufdringlichen chauvinistischen Tendenz. Das Buch, das in England und Amerika zu den meistgelesenen Büchern zählt, hat bei uns bei weitem nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden, obgleich wir in der geschichtlichen Jugendliteratur ihm nichts Ebenbürtiges zur Seite stellen können.
Charles Dickens hat in England viele Nachahmer gefunden, aber niemand hat ihn, dem das Schreiben eine sittliche Aufgabe war, auch nur im entferntesten erreicht. Seine Nachahmer haben ihn eigentlich nur in der Breite der Anlage und der Umständlichkeit der Schilderung getroffen, nicht aber in der Eindringlichkeit seines Vortrags und in der Überzeugungskraft, mit der er seine Tendenz verficht. Bald wird ein halbes Jahrhundert seit seinem Tode verflossen sein, die englische Familienblattliteratur hat inzwischen hunderttausende von Neuerscheinungen auf den Markt geworfen, aber doch ist Dickens der Dichter des Volkes geblieben. Von den großen Humoristen des vorigen Jahrhunderts kann ihm nur einer als gleichwertig zur Seite gestellt werden: unser Fritz Reuter, der ja auch wie Dickens in einer harten Schule der Entbehrungen zum Dichter und Menschenfreund herangewachsen ist. Sie liebten beide das Volk, weil sie es als echte Söhne des Volkes genau kannten, und sie haben beide dadurch, daß sie die erbärmliche Alltäglichkeit mit echter Poesie und echtem Humor durchtränkt haben, Millionen entzückt und mit dem Leben versöhnt. Wer das zuwege bringt, ist ein Wohltäter der Menschheit. In diesem Sinne hat sich einer der größten Staatsmänner Englands, Gladstone, über Dickens geäußert; auch er feierte ihn als einen Erzieher und Wohltäter seines Volkes. Charles Dickens wird daher, mag er einer strengen literarischen Kritik auch nicht immer standhalten, mag er selbst als Menschenschilderer überholt worden sein, dennoch weiterleben und noch viele Generationen durch seinen köstlichen Humor entzücken und begeistern.
Johannes Gaulke.