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PROLOG | Kaschmir, Indien, 4 Jahre alt
ОглавлениеMein erstes Nahtoderlebnis habe ich mit vier Jahren. Mein Dad sitzt am Lenkrad, als plötzlich die Bremsen versagen und wir den Himalaja hinunterstürzen.
Ich sitze entspannt auf der Rückbank, hoch über den Wolken, und betrachte die glänzenden Knöpfe meiner hellroten Latzhose. Latzhosen werden völlig unterschätzt, wie ich finde. Je nachdem wie man gerade drauf ist, braucht man nicht mal ein T-Shirt drunter. Man zieht sie einfach hoch, hakt die Träger ein, und schon kanns losgehen.
Als ich einen Blick nach draußen werfe, bemerke ich, dass die Landschaft in enormem Tempo vorbeirast. Links von mir sitzt meine Schwester Chiara mit offenem Mund, hinter ihr sind die steilen, dunklen und Furcht einflößenden Felshänge zu sehen. Rechts von mir, hinter meinem Bruder Frank, der den Kiefer zusammenpresst, ist, wo die schmale Straße jäh ins Nichts abfällt, nur weiter blauer Himmel.
Vor uns sitzen unsere Erzeuger.
Ich lehne mich vor, um an ihrem Gesichtsausdruck abzulesen, wie beunruhigt ich sein sollte. Mom hat zur Abwechslung den Gurt angelegt, und an Dads gebräunten Händen am Lenkrad treten die Knöchel weiß hervor. Ein altes Auto kommt uns entgegen und hupt, als Dad dicht am Abgrund entlangkurvt und in letzter Sekunde einen Zusammenstoß verhindert.
Vor uns taucht eine unübersichtliche Kurve auf. Ich höre, wie Dad auf die Bremsen steigt und ein beunruhigendes Quietschen unter dem Fahrgestell unseres Autos ertönt. Im nächsten Moment werde ich seitlich auf Chiara geschleudert, die mich fest in ihren Schoß drückt, während Frank meine wild um sich tretenden Beine packt und meinen Knöchel zu fassen bekommt. Einen Moment lang greifen die Reifen wieder, und wir werden langsamer. Ich spüre, wie sich Chiaras Muskeln entspannen, da schießt der Wagen plötzlich nach vorn, die Bremsen versagen, und wir rasen bergabwärts und bekommen gefährlich Schwung.
»Da! Da ist es flach!«, schreit Mom. Es muss echt ernst sein, denn sonst gibt sie nie Anweisungen, wenn Dad fährt. Als wir von der asphaltierten Straße abkommen und unkontrolliert auf Felsen aufprallen, wirft sich Frank schützend auf mich. Mit einem metallischen Quietschen schert unser Auto seitwärts aus, bleibt in einem Loch stecken und kommt dankenswerterweise abrupt zum Halten.
Nachdem Chiara ihren Schraubstockgriff gelockert hat, setze ich mich auf und huste von all dem aufgewirbelten Staub, der durch das offene Fenster hereinweht. Wir sind mitten in einem kleinen Dorf gelandet, wo wir beinahe die Wäscheleinen mit der zum Trocknen aufgehängten Wäsche platt gewälzt hätten. Um uns herum hellbraune Erde, ein paar Holzhütten und Hühner, die vor lauter Schreck über unser unverhofftes Auftauchen pock-pocken. Den Hühnerstall kann ich bis hierher riechen. Eine Ziege, die an einem Pflock vor einem Gebäude mit einem schiefen rot-weißen Coca-Cola-Schild angebunden steht, blinzelt heftig und ist sichtlich ebenso perplex wie wir.
Das abblätternde Schild, das uns mit »Drink Coca-Cola!« zum Trinken auffordert, ist der einzige Farbklecks in der Landschaft. Hier oben auf dem Dach der Welt wirkt es genauso fehl am Platz wie wir.
Nachdem Mom sich vergewissert hat, dass wir noch leben, verlassen wir fluchtartig das Unfallauto und atmen gierig die dünne, herrlich klare Luft ein. Aus einem der Häuser kommt ein Junge von ungefähr 16 Jahren – so alt wie Chiara – barfuß über den Schotter herbei, gefolgt von einem älteren Mann.
Ich streiche meine zerknitterte Latzhose glatt: Im Leben zählt schließlich der erste Eindruck.
Das Erste, was mir an den beiden – vermutlich Vater und Sohn – wie bei allen Leuten in Kaschmir auffällt, sind ihre bemerkenswert leuchtenden hellbraunen Augen. Mom meint, das käme daher, weil sie keine Videospiele spielen und nicht fernsehen. Uns ist das ebenfalls untersagt, bis auf die gelegentliche Kontrolle der aktuellen Goldpreise auf CNN. Zeichentrickfilme kenne ich vom Hörensagen, gesehen habe ich noch nie welche.
Gestikulierend bedeuten uns Vater und Sohn, der Junge könne unser Auto reparieren. Schon läuft dieser in die Hütte und kehrt mit Werkzeug und einer Rolle Draht zurück.
»Ist das etwa Hühnerdraht, den er da in der Hand hat?«, fragt Mom nervös. Unsere Blicke wandern zwischen dem Hühnerstall, wo noch immer flatternde Aufregung herrscht, und dem Hühnerdraht am Straßenrand hin und her.
»Ja …«, sagt mein Vater. »Ja, ist es.«
Der hagere Junge schlüpft unter unser Auto, und eine Stunde später läuft es wieder wie geschmiert. Von einer Bezahlung wollen sie nichts wissen, doch Dad gelingt es, ein kleines Bündel Scheine in die offene Werkzeugkiste zu stecken, bevor wir unseren Freilandhaltungsmotor wieder zum Leben erwecken. Um sicherzugehen, dass unsere Bremsen auf dem Weg bergab halten, fährt uns der Junge ein paar Kilometer lang auf seinem zerbeulten Moped hinterher, sein schepperndes Werkzeug und den Hühnerdraht auf dem Gepäckträger, für alle Fälle. Als wir ohne Vorkommnisse auf dem nächsten Plateau ankommen, hält er mit dem Moped an, die nackten Füße zu beiden Seiten aufgestellt, und wir winken uns überschwänglich zu, bis sein strahlendes Lächeln in der Ferne immer kleiner wird.
»Na, das nenne ich mal Kundenservice«, freut sich Dad.
Weiter unterhalb am Berg halten wir am Straßenrand, packen unsere Chapatis und Bananen aus und feiern, dass wir noch am Leben sind. Als strikte Vegetarier, Anhänger gesunder Ernährung und Dauerreisende wissen wir, dass es nichts Besseres gibt als ein paar feine Bananen. Wir, die sommersprossigen Kinder mit den wilden langen Haaren, sitzen im staubigen Kofferraum unseres Autos. Wir sind Sikhs, waren es schon lange, bevor ich geboren wurde, und sich niemals die Haare zu schneiden, gehört zu unserer heiligen Tradition. Wie selbstverständlich rezitieren wir das kurze Tischgebet auf Punjabi, das wir immer vor dem Essen aufsagen. Frank und ich rasseln es herunter, was Chiara mit einem Schmollmund quittiert.
Kurz darauf rast ein rostiger grauer Wagen, in Schieflage aufgrund der zusätzlichen Passagiere oben auf dem Dach, an uns vorbei, und alle Köpfe drehen sich nach uns um. Westliche Touristen verirren sich nie in diese Gegend, und wir müssen ein ziemlich wirres Bild abgeben. Auf den Vordersitzen die Eltern, Türen sperrangelweit offen, hinten die drei Kinder. Eine ganz normale Sikh-Familie. Nur dass der Vater ein breitschultriger, 1,80 großer Wikinger mit tiefgebräuntem Gesicht ist, mit einem wilden rotblonden Wuschelkopf und einem Bart, der ihm bis auf die Brust reicht; neben ihm sitzt meine Mutter, die schlanken Beine in einer eng anliegenden schwarzen Hose überkreuzt, mit ihrem anmutigen Profil und ihren großen blauen Augen, und teilt sich mit ihm eine Tasse Tee aus der Thermoskanne. Dahinter lümmeln zwei dunkelhaarige Teenager – der frappierend gut aussehende Frank und Chiara, die die Stirn runzelt, als ob sie wüsste, dass sie immer in seinem Schatten stehen wird; und dann völlig unerwartet – ich, das deutlich jüngere Kind. Die Vierjährige, lächelnd in ihrer hellroten Latzhose, gleichsam die blonde, kleinere Ausgabe ihres Vaters, die auf den Namen Harbhajan Khalsa Nanak hört.
Mir persönlich gefällt es, wenn wir alle Blicke auf uns ziehen.
»Harbhajan, isst du das noch?«, fragt Frank und greift nach dem Rest von meinem Chapati. Ich kaue gerade genüsslich an meinem Brot, das Gesicht zur leuchtend orangen Spätnachmittagssonne gestreckt. Es liegt eine herrliche Stille in der milden Luft, wie sie nur fernab von Städten und der Zivilisation zu finden ist. Schlagartig hellwach schlinge ich die Arme abwehrend um mein Brot und drücke es an meine Brust.
»Lass sie zu Ende essen.« Mit der Autorität einer zwei Jahre älteren Schwester knufft Chiara ihn in die Schulter.
»Halt die Klappe.« Er weicht ihr aus und verschlingt eine halbe Banane. Seit er 14 ist, isst mein Bruder wie ein Scheunendrescher, wächst aber nur in die Höhe. Darin unterscheidet er sich, wie in vielem anderen, grundsätzlich von meiner Schwester. Was er ihr gern mit einem einzigen Blick zu verstehen gibt.
Mein Chapati und ich rutschen von der Rückbank herunter und verziehen uns zu Dad, der vor der aufgeklappten Motorhaube steht und hineinschaut.
»Bhajan! Du kommst genau richtig! Komm her, ich zeig dir, wie ein Motor funktioniert!«
Er beugt sich zu mir herunter und hebt mich hoch, wobei mich seine Bartspitzen an der Wange kitzeln. Mich überkommen zwei widerstrebende Gefühle: die Freude, in seinen starken Armen geborgen zu sein, und die Furcht, dass diese Lehrstunde länger dauern könnte. »Weißt du noch, was ich dir das letzte Mal über den Verbrenner erzählt habe?«
Hektisch krame ich in meiner Erinnerung, finde aber nichts.
»Schauen wir uns mal die Kolben an. Die Kolben drücken das Benzin-Luft-Gemisch im Zylinder quasi zusammen und verdichten es …« Er hält inne, um mich auf dem Boden abzusetzen, und zieht mit sichtlich wachsender Begeisterung die Thermoskanne als Anschauungsobjekt heran. Ich versuche, mir so viel wie möglich zu merken, da ich weiß, dass er mich demnächst dazu abfragen wird. Diese unangekündigten mündlichen Tests können jederzeit stattfinden: nach einer morgendlichen Kundalini-Yoga-Session mit der ganzen Familie, während wir Ghee im Supermarkt kaufen oder vor unserer wöchentlichen halbstündigen Meditation. Wir Kinder werden im Homeschooling unterrichtet, da Dad Bildungseinrichtungen für Brutstätten für Regierungspropaganda und verbohrte Bürokraten hält. Stattdessen lernen wir wie nebenbei.
»Eine Runde Geografie!« hatte er erst heute kurz vor Tagesanbruch dröhnend verkündet. Benommen von der Höhe hatten wir alle auf einem vernebelten Plateau gestanden und uns gewünscht, er würde sich für seine Expeditionen eine andere Tageszeit aussuchen. Mit müde hängenden Schultern starrte ich auf etwas, das aussah wie ein paar Wolken.
Die Sonne ging langsam auf und wärmte meine nackten Arme. Als sich der Nebel lichtete, tat sich plötzlich überall rings um uns der Himmel auf. Der Tag brach an, und vor uns lag ein einzigartiger, überwältigender Ausblick auf den majestätischen Himalaja. »Da drüben liegt Pakistan und da China.« Dad deutete auf den Horizont unter uns, wo die beiden Länder an Kaschmir grenzten. Er kniete sich neben mich, während ich ehrfürchtig den Anblick genoss. »Das ist die Welt, Harbhajan«, flüsterte er mir ins Ohr. »Sie liegt dir zu Füßen.«
Und wirklich, wie ich so neben ihm stand, hatte ich das Gefühl, ich könnte meine Hand durch die klare Morgenluft ausstrecken und die Welt berühren.
»Also, was machen Kolben?« An seine Brust gepresst, esse ich mein Chapati zu Ende und kehre in die Realität zurück.
»Benzin und Luft zusammendrücken.«
»Bravo! Fahren wir weiter.« Röchelnd und stotternd läuft der Wagen an, und schon sind wir wieder unterwegs nach Srinagar.
Während die Nacht über uns hereinbricht, rast ein offener Armeejeep an uns vorbei, auf dessen Ladefläche finster dreinblickende Soldaten mit Gewehren in Zweierreihen sitzen. Kaschmir wurde erst jüngst wieder für Touristen geöffnet, nachdem sich Indien und Pakistan jahrelang blutige Gefechte an der Grenze geliefert hatten.
Mom sieht alarmiert aus und spricht davon umzukehren, aber Dad meint, wir säßen bereits im Schlamassel und es gäbe nur zwei Optionen: Entweder wir verbringen den Rest unseres Lebens hier am Straßenrand und züchten – mit unserem bisschen Hühnerdraht – Hühner oder wir versuchen weiterzukommen. »Also, Kameraden, wie lautet der Plan?«
»Weiter!«, rufen wir drei im Chor von der Rückbank.
Die warme, erdige Luft weht durchs offene Fenster herein, während wir durch die Nacht fahren. Die Beine quer über Franks Schoß gelegt, lullt mich der rumpelnde Wagen in meinen üblichen komaartigen Tiefschlaf, während wir auf Kaschmirs Hauptstadt zuhalten.
Schlagartig wache ich auf, als jemand seine Fingernägel in meinen Arm gräbt. Irritiert vom barschen Klang fremder Stimmen, die in einem lokalen Dialekt sprechen, schrecke ich schlaftrunken hoch. »Was ist denn lo…« Chiara und Frank bringen mich mit einem »Pssst« zum Verstummen und verleihen ihrer Aufforderung mit einem Klaps auf meine Schultern Nachdruck. Wir haben gehalten, und nun sehe ich im Scheinwerferlicht, wie zwei Männer mit langen Gewehren in den Händen unser Auto umrunden. Aus der Dunkelheit taucht ein weiterer Mann auf und beugt sich hinab, um mit meinem Dad durchs Fenster auf der Fahrerseite zu sprechen. Die Straße liegt verlassen da. Mein Herz hämmert, als dicke Regentropfen herabfallen und der Staub auf der Windschutzscheibe davonspritzt.
Der durchdringende Lichtkegel einer Taschenlampe schwenkt über die Rückbank und lässt mich blinzeln, als er kurz auf jedem unserer Gesichter ruht. In nächster Nähe nehmen zwei blutjunge Soldaten in identischen Kakiuniformen die Gewehre in Anschlag und richten sie auf unsere Köpfe. Der Mann, der mit Dad spricht, wird lauter, als ob uns das helfen würde, Kaschmiri zu verstehen, und bedeutet ihm auszusteigen. Dad macht keine Anstalten, den Türgriff zu betätigen. Eine unserer Regeln besagt, dass wir uns niemals trennen. Dass wir immer, wirklich immer zusammenbleiben.
Der Soldat wird ungehaltener. Einer der anderen kommt nun herum zu Moms Seite und richtet beim Laufen das Gewehr auf sie. Mein Magen krampft sich zusammen, und meine Finger bohren sich in das rissige Leder der Rückbank. Der Soldat neben Dad hat begonnen, ihn anzuschreien, und greift nach dem Türgriff. Mom hält den Atem an.
Still und heimlich legt Dad einen anderen Gang ein.
Was tut er da?
Langsam rollen wir vorwärts. Der Soldat brüllt etwas, doch Dad nickt und lächelt nur, als würde er zustimmen. Mit einem letzten Touristenwinken und einem »Thanks« schaltet er einen Gang höher. Hinter uns herrscht einen Moment lang irritierte Stille, als wir davonpreschen. Ich rappele mich hoch und spähe durchs Rückfenster, auf das der Regen wie ein Kugelhagel prasselt.
»Runter!«, bellt Dad. Schon werde ich zu Boden gerissen, wo mich Chiara und Frank mit ihren Körpern abschirmen. Jemand rammt mir ein Knie in die Rippen. Ich versuche, mit den Ellenbogen gegenzuhalten, und werde ordentlich durchgeschüttelt, als der Wagen rasch an Tempo zulegt. Schneller, immer schneller … und wir sind auf und davon.
Endlich darf ich wieder hoch. Wir alle spähen nervös durchs Rückfenster und erwarten, unter Beschuss zu geraten oder einen Jeep voller Soldaten, die uns wütend hinterherschreien. Doch die Straße hinter uns bleibt leer. »Heilige Scheiße, das war knapp.« Dads Stimme ist nur ein Flüstern.
Zum Glück haben wir das Tempo etwas gedrosselt, als wir den Typ auf dem Fahrrad anfahren.
Wie aus dem Nichts taucht er, der nachts auf der unbeleuchteten Straße radelt, direkt vor uns im Scheinwerferlicht auf. Schockiert dreht sich der Mann zu uns um. Einen Moment lang scheint die Zeit stillzustehen.
Erneut bewahren mich meine Geschwister davor, durch die Windschutzscheibe zu fliegen, als mein Dad abrupt auf die Bremsen tritt. Es ertönt ein dumpfes Tonk, als unser Auto sein Hinterrad trifft und der Radfahrer in langem Bogen nach vorn fliegt. Ich gebe ein panisches Stöhnen von mir, während Dad das Auto zum Stehen bringt. Der Mann liegt hinter uns, die Arme zur Seite ausgestreckt.
Still vor Entsetzen starren wir nach hinten.
Aber warte … er bewegt sich! Vorsichtig setzt er sich auf und reibt sich das Bein. Dann rappelt er sich hoch und streckt sich, während unser Auto vorwärts fährt und der Mann im Rückspiegel immer kleiner wird.
»Warte! Wir können doch nicht einfach …«, protestiert Mom.
»Was, wenn die Soldaten hinter uns her sind«, schreit Dad, dessen Halsschlagader bedrohlich hervortritt. »Das hier ist kein Spiel!«
Auf der Rückbank rutsche ich tiefer in den Sitz und mache mich zu einer kleinstmöglichen Zielscheibe.
Wie auch immer. Srinagar ist ziemlich verwaist, als wir im Morgengrauen auf der Suche nach einem Hotel über den leeren Marktplatz fahren. Ich schmolle, weil meine älteren Geschwister mich angewiesen haben, die Klappe zu halten, nachdem ich mich wiederholt nach dem Zustand und den Genesungschancen des Radfahrers erkundigt habe.
Als wir an der Einfahrt zu einer schmalen Straße vorbeifahren, gerät ein großes, erstaunlich elegantes Hotel in unser Blickfeld, das teilweise von Bäumen verdeckt ist. Niemand von uns sagt etwas, als Dad daran vorbeifährt, ohne es zu bemerken. In seiner jetzigen Stimmung, so gereizt und erschöpft, wie er ist, reicht schon der geringste Anlass, damit er herumschreit. Wir sagen nichts, als Dad den gleichen Weg wieder zurückfährt. Nachdem er auch beim zweiten Mal das Hotel übersieht, wirft mir Frank einen warnenden Blick zu. Bei der dritten Runde sehen mich Chiara und Frank flehend an, und ich weiß, was zu tun ist.
»Daddy!« Unbekümmert deute ich auf das Hotel. »Was ist das für ein großes Haus da?«
Von Nahem macht das Hotel einen heruntergekommenen, überwucherten Eindruck, als hätte man es sich selbst überlassen, nachdem alle Menschen umgekommen sind. »Ich glaube nicht, dass da irgendjemand ist«, bemerkt Dad, nachdem wir ausgestiegen sind und uns in der gespenstischen Stille die Beine vertreten.
Da tauchen aus dem Morgennebel zwei Männer und eine hübsche füllige Frau auf und geleiten uns eilig in die Lobby, die ohne jegliches Mobiliar mit ihrem Marmorboden und den hohen Decken kahl wirkt. Einige Fenster sind mit Brettern verrammelt, und ein paar große breitschultrige Männer, bewaffnete Soldaten, streifen umher. Alle Augen sind auf uns gerichtet – ich wette, das Letzte, womit sie gerechnet haben, ist eine fünfköpfige Familie, halb blond, halb dunkelhaarig, die gerade aus einem Kriegsgebiet kommt.
Ich höre, wie uns Dad unter einem anderen Namen eincheckt als beim letzten Mal. Seine Lieblingsdecknamen sind Cash, Sterling und Gold. Niemals dürfen wir den Namen angeben, der in unseren fünf blauen Pässen steht, die Dad jederzeit am Körper trägt. Ich weiß, dass wir das machen, um keine Spuren zu hinterlassen, auch wenn ich nicht so recht verstehe, warum das so wichtig ist. Es ist mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich es nicht hinterfrage. Genauso wie ich weiß, dass ich schön die Klappe halte, sobald sich Beamte der Einwanderungsbehörden, Grenzschutzbeamte oder Personen, die entfernt an Cops erinnern, in der Nähe befinden. Ich kenne die Gesetze meines Vaters auswendig, denn sie bilden unsere Glaubensgrundsätze: Sei immer loyal deiner Familie gegenüber – deine Familie verrät dich niemals. Traue niemandem – Blut ist dicker als Wasser. Sei ein Verbrecher – aber ein edler Verbrecher.
Dies sind die Regeln, nach denen wir leben. Der unumstößliche Kodex der Gesetzlosen.
Es gibt nicht viel, was man unternehmen könnte in der Woche, die wir in Srinagar verbringen, damit sich Dad am leeren Pool erholen kann, doch davon lassen wir uns nicht abhalten. Zu dritt ziehen Frank, Chiara und ich morgens los, wenn der Markt öffnet, und kaufen haufenweise Bananen, um sie mit unseren neuen Kumpels, den Soldaten, zu teilen. Zusammen hocken wir uns auf den heißen Betonboden rund um den Swimmingpool und spielen mit zweien von ihnen Karten. Sie sprechen zwar kein Englisch, aber das ist bei Schnippschnapp völlig egal. Ich liege weit vorn, weil die beiden Soldaten befürchten, meiner kleinen Hand wehzutun, wenn wir passende Karten gleichzeitig auf den Stapel klatschen. Frank und Chiara haben da keinerlei Skrupel. Mom, die gut gebräunt und hinreißend aussieht mit ihrem breitkrempigen Hut, kommt aus dem Hotel, um nach uns zu sehen, seufzt nur und geht wieder hinein. Sie macht sich immer Sorgen, wenn wir zu viel Zeit mit Militärs, Tunichtguten oder der japanischen Mafia verbringen. Aber mit wem sollen wir sonst abhängen?
Chiara deutet auf einen bunten Vogel, und wir beobachten, wie er in der flimmernden Hitze umherfliegt, ehe wir uns wieder den Karten zuwenden. Doch irgendetwas stimmt nicht … mein Stapel ist mit einem Mal kleiner. Ich höre auf zu spielen und runzle die Stirn, Frank beäugt skeptisch die beiden Soldaten. Doch die schauen zu Chiara.
»Hast du Bhajans Karten genommen?«, fragt Frank ungläubig.
Chiara fummelt nervös an ihren Karten herum. Keiner rührt sich. Einer der älteren Männer hebt ein paar Karten von seinem Stapel und reicht sie mir ruhig.
»Du hast ihm Bhajans Karten gegeben?« Frank läuft rot an.
Verdattert starre ich meine Schwester an. Die meisten Leute schummeln, um zu gewinnen, aber sie hat mich grundlos beklaut.
»Bhajan, es tut mir leid, ich … ich wollte dir nur zeigen, dass du nicht immer die Beste in allem sein kannst.«
Die Vögel segeln über unsere Köpfe hinweg und werfen dunkle Schatten auf den Beton, doch diesmal sieht niemand hin.
Am Abend findet Frank ein kleines Nähset inmitten unserer Berge von Gepäck und ruft mich herbei, damit wir die Fersen unserer Füße aneinandernähen können. Ich bin mir unsicher, ob das wirklich zu empfehlen ist, doch er beruhigt mich: »Vertrau mir.« Erstaunlicherweise tut die Nadel gar nicht weh, als sie meine Hornhaut durchbohrt. Direkt unter der Haut ist der rote Faden sichtbar, der zwischen meinem rechten und seinem linken Fuß hin- und herwandert.
»Na, bravo.« Chiara schaut von ihrem Buch hoch. »Jetzt seid ihr beide wirklich siamesische Zwillinge.«
»Der Trottel da drüben ist nur neidisch«, sagt Frank grinsend, und wir liegen kichernd am Boden.
»Du hältst dich für besonders cool, nur weil dich die Leute mögen«, entgegnet Chiara in jenem spöttischen Tonfall, der Frank vorbehalten ist. Beide blicken sich geradewegs in die Augen, und es liegt die vertraute Spannung in der Luft, wenn sich ein Streit zwischen ihnen anbahnt. Chiara steht vom Bett auf. »Aber tief im Innern bist du nur ein kleines Mädchen, Frank. Ein schwaches, kleines Mädchen.«
Blitzschnell hat er die Fäden zwischen unseren Füßen gekappt und ist aufgesprungen. Er mag zwei Jahre jünger sein als sie, aber er ist schon jetzt einen Kopf größer. Schnell krabble ich aus dem Weg. Wie immer, wenn sie sich streiten, entwickelt sich eine eigene Dynamik, und es wird mit Worten um sich geworfen wie mit Messern. »Du willst mir eine reinhauen? Na los doch, Frank! Ich wette, das kriegst du eh nicht hin!«
Ich klettere auf den Fenstersims, während mein Bruder die Fäuste ballt und sich seine großen braunen Augen, die sonst sanft blicken, verdunkeln. Chiara macht einen Schritt zurück Richtung Wand, ein Funkeln in den Augen. Die beiden sind so unterschiedlich, schon allein wie sie dastehen. Er, aufrecht und felsenfest. Sie, ausweichend und rastlos. Sie sucht sein Gesicht ab, den markanten Kiefer, das unnachgiebige Kinn, versucht, ihn einzuschätzen …
Chiara macht einen Schritt von der Wand weg, und ihr nichtssagendes Gesicht wird mit einem Mal noch hässlicher. »Kleines Miststück.« Sie schleudert die Worte heraus, als wollte sie ihn herausfordern.
»Ich hasse dich!«, knurrt er zähneknirschend und stürzt sich auf sie, die Faust zum Schlag ausgeholt. In der Sekunde, da sie es bemerkt, lässt sie sich zu Boden fallen, doch Frank kann nicht mehr zurück und rammt seine Faust mit voller Wucht durch die Wand. Es folgt ein Moment unerträglicher Stille. Chiara auf dem Boden, ich auf dem Fenstersims und Frank mit dem halben Arm im Putz. »Ahhh!« Er zieht die Hand heraus, von der das Blut auf den dunklen Teppich tropft.
Seit ich denken kann, läuft es so. Ich kenne Chiara schon mein ganzes Leben lang und habe einen Großteil davon ein Zimmer mit ihr geteilt, aber nicht mal ich bin mir sicher, wer sie eigentlich ist. Ihre Persönlichkeit ist wie Quecksilber, das sich stets den äußeren Umständen anpasst, nie eine eigene Form annimmt. Aus Erzählungen weiß ich, dass sie einmal versucht hat, Frank von einem Balkon im fünften Stock zu stoßen, als dieser drei war, und dass sie ihn am Tag seiner Geburt ins Gesicht geschlagen hat. Diese beiden werden sich auf Jahre einen hartnäckigen Machtkampf liefern.
Frank blutet noch immer auf den Teppich, als Mom aus dem Nachbarzimmer hereinstürmt. Mit einem Blick macht sie sich ein Bild von der Lage, sieht das klaffende Loch in der Wand, Chiaras Unschuldsmiene und wird aschfahl. »Was ist passiert?«
»Die macht mich noch wahnsinnig!«, schreit Frank. Mit der unverletzten Hand drückt er das Handgelenk der anderen ab, um den Blutfluss zu stoppen.
»Du bist eine doofe Kuh!«, schreie ich Chiara an. »Du hast ihn schwach genannt.« Eine größere Beleidigung gibt es in unserer Familie nicht.
»Was machst du überhaupt auf dem Fenstersims? Zut!«, schimpft Mom auf Französisch und zieht mich am Arm herunter.
Als Dad zurückkehrt, haben wir uns glücklicherweise bereits wieder in unsere jeweiligen Ecken verkrochen.
Frisch geschrubbt und im Schlafanzug wirken wir völlig unverdächtig, nachdem wir das Loch in der Wand mit einem der gerahmten Bilder verdeckt haben. Beim Anblick von Franks verbundener Hand runzelt Dad die Stirn – einmal mehr der Beweis, dass ihm nichts entgeht.
Als die Morgenbrise sanft und warm hereinweht, mache ich meine üblichen Stretch- und Konditionsübungen. Fast vom ersten Tag meiner Geburt an coacht mich Frank täglich, um mich auf meine Karriere als Leistungssportlerin vorzubereiten, die er für mich ausgesucht hat. Und so absolviere ich brav Spagat, Brücke, Sit-ups, Push-ups und Handstand an die Wand. Danach wird es Zeit für ein paar Stunden Schule mit Mom.
Heute fangen wir mit Mathe an. Ich liebe meine Rechentafel, die glänzende Lasur, die dunklen Holzperlen, die etwas größer sind, damit man sie besser greifen kann, und die so schön klackern und einem im Handumdrehen die Lösung für komplexe mathematische Aufgaben liefern. Frank und Chiara haben während unserer Monate in Japan Intensivkurse besucht und sind inzwischen echte Experten, deren Finger rasend schnell die Übungen im Buch abfahren. Sie brauchen den Rechenschieber nicht mehr und können sogar schwierige Multiplikations- und Divisionsaufgaben lösen, indem sie die Augen schließen und mit den Fingern im Geist die Perlen herumschieben. Wir sitzen in einer Reihe, ich im Schneidersitz auf dem Teppich in der Mitte, während uns Mom mit ihrem hinreißenden französischen Akzent anleitet. Zwanzig Minuten lang beackere ich einfache Additions- und Subtraktionsaufgaben, bis ich auf der Couch zum Ausruhen zusammensinke.
Eine meiner größten Ängste ist, nicht so schlau zu werden wie alle anderen in meiner Familie. Klar, sie sind deutlich älter, aber ich frage mich, wie ich das jemals aufholen soll.
Nachdem er sich sieben Tage lang erholt hat, erhebt sich Dad von dem klapprigen Sonnenstuhl, sieht, wie ich Stöcke in den leeren Pool werfe, und verkündet: »Lasst uns nach Amritsar fahren.«
Ich nicke. »Okay.«
Einen Augenblick lang betrachtet er die karge Umgebung und bedeutet mir dann, mich zu ihm zu setzen.
»Harbhajan, weißt du, weshalb wir hier sind?« Wir sitzen nebeneinander, ein großer Mann und seine Miniaturausgabe.
Ich schüttele den Kopf.
»Dieser Ort hat mein Leben gerettet.«
»Der Pool?«
Sein polterndes Lachen lässt den Stuhl vibrieren, auf dem wir sitzen. »Dieses Land. Noch bevor ich das erste Mal hierherkam, hat es mich gerettet. Als ich jünger war, trieb mich die Frage um, wie ich leben will, wie ich Frieden machen soll mit …« Er ließ den Satz unvollendet.
»War das, bevor ich geboren wurde?«, frage ich verständnisvoll.
»Ja.« Sein Bart hebt sich. »Finstere Zeiten waren das, Bhajan, finstere Zeiten … Also, was hältst du davon, wenn wir uns die heiligste aller Städte und den Goldenen Tempel anschauen? Bist du dabei?«
Ich weigere mich abzufahren, ehe ich nicht meinen Lieblingssoldaten gefunden habe, damit ich ihm eine große Tüte voller Bananen überreichen kann. Aber Frank packt mich einfach hinten an den Trägern meiner Latzhose, geht hinüber zum Auto und setzt mich auf meinem Platz in der Mitte der Rückbank ab. Dieser Mangel an Respekt ist ein weiterer Grund, weshalb ich so schnell wie möglich groß werden will. Versteht er denn nicht, dass ich kein Kind, sondern einfach nur eine kleine Erwachsene bin?
Unterwegs nach Amritsar beginnen wir unter dem unendlichen Sternenhimmel, mit im Fahrtwind flatternden Haaren unser Familienlied zu singen:
Little boxes made of ticky tacky, little boxes all the same …
Ich sitze in der Mitte der Rückbank und fuchtele mit den Armen wie ein Dirigent. Bei den höheren Tönen bricht Franks Stimme, und als ich kichere, ernte ich einen warnenden Blick von den Vordersitzen.
And the children go to school,
and then to University,
where they are put in boxes
And they come out all the saaaaame!
»Aufwachen, Zwerg.« Frank drückt meinen nackten Fuß, der sich irgendwie hinter seinem Rücken verkeilt hat. »Wir sind da.«
Als ich die Augen öffne, stelle ich fest, dass die anderen ihre traditionellen Sikh-Gewänder angezogen haben – lange weiße Tuniken mit einem Schlitz an der Seite, Frank und Dad tragen zudem Turban.
»Komm, ich helfe dir.« Chiara öffnet die Träger meiner Latzhose und zieht mir die maßgeschneiderte Tunika über mein Unterhemd.
Schlaftrunken taumele ich aus dem Auto in die Dunkelheit und versuche mich zu erinnern, wo wir noch mal hinwollten. Wir laufen eine ruhige Straße entlang, vorbei an einigen großen Männern mit Turbanen, und gehen auf einen großen Torbogen zu. Der blasse Vollmond hängt tief am Nachthimmel, während unsere Sandalen leise über die Straße schlappen.
Das mag ich am liebsten, wenn wir geschlossen als Gruppe gehen. Alle in Weiß gekleidet. Dad und Frank tragen in einem Hüftgurt einen Kirpan bei sich, einen kurzen, geschwungenen Dolch, der dazu dient, die Bedürftigen und Unterdrückten zu verteidigen. Um uns herum finden sich immer mehr Menschen ein, die ebenso gekleidet sind wie wir, die Männer mit hohen Turbanen, die Frauen mit wunderschönen langen dicken Zöpfen, die ihnen auf den Rücken hängen. Viele drehen sich mit freundlicher Miene nach uns um, sichtlich überrascht, westliche Touristen zu sehen, noch dazu eine ganze Familie.
Am Tor nimmt ein Mann unsere Sandalen entgegen, und wir waschen uns die Füße unter einem Wasserhahn, ehe wir ein flaches Wasserbecken durchwaten. Als wir barfuß mit nassen Sohlen über den glatten Marmorboden durch den Torbogen hindurchlaufen, rutsche ich beinahe aus. In der tiefschwarzen Nacht taucht vor uns ein großer See auf, in dessen Mitte ein golden strahlender Palast zu schweben scheint, dessen Licht sich in der Wasseroberfläche spiegelt. Die schiere Größe und Magie des Ortes ziehen mich völlig in den Bann.
Das ist er: der Goldene Tempel.
Wir betreten einen schmalen Steg, zu dessen beiden Seiten das Wasser heranschwappt, und folgen diesem überirdisch wirkenden Pfad zum heiligsten aller Heiligtümer. Der würzige Duft nach Räucherstäbchen erfüllt die samtig schwarze Luft. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt nur ein Zwerg bin, mit klebrigen Bananenhänden und zwei lockeren Seitenzöpfen, weiß ich eines ganz genau: Diesen Moment werde ich nie mehr vergessen.
Innen erheben sich die hohen Mauern bis zu einer vergoldeten Kuppel, die mit leuchtend bunten Mosaiken und aufwendigen floralen Mustern verziert ist. Ich bleibe regungslos stehen und versuche, diese Reizüberflutung zu verarbeiten. Rings um uns herum wird das Gedränge immer dichter, und die Nervosität steigt im Rhythmus der pulsierenden Nagra-Trommeln. Frank nimmt mich an die Hand. »Komm, Bhajan.« Er grinst. »Wir gehen ein bisschen näher an Gott ran.«
Wir steigen die Treppen hinauf zu einem der Innenbalkone im ersten Stock. Dort sitzen bereits ein paar Leute, die uns lächelnd Platz machen, und ich klettere auf Moms Schneidersitz.
Frank und Chiara sitzen so weit auseinander wie möglich. Es ist ruhiger hier oben, wo der Wind durch die großen Fensterbögen ohne Glas streift. Ich lehne meinen Kopf an Moms schlagendes Herz und warte darauf, dass der Begrüß-den-Tag-Gottesdienst beginnt.
Von draußen hört man singende Stimmen näher kommen, und ich erhasche einen Blick auf einen weiß-pinken Blütenregen, als der Guru Granth Sahib, die Heilige Schrift der Sikh, ehrfürchtig hereingetragen wird. Unter einem mit Juwelen besetzten Baldachin steht der Priester, holt Luft und schlägt das Buch auf. Sein langer Bart berührt die Seiten, als der Klang seiner tiefen, starken Stimme den Tempel erfüllt. Die Männer ringsum stimmen in seinen Gebetsgesang ein, der immer weiter anschwillt, und ich bekomme Gänsehaut.
»Ek ong kar, sat nám, kartá purakh, nirbhau nirvair, japád sac, jugád sac, hai bhí sac, nának hosí bhí sac.« Das Glaubensbekenntnis habe ich vor einem Jahr gelernt, und ich stimme nun mit den anderen in den Gesang ein. Es gibt nur einen Gott. Sein Name ist die Wahrheit. Er ist der Schöpfer. Ohne Furcht, ohne Hass.
Den Kopf vorgebeugt, singe ich die Worte von Guru Nanak, dem Gründer unserer Religion der Wahrhaftigkeit, nach dem ich benannt bin. Aber natürlich hat mir meine Familie nicht nur einen Namen gegeben, dem ich gerecht werden muss, sondern gleich drei.
Harbhajan Khalsa Nanak.
Göttliches Lied.
Rein.
Wahrheit.
Es ist nicht irgendein Name, sondern alles, wofür wir stehen. Den Prinzipien treu bleiben, nach Wahrhaftigkeit streben und einander immer lieben, egal was geschieht.
Draußen färbt das erste Licht der Morgendämmerung den Himmel ein.