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1. KEINE FORDERUNG IST ZU GROSS

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Der Extinction Rebellion (XR) geht es in Wirklichkeit gar nicht um den Klimawandel, obwohl sie das selbst noch glaubt. Das Klima ist eher als Aufhänger zu sehen, als Ausdruck eines tieferen Sehnens. Greta Thunberg und die Klimastreikenden verkörpern die Weigerung, einem lebensfeindlichen System zu gehorchen. »Ich werde nicht zur Schule gehen. Ich werde mich nicht an all dem beteiligen. Ich will kein Rädchen im Getriebe sein!«

Die drohende Klimakatastrophe ist wie ein Kristallisationskeim. Sie verleiht einer intuitiv empfundenen, diffusen Entfremdung vom gegenwärtigen Zivilisationsprojekt Form und Ausdruck und kann als Sündenbock für alles, was falsch läuft, herhalten. Sie lenkt die revolutionäre Bestrebung, alles zu ändern, gegen eine Sache. Aber wenn wir morgen früh aufwachen und in den Nachrichten hören würden, dass die Wissenschaft unrecht gehabt hätte und sich die globalen Temperaturen stabilisierten, wäre das immer noch kein Grund für die Protestierenden, aufzuhören. Denn sie begreifen, dass die Herausforderung, vor der die Menschheit steht, nicht die Frage ist, wie alles weiterhin seinen gewohnten Gang gehen kann, nur eben ohne fossile Brennstoffe. Der gewohnte Gang ist nicht in Ordnung, und das lässt sich auch durch einen Umstieg auf andere Energiequellen nicht ändern. Wie die radikalen Kriegsgegner der 1960er-Jahre, die Globalisierungsgegner der 1990er-Jahre oder auch die Occupy-Bewegung haben sie nicht gemäßigte Reformen zum Ziel. Sie wissen, dass gemäßigte Reformen nicht tief genug ansetzen. Sie erkennen – bewusst oder unbewusst –, dass Ökozid1 kein korrigierbarer Nebeneffekt, sondern ein integraler Bestandteil des heutigen Wirtschaftsund Gesellschaftssystems ist. Sie wissen, dass wir zu mehr fähig sind als zu einer Welt voll nie endender Armut, Ungleichheit, Kriegen, häuslicher Gewalt, Rassismus und Umweltzerstörung. Und sie wissen, dass all diese Erscheinungen einander wechselseitig bedingen.

Mit anderen Worten, die Frage ist nicht, ob unsere heutige Zivilisation nachhaltig werden soll, sondern: Wollen wir sie überhaupt in der Form weiter aufrechterhalten? Sind wir denn nicht zu mehr fähig?

Bei einer Rede anlässlich der Eröffnung des Berliner Extinction-Rebellion-Camps im Oktober 20192 wagte ich, eine Vermutung darüber zu äußern, worum es der Bewegung in Wirklichkeit geht. Was wir eigentlich wollen, sagte ich, ist, dass die Menschheit die Natur wieder heiligt. Wir wollen von einer Gesellschaft der Herrschaft zu einer der Teilhabe übergehen, von der Unterwerfung zum gemeinsam schöpferischen Tätigsein, von der Ausbeutung zur Regeneration, von der Schädigung zur Heilung und von der Vereinzelung zur Liebe. Und wir wollen diesen Wandel in all unseren Angelegenheiten zum Ausdruck bringen: in Ökologie, Ökonomie, Politik und im persönlichen Bereich. Darum können wir sagen: »Liebe ist die Revolution.«

Solch ein Ziel lässt sich nicht leicht in politische Forderungen übersetzen. Jede Forderung, die ich stellen könnte, wäre entweder zu gering oder zu groß. Ist sie politisch denkbar, dann ist sie zu gering. Wenn ihre Umsetzung in der Macht und Befugnis politischer Amtsträger steht, wenn sie im Rahmen der gegenwärtigen Politik denkbar ist, heißt das, dass damit keine grundlegende Änderung des Systems verbunden sein darf. Solche Forderungen wären bestenfalls Richtungsanzeiger für ein Ziel, das wir ansteuern wollen. Schlimmstenfalls wären sie wie der letzte Walzer der Schiffskapelle auf dem sinkenden Ozeandampfer.

Wenn wir hingegen Forderungen stellen, die dem Umfang des angestrebten Wandels entsprechen: An wen, bitteschön, sind diese Forderungen zu richten? Glauben wir denn, die globale Industriewirtschaft und der ihr angegliederte politische Apparat sind ein Güterzug, und wir müssen lediglich den Lokführer auffordern, die Maschine zu drosseln? Die Spitzen in Politik und Konzernen sind gerade so hilflos wie alle anderen. Sie sind Spielbälle von Kräften jenseits ihrer Kontrolle – und zumeist auch ihres Verständnisses. Was wir wirklich wollen – die schönere Welt, von der unsere Herzen wissen, dass es sie gibt3, und deren unverwirklichte Möglichkeiten mit jeder neuen Generation wieder eine Rebellion auslösen werden –, kann uns keine Macht der Welt gewähren. Das heißt weder, dass sie unmöglich ist, noch, dass wir ihrem Werden nicht dienlich sein können. Ich will damit nahelegen, dass eine auf Forderungen basierende Sprache der Sache unangemessen sein dürfte.

Das sich auf fossile Energieträger stützende System besitzt enorme Schwungkraft. Es ist mit jeder Facette des modernen Lebens verknüpft – von der Medizin über die Landwirtschaft und den Transport bis hin zu Produktion und Wohnungsbau. Jede Aktivistin, jeder Aktivist muss verstehen, dass die Forderung, sich von fossilen Brennstoffen abzuwenden, bedeutet, dass sich alles ändern muss; und diese Forderung kann unmöglich erfüllt werden. Aber das, worauf sie abzielt, ist nicht unmöglich. Genau diesem Ziel zu dienen sind wir hier: der vollständigen Neugestaltung der Zivilisation. Doch diese kann nicht mit Forderungen erreicht werden, denn niemand hat die Macht, solche Forderungen zu erfüllen.

Nicht einmal die klaren Forderungen von Extinction Rebellion können von den Mächtigen heute erfüllt werden. Man sehe sich an, was geschieht, wenn Regierungen auch nur die Treibstoffsteuern erhöhen: Proteste und Ausschreitungen rund um den Globus – u.a. in Frankreich, Ecuador, Simbabwe und Indonesien – folgen Preissteigerungen beim Treibstoff auf den Fuß, und die Regierungen müssen entweder klein beigeben oder Truppen schicken, um die Unruhen zu unterdrücken. (Meist tun sie beides, weil die Rücknahme der Preiserhöhungen die allgemein glimmende Unzufriedenheit nicht beschwichtigen kann, die hier geschürt wurde.)

Da fossile Brennstoffe für die heutige Weltgemeinschaft unverzichtbar sind, zöge ein Ausstieg die völlige Zerrüttung der Gesellschaft nach sich. Es ist nicht damit getan, fossile Energiequellen durch Sonne, Wind und Biomasse zu ersetzen und vielleicht Technologien wie Geo-Engineering und Kohlenstoffbindung anzuwenden, um dann wieder zur gewohnten Tagesordnung übergehen zu können. Nein. Die unvorhersehbaren Fluktuationen erneuerbarer Energieträger, Interessenskonflikte bei der Bodennutzung und begrenzte Vorkommen von seltenen Erden machen einen Ausstieg de facto unmöglich.4 Aber selbst wenn wir den gewohnten Gang fortsetzen könnten – wollten wir das wirklich?

Wenn wir etwas als Forderung verpacken, vertiefen wir die bestehenden politischen Machtverhältnisse. Wir beschränken das, was wir erreichen können, auf das, was in der Macht der politischen Amtsträger steht. Wir ermächtigen jene, die wir für mächtig halten, und wenn sie unser Ultimatum nicht erfüllen, erklären wir sie automatisch zu Feinden.

Eine Forderung impliziert die Drohung: »Mach, was ich sage, sonst …!« Stelle ich eine solche Forderung, die mein Gegenüber nicht erfüllen kann, mache ich den Adressaten damit automatisch zu meinem Gegner. Bewegungen, die das tun, neigen langfristig zu Schwund statt zu Wachstum. Der Bevölkerung entfremdet, die sie zu retten versuchen, und unfähig, greifbare Ergebnisse zu erzielen, schrumpfen sie auf selbstgerechte Märtyrerkader zusammen. Dieses Muster wiederholt sich immer wieder. Fast zwangsläufig bestätigt sich die Selbstgerechtigkeit, wenn die Polizei irgendwann brutal gegen sie vorgeht, um die Ordnung zu wahren. Dann dreht sich die Debatte nur mehr darum, ob Polizeigewalt gerechtfertigt ist, ob Gegengewalt gerechtfertigt ist, wer die Guten und wer die Bösen sind. Die Proteste selbst werden zum Thema anstelle des ursprünglichen Anlasses. Die Demonstranten versuchen, jedes Vorkommen von Polizeigewalt zu benutzen, um die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. »Wir sind bestimmt die Guten, denn seht, wie böse die Regierung ist.« Ein Medienkrieg folgt, ein Kampf um die Erzählhoheit. Innerhalb ihrer jeweiligen Medienblasen und Echokammern in den sozialen Medien wird jede Seite zunehmend überzeugter von der eigenen Tugendhaftigkeit und der Schlechtigkeit der anderen. So führen beide Seiten ein archetypisches Drama auf, Krieg genannt, und folgen der uralten Annahme, dass der Schlüssel zur Lösung jedes Problems der Sieg über einen Feind sei. Fortschritt muss errungen werden, im Kampf um die Vorherrschaft. Warum sehen wir nicht, dass genau diese Herrschaftsdenkweise der zivilisatorischen Umweltzerstörung zugrunde liegt? Dies ruft nach einer anderen Art von Revolution.

Es ist natürlich bequem, zur Lösung einer Krise erst einmal eine Liste von Feinden zu erstellen. Wir ersetzen ein Ziel, von dem wir nicht wissen, wie wir es erreichen können (alles zu ändern), durch eines, von dem wir es wissen (einen Anführer absetzen, die Regierung stürzen, politische Macht an sich reißen). So lenkt das Trugbild der Macht unsere revolutionäre Energie auf ein geringeres Ziel. Wenn der Lokführer die Maschine nicht drosselt, schmeißen wir ihn vom Zug und bremsen selbst. Doch wahrscheinlich werden wir wie die meisten Revolutionäre es nicht einmal schaffen, die Kontrolle tatsächlich an uns zu bringen. Im unwahrscheinlichen Fall, dass es uns gelingen sollte und wir uns im Führerstand wiederfinden, werden wir erkennen, dass wir genauso unfähig sind, den Motor zu drosseln, wie unsere Vorgänger.

Das heißt nicht, wir sollen es einfach bleiben lassen und heimgehen. Lasst uns der Hoffnung vertrauen. Authentische Hoffnung ist keine Flucht in eine Illusion, sondern die Vorahnung einer realen Möglichkeit. Um sie zu verwirklichen, müssen wir das konventionelle Problemlösungsmuster durchbrechen, in dem jede Lösung nur wieder dasselbe Problem in neuer Verkleidung erzeugt. Die konventionelle Diagnose des Problems Klimawandel ist selbst Teil des Problems, und damit sind es auch die damit verbundenen Lösungen. Wenn wir es schaffen, aus diesem Teufelskreis auszusteigen, dann werden sich unsere Forderungen ändern und, noch wichtiger, werden wir Möglichkeiten zur Lösung der Krise finden, die überhaupt gänzlich jenseits einer Mentalität des Forderns liegen.

Wut, Mut, Liebe!

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