Читать книгу Farinet oder das falsche Geld - Charles Ferdinand Ramuz - Страница 4
II
ОглавлениеUnd wirklich, in dieser selben Nacht, die Uhr der Kathedrale hatte kurz vorher zwölfmal geschlagen, war Farinet ohne Geräusch von seinem Strohsack aufgestanden und aus dem hölzernen Rahmen gestiegen, der an der Mauer festgemacht war.
Eben noch hatte der Aufseher seine Runde gemacht und war vor der eisengepanzerten Tür gestanden, hatte das vergitterte Guckloch geöffnet und ihn dort liegen gesehen, musterhaft unter der Decke; dann war auch er schlafen gegangen.
Kurz nach den zwölf mitternächtlichen Glockenschlägen hatte er sich aufgesetzt. Farinet auf seinem Strohsack.
Eine ganze Weile hatte er sich nicht gerührt. Er war vorsichtig und berechnend; immer, in allem. Lange war er unbeweglich dagesessen, um sicher zu sein, dass alles ruhig war in dem Käfig (so nannten die Leute im Land das Gefängnis).
Er hatte nichts gehört. Er hatte nur noch die Decken zurückschlagen müssen.
Kurz nach Mitternacht steht er auf; er geht mit bloßen Füßen zum Fenster, zu der vergitterten Mauerscharte, er packt einen der Stäbe und zieht sich hinauf; dann machte
er sich, ins Gemäuer geduckt, wie ein Kaminfeger in den Rauchfang, an seine Arbeit.
Man hat nie herausgebracht, wie er sich die Metallfeile beschafft hatte. Offensichtlich hatte er sie schon benutzt; die Gitterstäbe waren zu drei Vierteln durchgesägt. Und nun ließ die Feile wieder ihr Husten hören, oder einen keuchenden Laut, wie wenn einer Asthma hat; von Zeit zu Zeit hielt er an, aber alles blieb still in dem Käfig, und das Feilen begann von neuem.
So war die erste Stange bald durchgefeilt, dann die zweite. Sie waren immerhin beide solid, mit Hammer und Amboss geschmiedet, in der alten Zeit (als man noch wusste, was Schmiedearbeit war): Trotzdem waren sie nun entzwei, am oberen Ende, direkt am Stein, die eine wie die andere; denn Farinet hatte beschlossen, ihnen so viel Länge wie möglich zu lassen, damit sie sich eher bogen. Er hält sich wieder einen Augenblick ganz still, er muss warten, bis das schwere Klopfen seines Herzens zum Schweigen kommt. Er leckte den salzigen Schweiß von den Mundwinkeln; hinten rann er ihm den Nacken hinunter, er klebte ihm das Hemd auf die Haut. Der Mondschein schnitt jetzt seinen Körper in zwei Hälften, auf der Höhe des Gürtels; der untere Teil stand im Licht; der untere Teil des Körpers war wie Eis, der Kopf und die Hände waren wie Feuer. Macht nichts, man wird ihnen zeigen, wer man ist! Er wartet geduldig, solange es sein muss, er horcht mit dem einen Ohr auf die Geräusche, die drinnen im Gefängnis laut werden könnten, mit dem anderen Ohr auf die Töne, die von draußen hereindringen oder hereindringen könnten; aber er hört nur ein Pferd, das da unten hustete, auf der anderen Seite der Hofmauer; und dann die Uhr der Kathedrale, die eins schlug.
Er hält sich mit beiden Händen an einer der Stangen fest; er lässt sich nach hinten fallen …
Ah!, und die meinten, sie hätten mich! Die Stange gab nach unter seinem Gewicht; die meinten, sie könnten mich noch sechs Monate in ihrem Käfig behalten; sie wussten nicht, wer ich bin.
Der italienische König auch nicht, Umberto der Erste: Jetzt weiß er’s. Farinet war an der zweiten Stange, er merkte nicht einmal, dass ihm das Blut über den Arm rann bis unter die Achsel; die zweite Stange gab auch nach. Beide bildeten jetzt Haken, die sich abwärts bogen, und über sich gaben sie genauso viel Raum frei, wie einer brauchte, um durchzuschlüpfen; knappen Raum freilich, ganz knappen sogar, der Körper ging da nur flach durch, aber Farinet kannte sich aus! Wenn einer von Kind auf in den Bergen herumgestiegen ist, weiß er Bescheid; und die Freiheit wartete auf ihn, ganz nahe war sie und kam bis zu ihm herein mit dem Mondlicht und sagte zu ihm: «Fast bist du so weit, Farinet, nur ein wenig streng dich noch an, ja, so …» Sie sagte zu ihm: «Jetzt musst du bloß noch das Seil festmachen … Ja, so … Zwei Knoten machst du. Hab keine Angst.»
Er hatte keine Angst. Denn man mochte ihn gern, und die Dinge mochten ihn auch. Er hatte nicht sein Leintuch in Streifen reißen müssen wie so viele Gefangene, von denen man in den Büchern liest; er hatte ein Seil, ein richtiges, ein Seil aus gutem Hanf, so lang, wie er es brauchte, ungefähr acht Meter. Man mochte ihn gern, man sorgte für ihn. Und er sah, dass auch die Dinge ihn gern hatten; denn gerade als
er nun das Seil mit einem doppelten Knopf am Gitter befestigt hatte, war eine Wolke vor den Mond getreten. Das Gefängnis steht oben auf dem Stadthügel, mit seinen hohen, nackten Mauern; man hätte ihn leicht bemerken können, als dunklen Schatten vor der hellen Fassade, wenn der Mond darauf schien, aber der scheint jetzt nicht. «Ich will dir nicht im Weg sein», hatte er gesagt und war im selben Augenblick hinter einer dicken schwarzen Wolke verschwunden. Farinet lässt sich hinunter, der Mauer nach, in tiefdunkler Nacht, nicht zu bemerken. Er muss nur dem Seil bis zum Ende folgen, um Boden zu finden. Er dachte nichts mehr, es geht alles sehr rasch. Die Bewegungen, die er machte, schien ein anderer für ihn zu machen; sie folgen einander so schnell, dass er sie nicht einmal wahrnahm. Wie er unten angelangt ist, machen seine Schritte kein Geräusch. Es ist, als wäre er auf dem Grund eines Sodbrunnens, es war der Rundgang, ein kurzer Weg: höchstens fünf Schritte; er macht sie geräuschlos, in tiefster Dunkelheit. Der Mond dort über allen Kirchtürmen von Sion und dem Bischofssitz sagte: «Ich bleibe im Versteck»; und er kommt mit seinen geräuschlosen Schritten zur Umfassungsmauer, fünf oder sechs Meter hoch ist sie, aber er kennt sich aus. Das ist so, wie wenn er Gold suchte, wenn er Gämsen verfolgte, und hinter einer Biegung brach der Weg ab; es ging nicht weiter, es ging nicht zurück, auch hinunter nicht: auf diesen handbreiten Vorsprüngen, denen man folgt, bis sie plötzlich nicht mehr da sind in der Leere, wo man die Kühe sieht zwischen den Beinen hindurch, nicht größer als Marienkäferchen, vierhundert Meter tiefer. Und da (er lachte in sich hinein), da meinen sie, mit ihrem bisschen Mauer halten sie mich auf, und der Große Maurer hat’s nicht gekonnt. Oder fragt doch den italienischen König, Umberto den Ersten, ihr wisst schon, als der mich behalten wollte. Der hatte auch Mauern, und was haben sie ihm genützt? Mit den Fingerspitzen findet er über seinem Kopf eine Ritze; mit den Zehenspitzen findet er eine andere Ritze in der Mauer der Regierung. Er drückt sich an den Stein, so eng er kann, den Arm hinaufgestreckt. Der andere Arm sucht weiter oben, findet auch Halt, und der erste kommt ihm nach; er zieht sich hoch, hilft mit dem Knie nach. So gelangt er auf die Mauer, während Sion schlief; er greift mit dem linken Arm hinüber und legt sich flach auf die Mauer. Geschafft! Der italienische König … Zwei, drei Wörter, immer dieselben, tönten in seinem Kopf, während ein warmer Strom von den Schläfen zu den Ohren floss, laut, aber angenehm jetzt; als ob man ihm Bravo zuriefe. Der italienische König … der italienische König …
Das Pferd hustete wieder.
Dann schlägt auch die Turmuhr wieder.
Diesmal schlug die helle Glocke, die tiefere war für die Stundenschläge da, die helle für die halben Stunden. Da erinnerte sich Farinet, dass seine Arbeit noch nicht ganz zu Ende war.
Er war die Rebhänge hinaufgestiegen, dann hatte er sich unter einem Apfelbaum ins Gras fallen lassen.
Er atmete die Luft der Freiheit ein, so tief er konnte. Er streckte die Hand aus, er spürt unter seiner Hand und durch den Stoff seiner Hosen das nasse Gras, er hebt den Kopf, und da sieht er die Sterne wieder, er kann jetzt den Himmel wieder von einem Ende zum andern sehen, und das ist gut, das ist schön.
Er war anfangs sehr rasch gegangen, eher gelaufen als gegangen, war die steinige Halde hinaufgeklettert, zwischen den Rebstöcken mit ihren Schossen, die man eben erst aufgebunden hatte, oder unten in den Gräben, die man für das Absenken zieht und die ihm nun gute Verstecke boten; er hatte keine Zeit gehabt, etwas zu denken, wie er da in seinen Sträflingshosen rannte, er war nur besorgt, dass niemand diese Hosen sah, und er war sparsam mit dem Atem, aber jetzt hat er einen Ast des Apfelbaums über sich, und ein anderer hängt vor ihm herab und verdeckt ihn.
Er blickt sich um; er sah, wie gleich vor ihm die steile Böschung anfing und im Gewirr der Rebstöcke abfiel; unten kam dann der breite, flache Talboden, wo die Rhone fließt; und Sion, die ganze Stadt, lag zwischen ihm und der Rhone.
Das Ganze zeigte sich ihm nach und nach, da die Augen sich anpassten in der völligen Dunkelheit (die ihm lieb war), wie eingemeißelt ins schwarze Gestein, bis zu den Höhen von Valère und Tourbillon, die doch weniger hoch waren als der Ort, wo er saß. Die Kirche, die auf der einen steht, und das Schloss auf der anderen lagen beide unter ihm, so hoch war er schon gestiegen. Er musste jetzt lachen, wie er so dasaß und sich verwunderte: eine ganze Stadt, mit einem Bischof, einer Regierung, mit einem Schloss, zwei Schlössern, mit Türmen, mit sieben oder acht Kirchen, mit einem Gericht, mit Richtern, mit einem gefällten Urteil, mit Polizisten und Gefängniswärtern, all das und sie alle zusammen hatten ihn nicht zurückhalten können; und er war allein gegen sie alle. Er war allein, sie waren vier- oder fünftausend. Das kam aber daher, dass ihre Gerechtigkeit nichts taugte, dass sie ungerecht ist. Doch für unsereinen gibt es den Geschmack an der Freiheit. Sie haben ihr kleines Leben dort unten, ihr enges Leben, ihr falsches Leben (er schaute noch immer von oben ins Tal), sie liegen in ihren Betten, während er das Gras unter seiner Hand spürte, ganz nass wurde es, und Blumen waren darin, die gut zu riechen begannen. Adieu, ihr da unten, ihr andern!, jeder hat sein Leben. Sie sind noch zwei Stunden lang tot, und ich habe Zeit, solange sie tot sind. Sie haben versucht, mich am Leben zu hindern, weil ich mein Leben habe, mein eigenes …
Vorwärts!, ruft er sich zu, vorwärts!, und weiter so; für jetzt aber Ausruhen, denn alles geht gut – war eben gut berechnet.
Er tastet seinen Körper ab im hohen Gras: berührt die bloßen Füße, die Knie, die dicken gestreiften Uniformhosen, den verkrusteten Hanfstoff seines Sträflingshemds – da drunter bin aber ich, ich bin das …
Er lässt sich zurückfallen. Er lässt sich mit dem ganzen Körper gegen die gute Erde zurückfallen, überall spürt er sie. Er fügt sich ganz ihr an, mit dem Hinterkopf, mit dem Nacken, mit beiden Schultern, mit den Schenkeln und Waden, mit den Fersen.
Er sieht, dass sich drunten im Käfig noch nichts gerührt hat.
Er sieht auch, dass die Sterne allmählich bleich werden, zwischen den Ästen des Baums und dort vorn am Himmel, der sich zu lichten beginnt; und darunter sieht er die Berge, es werden mehr, da die Nacht vergeht.
Er hat sich aufgesetzt. Er versucht sie zu zählen. Sie stechen überall hervor wie Zähne aus dem Kiefer, mit ihren Spitzen, die weiß sind, immer weißer werden, immer mehr werden, einer vor dem andern, im Halbkreis; da einer, ein anderer dort, sind es zwanzig, dreißig, hundert, fünfhundert?, ihm wird schwindlig, aber er lacht: «Das gehört mir, wieder mir …» Er blickt auf das Land, das von neuem lebendig wird, hier und dort unten, weiter weg, rechts und links, auf allen Seiten: die Grashalme, die sich abzeichnen, die Dächer, die auseinander treten; ein Kirchturm, drei Kirchtürme, vier, fünf, die Rhone, die Straße im Tal; mir gehört das. Und dann alle Berge über ihm, und die Sterne erlöschen einer nach dem andern. Da kräht der Hahn, während oben im Tal, über den weißen Bergen, ein bleicher Nebel zum Himmel stieg.
Er war aufgestanden.
Er ging rasch. Er spürte die Steine nicht, er spürte weder Stoppeln noch Dornen. Er dachte nur: «Aufpassen», denn er sah auch die Löcher, aus denen seine Knie hervorkamen, er sah auf seine Hosen und auf ihre Farbe, sie hatten jetzt eine Farbe, man konnte sehen, dass sie gelb waren mit einem breiten schwarzen Streifen. Aber es gibt nicht viele Dörfer an diesen steilen Hängen, auf diesem Land, das karg ist und zu abschüssig und das noch dazu die Sturzbäche von der Höhe des Bergzugs herab mit ihren Schluchten zerschneiden. Er kannte hier alle Wege, alle Verstecke; er kannte jedes einzelne Haus, jeden Heustock; alle Böden, bewohnt oder nicht bewohnt, bebaut oder nicht bebaut. Und er war ja auch nicht mehr weit vom Ziel.
Noch einmal kommt er zu einem Tobel; nur dem Weg weicht er noch aus, der es auf einer Brücke überquerte. Er hält sich bergwärts, klettert eine Halde empor, die eine Hecke nach oben abschloss; er geht bis an die Hecke heran.
Hundert Meter weiter vorn stand ein Haus.
Die Sonne traf jetzt das Dach, die Schieferplatten glänzten in ihrem Licht.
Und nun dringt auch ein schwacher blauer Rauch aus der Öffnung des Kamins, dessen Deckel offen steht, steigt fröhlich in die vergoldete Luft; und ein Laufhund lag vor der Tür an einer viel zu schweren Kette.
Hinter der Hecke hervor pfeift Farinet dreimal durch die Finger. Er pfeift auf eine bestimmte Art, dreimal, hinter seiner Hecke, und der Mann, der unter der Haustür erschienen war, stellt seinen hölzernen Eimer auf einmal hin und dreht den Kopf in die Richtung, aus der die Pfiffe gekommen waren, und geht dann in dieser Richtung; der Hund wollte ihm folgen und winselte, er hieß ihn schweigen.