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Vorbemerkung

Kaum anderthalb Kilometer von wo ich wohne steht ein Haus, das mir eisige Schauer über den Rücken zu jagen vermag – ein Hitchcock-Film ist nichts dagegen. Der flache graue Bau ist umgeben von einem hohen Maschendrahtzaun – eine ungewöhnliche Sicherheitsvorkehrung für eine Mittelschichtgegend voller Wohnhäuser und Sandwichshops. Drei Geschäfte sind in dem Haus hinter dem Zaun untergebracht: ein Haarsalon, eine Versicherungsfiliale und „Stan Baker, Shooting Sports“. Hier kauften am 30. März 1994 Kurt Cobain und ein Freund eine Flinte der Marke Remington. Der Inhaber des Geschäfts sagte später einem Reporter, er habe sich gewundert, wieso sich zu der Zeit jemand ausgerechnet eine solche Waffe zulegen sollte, wo doch keine „Jagdsaison“ gewesen sei.

Jedes Mal, wenn ich an Stan Baker’s vorbeifahre, überkommt mich dieses Gefühl, das man mit Orten hat, an denen man einmal Zeuge eines ­schrecklichen Unfalls geworden ist. Und in gewisser Weise passt das sogar. Die Kette von Ereignissen nach Kurts Einkauf in dem Waffengeschäft lässt mir nicht nur keine Ruhe, sie weckt darüber hinaus in mir das Verlangen, Fragen nachzugehen, auf die es, wie ich sehr wohl weiß, schon ihrer Natur wegen keine Antworten geben kann. Spirituelle Fragen, die Frage nach dem Anteil des Wahnsinns im künstlerischen Genie, den verheerenden Wirkungen des Drogenkonsums auf die Seele und vom Verlangen, die Kluft zwischen innerem und äußerem Menschen zu verstehen. Fragen, wie sie sich von Sucht, Depression oder Selbstmord gezeichneten Familien nur allzu real stellen. Für derart vom Schicksal ins Dunkel gestürzte Familien – meine eigene nicht ausgenommen – kann das Verlangen, solche unbeantwortbaren Fragen zu stellen, zu einem Fluch werden.

Sosehr solche Mysterien Nahrung für dieses Buch waren, die Saat dazu war bereits Jahre früher ausgebracht, in meiner Jugend nämlich, als mit den ­Päckchen vom Columbia Record and Tape Club Monat für Monat die Erlösung in die Kleinstadt in Washington kam, in der ich aufwuchs: Rock ’n’ Roll. Es waren nicht zuletzt diese Päckchen mit Platten, derentwegen ich irgendwann meine ländliche Heimat verließ, nach Seattle zog und Autor und Redakteur bei einem Musik­magazins wurde. Ein paar Jahre später, in einem anderen Winkel des Bundesstaats, bescherte derselbe Plattenklub Kurt Cobain eine ähnliche Transzendenz, nur entschied er sich für eine Karriere als Musiker. Unsere Wege kreuzten sich 1989, als mein Magazin, als erstes überhaupt, eine Titelstory über Nirvana brachte.

Es war einfach, Nirvana gern zu haben. Denn egal, wie groß und berühmt sie wurden, sie kamen einem doch immer wie Underdogs vor, und ganz besonders galt das für Kurt. Er begann sein Künstlerleben damit, in einem Wohntrailer Illustrationen von Norman Rockwell, Amerikas berühmtestem Illustrator des zwanzigsten Jahrhunderts und Schöpfer vor allem nostalgischer Kleinstadtszenen, zu kopieren, und entwickelte bald ein Talent fürs Geschichtenerzählen, das schließlich auch mitverantwortlich für die besondere Schönheit seiner Musik werden sollte. Als Rockstar schien er immer ein Außenseiter, ich persönlich jedoch habe immer die Art geschätzt, wie er seinen Halbwüchsigenhumor mit der Bärbeißigkeit eines Oldtimers zu kombinieren verstand. Wenn man ihn in Seattle sah – und seine alberne Mütze mit den Ohrenklappen war praktisch nicht zu übersehen –, war klar, dass man hier ein Original vor sich hatte in einer Branche, in der es herzlich wenige wirkliche Originale gibt.

Während ich an diesem Buch saß, gab es so einige Augenblicke, in denen dieser Humor das einzige Leuchtfeuer in dieser Sisyphusarbeit war. Heavier Than Heaven entstand im Lauf von vier Jahren, mithilfe von vierhundert Interviews, Schränken von Akten und hunderten von Musikaufnahmen, ganz zu schweigen von all den schlaflosen Nächten und endlosen Fahrten zwischen Seattle und Aberdeen. Meine Recherchen führten mich an Orte – physische wie emotionelle –, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie je betreten würde. Es gab Augenblicke von Euphorie, wie etwa als ich zum ersten Mal das unveröffentlichte „You Know You’re Right“ hörte, einen Song, der meiner Ansicht nach zu Kurts besten gehört. Aber auf jede freudige Entdeckung kamen Momente schier unerträglichen Kummers, wie etwa als ich Kurts Abschiedsbrief in der Hand hielt, den ich in einer herzförmigen Schachtel neben einer Locke seines blonden Haars aufbewahrt sah.

Ich hatte mir mit Heavier Than Heaven zum Ziel gesetzt, Kurt Cobain zu ehren, indem ich seine Lebensgeschichte – die Geschichte jener Locke und dieses Abschiedsbriefs – erzähle, ohne mir ein Urteil darüber anzumaßen. Ein Ansatz, den mir allein die großzügige Unterstützung durch Kurts engste Freunde, seine Familie und die Leute aus seiner Band ermöglichte. So gut wie jeder, den ich interviewen wollte, teilte schließlich auch seine Erinnerungen mit mir; Ausnahmen waren nur einige Leute, die sich mit dem Gedanken tragen, ihre Geschichten selbst aufzuschreiben, und ich wünsche ihnen damit allen Erfolg. Kurts Leben war ein verwirrendes Puzzle, umso komplexer, als er so viele Teile dieses Puzzles versteckt hielt, eine Aufsplitterung, die gleichzeitig Folge der Sucht wie auch Nährboden dafür war. Manchmal hatte ich den Eindruck, einen Spion zu studieren, einen geschickten Doppelagenten, versiert in der Kunst, dafür zu sorgen, dass kein Einzelner Einsicht in sämtliche Details seines Lebens bekam.

Eine Freundin von mir, selbst eine ehemalige Drogenabhängige, schilderte mir einmal die „No talk“-Regel, die in Familien wie der ihren galt: „Bei uns“, sagte sie, „bekam man gesagt: ‚Fragt nicht, redet nicht, sagt es keinem.‘ Ein richtiger Schweigekodex, und all die Geheimnisse und Lügen führten bei mir zu einem überwältigenden Gefühl von Scham.“ Dieses Buch ist für all jene, die den Mut haben, die Wahrheit zu sagen, schmerzliche Fragen zu stellen und sich von den Schatten der Vergangenheit zu lösen.

– Charles R. Cross, Seattle, Washington, April 2001

Der Himmel über Nirvana

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