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Feministischer Materialismus, Adornos Widersprüche, mediokre Körperteile, digitale Glitches, kollaborative Briefromane: »Da gibt es noch so viel zu entdecken« Ein Gespräch

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Charis Goer: Erzähl doch erst einmal, was dich im Moment so interessiert.

Thomas Meinecke: Neu dazugekommen, könnte man sagen, ist in der letzten Zeit einmal der ganze Komplex Materialismus, also die Wiederkehr – für mich ist es eine Art Wiederkehr, für andere ein Nie-Weggewesensein – von materialistischen Zusammenhängen. Und ich habe immer noch nicht begriffen, ob das ganz verschiedene Interessen sind, die damit verbunden sind: nämlich einmal im klassisch marxistischen Sinne Materialismus, im anderen Sinne – und vielleicht ist das eben gar nicht ein so anderer Sinn – aber auch der, der eher ins Latour-hafte spielt: »Das Parlament der Dinge«. Wo ich aber dann etwas enttäuscht war, nachdem ich dort gelesen hatte, dass es da Dinge im Sinne von Angelegenheiten sind, also gar nicht mal unbedingt der Gegenstand im haptischen, physischen Sinne. Ich weiß nicht genau, worauf damit abgezielt wird, weil es für mich im Moment noch nicht ganz trennscharf ist von den Anstrengungen der vielleicht vor zehn Jahren oder so auftretenden spekulativen Realisten, die sagten: »Wieso, wir haben doch etwas vor der Sprache und das sind die Dinge.« Und ich finde eigentlich, ich möchte mein Leben ganz gerne damit fristen, durchgehend nicht etwas vor der Sprache anzunehmen – oder annehmen zu müssen. Wo komme ich damit hin? Also, wenn man jetzt sagt: »Wir hatten doch – oder wir haben doch – archäologische Funde, die irgendwelche versteinerten Flugechsen oder sowas sind und die uns klarmachen, da gab es noch keine Menschen, also gibt es etwas vor der Sprache.« Da will ich nicht hindenken, weil ich das Gefühl habe, das nimmt mir etwas anderes als Errungenschaft wieder weg, nämlich die sich doch eher auf Sprache verlassende Dimension der politischen Dekonstruktion von Dingen, weil es so in Richtung Essentialismen deuten würde. Ich habe einfach Angst davor, weil ich denke, es könnte auch der politische Gegner sein, der damit kommt. Der mir das wegnehmen will, wo man schon hingedacht hat als Zivilisationsprozess, der eine gewisse Dinglichkeit auch hinter sich lassen kann, zum Beispiel Körper. Damit sind wir ja auch beim Genderdiskurs: Die Vorstellung, dass der Körper eben etwas Gegebenes ist – und das wollten uns auch die Hirnforscher verkaufen.

Wobei die ja inzwischen auch schon wieder vorsichtiger geworden sind. Vor einigen Jahren waren extrem biologistische Argumentationen in der Tat sehr stark, aber das hat sich, so mein Eindruck, wieder deutlich relativiert.

Wohin eigentlich relativiert? Ich habe da nicht so den Überblick … Ich kriege auch mit, dass das so gesagt wird, aber ich weiß nicht – was konnten die zurücknehmen?

Ich habe den Eindruck, dass da doch inzwischen mehr Skepsis herrscht und nach einigen vielleicht sehr steilen Thesen zunehmend differenzierter und viel vorsichtiger kommuniziert wird. Vielleicht ist es auch eine Frage, wie diese Ansätze öffentlich rezipiert worden sind, und dass die Neurowissenschaftler selbst das Gefühl hatten, dass ihre Erkenntnisse doch zu stark verkürzt worden sind, sodass von Forschern wie Wolf Singer und Gerhard Roth etwa in dem »Manifest« 2004 schon auch deutlich betont wird, wie wenig man letztendlich darüber weiß, was physisch messbare und visuell zeigbare Vorgänge letztlich bedeuten. Dass man, selbst wenn man bildgebende Verfahren hat, damit längst nicht alle geistigen Vorgänge erklären kann und es wohl auch auf absehbare Zeit nicht können wird.

Interessanterweise glaube ich sogar, mit dem Fortschreiten von deren Erkenntnisprozessen wird immer klarer, dass das ein asymptotischer Prozess ist, der niemals zu dem Punkt kommen wird, wirklich in Deckungsgleichheit zu geraten und alles anhand von Gehirnströmen erklären zu können. Diese Restmenge wird sozusagen unter der Lupe sehr groß und deswegen kann man sich vorstellen, dass es ganz natürlich ist, dass sie, je weiter sie kommen, desto mehr relativieren müssen, was die Urannahme war. – Jedenfalls, als ich letztes Jahr Writer in Residence in St. Andrews war, wurde mir von der Mediävistin Bettina Bildhauer ein Buch zum materialistischen Feminismus empfohlen, ein Reader, den ich jetzt immer noch nicht gelesen habe, der mich aber täglich auf meinem Schreibtisch anschaut. Wo ich mich frage, inwiefern man da auch mit den Körpern, ohne essentialistisch zu werden, umgeht. In meinem nächsten Buch habe ich das ein bisschen im Griff über eine Konstruktion, die auch durchaus mediävistisch ›gefuelled‹ ist, nämlich über die Vorstellung von Reliquien, die sozusagen über sich selbst hinausweisen, die quasi nicht ›das Ding an sich‹ sind.

Das Thema hattest du auch bei »Jungfrau« schon, die Frage nach Transsubstantiation. Das arbeitet ja auch immer genau an dieser Grenze oder diesem Changieren zwischen reiner Konstruktion und einem physischen Korrelat. Das zusammenzudenken, darum ging es dort auch schon, und da setzt du jetzt wieder an?

Ja, das hat mich nach wie vor nicht losgelassen, diese Vorstellung von einer Transsubstantiation: dass man praktisch im Symbol, im Zeichen, das Ding selber sieht. Aber man hat natürlich trotzdem ein Zeichen vor sich. Das ist ein sehr interessanter, nicht essentialistischer Gedankengang. Ich finde es spannend, dass Mediävist*innen wie Regina Töpfer, die ich letztes Jahr an der TU Braunschweig kennengelernt habe, oder Andreas Kraß Mediävistik mit Queer Studies verbinden. Oder eben meine große Heldin Caroline Walker Bynum aus den USA, die schon in meinem Roman »Tomboy« von vor mehr als 20 Jahren wegweisend war mit ihrem Buch »Fragmentation and Redemption«, in dem es auch um den Diskurs um den Verbleib der Vorhaut Jesu ging, ob sie nämlich zum Himmel aufgefahren ist oder nicht. Was sehr lustig wirkt, aber irgendwie ein wahnsinnig interessanter Punkt ist, an dem man, vielleicht zum ersten Mal, einen Diskurs über die Fragmentierung von Körpern hat, der sehr klug und sehr differenziert ist und auch mit einem Erkenntnisinteresse abläuft. Und in ihrem Buch »Jesus as Mother« hat sie Jesus als eine Figur beschrieben, die ohne jegliches Zutun von männlichen Elementen zur Welt gekommen ist; es gibt keinen biologischen Vater, Jesus ist praktisch genetisch weiblich und auch seine ganze Rolle in der Bibel, im Neuen Testament, ist eine komplett unmännlich definierte.

Für meinen nächsten Roman hatte ich Lust, den Fokus vom Setting her mal wieder ein bisschen von der Metropole, den Hip-Zirkeln weg zu verlagern und eher mal wieder wohin zu gehen, wo man den Hebel anders ansetzen muss als nur bei aktueller Popmusik, im Nachtleben, in Clubs oder, wie in meinem letzten Roman, bei androgynen Fotomodels. So bin ich jetzt mal wieder in den Odenwald gegangen wie bei »Tomboy« schon. Dieses Mittelgebirge ist natürlich auch kein unschuldiges, da sind die Nibelungen drin herumgelaufen und da ist auch zum Beispiel das Hotel, in dem die Familie Adorno in Amorbach immer Urlaub machte, und da geht mein Roman los. Ich muss jetzt eben diesen ganzen Begriff der Materialität, auch mit Adorno und dem Marxismus, nochmal angehen, weil ich gemerkt habe, dass ich natürlich als Popist unglaublich von Benjamin geprägt bin. Ich habe immer gedacht: »Ich habe ja Walter Benjamin, der arbeitet auf eine mir sehr nahestehende Weise mit den Topoi der populären Kultur, seit er die Baudelaire’schen Texte gelesen hat.« Das »Passagenwerk« ist für mich sozusagen die Urszene der heutigen Pop-Linken. Aber zurück zu Amorbach, wo mit diesem Hotel unglaublich interessante Dinge zusammenhängen – ich recherchiere da seit Längerem herum und bin da auch öfter. Ich habe jetzt auch Freunde gefunden – junge Leute –, die mir erklären, die Dialektik bei Adorno sei nicht eine, die den Widerspruch beseitigt, sondern die sehr produktiv mit fortbestehenden Widersprüchen arbeitet.

Ich habe auch die Erfahrung gemacht, bei meiner eigenen Adorno-Lektüre und auch in vielen Seminargesprächen, dass Adorno allein durch seinen Sprachduktus oft erstmal sehr autoritär wirkt und so der primäre Eindruck der des enorm Pessimistischen und auch tendenziell Doktrinären ist. Aber wenn man die Texte genauer ansieht, kommt da argumentativ durch das dialektische Denken einiges in Bewegung – eben als negative Dialektik, die die Widersprüche nicht in einer Synthese stillstellt. Und speziell mit Blick auf Pop-Kultur ist es ohnehin eine verkürzte Lesart zu sagen: »Der hat die nur ›gebashed‹ und dagegen feierte er die gute Hochkultur von Beethoven bis Schönberg.« Denn eigentlich betreffen die Überlegungen, die er zur Kulturindustrie anstellt, alle kulturellen Bereiche, also auch die klassische Musik oder die Zweite Wiener Schule. Klar kann dieses fortgesetzte Arbeiten mit und am Widerspruch auch manchmal irgendwie frustrierend und desillusionierend sein, aber es steckt eben auch ein intellektuelles Vergnügen darin, das Ganze immer wieder nochmal um eine Ecke zu drehen und dann nochmal zu reflektieren. So kann man Adorno natürlich auch lesen. Man muss sich nur erstmal von dieser Vorstellung verabschieden, dass er eigentlich alles, was Spaß macht, einfach nur regressiv fand, und sich durch diese apodiktisch daherkommende Sprache durchkauen.

Wobei ich da schon vor Jahren von Silvia Bovenschen, mit der ich gut befreundet war, Anekdoten oder überhaupt Erinnerungen an Adorno, bei dem sie ja studiert hat, den sie gut kannte, der sie auch sehr mochte, gehört habe …

… wie er sich abends launig ans Klavier setzte …

… ja, wobei ich schon immer dachte, er ist auch ein liebenswürdiger, interessanter, widersprüchlicher Mensch gewesen. Und daher war immer schon klar, da ist vielleicht irgendwann mal was zu holen. Ich habe jetzt schon in meinem Roman schöne Stellen, wie Adorno diese »Der Schatz des Indianer-Joe«-Oper geschrieben hat und Benjamin gibt ihm zu verstehen, dass das doch ziemlicher Mist sei. – Mitten im Odenwald gibt es dann auch noch eine kleine Basilika aus der karolingischen Zeit, aus dem 9. Jahrhundert, die steht noch komplett unversehrt da. Da war ein Mönch namens Einhard, der, glaube ich, ein Günstling Karls des Großen war. Kennst du den?

In Paderborn gibt es eine Einhardstraße, weil er als möglicher Verfasser eines Berichts über das Treffen von Karl dem Großen und Leo III. in Paderborn gilt …

Ja, siehste mal, wir sind eben im heavy-katholischen Bereich hier … Jedenfalls hatte dieser Mönch Einhard so eine Handvoll mediokrer Körperteile von irgendwelchen Heiligen – aus irgendwelchen norditalienischen Kirchen geraubt, nicht von ihm selbst, aber von so einem Händler – und hat die in diese Basilika gelegt. Sie wurde dann wohl zum kleinen Wallfahrtsort, aber es gab keine Wunder. Dieser Einhard hat darüber einen Text geschrieben, woran es liegen könnte, dass diese Reliquien hier jetzt, in der Nähe von Michelstadt, keine Wunder vollbringen. Den gab es bisher nur auf Latein und jetzt hat ihn die Einhard-Gesellschaft auch auf Deutsch rausgegeben und ich habe mir diesen Text im Odenwald gekauft und finde das gerade ein ganz fantastisches Kernstück, anhand dessen ich mir überlegen kann: Was tun denn die Gegenstände? Einhard ist dann nämlich weitergezogen nach Seligenstadt, das auch nur deswegen so heißt, weil sie dort nämlich wirkten; ein Wunder nach dem anderen sozusagen in Seligenstadt – das liegt im Spessart, ein Mittelgebirge weiter. Diese Geschichten machen mir jetzt das Bett für das, was mich eigentlich interessiert – nämlich: Inwiefern sind denn jetzt die Dinge wieder da?

Diese Wiederkehr der Dinge ist also ein aktuelles Interesse, andererseits interessierst du dich ja seit einiger Zeit wie in »Selbst« auch stark für Affekttheorie – hängt das für dich zusammen? Inwiefern siehst du darin einen neuen Twist gegenüber dem dekonstruktiven Feminismus, dem ja gern vorgeworfen wurde: »What about the body, Judy?« Bietet die Affekttheorie für dich auch neue Ansätze, Körperlichkeit, aber eben auch Materialität allgemein, wieder stärker mitzudenken? Also gehört das auch zu diesem ganzen Fragenkomplex, oder?

Ich würde das auch so sehen. Dieser Fragenkomplex hat sich in meinem letzten Roman schon ganz schön ausgebreitet, in dem ich mich zum ersten Mal mit sowas wie Affekttheorie beschäftigt habe – und inwiefern man versuchen kann, damit aus den Gewaltverhältnissen, die Sexualität immer noch dominieren, vielleicht nicht auszubrechen, aber sie einfach brachliegen zu lassen. Da kommen natürlich so Begriffe rein wie ›Zärtlichkeit‹, ›nicht invasives Sexualverhalten‹ und so, vielleicht zu einer besseren Welt sich durchschlafen zu können, gleichsam. Ich weiß jetzt aber auch noch nicht ganz genau, was mit »What about the body, Judy?« eigentlich gemeint war, weil ich immer noch das Gefühl habe, dass Judith Butler natürlich total über den Körper schreibt. Nur dass sie eben die Frage stellt, woraus besteht er, was dichten wir ihm an, wie benennen wir die Dinge, warum reden wir von diesen und jenen Körperteilen auf diese und jene Weise? Und insofern ist es wieder wie oft bei der Dekonstruktion, dass nämlich die, die das nicht mögen, denken: »Hier wird uns etwas weggenommen, das gibt es jetzt gar nicht mehr.« Aber ich finde, natürlich ist der Körper völlig da – ich meine, das zweite Buch, »Bodies that Matter«, hat es schon im Titel …

Was aber auch wiederum eine Reaktionen darauf war, wie »Gender Trouble« kritisiert worden ist, und auf diese Körper-Debatte antwortet.

Generell finde ich eben, das bleibt wahnsinnig interessant. Was machen wir mit diesem Körper oder diesen Körpern? Woraus bestehen sie? Und ich finde, dass sich da in den letzten Jahren wieder etwas so weit voranbewegt hat, dass man da – wie ich mich auch als Chronist verstehe – wieder nachholen oder mitschreiben kann, was der neuste Stand ist, auch was diese Körperlichkeit betrifft. Das hat auch etwas damit zu tun, dass es manchmal gar nicht so einfach ist, wenn man so als heteronormierter Mensch, der keine großen Probleme damit hat – wie ich –, immer auf Tagungen gastieren durfte, auf denen die meisten, die dort sind, in erster Linie von ihrer eigenen Betroffenheit reden und ich oft als jemand, der mit Jean-Luc Nancy, Butler und ähnlichen Texten ankommt, als eine Art Luxuswesen, als eine Art Philosoph dort herumsitzt.

Diese gewisse Spannung zwischen persönlicher Betroffenheit und theoretischer Reflexion ist ja eigentlich auch ganz typisch, wenn es um die ›Praxistauglichkeit‹ von Positionen, die vom dekonstruktiven Feminismus herkommen, geht. Der wurde auch historisch als eine Provokation in Richtung Second-Wave Feminism empfunden, der sehr stark auf politisches Empowerment abzielte, und von einer eher aktivistischen Seite aus steht da natürlich zu befürchten, dass die radikale Deessentialisierung und der schwache Subjektbegriff dazu führen, diesen politischen Drive aus der Bewegung zu nehmen, und es schwieriger machen, zu mobilisieren.

Das wird eben auch oft von jungen Feministinnen gesagt, Butler hätte es irgendwie überdehnt, überspannt, und Begriffe wie ›Care‹ und auch der Alltag, den der Feminismus der 1970er Jahre schon mal ganz stark im Vordergrund hatte, seien eben doch wichtiger als die eher philosophische Dekonstruktion. Aber für mich ich das gar kein Gegensatz.

Klar, muss es nicht sein, aber es ist natürlich schon schwieriger, diese Konzepte operationalisierbar oder übersetzbar zu machen in unmittelbare politische Forderungen oder Handlungsmaximen. Und deshalb glaube ich, hat das schon vielen Leuten, die eher aktivistisch unterwegs waren, das Leben schwerer gemacht.

Das hört man immer wieder, aber jetzt hat man es eben auch bei welchen, die gerade erst anfangen, unterwegs zu sein, dass sie gar keine richtige Lust haben auf diese ja doch anstrengende, kleinteilige und eben schwer in direkte politische Maximen umsetzbare Arbeit. Aber ich finde, es stimmt nicht, weil ich glaube, was sich in letzter Zeit verändert hat – auch in der generellen Wahrnehmung, in der öffentlichen, also im Common Sense geradezu –, das kommt aus diesen sprachlichen Regelungen, die sehr fummelig und kleinteilig sind. Der ganze Aufstand der bösen alten Patriarchen wehrt sich die ganze Zeit gegen Sprachregelungen, die eher aus der Dekonstruktion kommen.

Ja sicher, der Vorwurf von Political Correctness als Sprechverbot, der jetzt von Konservativen und Rechten gern gemacht wird, der kommt sicherlich deshalb, weil eben diese Sprachsensibilität so in den Alltag übergegangen ist und die gesellschaftliche Praxis verändert. Das sehen die natürlich auch, dass früher als selbstverständlich stillschweigend hingenommene sexistische und patriarchale Positionen nun zunehmend in die Ecke gedrängt werden. Darum ist auch die aktuelle Debatte um geschlechtergerechte Sprache so dermaßen hitzig und darum wird im Gegenzug ja nun um so vehementer der Anspruch formuliert, dass ›eigentliches‹ Sprechen doch wohl noch möglich sein muss – dieses ganze »Man darf doch wohl noch sagen …?«

Jetzt bin ich mal gespannt, was in diesem dicken Reader über feministischen Materialismus in der Hinsicht zu finden ist.

Ich möchte nochmal das Stichwort ›Zärtlichkeit‹ aufgreifen, das für dich in »Selbst« auch eine Rolle gespielt hat. Wir sind ja nun beide Fichte-Leser und da musste ich natürlich ganz viel an ihn denken und seine Ideen von Empfindsamkeit oder Empfindlichkeit. In seinem Schreiben sind ja auch Gewalterfahrungen ein großes Thema, sei es als ›Halbjude‹ im ›Dritten Reich‹, als uneheliches protestantisches Kind im katholischen Waisenhaus, als Schwuler oder Bisexueller in patriarchalischen Gesellschaften, wogegen er dann diese Idee der Empfindsamkeit oder Empfindlichkeit gesetzt hat. Interessiert dich das auch in diesem Zusammenhang weiter, so wie du bei »Lookalikes« auch nochmal Fichte ganz prominent gemacht hast?

Hubert Fichte kommt ja in mehreren meiner Bücher vor. In »Lookalikes« deswegen ganz besonders stark, weil er in Salvador da Bahia – wohin ich, während ich den Roman schrieb, eingeladen wurde – praktisch zwei Romane verfasst hatte, oder anderthalb könnte man auch sagen, dafür ist der eine 800 Seiten dick … Ein ganz schön fetter, hässlicher, schwarzer Block in der Bücherwand, diese schwarzgebundenen Bände, aber natürlich eines der großartigsten Unterfangen in der Literatur, die ich kenne, diese riesige »Geschichte der Empfindlichkeit«. Und darauf komme ich gerne immer wieder zurück, er ist auch für mich einer der ersten – wie ich es ja immer so gerne fasse – ozeanischen Schreiber.

Er nennt die »Geschichte der Empfindlichkeit« ja auch ›roman fleuve‹ – ein fließender Roman, der dann all diese verschiedenen Textsorten, all diese verschiedenen Themen, die Personen, Zeitebenen, Orte miteinander verquirlt und dann wieder auseinanderlaufen lässt.

Von daher ist er für mich ein wirklicher Vorreiter dessen, wo man jetzt eben hindenken kann – nicht nur über Affekttheorie, sondern generell mit den ganzen neuen Vorstellungen von so Dingen wie Transgender. Dass es nicht mehr darauf hinauslaufen muss, mit dem Begriff ›trans‹ zu verbinden, dass ein Essentielles durch das nächste oder andere Essentielle ausgetauscht wird, indem man sagt: »Jetzt bin ich ein Mann.« oder »Jetzt bin ich eine Frau.« Sondern dass das Dazwischen der Dinge, der Fluss, das Fließen, das Non-Binäre in den Fokus gerückt wird, weil eben die beiden Pole praktisch nicht mehr als essentiell gesetzt da sind, nur noch wie Magnetpole wirken, als ein Kräfteverhältnisse bewegendes Etwas. Da wird ja doch, finde ich, gerade wohin gedacht – »Wo denken Sie hin?« – und auch gesellschaftlich schon etwas praktiziert, was ich als Verbesserung empfinde. Wo eben das Flüssige, das Fluide, das Weiche, das Zärtliche eine große Rolle spielt. Fichte ist natürlich noch auf eine bestimmte Weise von seiner Generation und von der Zeit, in der er das geschrieben hat, her auf eine verrückte Weise, auf eine schwule Weise im gewissen Sinne machistisch. Und Sexualität ist teilweise immer noch so ein merkwürdiges Leistungsprinzip.

Das sind ja manchmal fast rockistische Momente bei Fichte, wenn es um dieses »So und so viele heute Nacht an der Klappe getroffen …« geht, aber das steht dann auch wieder neben diesen anderen Sachen, die genau das auflösen.

Es ist natürlich auch im Schwulendiskurs vieles machistisch, aber dann auch auf eine interessante Art – ›gebrochen‹ ist das falsche Wort, eher weich und nicht böse vielleicht. Also darüber kann man noch lange nachdenken. Da tut sich was. Ich brauche mir eigentlich nie Gedanken zu machen oder Sorgen, dass es nicht interessant bleibt, weil ich gar keine Lust hätte, selbst vorauszudenken. Ich finde es deswegen toll, weil ständig irgendwelche Produkte kommen: Bücher, Schallplatten, vielleicht auch nur der Sound der Bässe, der plötzlich ›glitcht‹ und nicht mehr fassbar ist. Die digitalen Glitches sind auch ein interessantes neues Phänomen, weil man sich das landläufig so vorstellt, dass im Digitalen zwischen Nullen und Einsen nicht viel passiert, weil es praktisch ›entweder / oder‹ ist. In dieser Binarität gibt es auch Dinge, Verzerrungen und Glitches, die ich wahnsinnig spannend finde und worüber ich mir auf allen Sektoren – auch der Musik – Gedanken machen kann. Und es gibt eigentlich immer das musikalische Äquivalent zu dem, wo gerade auch die Avantgarde, die ich jedenfalls als eine akzeptiere oder annehme, hindenkt. Das war ja eben schon bei Judith Butler so, dass es für mich mit Minimal Techno zusammenfiel, und jetzt haben wir so was in der Bassmusik – wir leben in einer Basskultur …

Du meinst Post-Dubstep, Footwork und so?

Zum Beispiel, ja. Der Bass spielt da eine andere Rolle, der steht manchmal als Cluster da oder glitcht irgendwo in so subsonische Bereiche ab, wo man merkt: Das ist auch irgendwie schön, dass er in so einer Art befreitem Taumel ist. Relativ unwichtig, aber sehr schön, und da sind wir auch wieder bei Adorno. Schade, dass er das nicht hören konnte, dass Adorno nicht merken konnte, was die Bebopper machen. Es ist so schade, weil es auch in seinem Sinne eine Dislocation gewesen wäre, eine auf jeden Fall progressivere Bewegung, als sich noch weiterhin mit der Zweiten Wiener Schule zu beschäftigen.

Jazz war für ihn ja eigentlich nur Big Band Swing …

Ich habe mal eine ganze Radiosendung gemacht, in der ich diesen Vortrag Adornos über Jazz – und wie schlimm das alles sei –, mit Jazzstücken durchsetzt habe, die ihm womöglich gefallen hätten. Ich habe zum Beispiel Thelonious Monk gespielt als etwas, wofür er schon einen Sinn hätte haben können. Aber das stimmt dann eben trotzdem nicht, weil auch – nein, Swing vielleicht eben nicht, aber auch das, was vor Swing gewesen war, der Jazz der 1920er Jahre, den hätte er kennen können, der war schon ganz schön vorneweg. Und Leute wie Kurt Weill haben es auch genommen und transkribiert in die Konzertmusik oder Igor Strawinsky, Darius Milhaud und wer auch immer. Auf jeden Fall – macht nichts, gibt es ja auch nichts zu betrauern. Ich verpasse ja auch vieles, weil ich zum Beispiel nichts mit Heavy Metal anfangen kann. Jeder hat seine Idiosynkrasien, und Adorno mochte dies und das irgendwie nicht, aber ich arbeite mich jetzt dahin, ihn auch richtig zu mögen.

Um noch auf eine andere Aktualität zu sprechen zu kommen: Was bedeutet der Berliner Literaturpreis für dich?

Der Berliner Literaturpreis, inklusive der damit verbundenen Gastprofessur, fiel praktisch vom Himmel, wie aber ehrlich gesagt alles, was ich jemals an Auszeichnungen gekriegt habe. Und es hat mich einfach gefreut, dass da was kommt, wo auch das Feuilleton und so weiter aufhorcht, weil man das irgendwie braucht, wenn man da draußen unterwegs ist und schreibt und liest und Bücher rausbringt. Manchmal ist es besonders toll, wie letztes Jahr diese Einladung zur Ricarda-Huch-Poetikdozentur der TU Braunschweig, die als Genderdozentur formuliert ist. Da hat mich das genauso gefreut, weil dort die Begründung so formuliert war, dass ich mich wie kaum je zuvor erkannt fühlte, in dem, was ich selber will, dass ich dann sagte: »Mit denen, die mich da einladen, will ich auch reden.« Dann sind diese Vorlesungen eben im Dialog mit der Wissenschaftshistorikerin Bettina Wahrig, der Mediävistin Regina Toepfer und der Komparatistin Carolin Bohn gehalten worden.

Wie wirst du diese Gastprofessur-Aufgabe in Berlin lösen? Also wieder, habe ich gerade daraus verstanden, im Dialog mit anderen? Oder wird dort nicht eher eine ›richtige‹ Vorlesung erwartet? Du kannst ja eigentlich nicht »Ich als Text« 2.0 machen, oder? Was ist die Idee?

»Ich als Text« war ja schon eine Verlegenheitslösung, nachdem ich ungefähr ein Vierteljahr daran gesessen hatte, den Leuten erklären zu wollen, was ein Pastiche oder ein Palimpsest ist, bis mir klar wurde, das wird an Unis sowieso gelehrt, das brauche ich denen ja nicht zu erklären, in Anwendung auf meine Position. Das hatte mich damals dazu bewegt, nur aus Zitaten die ganze Vorlesungsreihe aufzubauen. In Berlin ist es jetzt keine Reihe, sondern eine große Vorlesung, anderthalb Stunden, die man einmal hält, am Anfang nämlich, und dann mit den Studierenden weitermacht, in einer direkten Arbeit an ihren Texten. Wo ich übrigens wie zuletzt ganz oft – in St. Andrews zum Beispiel oder in Braunschweig und in Köln – den Ansatz ›Palimpsest‹ in der direkten Arbeit an den Texten verfolge. Dieses Überschreiben von bereits Vorhandenem, das ist dann auch bei der Praxisarbeit sozusagen zentraler Ansatz. Das entbindet auch die, die mitmachen – in Braunschweig war es zum Beispiel nicht so, dass sich da nur Leute melden durften, die selbst Ambitionen haben, schriftstellerisch tätig zu werden, sondern auch andere –, das entbindet die so ein bisschen vom Kunstzwang. Jetzt in Berlin werden sich aber nur welche bewerben, die auch wirklich den Anspruch haben, literarisch zu schreiben. Und mit der Vorlesung habe ich das Gefühl, dass Frankfurt jetzt schon so lange her ist, dass ich jetzt tatsächlich – weil es sich dann schon wieder ein bisschen abhebt von meinem damaligen Stand des Wissens oder der Erkenntnisse – für ein bis anderthalb Stunden was Kluges oder Interessantes zu bieten habe. Ich werde darüber reden, wie mir zum Beispiel eben diese Mediävistinnen und Mediävisten die ganze Zeit erklären, dass meine Art zu schreiben für sie so besonders interessant ist. Also auch inwiefern das Postmoderne und das Prämoderne da vielleicht zusammenfinden und man sich dann Gedanken darüber machen kann, was eigentlich die Moderne verändert hat und wie auch der Gedanke der Aufklärung, des Buchdrucks, der Französischen Revolution und so weiter für Frauen nicht unbedingt Vorteile gebracht hat, sondern zum Teil eben auch Einschränkungen. Und die Vorstellung von einem geschlossenen erzählenden Subjekt, die natürlich eine vom Mann ist, mit der Moderne, mit Buchdruck und Aufklärung forciert wurde, man aber davor eben ein schon eher fluides kollektives Autorensubjekt hatte.

Wie etwa im Bereich der oralen Literatur, wo Urheberschaft ja schwerlich festzumachen ist und im Prozess des Wieder- und Weitererzählens die Texte nicht nur tradiert, sondern auch modifiziert werden.

Oder bei handschriftlicher Abschrift und Überschreibung, genau. Was dann eben meiner Vorstellung von Schreiben entspricht, dass dann da nicht ein geschlossenes autonomes Subjekt wirkt, sondern auch das Nicht-Souveräne dieses Subjektes das Thema des Textes selbst sein kann. Das hat mich jetzt so viel mit Mediävistinnen zusammengebracht und das würde ich ganz gerne als so eine Art Nacherzählung dessen, was in den letzten Jahren geschah, präsentieren, wo ich auch in der Art, wie andere mein Schreiben einschätzen, gelernt habe, was daran vielleicht noch zu verfeinern sein könnte. Weil ich da auch ein bisschen was dazu gelernt oder anders darüber nachzudenken gelernt habe, was der Fortschritt, zum Beispiel in der Aufklärung bedeutet oder eben was der Buchdruck vielleicht auch bewirkt hat.

Allerdings sollte man bei allen problematischen Effekten des Buchdrucks auch nicht unterschlagen, dass er andererseits natürlich ganz wichtig war etwa für eine Popularisierung von Literatur und dafür, dass überhaupt breitere Bevölkerungsschichten lesen konnten, vor allem, dass dann auch verstärkt Frauen lesen konnten. Was dann im 18. Jahrhundert ja diese große Debatte um die, aus männlicher Sicht, schädlichen Auswirkungen der weiblichen ›Lesewut‹ und damit um die Funktion des Lesens – Unterhaltung versus Bildung – und die Wertung von Literatur – gute Texte, schlechte Texte – ausgelöst hat.

Ich wäre der Letzte, der den Buchdruck verteufeln würde. Ich finde es nur interessant, dass er überhaupt auch problematische Dinge mit sich bringen konnte … Und die Vorstellung von lesenden Frauen führte auch dazu, dass sie dadurch hysterisch würden, und die Bibliomanie ist natürlich auch ein Riesending, was wir dann auch noch im 19. Jahrhundert haben, ein Flaubert’sches Ding sozusagen …

Klar, das setzt sich fort und diese Ausdifferenzierung vom Mann als Produzenten und der Frau als Rezipientin ist natürlich hochgradig heikel. Aber andererseits sollte man nicht unterschätzen, dass die verbesserte Zugänglichkeit von Literatur für Frauen natürlich doch auch eine tolle Möglichkeit war, Impulse zu bekommen, ihre Sphäre zu erweitern. Und auch diese Idee des Lesens als Vergnügen finde ich ganz wichtig.

Absolut wichtig. Und dann ist es ja auch hier so wie anderswo bei den Folgen für Marginalisierte und Unterdrückte in Sachen Kunst. Wenn ich jetzt zum Beispiel den Jazz als eine Folge einer postkolonialen Unterdrückung von Afroamerikanern sehe oder Camp und Voguing als eine hoch differenzierte Kulturform, die mit der Unterdrückung schwuler Männer zusammenhängt, dann gibt es immer ja auch mit dem, was du gerade sagtest, bei Frauen so etwas – wenn sie schon selbst nicht schreiben sollten, dass sie dann aus dem Ausgeschlossensein ganz großartige Dinge wie den Briefroman entwickelten, wo wir jetzt erst merken: Das ist ja eigentlich noch viel toller als so ein oller Goethe. Nehmen wir mal »Die Günderrode«, was da alles stattfinden konnte: »Die Günderrode« ist eigentlich ein riesiges Kompendium von Werken, sowohl von Bettina von Arnim als auch von der Karoline Günderrode, und es wird gar nicht klargemacht, wer gerade spricht. Es ist wie eine Werkausgabe zwischen zwei Buchdeckeln, trägt aber den Namen der Frau, die die meisten Texte darin sozusagen ›hat‹, aufgeschrieben aber von der Autorin von Arnim. Das ist eine unglaubliche Geschichte, die erst heute als reine Tugend erzählbar ist, während das damals eine Art Notlösung war, genau wie Voguing oder Minstrelsy oder eben auch Jazz, dass man praktisch ausweicht vor Restriktionen. Dieses weibliche Schreiben hat sich ja daraus entwickelt, dass es dieses Verbot gab, und es wurde etwas, bei dem ich das Gefühl habe, erst von da, wo jetzt politisch hingedacht wurde, kann man das eigentlich als vorbildlich, wegweisend und komplett revolutionär begreifen. Bisher wurde es immer als Manko – »Ja, es sind halt nur Briefe …« – gesehen. Aber was sich da im Hubert Fichte’schen Sinne auch an Empfindlichkeiten zum Ausdruck bringen konnte, ist einfach viel interessanter als die Empfindsamkeit dieser leidenden Genies, männlichen. Für meine Begriffe jedenfalls. Und da gibt es noch so viel zu entdecken.

Utrecht, 14.12.2019

TEXT + KRITIK 231 - Thomas Meinecke

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