Читать книгу Emmy findet ihr Glück - Charlotte Paul - Страница 8

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Omein Gott, ich bin so aufgeregt!«

Emmy tanzte lachend und sich drehend durch den Raum. Johanna, ihre alte Kinderfrau, beobachtete sie entsetzt, jederzeit bereit, Vasen und kleine Tische zu retten.

»Emmy, bitte, Sie müssen sich endlich anziehen. Sie wissen genau, wie ärgerlich Ihre Mutter wird, wenn Sie unpünktlich sind.«

»Ja, ja, ich komme ja schon.«

Lachend schloss sie die alte Johanna in die Arme und drehte sich mit ihr im Kreis. Ihre Zofe versuchte, trotz ihrer etwas rundlichen Figur und ihres fortgeschrittenen Alters nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Miss Emmy, hören Sie auf! Mir ist schwindelig, und Sie sind immer noch nicht angezogen!«

Emmy ließ sie los. Noch leicht schwankend kontrollierte Johanna ihre streng nach hinten gekämmten grauen Haare, während Emmy sie hoffnungsvoll ansah.

»Du verstehst mich doch, nicht wahr? Du warst doch bestimmt auch schon verliebt, vor vielen, vielen Jahren.« Triumphierend schaute sie Johanna an.

Diese erwiderte streng: »Das geht Sie, junge Dame, überhaupt nichts an.«

Abrupt strich sie die Bettdecke glatt und tat so, als beschäftigte sie Wichtigeres, damit Emmy nicht ihre leicht geröteten Wangen sehen konnte. Liebe! Für so etwas war nie die richtige Zeit gewesen. Ja, vor 15 Jahren, da hatte sie die Liebe kennengelernt. Doch da gab es die kleine Emmy, die sie nicht allein lassen konnte und wollte. Wer sollte die Kleine trösten, wenn sie sich weh tat? Wer sollte sie beschützen, wenn sie mal wieder Unfug anrichtete? Nein, sie konnte Emmy nicht allein lassen.

Es war eine schwere Entscheidung gewesen, doch sie hatte sie nie bereut. Emmy gab ihr so viel Liebe zurück!

Nein, genau so war es richtig! Und jetzt Schluss mit den Gedanken!

Sie gab sich einen Ruck und ging zum Schrank, um bei der Auswahl des Kleides zu helfen.

»Welches Kleid ziehe ich nur an?« Emmy stand ratlos davor. Das Haar, noch nicht frisiert, fiel ihr in großen Wellen über den Rücken. Bis zur Taille reichte die dunkelblonde Pracht. Emmy gefielen ihre Haare überhaupt nicht. Blond müsste es sein, wie die Mode es heutzutage bevorzugte, und nicht einfach nur brünett. Solche Haare hatten doch viele Damen! Auch mit ihrer Figur erklärte sie sich nicht einverstanden. Sie fand sich zu schmal und ihren Busen nicht groß genug. Allein die Augen gefielen ihr! Sie funkelten in einem ganz besonderen Blau. Männer mochten blaue Augen. Tatsächlich hatten sich schon mehrere Herren in Gedichten über das Blau ihrer Augen versucht, und sie gab sich ihrerseits stets redlich Mühe, die Farbe ihrer Augen durch die Auswahl ihrer Kleider deutlich hervorzuheben. Heute schien ihr dies besonders schwierig. Das Kleid musste nicht nur zu ihren Augen, sondern auch zu den roten Rosen passen, die Rafael ihr heute Morgen hatte schicken lassen.

Liebevoll sah sie zu dem kleinen Bukett, das auf dem Tischchen neben ihrem Himmelbett stand. Ihre Mutter hatte zum Glück nichts davon mitbekommen. Emmy hatte ein Hausmädchen mit Süßigkeiten bestochen und so war das kleine Blumenbukett unbemerkt und heimlich in ihr Zimmer gelangt.

Warum konnte ihre Mutter einfach nicht verstehen, dass Rafael ihre große Liebe war? Und Rafael liebte sie! Ihnen hatte sich natürlich noch nicht die Möglichkeit geboten, sich ihre Liebe zu gestehen, da sie ständig unter Aufsicht standen. Beim Tanzen jedoch oder wenn ihre Mutter sich gerade mit ihren Freundinnen unterhielt, wechselten sie ein paar private Worte. Oh, er wusste so wundervolle Komplimente zu machen. Dazu kam noch seine unglaublich imposante Statur. Die meisten Männer überragte er um mindestens einen halben Kopf. Breite Schultern taten ihr Übriges. Jede andere junge Dame im Saal musste vor Neid erblassen, wenn er sie auf die Tanzfläche führte. Seine Augen nur auf sie gerichtet, als ob es keine andere Frau auf der Welt mehr geben würde.

Durch seine stattliche Figur strahlte er so viel Stärke aus. Kein anderer Gentleman konnte ihm das Wasser reichen. In seiner Nähe fühlte sie sich bewundert und sicher. Ach, war Liebe nicht schön? Ganz bestimmt würde er sie heute um ihre Hand bitten. Also musste sie einfach gut aussehen!

Was hatte Rafael über sie gesagt? Ihre Augen würden wie zwei blaue Sterne leuchten, die ihm den Weg in das Paradies zeigten. Oh, ihr wurden jetzt noch die Knie ganz weich, wenn sie daran dachte. Versteckt hinter einer Palme hatte er sie kurz in den Arm genommen und ihr einen flüchtigen Kuss auf ihre Wange gehaucht. Bei dem Gedanken spürte sie wieder seine Lippen auf ihrer Haut. Sie bekam eine Gänsehaut. Wie würde es erst sein, wenn er sie auf den Mund küsste?! Emmy erschauerte.

Johanna beobachtete sie, die ganz in ihre Gedanken versunken schien. Sie machte sich Sorgen um ihren Schützling. Immer auf der Suche nach Liebe, bildete sie ein leichtes Opfer für solche Männer wie Rafael Jersey. Viel wusste sie nicht über diesen Mann, nur dass er eine Frau nach der anderen bezirzte. Und jetzt hatte er es auf ihren Schützling abgesehen. Emmy war so verliebt, sie hörte einfach nicht auf Johannas Ratschläge, vorsichtig zu sein mit diesem Mann. Wusste Lady Northland, Emmys Mutter, darüber Bescheid?

»Miss, Sie sehen aus, als hätten Sie irgendeinen Unfug vor. Benehmen Sie sich bitte heute. Ihre Mutter war das letzte Mal sehr ungehalten, als sie Sie nicht sofort finden konnte, auf dem Ball von Lady Westminster.«

Emmy schaute ihre Kinderfrau mit großen, unschuldigen Augen an.

»Den Blick können Sie sich bei mir sparen. Sie vergessen, ich kenne Sie schon, seit Sie auf der Welt sind.«

»Ach, Johanna, das stimmt, du kennst mich! Kannst du mir nicht helfen, die Liebe meines Lebens zu bekommen?«

»Die Liebe meines Lebens! Pah! Der junge Mann hat kein Geld und noch nichts vorzuweisen. Sie bilden sich da etwas ein, was einfach nicht da ist. Ich habe Ihnen schon oft genug gesagt, Sie sollen sich Ihre romantischen Flausen aus dem Kopf schlagen. Und nun setzen Sie sich vor den Spiegel, dann frisiere ich Ihnen endlich die Haare und danach übergebe ich Sie Ihrer Mutter. Die kann sich dann mit Ihnen herumärgern.«

Um ihre Worte abzumildern, gab sie Emmy einen Kuss auf die Stirn und sah sie liebevoll an: »Sie wissen, dass ich Sie liebe, kleine Miss?«

»Aber natürlich weiß ich das.« Sie nahm Johanna in die Arme.

Die alte Kinderfrau schob sie sanft von sich. In ihren Augen schimmerte es verdächtig.

»Jetzt aber Schluss mit dieser Gefühlsduselei!«

Verschämt wischte sie sich eine Träne weg. Wie groß die kleine Lady geworden war! Sie war eine erwachsene Frau geworden, die von vielen Männern der Gesellschaft begehrt wurde. Da spielte nicht nur die lange Ahnengalerie der Familie Northland eine Rolle, sondern auch ihr Aussehen und ihre freundliche Art.

Noch gut konnte sie sich an den Tag der Geburt erinnern. Die Kleine war von Anbeginn zart und schön. Sie hatte sie sofort in ihr Herz geschlossen. Leider ging es der Mutter, Lady Northland, nicht so. Diese hoffte, nachdem sie einen Sohn auf die Welt gebracht hatte, ihren Pflichten somit nachgekommen zu sein und fortan von ihrem Mann nicht mehr belästigt zu werden. Leider forderte ihr Gemahl weiterhin von ihr, sich für die Sicherung der Nachkommenschaft einzusetzen. Die zweite Schwangerschaft erwies sich dann jedoch als so belastend für den gesamten Haushalt, dass Lord Northland kaum noch zu Hause weilte und davon absah, weiterhin seiner Frau beizuwohnen. Glücklicherweise ist aus der ersten Schwangerschaft ein Sohn hervorgegangen, auf dem seine ganze Hoffnung ruhte.

Dies bedeutete Verantwortung und Pflicht und gestaltete sich für einen kleinen Jungen nicht immer einfach. Er stand unter ständiger Kontrolle des Vaters und seines Erziehers. Für eine Tochter war es unter diesen Vorzeichen noch um ein Vielfaches schwieriger: Sie musste mit einem Vater aufwachsen, der sich ausschließlich auf seinen Sohn konzentrierte, und einer Mutter, die aus mangelndem Interesse beide Kinder lieblos behandelte. Lord Northland war kein schlechter Vater, er wusste nur einfach nichts mit einer Tochter anzufangen. Keine guten Voraussetzungen für ein glückliches Leben.

Doch Johanna schenkte dem Mädchen ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit, und so vermisste Emmy fast nichts in ihrem Leben. Wenn sie Kummer hatte oder sich über etwas besonders freute, vertraute sie es sofort Johanna an. Ihre Eltern sah sie bis zu ihrem 17. Lebensjahr nur selten. Die Verantwortung für ihre Erziehung oblag Johanna und einer Gouvernante. Seit diesem Jahr jedoch hatte sich vieles verändert. Emmy war der Gesellschaft vorgestellt worden und sollte nun alsbald verheiratet werden.

Johanna sah in den Spiegel und kontrollierte die Wirkung ihrer Arbeit. So alt sie auch war, so geschickt arbeiteten ihre Hände. Im Nu hatte sie Emmys Haar gebändigt, das sie heute locker nach oben gesteckt hatte. Nur vereinzelt durften kleine Strähnen, zu zarten Locken gedreht, nach unten fallen. Emmys Hals wirkte dadurch noch schlanker und graziler. Eine Rose, seitlich im Haar befestigt, komplettierte Johannas Arbeit. Sehr zufrieden mit dem Ergebnis trieb sie Emmy zur Eile an.

»So, nun noch das Kleid hier anziehen, und Sie sehen einfach zauberhaft aus.«

Emmy betrachtete sich im Spiegel. Ja, das Kleid war traumhaft. Johannas Auswahl bewies wie schon so oft ihren guten Geschmack. Trotzdem seufzte Emmy. Debütantinnen war es leider nicht gestattet, farbige Kleider zu tragen. Ein zartes Gelb vielleicht oder ein helles Rosa wurden noch akzeptiert. Ihr heutiges Kleid aus cremefarbener Seide gab einen wunderbaren Kontrast zu ihren dunkelblonden Haaren. Eng schmiegte es sich an ihre Figur. Der Ausschnitt bedeckte gerade so ihren Busen.

Seltsam, dachte sie beim Blick in den Spiegel, ein farbiges Kleid darf ich nicht tragen, meinen Busen fast entblößen aber schon.

Die kleine Rose, die ihr Haar schmückte, passte wunderbar zu den Rosen am Saum ihres Kleides. Emmy drehte sich, tief in Gedanken versunken, vor dem Spiegel hin und her. Ob Rafael von ihrem Kleid auch begeistert sein würde?

Johanna fragte sich skeptisch, was in diesem Kind nur wieder vorging, und ermahnte Emmy noch einmal: »Und denken Sie daran: keine Dummheiten!«

»Ich mache bestimmt nichts Unüberlegtes.«

Ihre Zofe glaubte ihr kein Wort. Glücklich lächelnd nahm Emmy ihr Retikül, das Johanna ihr reichte, und ging frohgestimmt zur Treppe.

Bald werde ich ihn wiedersehen. Ihre Gedanken hüpften vor Glück durcheinander. Was wird er sagen, wenn er mich in diesem Kleid mit seiner Rose im Haar sieht? Wird er mich schön finden?

»Emmy!«

Die schrille Stimme ihrer Mutter durchbrach ihre romantischen Gedanken.

»Was stehst du da oben wie angewurzelt? Komm sofort zu mir!«

Lady Northland blickte verärgert nach oben. In ihrer großen Abendrobe sah sie immer noch sehr attraktiv aus. Trotz ihres Alters hatte sie ihre schlanke Figur behalten, die durch ihre gute Wahl der Kleider hervorgehoben wurde. Die nun grauen Haare waren zu einer eleganten Frisur aufgesteckt und mit einem großen Diadem komplettiert worden. An den Händen trug sie lange schwarze Abendhandschuhe.

Emmy wurde bewusst, dass sie tatsächlich vor der Treppe stehen geblieben war. Rasch ging sie die letzten Stufen hinunter.

»Entschuldige bitte, ich war ganz in Gedanken.«

Nervös sah sie zur ungeduldig Wartenden, als der Butler erschien und Lady Northland sich ihm zuwandte, woraufhin sie ihre Tochter streng ermahnte, hier auf sie zu warten, und mit Bradley die Halle verließ.

Warum konnte ihre Mutter nicht einmal nett zu ihr sein? Immer kritisierte sie nur an ihr herum. Nichts konnte man ihr recht machen. Seit dem Tod des Vaters war es noch schlimmer geworden. Ihr Bruder Philip hatte es gut. Er ging seiner Mutter einfach aus dem Weg und konnte es sehr viel einfacher, seitdem er sich eine kleine Wohnung gemietet hatte und dort übernachtete. So kam er nur, wenn Lady Northland ihn zu sich zitierte.

Meistens lebte sie jedoch mit ihrer Mutter allein. Jeden Nachmittag empfing Lady Northland Besucher, ihre Tochter musste ihr dabei selbstverständlich Gesellschaft leisten. Manchmal kam sich Emmy wie eine Zuchtstute vor, wenn sie von den Besucherinnen aufmerksam studiert wurde. Jede Bewegung wurde genau registriert. Teilte sie den Tee aus, wurde darauf geachtet, wie elegant ihre Bewegungen waren, mit welcher Grazie sie die Tasse reichte. Sie empfand es als unglaublich anstrengend, sich ständig kontrollieren zu müssen. Umgekehrt konnten die Nachmittage auch angefüllt sein mit Besuchen bei wichtigen Damen aus der Gesellschaft. Diese Besuche waren fast immer sterbenslangweilig, da man von Debütantinnen erwartete, dass sie still und gerade dasaßen und sich auf keinen Fall in ein Gespräch einmischten. Immer schön lächeln! Leider ließen sich diese Besuche nicht umgehen, um erfolgreich zu debütieren. Es ging immer um Kontakte und Verbindungen, Einladungen zu den wichtigsten Bällen oder Soireen. Für die jungen Debütantinnen musste daher ihr ganzes Sinnen, Trachten und Streben daraufhin abzielen, sich möglichst gut zu präsentieren. Manchmal wäre Emmy am liebsten davongelaufen.

Gott sei Dank gab es noch die kleinen Tanzabende. Dort ging es etwas lockerer zu. Emmy traf hier ihre Freundinnen und konnte sich mit ihnen austauschen. Sie unterhielten sich mit Spielen, zu trinken gab es Limonade und zu essen köstliche Süßspeisen. Alles fiel etwas einfacher aus, weshalb zu solchen Veranstaltungen eher junge Leute kamen, die noch nicht sehr lange in die Gesellschaft eingeführt waren. Für Emmy stellten diese Abende eine Erholung dar, verglichen mit den großen Gesellschaften, auf denen jeder ihrer Schritte unter strengster Aufsicht und Kontrolle stand.

Bei diesen eher intimen kleinen Gesellschaften konnte sie endlich etwas freier und fröhlicher sein. Es wurde viel gelacht, Limonade getrunken und getanzt. Das gefiel ihr erheblich besser als diese großen Bälle. Die ersten Bälle, die sie hatte besuchen dürfen, hinterließen anfangs einen berauschenden Eindruck. Sie hatte so lange darauf gewartet, endlich teilzunehmen. Doch irgendwann waren ihr alle gleich langweilig erschienen. Erst nachdem Rafael in ihrem Leben aufgetaucht war, spürte sie wieder Vorfreude auf den nächsten Ball.

Allein bei dem Gedanken, heute wieder mit ihm zu tanzen, bekam sie Herzklopfen. Meist kam er später als sie, was sie manches Mal zu einer Notlüge anderen Gentlemen gegenüber zwang. So enttäuschte sie einige Herren, die allerdings schnell begriffen: Sie mussten nur warten, bis Rafael sich eingetragen hatte, und danach wieder um einen Tanz bitten. Bei so einer bezaubernden jungen Lady gaben die meisten nicht so schnell auf.

Oh, dieser Moment, wenn er den Ballsaal betrat! Meistens blieb er kurz stehen und blickte sich um. Er sah überwältigend schön aus. Was für ein Auftritt! Und wie beseligend zu wissen, dass er nur ihretwegen kam! Das hatte er ihr beim letzten Ball heimlich gestanden. Ihr Herz wollte schier zerspringen, wenn sie daran nur dachte.

Ein kurzes Klopfen an der großen Eingangstür riss sie aus ihren Träumen. Sie gewahrte, dass ihre Mutter soeben wieder die Halle betrat und Bradley an ihr vorbei zum Portal eilte. Doch ehe dem Butler die Zeit blieb, die Tür zu öffnen, stürmte Philip bereits herein. Gekleidet in Abendgarderobe, seine blonden Haare zu einer Brutus-Frisur gekämmt, bot er das Bild eines ansprechenden, gut aussehenden jungen Mannes. Zwar gehörte er nicht zu den hoch gewachsenen Männern, doch machte er die fehlenden Zentimeter durch seinen muskulösen Körper wieder wett. Allerdings zeigte er momentan eher den Gesichtsausdruck eines trotzigen Kindes. Schlecht gelaunt richtete Philip seinen Gruß an die beiden Frauen.

»Ich bin da, meine Damen, wie ihr es gewünscht habt«, begrüßte er sie mit leicht ironischem Unterton.

Er hasste es, hierher zitiert zu werden. Aber ab und zu musste er seine Mutter und seine Schwester zu gesellschaftlichen Ereignissen begleiten, nun gut, immerhin bildete er das Familienoberhaupt. Zumindest sah es nach außen so aus. In Wirklichkeit war seine Mutter das Oberhaupt der Familie. Manchmal machte ihn das wütend, dass er nicht gegen sie ankam. Allerdings, das musste er sich eingestehen, hatte er es noch nie ernsthaft versucht. Ihr alle Entscheidungen zu überlassen hatte natürlich den Vorteil, dass er mit Problemen nicht belastet wurde und Entscheidungen zu seiner Entlastung ausfielen. Fehlentscheidungen würde sie niemals dulden. Außerdem hatte sie seine Meinung noch nie interessiert. Warum sollte er sich also mit ihr streiten? Sie würde nur mit ihrem ewigen Nörgeln über sein Junggesellentum anfangen. Und warum sollte er ihr das Thema auch noch zuspielen? Nach ein paar Jahren würde sowieso Schluss sein mit dem Amüsieren, dann würde er sich tatsächlich um sein Erbe kümmern müssen. Aber jetzt wollte er seine gewonnene Freiheit genießen. Ein Leben in Verantwortung kam ohnehin früh genug.

»Ich bin dir unglaublich dankbar, dass du uns deine Zeit schenkst!«

Auch seine Mutter konnte ironisch sein.

»Bevor wir uns auf den Weg zu dem Ball begeben, habe ich euch eine sehr wichtige Mitteilung zu machen. Eine Mitteilung, die unser aller Leben verändern wird. Wir werden dann später entscheiden, ob wir den Ball von Lady Fitsh noch besuchen werden.«

»Aber, wir müssen zu Lady Fitshes Ball, Mama! Ich bin dort mit meinen Freundinnen verabredet.« Emmy sah sie ängstlich an.

»Wir werden dies später entscheiden! Und bevor du zu jammern anfängst, sage ich dir, dass ich ganz genau weiß, wen du dort sehen möchtest. Schlage dir das aus dem Kopf und halte mich nicht für blind«, stellte ihre Mutter verärgert fest. »Wir haben Wichtigeres zu besprechen als deine Dummheiten.«

Emmy traute ihren Ohren nicht. Das sollte doch ihr Abend werden. Ihrer und Rafaels Abend.

»Aber, Mama, wie kannst du mir so etwas antun? Ich habe mich so darauf gefreut!« Die Verzweiflung war ihr deutlich anzusehen. »Mein Leben hängt von diesem Abend ab, und du willst nicht hingehen?!« Ihre Stimme klang leicht schrill. Das war wieder einmal typisch Mutter, immer ging alles nach ihrem Willen. Ihre Tochter war ihr ganz egal.

»Es geht hier nicht um deine Zukunft, sondern um die Zukunft deines Bruders. Sein Erbe muss gesichert werden, damit unser Name fortbestehen kann.«

Abrupt wandte sie sich zu Philip um. »Philip, würdest du bitte die Tür zur Bibliothek öffnen, dann können wir uns dort ungestört unterhalten.«

Philip tat, wie ihm von Lady Northland geheißen. Heute hatte seine Mutter einen noch härteren Gesichtsausdruck als sonst. Zudem schien sie nervös zu sein, denn ihre Hände zitterten leicht, was ihn sehr erstaunte. Das passte so gar nicht zu ihr.

»Nehmt bitte Platz. James, servieren Sie uns bitte Tee.« Mit Blick auf ihren Sohn fuhr sie fort: »Und etwas Wein.«

Philip setzte sich. Dass sie etwas Wichtiges mitteilen wollte, hatte er aus der Art entnommen, in der sie ihn heute Mittag aufgefordert hatte, unbedingt zu kommen. Wahrscheinlich fing sie gleich wieder an zu schimpfen, dass er zu wenig auf seinen Ruf achte und er sich endlich mehr um sein Erbe kümmern solle. Das Problem war, er hatte keine Ahnung, wie man dies machte. Sein Vater hatte ihn nie in die Bewirtschaftung von Standhurst, ihrem Landsitz, einbezogen. Immer hieß es, er sei noch zu jung, er solle erst einmal vernünftig werden und etwas lernen. Aber Philip glaubte eher, dass sein Vater nichts von seiner Macht abgeben wollte. Einmal versuchte Philip einen Vorschlag zur Erneuerung der Viehzucht zu machen. Tatsächlich hatte er sich, ohne seinen Vater davon in Kenntnis zu setzen, im Vorfeld zu diesem Thema umfangreich informiert und es sogar interessant gefunden. Als er seinem Vater die Neuerungen und die sich daraus ergebenden Vorteile unterbreitete, hoffte er, dass Lord Northland stolz auf seinen Sohn sein würde. Doch der reagierte ungehalten, herrschte Philip an, er habe absolut keine Ahnung von dem, was er da rede, und solle sich gefälligst aus diesen Dingen heraushalten. So endeten der Versuch und der Wunsch, sich in der Bewirtschaftung des Gutes einzubringen. Sein Vater war noch Tage später wütend auf ihn gewesen, und dem Sohn war es für die Dauer dieser Zeit vorgekommen, als ob ihn der Vater bewusst ignorieren würde.

Und dann kam vor gut sechs Monaten der Reitunfall! Lord Northland stürzte vom Pferd und brach sich das Genick. Er war sofort tot. Mit dem tödlichen Unfall hatte niemand gerechnet, da Northland ein sehr guter und erfahrener Reiter war. Zu seinem Glück oder Unglück, so genau wusste Philip es nicht zu sagen, übernahm seine resolute Mutter mit Hilfe des Verwalters entschlossen und tatkräftig die Geschäfte. Einerseits bot sich ihm dadurch die Möglichkeit, vor der Verantwortung zu fliehen. Andererseits hätte er auch gar nicht gewusst, wie er die Situation ändern könnte. Tief in seinem Inneren machte ihn diese Ohnmacht wütend. Nun hoffte er, dass der Spaziergang hierher sowie der Wein, den James gleich brachte, ihn innerlich beruhigen würde und er ihr gegenüber gestärkt auftreten konnte. Zudem wünschte er einen kurzen Aufenthalt auf dem Ball, sodass er sich später mit seinen Freunden treffen und das Leben feiern konnte.

James trat in die Bibliothek und servierte in stoischer Gelassenheit den Tee.

Emmy liebte diesen Raum mit den vielen kleinen Teppichen und der Wendeltreppe, die nach oben zur Galerie mit Büchern führte. Es war der gemütlichste Raum im ganzen Haus. Vor den großen Fenstern waren zwei kleine Tische mit bequemen Sesseln platziert. In der Nähe des großen Kamins stand ein Sofa, flankiert auf beiden Seiten von Beistelltischen, auf die man Bücher oder auch eine Tasse Tee bequem abstellen konnte. Abseits davon dominierte ein sehr schöner mahagonifarbener Schreibtisch den Raum, der nur noch selten benutzt wurde, da Lady Northland ihren eigenen Schreibtisch in ihrem persönlichen Salon vorzog. Emmy setzte sich gerne in den großen Stuhl hinter dem Schreibtisch, weil er den Komfort eines Sessels hatte und sie es sich darin beim Lesen so wunderbar gemütlich machen konnte.

Da die Angestellten nur morgens hereinkamen, um Feuer zu machen oder Staub zu putzen, hatte Emmy die Bibliothek den Rest des Vormittags für sich allein. Ihre Mutter stand nie vor zwölf Uhr auf, und so konnte sie diese Zeit in Einsamkeit genießen.

Auch Emmy empfand ihre Mutter heute verändert, strenger als sonst und in Unruhe. Sie guckte zu ihrem Bruder. Ihre Blicke trafen sich, er hob kurz die Schultern, um anzudeuten, dass es ihm auch aufgefallen war. Erwartungsvoll sahen sie Lady Northland an, nachdem der Butler die Tür leise hinter sich geschlossen hatte.

»Diese Unterredung wird unser Leben verändern. Ich wünschte, ich müsste dieses Gespräch nicht führen. Doch manchmal verlangt das Schicksal von uns, hart gegen uns selbst zu sein.« Ihr Blick wanderte kurz zu Boden, als müsste sie sich sammeln.

»Vor vier Wochen kam Morrison, unser Anwalt, zu mir und eröffnete mir, dass euer Vater uns nur Schulden hinterlassen hat!«

Ihre Kinder sahen sie geschockt an.

Philip reagierte als Erster. »Wie kann das sein? Es war doch immer genug Geld da. Vater hat nie etwas von Schulden gesagt!«

»Tja, das kann ich dir leider auch nicht sagen. Aber ihr wisst ja, dass euer Vater keine Einmischung in seine Geschäfte geduldet hat. Auch von mir nicht. Ich wünschte tatsächlich, ich könnte euch dieses Gespräch ersparen. Doch leider sind wir nach Lage der Dinge gezwungen, so rasch als möglich zu handeln. Das uns zur Verfügung stehende Geld reicht nur für die nächsten drei, vier Wochen. Niemand, das ist euch hoffentlich bewusst, darf etwas davon bemerken!«

Lady Northland sah beide eindringlich an.

»Wenn dies an die Öffentlichkeit gelangt, sind wir nicht nur materiell ruiniert, sondern werden von der Gesellschaft gemieden. Dies würde bedeuten, du, Philip, hast keine Möglichkeit mehr, eine vorteilhafte Partie zu machen.«

»Und was ist mit mir?«, fragte Emmy leise.

Philip und Emmy starrten ihre Mutter gespannt an.

Philip fragte: »Warum hast du mir nie etwas davon gesagt? Dann wäre ich doch vorsichtiger mit dem Geld umgegangen. Woher hat Vater so viele Schulden? Ich verstehe das alles nicht!«

»Dein Vater hat sehr viel Geld angelegt. Ich glaube, in die Eisenbahn. Auch Morrison weiß nicht genau, um welche Geschäfte es sich konkret gehandelt hat. Er hat dazu keinerlei Unterlagen. Er konnte mir nur sagen, dass ein Vermögen, über das wir vor fünf Jahren, von ihm amtlich bestätigt, verfügten, nicht mehr besteht. Das Geld ist weg. Wohin auch immer! Ich weiß es selbst nicht, denn euer Vater sprach mit mir nie darüber. Außerdem kenne ich mich damit nicht aus. Geldgeschäfte interessieren mich nicht. Eine Dame sollte sich mit diesem Thema nicht beschäftigen müssen.«

Lady Northland ließ ihre Kinder nach kurzem Innehalten würdevoll wissen: »Ich habe so gut es ging versucht, unser Leben nicht zu verändern. Doch leider fühlte sich Morrison verpflichtet, mich heute – noch vor der Mittagszeit! – ein weiteres Mal aufzusuchen.« Sie hielt wiederum inne und schüttelte verärgert den Kopf.

»Daran merkt man einmal mehr, dass er zu einer anderen Gesellschaftsschicht gehört. Er hätte sich doch denken können, dass wir heute Abend eine wichtige Verpflichtung haben. Nun gut, man kann von diesen einfachen Leuten einfach nicht zu viel erwarten.«

Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Kinder.

»Er nahm sich tatsächlich die Freiheit, mich auf die Tatsache aufmerksam zu machen, dass wir sofort etwas unternehmen müssen. Als ob ich nicht selbst auf diesen Gedanken kommen würde!«

Wieder schüttelte sie den Kopf ob der Dummheit dieses Anwaltes.

»Es ist nun so: Wenn wir nicht bald zu Geld kommen, müssen wir Grundbesitz verkaufen – und das wäre geradezu eine Tragödie für unseren Ruf!«

Philip konnte nur innerlich den Kopf schütteln über die Gedankengänge seiner Mutter. Sie standen kurz vor dem Ruin und sie machte sich Gedanken um ihren Ruf!

»Wieso hat unser Anwalt mich nicht kontaktiert? Schließlich bin ich das Familienoberhaupt?«

Seine Mutter sah ihn kalt an. »Weil er genau weiß, wer sich hier um alles kümmert!«

Philip sah beschämt zu Boden.

»Was meinst du mit ›Grundbesitz verkaufen‹? Doch nicht etwa Standhurst?! Das kannst du nicht machen!« Emmy war entsetzt.

Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Standhurst war ihr Zuhause. Ihre ganze Kindheit hatte sie hier verbracht. Die Vorstellung, nie mehr dort sein zu können, war einfach schrecklich. Sie kannte jeden Winkel dort. Schon als Kind war sie täglich mit ihrem Pferd Jumper ausgeritten, mit Philip heimlich zum Angeln gegangen … Ihre Mutter hatte nie etwas davon mitbekommen. Die Eltern lebten fast die ganze Zeit in London. In der Stadt fühlten sie sich zu Hause, die Landbevölkerung war ihnen fremd. Emmy dagegen kannte alle Familien auf Standhurst. Teilweise lebten sie schon in der vierten oder fünften Generation dort. Sie verließen sich auf die Familie Northland. Man durfte sie auf keinen Fall allein lassen! Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, ihr Zuhause zu verlieren. Es würde ihr das Herz brechen.

»Es gibt keinen Grund zur Dramatik«, sagte ihre Mutter beschwichtigend. »Ich habe eine Möglichkeit gefunden, um uns und Standhurst zu retten.«

»Und welche?« Philip ahnte nichts Gutes.

Lady Northland sah Emmy in die Augen: »Du, meine Tochter, wirst die Familie retten und das Erbe deines Bruders!«

Triumphierend sah sie ihre Kinder an.

»Wie meinst du das, Mutter?« Philip sah seine Mutter erwartungsvoll und zugleich beunruhigt an.

»Was meinst du damit, ich werde die Familie retten?« Emmy konnte kaum atmen vor Aufregung. Vielleicht könnte sie doch noch Rafael heiraten?

»Wir werden die Verlobung von Emmy bekannt geben!«

Sprachlos saßen die Geschwister Lady Northland gegenüber. Einen kurzen Moment glaubte Emmy, ihr Traum ginge in Erfüllung und sie könne Rafael heiraten. Doch sofort kam ihr zu Bewusstsein, dass dies ein Trugschluss sein musste. Rafael hatte kein Geld. Mit klopfendem Herzen sah sie ihre Mutter fragend an.

»Du wirst Lord Malkham heiraten. Er hat vor zwei Tagen um deine Hand angehalten, und ich habe sie ihm gegeben.«

Lady Northland sah auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hielt. Ohne aufzuschauen, sprach sie weiter: »Er möchte heiraten, um seine Linie weiterführen zu können. Sein Vermögen ist immens groß, und er ist bereit, unsere Schulden zu zahlen.«

Keiner sagte etwas. Emmy hatte das Gefühl, als hörte ihr Herz auf zu schlagen. Sie wollte etwas sagen, konnte aber nicht.

Philip sah zuerst seine Mutter und dann seine Schwester entsetzt an. Lady Northland war aufgestanden und zum Fenster gegangen und blickte auf den Garten. Der Frühling ließ noch auf sich warten. Die Bäume schienen in ihrem Winterschlaf noch versunken. Nur die Blätter der Frühlingsblumen trauten sich ans Licht. Doch es würde noch lange dauern, bis die Sonne auch die Blüten hervorlockte.

So fühlt es sich an, das Leben, dachte sie, straffte aber sofort die Schultern, atmete tief durch und drehte sich ihren Kindern zu.

»Du willst sie doch nicht wirklich an den alten Kerl verschachern?« Philip sah sie ungläubig an. »Er ist mindestens 30 Jahre alt. Kein Mensch kennt ihn wirklich, da er nur auf dem Land lebt. Und die Eigenschaft Freundlichkeit kann man wahrlich nicht mit ihm in Verbindung bringen. Ich kenne niemanden, der mit ihm befreundet ist. Du kannst doch nicht Emmy einfach an einen völlig fremden Mann verkaufen!« Philip schüttelte ungläubig den Kopf. Auf so eine Idee konnte nur seine Mutter kommen.

»Es ist die einzige Möglichkeit, aus dieser schwierigen Lage herauszukommen«, verteidigte sich seine Mutter. »Glaubt nicht, dass mir diese Entscheidung leichtfiel. Ich habe auch an dich gedacht, Philip. Doch es ist nun einmal so, dass eine schöne Debütantin leichter zu verheiraten ist als ein verarmter Lord. Es gibt natürlich genug Frauen, die einen Mann aus den gehobenen Kreisen heiraten wollen, doch leider gibt es zurzeit keine reiche Erbin, die wir ins Auge fassen können. Oder weißt du eine?«

Vermutlich stimmte, was sie sagte. Sie kannte sich in den Kreisen besser aus als er. Wenn er darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, froh zu sein, dass es keine gab, denn er fühlte sich noch nicht reif für eine Ehe.

Lady Northland musterte ihren Sohn kritisch mit einem Anflug von Spott um den Mundwinkel.

Er hielt ihrem leicht ironischen Blick stand. Sie wusste vermutlich genau, was in ihm vorging. Er stand dazu, zu jung für eine Ehe zu sein. Doch er tadelte sich, nicht früher die Verantwortung für seine Zukunft übernommen zu haben. Jetzt schämte er sich für seine Feigheit und Bequemlichkeit, jedwede Verantwortung seiner Mutter überlassen zu haben. Er hätte Entscheidungen treffen und wissen müssen, wie es um sein Erbe steht. Doch fühlte er sich einfach hilflos angesichts dieser riesigen Verantwortung. Wo sollte er anfangen? Wer stand ihm zur Seite? Seine Mutter bestimmt nicht. Außerdem wollte er sich verdammt noch mal doch nur eine Weile amüsieren, ohne dass ihm jemand immer wieder Vorschriften machte und ihn bei allem kontrollierte. Trotzdem hatte er seinen Vater geliebt, auch wenn der ihm kaum Freiheiten gelassen hatte. Seinen Vater, der ihn für zu jung hielt, um ihn bei Entscheidungen, das Vermögen betreffend, miteinzubeziehen. Sehr oft ärgerte es Philip, nicht für voll genommen zu werden. In solchen Momenten schlich er sich aus dem Haus und machte mit seinen Freunden London unsicher. Es hatte ihn gefreut, wenn sein Vater dann wütend wurde. Jetzt, im Nachhinein, fand er sein Verhalten kindisch.

Philip sah seine Schwester mit einem schiefen Lächeln an, als wollte er sie um Verzeihung bitten, dass er in dieser Angelegenheit nichts tun konnte.

Emmy saß immer noch wie erstarrt. Das ganze Glück, dass sie noch vor ein paar Minuten gefühlt hatte, war wie weggeblasen. Sie versuchte zu denken, spürte aber nur noch eine innere Leere.

Was sagte ihr Bruder? Er wird ihr doch bestimmt beistehen und Mutter von dieser furchtbaren Idee abbringen?!

»Wie viele Schulden hat uns Vater hinterlassen?«, fragte Philip. Gespannt warteten die Geschwister auf eine Antwort.

Lady Northland zeigte auf den Schreibtisch.

»Dort liegt eine Aufstellung der Verbindlichkeiten. Betrachte sie genau und urteile. Es ist vielleicht besser, du setzt dich dabei.«

Philip las die Liste durch und erbleichte!

»Wie ist das möglich? Ich verstehe das nicht! Wenn er so viel Geld investiert hat, muss er auch Gewinn daraus gezogen haben. Er war doch immer sehr vorsichtig bei Geldanlagen. Da ist doch etwas nicht mit rechten Dingen hergegangen!«

Seine Mutter machte einen verunsicherten Eindruck.

»Ich kann dir nur weiterleiten, was unser Anwalt Morrison mir sagte: Die Rücklagen sind verbraucht, die Einnahmen ausgeblieben, der Schuldenberg gestiegen. Wir sind mittellos. Dein Vater hat seine letzten Transaktionen über einen Franzosen getätigt. Dieser Herr hat anscheinend alles organisiert. Mehr weiß ich nicht. Jedenfalls ist kein Geld an uns zurückgeflossen. Leider hat euer Vater nicht die Hilfe unseres Anwalts in Anspruch genommen. Mr Morrison hätte ihn sicher davon abgehalten. Er findet diesen Herrn Dunet höchst zwielichtig. Niemals hätte er ihm Geld anvertraut.«

»Dunet? Wer ist das? Hast du diesen Namen schon einmal von Vater gehört?«

Seine Mutter sah ihn nicht an: »Nein, ich kenne ihn nicht!«

Philip beachtete sie nicht weiter. Er hatte auch nicht erwartet, dass seine Mutter etwas wusste.

»Morgen werde ich zu unserem Anwalt gehen und mit ihm reden. Vielleicht gibt es irgendeine Möglichkeit uns zu retten, ohne dass Emmy geopfert werden muss.«

Philip sah seine Mutter entschlossen an. »Ich weiß, ich hätte früher meine Verantwortung übernehmen sollen. Doch nun tue ich es! Emmy, ich werde alles tun, um eine andere Lösung zu finden, das verspreche ich dir.«

Emmy blickte mit großen Augen von einem zum anderen. Jetzt endlich fand sie die Kraft, um sich zu Wort zu melden.

»Ihr redet über das Thema, als ob ich nichts zu entscheiden hätte. Ihr wollt mich für Vaters Dummheiten verkaufen!« Ihr standen die Tränen in den Augen. »Habe ich überhaupt nichts dazu zu sagen? Ich liebe Rafael und werde nur ihn heiraten. Ich bin mir ganz sicher, dass er mich heute Abend gefragt hätte, ob ich seine Frau werden will, und ich hätte Ja gesagt!«

Ihre Augen sprühten vor Zorn und Verzweiflung.

»Meinst du Rafael, Rafael Jersey? Das kann nicht sein mit dem Heiratsantrag. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er Geld heiraten muss. Erst gestern hat er mir selbst von seiner Suche nach einer reichen Frau berichtet und, soweit ich weiß, bereits eine gefunden. Sein Onkel, versicherte er mir, werde niemals einer Heirat mit einer unvermögenden Frau zustimmen. Dennoch bin ich mir sicher, dass Rafael selbst Geld heiraten will, damit er bei der Bewirtschaftung des Gutes mitreden kann. Nur so wird sein Onkel ihn ernst nehmen.« Philip betrachtete Emmy nachdenklich: »Er hat mir gesagt, er sei in eine andere verliebt, könne sie aber nicht heiraten. Damit meinte er dich also offenbar … Und du bist auf seine schönen Worte reingefallen! Emmy, jeder weiß doch, dass er ein Casanova ist!«

Emmy sprang aus ihrem Sessel auf.

»Das glaube ich nicht, ich weiß, er liebt mich wirklich!«

»Hat er dir das gesagt? Hat er dir gesagt, dass er dich heiraten wird?«, ihr Bruder schrie sie fast an und seine wütenden Augen blitzten. »Wenn er das gesagt hat, werde ich ihn fordern müssen. Das weißt du doch, nicht wahr?«

Lady Northland schien erschüttert und tief getroffen. »Emmy, ich bin entsetzt!« Sie hob ihre Stimme und herrschte sie missbilligend an: »Du hast dich heimlich mit einem mir fast fremden Mann verständigt?! Bis du verrückt geworden? Willst du dich ins Unglück stürzen? Wenn das jemand erfahren würde, wärest du ruiniert. Und wir auch! Ist dir das klar?«

Trotzig erwiderte Emmy: »Aber wir lieben uns doch.« Eine Träne rann ihr über das Gesicht. »Es ist doch nicht wahr, dass er einer anderen den Antrag macht, Philip?«, hoffnungsvoll schaute sie ihren Bruder an. Weitere Tränen kullerten, obwohl sie sie zurückzuhalten versuchte.

»Schwesterchen, ich wünschte, ich könnte etwas anderes sagen. Rafael war schon immer ein Charmeur. Du bist nicht die Erste, die er umgarnt hat. Und, ich glaube, auch nicht die Letzte.«

Philip ging zu seiner Schwester und nahm sie behutsam in die Arme. Der Wunsch, das Weinen zu unterdrücken, ließ sich nicht mehr unter Kontrolle halten. Seine Fürsorge, die sie nicht gewohnt war, ließ sie nun vollständig zusammenbrechen. Ihre stets strenge Mutter mochte keine übertriebenen Zärtlichkeiten und ihr Bruder lebte sein Leben für sich, ohne sich irgendwelche Gedanken zu machen.

Das war alles zu viel! Emmy riss sich los und lief aus dem Zimmer. Sie wollte nur noch allein sein und weinen. In ihrem Zimmer fiel sie erschöpft und fassungslos auf ihr Bett. Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Sollte sie sich wirklich so getäuscht haben? Hatte Rafael ihr nicht gesagt, dass er sie liebte …? Wenn sie genau nachdachte, wirklich gesagt hatte er es nicht. Aber seine Augen sagten es ihr doch? Was hatten seine Augen gesagt? Seine Blicke waren so voller Bewunderung und Fröhlichkeit gewesen … Aber sprachen sie auch von Heirat? Sie war sich nicht mehr sicher. Daran musste er doch gedacht haben! Hatten sie nicht über ihre Zukunft gesprochen oder war das nur ihre eigene Fantasie gewesen?

Plötzlich kam ihr ein furchtbarer Gedanke. Sie setzte sich abrupt auf. Hatte sie ihm gesagt, dass sie ihn liebe …? O Gott, vielleicht wusste er nicht, dass sie so für ihn empfand. Er glaubte bestimmt, sie wolle ihn nicht heiraten, und suchte deshalb nach einer anderen Frau. Sie musste zu ihm, sofort!

Im Handumdrehen zog sie sich einen Umhang über, öffnete vorsichtig die Tür und schaute auf den Gang. Alles war ruhig. Leise schlich sie sich aus dem Zimmer, die Tür behutsam hinter sich schließend. Sie rannte auf Zehenspitzen zur hinteren Treppe, die nur die Angestellten benutzten. Auch hier schien ihr alles ruhig zu sein. Jetzt musste sie nur noch die Treppe hinunter zum Hinterausgang. Gut, dass der Umhang eine große Kapuze hatte, so würde sie hoffentlich niemand erkennen und die Dunkelheit würde das Übrige tun. Die Wohnung von Rafael lag nur ein paar Straßen weiter entfernt. Wie würde er reagieren? Die momentan aufflammende Erkenntnis, dass sie ein großes Risiko einging, ließ sie kurz zögern. Eine junge Frau durfte nicht einfach einen Junggesellen besuchen. Wenn dies herauskommen würde, wäre ihr Ruf für immer zerstört. Doch hier ging es um ihre Zukunft!

Zum Glück waren nicht viele Leute auf Londons Straßen unterwegs, sodass sie unerkannt bis zu seinem Haus gelangte. Mit klopfendem Herzen ging sie zur Eingangstür. Kaum, dass sie den Türklopfer bewegt hatte, wurde die Tür schon geöffnet. Emmy empfand Erleichterung. Die Vorstellung, hier an der Tür eines Junggesellen womöglich auch noch von einem Bekannten entdeckt zu werden, bereitete ihr allergrößtes Unbehagen. Durch den geöffneten Türspalt erschien das Gesicht des Butlers, der sie äußerst misstrauisch betrachtete.

Er blickte auf Emmy hinunter und fragte sie mit einem Anflug von Hochmut, was sie wünsche und wieso sie nicht an der Hintertür anklopfe.

Emmy nahm ihren ganzen Mut zusammen, reckte stolz ihr Kinn nach vorn und sagte in einem möglichst ruhigen Ton: »Lassen Sie mich gefälligst sofort ins Haus und geben Sie Ihrem Herrn unverzüglich Bescheid, dass Lady Emmy ihn zu sprechen wünscht.«

Völlig überrascht von der Würde ihres Auftretens ließ er Emmy herein. Unfreundlich sagte er, sie solle hier im Flur warten, er werde seinen Herrn fragen, ob er sie empfangen wolle. Gemessenen Schrittes ging er zu einer großen Tür, klopfte und verschwand dahinter.

Sekunden später wurde diese Tür aufgerissen und Rafael stürzte heraus.

»Emmy, was machst du hier? Hat dich jemand gesehen? Wenn dich jemand gesehen hat, ist es aus mit meiner Zukunft!«

Das klang nicht sehr hoffnungsvoll, geschweige denn liebevoll.

»Du musst sofort hier weg. Wenn meine Verlobte davon erfährt, war alles umsonst.«

»Deine Verlobte?«, ungläubig starrte Emmy Rafael an. War es doch wahr, was Philip über ihn sagte? »Wie meinst du das? Ich dachte, wir …«

Rafaels Gesichtsfarbe wechselte von Weiß zu Rot.

»Aber, aber! Mein Liebling, du dachtest doch nicht, dass wir heiraten?« Mit einem schiefen Lächeln und zwinkernden Augen versuchte er sie zu beruhigen.

»Du hast doch …« Verwirrt brach Emmy ab.

»Weißt du, ich brauche Geld, und du …« Er sprach nicht weiter.

»Du hast mir also die ganze Zeit nur etwas vorgespielt?«

Rafael räusperte sich und zeigte sein verführerischstes Lächeln.

»Nun, wir hatten doch Spaß miteinander, und ich bete dich nach wie vor an. Aber du musst doch gewusst haben, dass es mit uns nichts werden kann. Weißt du, es geht das Gerücht um, dass ihr kurz vor dem Ruin steht, und ich brauche nun einmal Geld, meine kleine Emmy.« Seine Stimme schnurrte leise und sein Lächeln wurde immer breiter. Langsam schritt er mit geöffneten Armen auf sie zu.

Doch Emmy hob abwehrend beide Hände: »Bleib bloß weg! Wage es nicht, mich anzufassen! Oh, wie blind ich war!«

Kämpfend zwischen Zorn und Verzweiflung wollte sie abermals ihre Tränen zurückhalten. Sie würde auf keinen Fall hier vor ihm weinen. Diesen Triumph wollte sie ihm nicht gönnen.

»Heirate nur das Geld deiner Verlobten und werde glücklich. Ich bin froh, endlich erkannt zu haben, was für ein Mensch du bist. Du ekelst mich an!«

Geschockt blieb Rafael stehen, doch ehe er etwas zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, drehte Emmy sich um und rannte aus der Tür auf die Straße.

Blind vor Tränen, die sie nun nicht mehr zurückhalten konnte, lief sie gegen eine harte, aber warme Wand. Fast wäre sie gefallen, wenn sie nicht zwei starke Arme aufgefangen hätten. Emmy versuchte sich loszureißen, wurde jedoch festgehalten. Zornig sah sie nach oben in das Gesicht eines fremden Herrn. Mit einem Lächeln blickte er auf sie hinunter.

»Kann ich Ihnen helfen, junge Dame?«

»Nein, bestimmt nicht! Lassen Sie mich sofort los. Sie belästigen mich.«

Der Herr hob belustigt eine Augenbraue.

»Ich glaube, Sie haben mich belästigt. Aber ich möchte natürlich nicht darüber streiten. Wenn Sie wollen, behaupte ich einfach, dass ich in Sie hineingelaufen bin und Sie mich festgehalten haben, damit ich nicht falle. Ist das besser?«

Irritiert blickte Emmy ihm in die Augen. Freundliche braune Augen! Lustige Augen! Sie musste lächeln.

»Na also, das sieht schon besser aus … Darf ich mich vorstellen? Vincent ist mein Name, und wie heißen Sie?«

»Emmy, ehm, Lady Emmy Northland, und ich rede eigentlich nicht mit fremden Herren. Daher entschuldigen Sie mich bitte, ich bin auf dem Weg nach Hause.«

»Northland ist Ihr Name!« Der gut aussehende Mann schien überrascht. »Und was machen Sie hier?«

Emmy fiel auf, wie gespannt er sie ansah, als wäre ihre Antwort für ihn wichtig. Überrascht bemerkte sie, dass er fast zornig wirkte. Seine langen braunen Haare, die ihm nun leicht ins Gesicht fielen, unterstrichen diesen Eindruck zusätzlich. Er war von großer Statur, hatte breite Schultern. Seine Kleidung fand sie elegant, man sah sofort, dass er ein Gentleman zu sein schien. Aber ganz offensichtlich war er auch recht eingebildet, wenn er glaubte, sie aushorchen zu können. Sie ärgerte sich nun, ihm ihren Namen gesagt zu haben.

»Das geht Sie gar nichts an, außerdem möchte ich nach Hause. Sie entschuldigen mich bitte.«

Emmy drehte sich um und wollte loslaufen. Denn das Einzige, was sie jetzt wollte, war, allein zu sein, und dieser Herr hinderte sie daran. Sie sehnte sich so sehr danach, sich in ihrem Zimmer zu verstecken und nur noch zu weinen.

Doch der Herr erwies sich als sehr hartnäckig.

»Nein, das geht nicht! Sie können auf keinen Fall allein gehen. Ich werde Sie begleiten.«

Emmy wollte ihn abermals wütend zurechtweisen, dass es ihn nichts angehe, als er seinen Zeigefinger auf ihre Lippen legte.

»Keine Widerrede! Entweder Sie lassen mich mit Ihnen gehen oder ich trage Sie. Sie können sich entscheiden. Ich lasse Sie gewiss nicht um diese Uhrzeit allein nach Hause gehen.«

Er blickte sie streng an, Emmy gab auf. Er hatte irgendetwas an sich, was es ihr schwer machte, sich ihm zu widersetzen. Außerdem hatte noch nie ein Gentleman sie auf diese Weise berührt. Sie spürte die Wärme seines Fingers noch auf ihren Lippen. Mit leicht geröteten Wangen drehte sie sich rasch zur Seite.

»Wenn Sie sich unbedingt aufdrängen müssen, kann ich Sie wohl nicht davon abhalten. Aber Sie gehen nicht mit hinein, ist das klar?«

»Aber natürlich, ganz klar!«

Seine Stimme klang jetzt wieder so freundlich wie am Anfang ihres Gesprächs. Er nahm ihre Hand, legte sie in seine Armbeuge, als ob es ganz selbstverständlich wäre. Auf dem kurzen Weg zu ihrem Haus sprachen sie kein Wort. Es wunderte sie, woher er wusste, wo sie wohnte, als sie die Gartentür schon erreicht hatten. Sofort zog sie ihre Hand von seinem Arm und trat einen Schritt von ihm weg.

»So, nun können Sie gehen. Bis zum Haus schaffe ich es allein. Wahrscheinlich sollte ich mich auch noch bedanken, dass Sie mich begleitet haben, aber das tue ich nicht! Auf Wiedersehen!«

Vincent lächelte.

»Nie würde ich so etwas erwarten. Auf Wiedersehen, ich freue mich schon, wenn wir uns wieder begegnen.«

Er zog seinen Hut mit einer galanten Bewegung und ging anscheinend recht vergnügt die Straße hinunter.

Emmy blickte ihm eine Zeit lang nach. Mr Vincent – oder war es sein Vorname? Ein seltsamer Mensch. Er hatte die schönsten und freundlichsten Augen, die sie jemals gesehen hatte… Sie schreckte zusammen, was war das denn für ein unmöglicher Gedanke? Frech war er gewesen und aufdringlich!

Sie schlich eilig zur Hintertür und hastete die Dienstbotentreppe hinauf.

O nein! Vor ihrer Zimmertür stand ihre Zofe Sarah und rief ihren Namen. Sarah war für die Dinge zuständig, die für Johanna zu schwer geworden waren.

»Sarah, ich bin hier. Schrei doch nicht so!«

Die Zofe drehte sich erschrocken um.

»Aber wo waren Sie denn? Ich rufe Sie schon die ganze Zeit. Ihre Mutter möchte Sie sprechen.«

Emmy bekam einen roten Kopf. Damit Sarah dies nicht merkte, sah sie zu Boden.

»Ich war im Garten. Ich brauchte dringend frische Luft.«

»Komisch, dass ich Sie da nicht gesehen habe, Miss. Denn im Garten habe ich auch gesucht«, ergänzte Sarah skeptisch.

»Ich wollte nicht gefunden werden. So ist das! Und nun hilf mir flink, meine Haare wieder in Ordnung zu bekommen, damit ich hinuntergehen kann.«

Aber zuerst muss ich zur Ruhe kommen, sagte sie zu sich selbst. Der Schock, von Rafael hintergangen worden zu sein, saß sehr tief. Doch wenn er glaubte, sie würde jetzt vor Liebeskummer dahinsiechen, da täuschte er sich. Sie drückte den Rücken durch und sah in ihr Spiegelbild.

Kein Mann wird mich jemals wieder so beherrschen. Nie wieder werde ich mich verlieben! Ja, ich werde jetzt mein Leben selbst in die Hand nehmen. Die Entscheidung ist gefallen!

Nachdem Sarah ihr geholfen hatte sich herzurichten, stand sie auf und verließ ihr Zimmer, um nach unten zu ihrer Mutter und ihrem Bruder zu gehen. Sie hörte schon die verärgerte Stimme ihrer Mutter und Philips beschwichtigende Worte. Da die Tür ein Stück geöffnet war, konnte sie beide sehen. Keiner bemerkte sie.

»Mutter, lass ihr Zeit. Sie muss sich erst einmal beruhigen. Diese Eröffnung war doch ein herber Schlag für uns. Vielleicht hättest du diesen Eheplan zuerst mit mir besprechen sollen, anstatt sie vor vollendete Tatsachen zu stellen.«

Emmy wartete im Verborgenen und horchte, was ihre Mutter darauf entgegnen würde.

»Mit dir besprechen! Das wäre ja noch schöner! Bis jetzt habe ich immer noch das Sagen. Es gibt keinen anderen Ausweg, sie muss heiraten. Unser Vermögen zu erhalten ist unsere oberste Pflicht – und steht über jedem persönlichen Gefühl.«

»Selbstverständlich kenne ich deine Haltung. Außerdem bist du natürlich unsere Mutter, aber es ist meine Aufgabe, für euch zu sorgen. Ich weiß, dass ich dies bis jetzt versäumt habe. Doch nun möchte ich meine ganze Kraft dafür verwenden, Standhurst nicht zu verlieren und hoffentlich wieder ertragreich zu machen. Und deshalb bitte ich dich, nichts mehr allein zu entscheiden, sondern nur noch mit mir zusammen.«

Aufrecht und entschlossen stand Philip vor dem großen Kamin. Diese Haltung hatte er noch nie gezeigt, dachte Lady Northland verwundert.

»Also gut, wir werden sehen, wie lange du für uns sorgst.«

Sie war anscheinend nicht überzeugt.

Verletzt wandte Philip sich ab. Sollte sie doch denken, was sie wollte. Er würde sich fortan auf diese Aufgabe konzentrieren. Fast freute er sich darauf. Bisher bestand sein Leben nur aus Trinken, Spielen und Balletttänzerinnen. Er hatte schon seit Längerem bemerkt, dass ihn dieses Leben nicht mehr ausfüllte, hatte es sich nur nicht eingestehen wollen. Nun wird er seiner Mutter eben beweisen, welche Kräfte in ihm schlummern und zu was er fähig ist.

Emmy atmete tief durch. Geräuschvoll öffnete sie die Tür ganz und betrat die Bibliothek. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihr Lauschen bemerkt werden könnte.

»Kind, wo warst du nur? Wie kannst du einfach verschwinden, wenn wir hier wichtige Dinge zu besprechen haben?«

Emmy hob den Kopf und sah ihr geradewegs in die Augen.

»Verzeih, Mutter, du kannst mir wohl kaum verübeln, für kurze Zeit allein sein zu wollen. Die Zukunft der Familie hast du, wie du zugeben musst, fast allein auf meine Schultern gelegt.«

Lady Northland sah sie erstaunt an.

»Wie redest du denn mit mir?«

Emmy überging die Bemerkung.

»Ich musste erst meine Gedanken ordnen und begreifen. Und nun habe ich eine Entscheidung getroffen. Wohlgemerkt, ich habe entschieden und nicht du.«

Sie sah von ihrer Mutter zu Philip. Der hielt ihrem Blick gebannt stand. Auch er kannte seine Schwester so nicht. Bisher hatte er angenommen, sie würde das Leben genießen, ohne viel nachzudenken. Hier zeigte sich aber eine Emmy, die plötzlich gereift zu sein schien. Sie musste diese Reife schon in sich getragen haben, ohne dass er es bemerkt hatte. Wieder wurde ihm deutlich, wie gedankenlos er als Familienoberhaupt gelebt hatte. War seine Mutter deshalb so hart geworden? Hatte sich sein Vater ähnlich gedankenlos seiner Frau gegenüber verhalten?

Zu Emmy gewandt sagte er: »Dir steht alles Recht der Welt zu, deine eigenen Entscheidungen zu treffen und dir die dafür notwendige Zeit zu nehmen. Du sagst, du hast dich entschieden? Willst du es uns jetzt mitteilen oder brauchst du noch Zeit …?«

»Wir haben keine Zeit!«, unterbrach ihn seine Mutter verärgert.

»Wenn du uns früher informiert hättest, hätten wir mehr Zeit!«, fuhr Philip seine Mutter an. »Wieso denkst du immer, du musst alles allein entscheiden? Wir sind keine Kleinkinder mehr.«

»Und wer hat sein Leben bisher genossen, ohne nachzudenken?«

Lady Northland sah ihn herausfordernd an.

»Ich bin mir meiner Schuld voll bewusst, aber du nicht deiner«, entgegnete Philip scharf.

»Hört endlich auf!«, schrie Emmy beide an.

Erschrocken blickten sie zu ihr. Kreidebleich stand sie in der Tür und sah ihre Mutter wütend an.

»Emmy!« Lady Northland schnappte nach Luft. »Was ist das für eine Art, mit seiner Mutter zu sprechen! Ich glaube doch, ich habe dir ein besseres Benehmen beigebracht.«

Emmy glaubte Verachtung in ihrem Blick zu erkennen. Plötzlich überkam sie eine große Traurigkeit. Wie oft hatte sie sich gewünscht, ihre Mutter würde sie in den Arm nehmen oder einfach nur verständnisvoll anlächeln? Niemals hatte sie sich ihr anvertrauen oder sich mit ihr über etwas freuen können. Augenblicklich wusste sie, warum. Ihre Mutter liebte sie nicht. Diese Erkenntnis ließ etwas in ihr zersplittern. Sie sehnte sich so sehr nach Liebe. Doch die würde sie hier nicht bekommen. Auch nicht von ihrem Bruder. Aber Philip hatte sie wenigstens gern.

Was hatte sie ihrer Mutter getan, dass diese sie nicht lieben konnte?

»Also, was ist? Hast du uns etwas Wichtiges zu sagen?«, forderte Lady Northland. Ungeduldig wartete sie auf eine Antwort.

»Ich werde Lord Malkham heiraten, aber nicht für dich, Mutter, sondern für mich. Weniger geliebt als hier, in diesem Haus, kann ich von meinem zukünftigen Ehemann auch nicht werden.«

Ihre Mutter sah sie streng an. »Es geht nicht um Liebe oder sonstige Träumereien, sondern um den Erhalt des Erbes. Ich freue mich aber, dass du Vernunft angenommen hast und endlich begreifst, um was es hier geht.«

»Vielen Dank, Mutter, für deine Belehrung. Ich weiß sehr genau, um was es nicht geht, nämlich mein Glück. Da ich durch die Fehlinvestitionen meines Vaters über keine Mitgift verfüge, ist meine Chance, einen Mann zu finden gleich null. Daher habe ich entschieden, dass selbst eine arrangierte Ehe besser ist, als hierzubleiben. Ich werde also deinem Wunsch gemäß Lord Malkham heiraten. Eine Bedingung stelle ich allerdings: Bis zu unserer Hochzeit möchte ich ihn nicht sehen. Ich werde morgen abreisen und meine liebe Freundin Joan besuchen. Den Tag der Vermählung könnt ihr für den 20. Mai ansetzen, meinen Geburtstag. Ich werde pünktlich zum Termin erscheinen.«

Ehe Lady Northland oder Philip ihre Stimmen erheben konnten, hatte Emmy auf dem Absatz kehrtgemacht und war aus dem Zimmer verschwunden.

Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, blieb Emmy kurz stehen. Jetzt gestattete sie sich, am ganzen Leib zu zittern. Tränen rannen ihr erneut über die Wangen. Kurzerhand schürzte sie ihre Abendgarderobe und eilte die Treppen hinauf zu ihrem Zimmer. Dort konnte sie endlich ihre Tränen fließen lassen und ihre tiefe Enttäuschung über Rafael und über ihre ungewisse Zukunft herausweinen.

Etwas später am Abend klopfte Johanna an die Tür, leise kam sie ins Zimmer und fragte Emmy, ob sie nicht hinuntergehen wolle, um etwas zu essen. Doch sie lehnte ab.

Allein die Vorstellung, eine Speise zu sich zu nehmen, gar im Beisein ihrer Mutter, bereitete Emmy Übelkeit. Sie bat Johanna, ihr beim Ausziehen des kostbaren, aber inzwischen zerknitterten Kleides zu helfen.

Dass irgendein Kummer ihren Schützling bedrückte, hatte die alte Zofe sogleich mit Betreten des Raumes bemerkt.

»Was ist los, meine Kleine?«

»Ich werde morgen verreisen und am 20. Mai heiraten.«

»Wie bitte? Was meinen Sie damit, Sie werden heiraten? Ich verstehe das nicht.«

»Liebe Johanna, mir ist klar geworden, dass du der einzige Mensch bist, der mich liebt. Vielleicht hat mich mein Bruder gern, doch meine Mutter liebt mich sicher nicht. Würde sie mich lieben, hätte sie versucht, einen anderen Ausweg zu finden. Sie denkt nur an Geld und Besitz, ich bin ihr völlig egal. Nicht einmal gefragt hat sie mich!«

»Was hat Ihre Mutter jetzt wieder angestellt?«, entrüstete sich Johanna, die nicht verstand.

»Sie hat mich an den Nächstbesten verschachert. Wir sind von heute auf morgen verschuldet, und mein zukünftiger Ehemann soll uns mit seinem Vermögen vor dem Ruin retten«, erklärte Emmy. »Morgen werde ich dieses Haus verlassen. Wirst du mich zu meiner Freundin Joan nach Oxford begleiten?«

Flehentlich blickte sie ihre Zofe an, der die Fülle an unerwarteten Informationen zusetzte und die sie für sich ordnen musste.

»Ich schaffe es nicht ohne dich. Bitte, Johanna, ich weiß, es fällt dir schwer, dich von deinem Zuhause, in dem du seit fünfzig Jahren lebst, zu trennen. Ich verspreche dir, wir kommen wieder.«

Leise setzte Emmy dazu: »Um zu heiraten. Ich werde Lord Malkham heiraten.« Mit traurigen Augen schaute sie Johanna fragend an.

Die nahm sie in die Arme und sagte in liebevollem Ton: »Ich werde immer für Sie da sein, das wissen Sie doch.« Sanft, aber bestimmt schob sie Emmy von sich, stemmte ihre Hände in die Taille und fragte mit strenger Stimme: »Das ist der Plan von Lady Northland? Hat sie vielleicht noch mehr solcher Ideen?«

»Wenn ich nicht reich heirate, sind wir ruiniert! Vater hat falsch investiert, und nun haben wir keinen Penny mehr. Jetzt soll ich die Familie retten und reich heiraten.« Emmy schnüffelte laut. »Einen Kandidaten hat sie auch schon gefunden, Lord Malkham. Keiner kennt ihn wirklich, da er zurückgezogen auf dem Land lebt.« Sie versuchte, ihrer Stimme einen hoffnungsvollen Klang zu geben. »Vielleicht habe ich Glück, und er ist nett und behandelt mich gut. Hier liebt mich ja doch keiner. Also kann es fast nicht schlimmer kommen.« Tränen rollten über Emmys Wangen.

»Von mir werden Sie geliebt, und ich glaube, ich muss mal ein ernstes Wort mit Lady Northland reden.«

Erbost wollte Johanna schon aus dem Zimmer stürzen, als Emmy sie aufhielt.

»Halt, Johanna, mach das nicht! Ich habe mich entschieden! Ich will hier weg, und die Heirat ist eine Möglichkeit. So arm, wie wir jetzt sind, wird mir nie wieder ein Antrag gemacht werden.«

Johanna wollte protestieren, doch Emmy hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten.

»Nein, lass nur, es ist wirklich besser so. Sei so gut und sag einem Diener, er soll meine Koffer vom Speicher holen, und lass uns überlegen, welche Kleider wir mitnehmen.«

»Ja, aber Ihre Freundin weiß doch gar nichts von Ihrem Wunsch, sie zu besuchen. Was ist, wenn sie nicht da ist oder bereits ein Haus voller Gäste hat?«

»Keine Sorge, erst gestern habe ich einen Brief von ihr erhalten. Sie erwartet ihr erstes Kind und ist deshalb daheim. Sie schrieb mir, sie sei froh, wenn ich die Zeit fände und sie für eine Weile besuchte. Sie langweilt sich. Das Baby wird bald kommen, und sie kann schon einige Zeit nicht mehr in die Gesellschaft gehen. Ich werde ihr sofort eine Nachricht schicken, dass wir in zwei Tagen bei ihr sind. Also, du siehst, es ist alles in Ordnung.«

Johanna konnte ihre Zweifel an dem, was sie soeben gehört hatte, nicht verbergen. Gleichwohl machte sie sich nach kurzem Zögern auf die Suche nach einem Diener, der die Koffer in Emmys Ankleidezimmer bringen sollte.

Philip sah erschrocken zu der Tür, durch die seine Schwester soeben gegangen war. Sein Blick wanderte zu Lady Northland, die ihm einen irritierten Blick zuwarf. Doch sie fing sich wieder.

»Ich bin froh, dass deine Schwester vernünftig wurde. Allerdings weiß ich nicht, wie ich diese Reise Lord Malkham beibringen soll. Er wollte morgen kommen und über die Verlobung und Hochzeit sprechen … Natürlich auch, um endlich Emmy näher kennenzulernen. Wie soll ich ihm das nur erklären …?«

Gänzlich in diesen Gedanken versunken, saß Lady Northland ihm gegenüber und schien ihren Sohn vergessen zu haben.

Philip wiederum betrachtete sie und ging seinen eigenen Gedanken nach. Er hatte seiner Mutter gegenüber noch nie Zuneigung empfunden. Bis jetzt auch noch nie über seine Gefühle ihr gegenüber nachgedacht. Doch in diesem Moment wurde ihm bewusst, wie gleichgültig sie ihm war. Diese Erkenntnis erschrak ihn. Philip empfand seine Gleichgültigkeit schlimmer als die Lieblosigkeit zwischen ihnen. Wie sehr wünschte er sich jetzt eine Mutter, die er fragen konnte, mit der er sich beraten konnte und die ihm beistand.

Schon als kleiner Junge war er lieber zu seinem Vater gegangen, wenn ihn etwas bedrückte. Bei ihm bekam er zwar keine väterliche Zuneigung in Form von Zärtlichkeiten. Aber sein Vater hörte ihm wenigstens zu und gab ihm einen Rat, wie er zum Beispiel seinen Lehrer wieder freundlich stimmen konnte, nachdem er ihm einfach weggelaufen war, um heimlich mit einem der Stallknechte zum Fischen zu gehen. Damals war sein Vater viel zugänglicher gewesen. Erst später war er immer strenger und unnachgiebiger geworden.

Was war nur geschehen? Was brachte es ihm, jetzt darüber nachzudenken? Er musste sich um die Zukunft der Familie kümmern.

Seinen Vater hatte er immer als einen besonnenen und tüchtigen Geschäftsmann eingeschätzt, weshalb er sich nicht vorstellen konnte, dass er sein Vermögen riskierte und sein Geld für gewagte Aktionen einsetzte. Vorerst wollte er nicht weiter mit seiner Mutter darüber reden. Er würde mit Jake reden. Mit ihm verband ihn eine lange, enge Freundschaft. Ihm konnte er sich anvertrauen, und vielleicht wusste sein Freund, wo er anfangen sollte, Licht in diese dubiose Angelegenheit zu bringen.

Emmy saß gedankenverloren vor ihrem Spiegel. Was würde die Zukunft bringen? Würde sie glücklich sein? Nun ja, vielleicht nicht glücklich, aber wenigstens zufrieden …? Wer war ihr Zukünftiger? Anscheinend schon ein älterer Herr, vielleicht hatte er sogar Kinder. War er nett oder einer von den Männern, die ihre Frauen schlugen? Das war nicht verboten. Ein Ehemann konnte seine Frau behandeln, wie er das für richtig hielt. Er musste niemandem Rechenschaft dafür abliefern. Manche Männer erlaubten ihren Frauen nicht einmal das Lesen! Und viele waren absolut dagegen, einer Frau Bildung zukommen zu lassen. Hoffentlich war Lord Malkham nicht so ein verknöcherter Mann … Und lebte er tatsächlich immerzu auf dem Land? Sie liebte das Leben auf dem Land, doch ihr gefiel auch das Stadtleben. Sie besuchte gerne die Oper oder Kunstausstellungen und verbrachte liebend gern viel Zeit in Buchhandlungen.

Ihr wurde das Herz schwer. Innerhalb eines Tages hatte sich ihr ganzes Leben verwandelt: vom glücklichen Tanzen und Träumen am Morgen bis zur Verzweiflung am Abend.

Emmy blickte in den Spiegel und erschrak. Ich sehe aus wie die Verzweiflung in Person.

Schluss jetzt! Ich habe mich für diesen Weg entschieden und werde ihn gehen. Ich bin stark und werde mich gegen meinen zukünftigen Mann schon durchsetzen. So, und jetzt suche ich meine Kleider aus!

Sie stand auf, öffnete ihren Schrank, der randvoll mit Abendkleidern, Tageskleidern und vielem mehr gefüllt war. Sie suchte sich verschiedene Tageskleider aus, nahm ihr Reitkleid und zwei Kleider für den Abend. Das musste reichen. Den Rest konnte Johanna für sie heraussuchen. Jetzt wollte sie einfach nur noch schlafen. Sie hatte heute so viele Entscheidungen getroffen, ihr schwirrte der Kopf. Ihre Gedanken schweiften ab zu Rafael. Traurig wurde ihr bewusst: Ich werde heiraten, aber nicht Rafael!

Wieder stiegen Tränen auf. Wie hatte sie sich so täuschen können? Sie hätte geschworen, dass Rafael sie heiraten wollte. Doch die harte Wahrheit sprach eine andere Sprache. Er hatte sich nur mit ihr amüsiert! Diese Erkenntnis verletzte sie so sehr, dass der Kummer dieses Tages sie überwältigte. Sie ließ sich auf das Bett fallen und begann ungebremst zu weinen. Sie hatte das Gefühl, dass der Tränenfluss nie mehr aufhörte, und sie es auch gar nicht wollte. Doch irgendwann versiegte er doch.

Leises Klopfen an der Tür ließ sie aufhorchen. Augenblicklich setzte sie sich auf und trocknete ihr tränennasses Gesicht. Vielleicht ist es Mutter, die sie trösten wollte. Erwartungsvoll bat Emmy den Besucher hereinzukommen. Die Tür wurde geöffnet und ihr Bruder sah zu ihr herein.

»Darf ich eintreten? Ich habe dich weinen hören und wollte dich daher fragen, ob ich helfen kann.«

»Ja, bitte komm herein«, erlaubte sie ihm mit rot verweinten Augen. »Verzeih, ich bin etwas durcheinander. Es war ein ereignisreicher Abend.«

Ihre Augen und Nase waren gerötet und vom Weinen verschwollen.

»Es tut mir leid.« Schuldbewusst erwiderte er ihren Blick.

»Sei mir bitte nicht böse. Es ist mir heute erst bewusst geworden, dass ich mich früher um alles hätte kümmern müssen. Ich wollte doch einfach nur das Leben genießen, keine Erwartungen mehr erfüllen, sondern ich selbst sein. Solange Vater lebte, war es mir kaum möglich. Nichts durfte ich tun, immer nur zu Hause sein. Nicht einmal in unseren Besitz einarbeiten durfte ich mich. Jetzt weiß ich natürlich auch, warum.«

Bitter setzte er nach einer Pause hinzu: »Er wollte nicht, dass ich sehe, wie viele Schulden er schon aufgebaut hatte. Warum hat er sich nicht helfen lassen? Ich verstehe es einfach nicht.« Ratlosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Vielleicht wollte er dich schützen. Er dachte vielleicht, dass er es noch schaffen könnte, ohne dich damit zu belasten.«

»Ja, das kann sein!« Philip lächelte erleichtert. »Ich möchte Vater nicht hassen. Hoffentlich siehst du das nicht als Schwäche von mir.« Vorsichtig sah er Emmy an und suchte nach Verständnis in ihrem Gesicht.

»Nein, ich verstehe dich. Trotz allem hast du Vater geliebt, das weiß ich.«

Dankbar und erleichtert nahm er sie kurz in die Arme.

»So, nun will ich dich nicht weiter stören. Du fährst also morgen zu Joan? Bestelle ihr meine besten Grüße. Du weißt, ich habe sie immer sehr gemocht.«

»Das werde ich. Es wird mir guttun, bei ihr zu sein. Das verstehst du doch?«

»Ja, ich verstehe dich. Versuche du, auch Mutter ein wenig zu verstehen. Sie ist halt so, wie sie ist.«

»Ja, sie ist halt so!«, wiederholte Emmy leise.

»Gute Nacht, wir sehen uns im Mai wieder.«

Philip öffnete die Tür und hätte fast Johanna, die davorstand, umgerannt.

»Also, Master Philip, was ist denn das für ein Benehmen!«, empörte sich Johanna.

Doch Philip lachte nur, nahm sie kurz in die Arme und verschwand leichten Schrittes.

»Hat er sich ein gutes Gewissen bei Ihnen abgeholt?« Noch immer aufgebracht, sah sie zur mittlerweile geschlossenen Tür, als ob er noch da draußen stünde.

»Ach Johanna, er hat wenigstens nach mir geschaut! Aber nun Schluss damit. Ich bin müde und gehe jetzt zu Bett. Meinst du, wir können gleich nach dem Frühstück aufbrechen?« Zutiefst erschöpft von dem Erlebten, suchte sie ihr Gähnen zu unterdrücken und sah Johanna fragend an.

»Kein Problem, die Koffer stehen im Umkleidezimmer nebenan. George weiß Bescheid, dass wir morgen verreisen, und hat die Kutsche schon kontrolliert. Packen werde ich, während Sie frühstücken. Und Sie kuscheln sich in Ihre Decken. Schlaf ist das, was Sie jetzt brauchen.«

Sie half ihr aus dem Kleid und zog ihr das Nachthemd über.

»Setzen Sie sich hier vor den Spiegel, dann nehmen wir noch die Nadeln aus Ihrem Haar, und schon sind Sie fertig für heute.«

Dankbar nahm Emmy Johannas Hilfe an. Nachdem das Haar gekämmt war und sie sich notdürftig Hände, Gesicht und Hals gewaschen hatte, ging sie zu Bett.

Während Johanna leise die Kleider sortierte und ein wenig aufräumte, war Emmy binnen Sekunden erschöpft eingeschlafen.

Die Kinderfrau sah sie bekümmert an. Heute Morgen noch ein glückliches Kind und jetzt eine unter massivem Druck gereifte junge Frau.

Leise ging sie aus dem Zimmer, verschloss sie die Tür hinter sich, um endlich auch in den wohlverdienten Schlaf zu finden.

Emmy findet ihr Glück

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