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Saison Nummer Fünf

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Milton steckte in einem Faschingskostüm. Es war nicht irgend ein Kostüm, sondern ein teures Erbstück, ein handgenähtes Kleid aus den Goldenen Zwanzigern mit herabgesetzter Taille und eng anliegenden Ärmeln, das einst einer grobknochigen Frau gehört haben musste. Es passte ihm wie angegossen.

Früher hatte er sich Jahr für Jahr kostümiert ins Getümmel der Straßenfastnacht gestürzt. Superman. Adenauer. Robinson Crusoe. Zeus. Bob Dylan. Und, mit weinrotem Samtsakko, weißen Strümpfen und flaschengrünen Kniebundhosen als König Ludwig von Bayern. Ein Riesenerfolg. Die Hexen und Närrinnen auf den Gassen waren hingerissen. Eine strenge Cleopatra begann sofort, ihre Finger mit den Strähnen seiner schwarzen Lockenperücke zu verflechten, noch ehe er ihr einen Becher Glühwein anbot. Milton hatte die Fremde sanft und entschlossen in den nächsten Hauseingang geschoben, als die Tür nach innen aufging und Milton mit Cleopatra in einen dunklen Flur stolperte. Sambaklänge dröhnten aus der benachbarten Besenwirtschaft. Milton nahm die Fremde bei der Hand und flüchtete mit ihr schmale Holzstufen hinauf in den ersten Stock, um dort die Beschaffenheit ihrer königlichen Leibwäsche zu erforschen. Cleopatra hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und er fühlte sich willkommen. Im Parterre klappte die Tür zur Besenwirtschaft auf. Das Trommeln der Sambagruppe drang lärmend bis zu ihnen hoch, ihre Körper schwangen im Rhythmus mit. Cleopatra riss König Ludwig die Perücke vom Kopf und schrie ihm etwas ins Ohr. Lange Finger zerrten an seiner Samtjacke.

„Was war das?“, fragte Milton in die erlösende Stille hinein, nachdem die Sambagruppe das Haus trillernd und trommelnd verlassen hatte.

„Ich wollte dir nur sagen, ich bin HIV-positiv.“

„Äh.“ Miltons Leidenschaft zerstob mit einem Schlag in graue, herbe Realität.

„Ich kann es selbst noch gar nicht glauben.“ Cleopatra löste ihre Finger aus seiner Samtjacke, gab ihm die Perücke wieder, zwinkerte ihm Abschied nehmend zu und spazierte gelassen die Treppe hinab.

Miltons Besuch beim Hausarzt am darauffolgenden Aschermittwoch verlief unbefriedigend. Der Arzt wollte offenbar so schnell wie möglich zu seinem Mediziner-Fischessen. Zwischenfragen von Laien waren da nur Zeitverschwendung.

„Falls Sie positiv sein sollten, werden wir es Ihnen in der nächsten Woche mitteilen. Sie können ja anrufen.“

„Und Sie wissen noch gar nichts?“, fragte Milton niedergeschlagen.

„Wir werden die Blutprobe einschicken. Ich bin doch kein Haruspex.“

„Wie bitte?“

„Kein Opferschauer, der aus Blut und Eingeweiden die Zukunft eines Menschen abliest. Obwohl ich mir an jedem Aschermittwoch erneut wünsche, einer zu sein.“

„Ich habe wohl ein falsches Bild von euch Medizinern.“ Milton stellte sich vor, wie der Herr Doktor mit Skalpell und Schere einen Karpfen sezierte und sich dabei ausmalte, wieviel er im nächsten Jahr an seinen Privatpatienten verdienen würde.

„Im Labor haben sie nur begrenzt Personal. Besonders in den ersten Tagen der Fastenzeit.“ Mit unbewegtem Gesicht erhob sich der Arzt und öffnete die Tür. „Lassen Sie sich an der Rezeption die Telefonnummer geben!“

Milton hatte Glück. Er durfte sich durch und durch negativ fühlen. Das Damoklesschwert aber, dessen Spitze tagelang auf sein Leben gezielt hatte, verlieh ihm Misstrauen gegenüber verkleideten Menschen. Als er den Job im Feuerwehrmuseum verlor, wurde ihm klar, dass auch andere Leute stutzig wurden, wenn sich einer mit falschen Klamotten hochstapeln wollte. Kein Wunder, dass die Menschen in Sachen Alltagsgarderobe so kleinmütig waren. In nächtlichen Träumen sah Milton sich in knallenger Ledermontur und wehendem schwarzem Mantel durch die Innenstadt schlendern. Zum Glück wachte er immer auf, bevor er zusammengeschlagen wurde.

Das teure Erbstück aus den Goldenen Zwanzigern gehörte seinem Kumpel Viktor, den er gelegentlich zum Trinken und Pfeile werfen in die Kneipe begleitete. Viktor war ein Faschingsnarr im besten Sinne. Nur wenige Wochen im Jahr durfte er seinen glänzenden Billardkugelkopf mit Perücken bedecken, ohne dass sich jemand darüber mokierte. Und das kostete er aus, schamlos und mit kindlicher Freude. Es gab kaum eine Nacht in der Fünften Jahreszeit, in der er nicht unter einem bunten Mop aus Plastikhaaren, die seinem Gesicht etwas engelhaft Weiches verliehen, im schwarzen Anzug um die Häuser zog. War Milton bei ihm, seit Cleopatra stets in Zivil, staunte er über Viktors körperliche Wandlungsfähigkeit. An allen restlichen Tagen des Jahres war Viktor ein bulliger Augenoptiker, dessen Kunden stets damit rechnen mussten, dass er handgreiflich wurde und ihnen genau die richtige Brille auf die Nase drückte. Frauen bewunderten seinen künstlerischen Weitblick und seine rüden Verkaufstechniken. Die Männer beklagten die Preise seiner Gestelle und bezahlten sie trotzdem gern. Viktor gab sich nicht mit Schmeicheleien ab. Er nannte schiefe Nasen, asymmetrische Augenbrauen, fehlende Tränenflüssigkeit, miserable Hell-Dunkel-Reaktionen und unterschiedliche Ohrhöhen beim Namen und fand im Nu die passende Lösung. Er galt als glaubwürdig, der Billardkugelkopf war Teil des Programms. Eine Echthaarperücke hätte seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt. Also blieben Viktor nur die Faschingswochen.

Dieses Jahr hatte er Milton bedrängt, sich mal wieder auf ein Kostüm einzulassen. Das teure Kleid aus den Zwanzigern brachte er eigens für ihn mit. Es hatte Viktors Großmutter gehört, einer lustorientierten Berlinerin mit Faible für Joachim Ringelnatz.

„Wenn man das zierlichste Näschen

Von seiner Braut

Durch ein Vergrößerungsgläschen

Näher beschaut

Dann zeigen sich haarige Berge

Dass einem graut.“

So deklamierte Viktor, nachdem er Milton keine Ruhe gelassen hatte, bis dieser das Kleid endlich überstreifte. Im Spiegel sah Milton eine Drag Queen mit Dreitagebart und zartem Gespitzel über der Brust, das nicht recht wusste, ob es flattern oder spannen sollte. Miltons Haare waren in diesem Winter kinnlang und hingen ihm über die linke Gesichtshälfte, was Viktor Anlass zu Sticheleien über den verzweifelten Charme alternder Boy-Band-Boys gab. Milton hob die Schultern, um zu überprüfen, ob ihm das Kleid etwas Spielraum für Bewegungen ließ, die selbst einer lustorientierten Berlinerin aus den Zwanzigern zu gewagt gewesen wären. Er reckte die Arme, spreizte die Beine, rieb sich am Türrahmen und verfiel schließlich auf eine Josephine-Baker-Parodie. Brüllend vor Lachen rammte ihm Viktor seine groben Optikerfinger in die Seite. Das Kleid hielt es aus.

„Du brauchst noch hohe Schuhe“, riet Viktor, nachdem sich seine Stimmlautstärke wieder normalisiert hatte. „In der Altstadt gibt’s einen Secondhandladen mit Übergrößen.“

„Und wer soll die besorgen?“ Milton stellte sich eine winzige weißgelockte Verkäuferin vor, die ihm mit ängstlichem Blick einen roten Schuhlöffel brachte, damit er seine Füße in schwarze Pumps Größe 46 zwängen konnte. Doch höchstwahrscheinlich würde sie ihm die Schuhe vorher entreißen, um mit den Absätzen stereo auf ihn einzuschlagen. Pfennigabsätze aus Metall verursachten mit Sicherheit höllische Wunden.

„Vögel wie du kommen da in der Faschingszeit öfter vorbei.“ Viktor zog einen Elektrostatik-Staublappen aus der Gesäßtasche seiner Jeans und polierte sich den Kopf. Das angenehm Pappige eines solchen Staubwischers vertrage sich prächtig mit der unendlichen Glätte seines Kopfes, hatte er Milton einmal erklärt. Regelrecht süchtig sei er nach dem Kitzel winziger, wenn auch unsichtbarer Härchen, die sich steil aufrichteten, sobald der Lappen nur in ihre Nähe kam. Im Laden begründete Viktor seine Staublappen-Manie mit hygienischen Vorgaben der Gesundheitsbehörde. Überall standen grüne Swiffer-Kartons, aus denen sich Viktor regelmäßig bediente. Seine Mitarbeiter waren inzwischen zu stoisch für weiterführende Gedanken, den Kunden verbot die Höflichkeit, Fragen zu stellen. Manchmal murmelten sie etwas von „seit zehn Tagen Hitze“ oder „diese Kälte lädt doch alles auf“, um Anteilnahme zu signalisieren. Dann begann Viktor in der Regel mit einer längeren Tirade gegen die irren Dilettanten der Stiftung Warentest und ihre unwissenschaftlichen Methoden, elektrostatische Staublappen zu benoten. „Das sind Laien von der Straße, die von Physik keine Ahnung haben. Die nehmen so ein Tuch und wischen damit ein paar Fussel von einer Metallplatte. Und dann sagen sie, das Material trockne ihre Hände aus und geben dem Produkt ein Ausreichend.“ Nach einer Weile vergaßen die Kunden ihr Mitgefühl und hofften ergeben, der Optiker möge sich wieder mit ihren Sehfehlern beschäftigen.

Lustvoll wischte sich Viktor nun mit dem Lappen auf dem Kopf herum. Milton glaubte förmlich zu hören, wie sich kleine unsichtbare Härchen knisternd reckten. „Ich will kein Aufsehen erregen“, murmelte er.

Viktor lachte. „Was bist du für ein Pessimist!“

Den Secondhandshop in der Altstadt kannte Milton von außen. Die Heimatlosigkeit der hilflos hinter der trüben Scheibe hängenden Klamotten war ihm bisher nie aufgefallen. Die Mäntel, Röcke und Hosen schienen die Formen ihrer früheren Besitzer konserviert zu haben. Hier erinnerte ein überstrapazierter Reißverschluss an ungesunde Bauchfülle, dort hing ein schlaffes Etuikleid, das einmal einer magersüchtigen Fünfzehnjährigen mit zu breiten Schultern gehört haben mochte. Die Träger dieser Sachen hatten ein Stück ihrer persönlichen Geschichte hier zurück gelassen.

Die düstere Stimmung setzte sich drinnen fort. Hinter der Glastür hing ein Windspiel aus bleichen runden Plastikscheiben. Ein schummriger Raum voller fahrbarer Kleiderständer, die unter ihrer Last fast durchbrachen. Überall matte, grauschwarze, staubige Formen aus Stoff, zwischen denen sich eine gedämpfte Stimme vernehmen ließ.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Jemand drückte einen unsichtbaren Lichtschalter. An der Decke kämpften sich blitzende, summende Neonleuchten langsam und widerwillig in ihren Betriebsmodus. Miltons Blick folgte dem unerwarteten Glitzern und Funkeln, das ihm in dieser Vorhölle aus gebrauchten Klamotten unpassend vorkam. Eine verwuschelte Perücke aus roten, langen Haaren stach ihm ins Blickfeld, zwei ausgestreckte Arme. Ein jeansbekleidetes Frauenbein, das der Schwerkraft zu trotzen schien und senkrecht in die Höhe reichte, um sich irgendwo hinter einem Vorhang aus schwarzem Samt zu verlieren. Milton erschrak, als sich die verwuschelten roten Haare auf einmal teilten und dazwischen ein helles Gesicht auftauchte.

„Ich komme runter!“ Das Frauenbein beschrieb einen kleinen Kreis und verschwand im Glitzern und Funkeln. „Ich muss bloß noch … Mist!“

Milton hörte das elastische Aufkommen zweier Schuhsohlen auf dem Holzboden. Das Glitzern und Funkeln rutschte nach unten weg, und vor ihm stand eine sehnige Frau in zerfransten Jeans und Tank-Top. Ihre roten Haare waren echt. „Tschuldigung für den Auftritt.“ Die Frau versuchte, ihre elektrisierte Frisur mit den Händen zu glätten. „Das war nur ein bisschen Vertikalseilakrobatik. Eigentlich haben wir längst zu.“

Miltons Blick folgte dem dicken Seil, das mehrere Meter über ihnen um einen beachtlichen Deckenbalken geschlungen war und dessen Ende die Frau locker in der Hand hielt. „Wollen Sie sich aufhängen?“

„Ja. Aber ich warte noch auf jemanden.“

„Auf Godot?“, schlug Milton vor.

„Nein.“ Ihre Unterlippe verriet Missmut. „Bloß auf irgend einen Idioten, der mir den Schemel unter den Füßen weg stößt. Würden Sie sich das zutrauen?“

„Unbedingt.“ Milton blickte sich um. „Ich sehe aber keinen Schemel.“

„Tja.“ Die Frau hob in gespielter Ratlosigkeit die Hände. „Dann habe ich ihn wohl verkauft. Ich erinnere mich noch, vor zwei, drei Stunden war einer da, der irgendwas für seine Werkstatt wollte. Einen blauen Anton oder so. Vielleicht hat der ihn mitgenommen.“

„Pech für Sie, dann müssen Sie das Aufhängen leider verschieben.“ Milton sah sie bedauernd an.

„Tja, Pech“, stimmte sie ihm zu. „Es gibt so viele Durchgeknallte. Letztens lief hier eine Objektophile ein, die sich in die Motorsense ihres Nachbarn verliebt hatte. Verliebt, verstehen Sie, im Sinne von miteinander-vögeln-und-anschließend-heiraten-wollen. Doch offenbar war die Motorsense nicht interessiert.“

„Wirklich nicht?“

„Nein, und dann stand sie hier. Fünfundvierzig Jahre, mausgrauer Pferdeschwanz. Heulte sich die Augen aus. Sie suchte ein Geschenk.“

„Für den Nachbarn?“

„Für die Motorsense. Etwas zum Wärmen im kalten Schuppen. Ich weiß nicht genau, wie Motorsensen im Allgemeinen so gebaut sind, aber sie suchte eine Art extralangen Schlafsack. Daunengefüttert. Damit konnte ich ihr nicht dienen, doch ein ehemaliger Gebirgsjäger hat mir vor Jahren ein aufblasbares Lawinenzelt dagelassen. Das fand sie toll. Sogar die Farbe hat ihr gefallen.“

„Signalorange?“

„Sepia. Sie gab mir dreißig Euro dafür. Erstaunlich, was die Leute alles brauchen.“

„Ich brauche ein paar Stilettopumps Größe 46“, sagte Milton.

Die Frau bückte sich rasch nach ihrem Umhang und hängte ihn sich über die Schulter. Ihr knisterndes rotes Haar umrahmte sommersprossige helle Haut und aufgeworfene Lippen, die für ihr Alter zu mädchenhaft wirkten. Ihre Augen waren dunkel und engstehend konzentriert. „Na, dann kommen Sie mal mit.“

Ihr funkelnder Umhang schwang im Kreis, als sie entschieden auf der Ferse umkehrte. Milton fühlte sich, als stünde er am Eingang zu Willy Wonkas Schokofabrik. Er merkte, dass er aufgeregt war. Neugierig. Und ein bisschen hungrig.

In den Tiefen des Ladens fanden sich weitere Kleiderständer, auch automatische, ellipsenförmige, von der Sorte, wie man sie in Wäschereien findet. Einer war vollbehängt mit Mänteln. Im Vorbeigehen drückte Milton auf einen roten Knopf, und die Mäntel fuhren ruckelnd an, schaukelten auf ihren Bügeln und bewegten sich zögernd vorwärts, scheinbar ängstlich darauf bedacht, ihre Bahn nicht zu verlassen. Milton drückte erneut auf den Knopf. Die Maschine blieb stehen. Die Mäntel schwangen in perfektem Gleichtakt nach vorne und wieder zurück, wie eine Reihe Funkenmariechen. Milton griff nach einem lodengrünen Ärmel und hielt ihn fest.

„Den hat uns Heino persönlich überlassen“, sagte die Frau. „Deshalb haben wir ihn auch noch nicht gereinigt.“

„Verstehe.“ Milton zerrte den lodengrünen Mantel zwischen den anderen hervor. Das Kleidungsstück war schwer, unansehnlich und so weit, dass ein Schlauchboot darunter Platz finden konnte.

„Nein, wirklich.“ Die Frau hakte den Bügel aus und breitete den Mantel flach über die übrigen. „Dieses Lodenzeug nimmt Haare und Schuppen wunderbar auf. Und es gibt genügend Fans, die verzweifelt auf der Suche sind nach Heino-DNA. Den Mantel hier werde ich demnächst bei eBay versteigern. Für einen guten Preis.“

Jetzt glaubte Milton, ein paar weißblonde Haare auf dem Lodenstoff zu erkennen.

„Das sind Hundehaare.“

„Und wenn schon.“ Die Frau hängte den hässlichen Mantel wieder zwischen die anderen. „Wenn Sie jetzt bitte mit mir kommen wollen.“

Im nächsten Raum standen Wandregale voller Schuhe, bis unter die Decke. Auf mehreren Etagen waren Filzpantoffeln verteilt, die sich wie geduckte Igel erfolglos unsichtbar zu machen versuchten. Schwarze und braune Herrenhalbschuhe, der Größe nach geordnet. Buntere Fußbekleidungen für Damen. Paarweise in Reih und Glied stehende Absätze in Primärfarben, rot, blau, gelb. Dazwischen einige Abweichler in violett und rosa. Die Frau griff sich ein schwarzes Paar Schuhe mit weißen Paspeln und Zehenriemchen aus der obersten Regaletage.

„Das sind die einzigen Damenschuhe in Ihrer Größe, die ich habe.“

Es waren keine Stilettopumps, sondern Sandalen. Immerhin hatten sie Absätze, halbhoch, gewichtig, konkav, mit gewaltiger Trittfläche. Mit denen brauchte sich Milton keine Sorgen zu machen, sie könnten abbrechen.

„Man kann ganz gut darauf stehen.“ Die Frau wies auf einen roten würfelförmigen Hocker, neben dem ein langer silberner Schuhlöffel lag. „Probieren Sie mal!“

In einem Anflug von Scham setzte sich Milton, zog seine schwarzen, unansehnlichen Mokassins aus und schob sie zur Seite. Die Frau hielt ihren Umhang unter dem Kinn zusammen, als fröre sie. Milton überlegte, ob er seine grauen Socken ebenfalls ausziehen sollte, doch in Gegenwart dieser Frau kam ihm der Gedanke demütigend vor.

„Ich hätte nie vermutet, dass Sie so etwas brauchen.“ Sie reichte ihm den linken Schuh. Milton behielt ihn in der Hand. Trotz der Klobigkeit der Absätze wirkte der Schuh zart, die Riemchen waren winzig. Eine silberne Schnalle verschwand zwischen seinen Fingerspitzen. Das helle Leder der Innensohle zeigte einen klaren dunklen Fußabdruck. Die frühere Besitzerin des Schuhs musste einen hohen Spann gehabt haben, bei Größe 46.

Die Frau mit dem glitzernden Cape irritierte ihn. Das Neonlicht brach sich nicht nur in den Pailletten ihres Umhangs, sondern auch in ihren leuchtenden roten Haaren. Benommen brachte Milton heraus: „Bei meinen Knick-Senkfüßen brauche ich hohe Absätze. Sonst ermüdet der Knorpel, und sie werden noch platter.“

Deutlich amüsiert betrachtete die Frau seine Socken, die viel zu groß und formlos waren. Elefantenfüße.

„Bei Sohlengängern ein häufiges Leiden“, stimmte sie zu. „Denken Sie nur an die jungen Leute in ihren Badeschlappen. Sie schlurfen mit müden Ballen, X-Beinen und weichen Waden wie Altersheimer. Die Eltern achten gar nicht mehr darauf.“

Inzwischen hatte Milton es fertigbekommen, beide Riemchen über seine Socken zu ziehen, ohne die zierlichen Schnallen zu öffnen. Seine Vorgängerin musste ein Walross gewesen sein.

Als er stand, schwankte er erst ein bisschen. Von seiner zugewonnenen Höhe herab schaute er auf den flammenden Schopf der Frau und entdeckte darin ein paar tröstliche graue Haare. Kippelig oder nicht, die neue Perspektive machte ihm Spaß, und er begann zu ahnen, was der Sinn hochhackiger Schuhe sein mochte. Man konnte über seine eigene Größe hinauswachsen und dabei Neues entdecken. Die Vertiefung zwischen den Schlüsselbeinen dieser Frau, dunkel und geräumig genug, um Regenwasser darin aufzufangen. Lange dunkle Wimpern, die in der Mitte spitz zuliefen.

„Na.“ Die Frau machte einen Schritt von ihm weg. „Ich möchte Sie doch bitten, auf Ihr Gleichgewicht zu achten.“

Milton sah an sich herunter. Seine Füße waren unförmige graue Säcke, eingeschnürt von Riemchen. Unsicher trat er zur Seite.

„Sie waren nie beim Zirkus, nicht wahr?“, fragte die Frau.

„Nein. Doch. Als Kind. Als begeisterter Zuschauer“, erwiderte Milton. „Allerdings bin ich nie zur Marschmusik im Kreis gelaufen, mit einem bunten Sonnenschirm im Rüssel, um mich dann tuschgenau auf ein riesiges rotes Samtkissen zu setzen.“

Irritiert flatterten die spitzen Wimpern in seine Richtung, dann lachte die Frau leise auf, als habe sie ein kniffeliges Rätsel endlich lösen können. „Die Schuhe sind okay. Für fünf Euro können Sie sie mitnehmen.“

„Vielen Dank.“

Sie ging ihm voraus zur Kasse. „Aber Sie sollten sie ohne Socken tragen.“

Welche spitzwinkligen Gefühle und Gedanken die Wesen auf der anderen Seite des Geschlechtergrabens antrieben, konnte Milton nur erahnen. Selbst seine Schwester entpuppte sich immer wieder als Mysterium. Als Feministin stolperte sie einst in ihr junges Erwachsenenleben, stilecht mit selbstgefärbten Batiklatzhosen, omnipräsentem Strickzeug und einer grandiosen Verachtung für alle Männer, die ihre Intelligenz nicht auf Anhieb begeistert akzeptierten. Über gedankenlos chauvinistische Sprachbatzen in der Lokalpresse konnte sie sich wortreich ereifern. Ein fehlendes Innen schwoll zur großen Katastrophe. Ständig hielt sie Ausschau nach neuen gesellschaftlichen Anzeichen der Unterdrückung. In ihrer radikalen Zeit war Miriam Meier eine stirnrunzelnde, laute Frau, die Pamphlete verteilte und krawattentragende Männer gern mit heißem Kaffee übergoss.

Auf der Suche nach unterdrückten Mitstreitern für die Freiheit fand sie einen Freund. Muhammad Fallas, ein algerischer Muslim aus der Pariser Vorstadt. Maschinenbaustudent. Hungrige braune Augen, schwarze Drahthaare und ausgemergelte Gliedmaßen. Trotz seines für deutsche Ohren so melancholisch klingenden Akzentes und seines französischen Passes war er im tiefsten Inneren wütend. Wütend auf sein Leben, seine Herkunft als underdog eines reichen Volkes, das ihm zwar seine Nationalität verlieh, ihn aber gleichzeitig achselzuckend aus dem gesellschaftlichen Leben aussperrte. Wütend auf sich selbst. Miriam erkannte diese Wut, teilte sie und fachte sie weiter an. Sie hatte eine neue Welt für sich entdeckt und griff mit beiden Händen zu. Nach und nach fand sie zu einer erstaunlichen Reihe freiwilliger Entsagungen, obgleich das Wort „Verzicht“ für sie immer einen reaktionären Beiklang aus dumpfen Vergangenheiten besaß. Auf einmal mochte sie kein Schweinefleisch mehr, rasierte sich die Achselhöhlen, und die Freiheit ihrer Gedanken schien ihr nicht mehr so wichtig. Das wunderte Milton. Seine Schwester war eine robuste Atheistin gewesen, immun gegen Fundamentalisten, Gurus und Treppenhausprediger, die mit blumigen Reden vorgaben, im Besitz einer absoluten Wahrheit zu sein. Sie hielt Gläubige für einsame, ichbezogene Typen, die einen himmlischen Beobachter brauchten, weil sie kein anderes Publikum hatten. Von einem eifersüchtigen Gott könne man Rückschlüsse auf die Menschen ziehen, die sich ihn ausgedacht hätten, lästerte Miriam. Ihr plötzlicher Ernst war Milton neu.

„Das verletzt seine religiösen Gefühle“, sagte Miriam, als Milton ihr die Satanischen Verse zum Geburtstag schenken wollte. Sie bat ihn, das Buch umzutauschen.

„Du kannst es ja lesen, wenn er nicht dabei ist“, hatte Milton vorgeschlagen.

„Das wäre Verrat“, entgegnete sie. „Ich möchte ehrlich zu ihm sein. Schließlich liebe ich ihn.“

Miriams Liste der Entsagungen war noch um einige Punkte länger, doch sie zerbröckelte just an dem Tag, an dem Miriam Muhammad Fallas’ Reisepass entdeckte. Ihr algerischer Freund hieß in Wirklichkeit Louis LaFaloise und war irgendwo bei Fontainebleau beheimatet. Weiteres energisches Nachfragen ergab: Muhammad Fallas/Louis LaFaloise hatte an der Pariser Ecole Normale Supérieure das Staatsexamen abgelegt, seine Familie war streng katholisch, wohlhabend elitär, mit eigenem Landhaus und Chauffeur, und berief sich außerdem darauf, in direkter Linie vom letzten französischen Kaiser Napoleon dem Dritten abzustammen. Kurz entschlossen flutete Miriam das gemeinsame Badezimmer, in dem der falsche Muhammad gerade mit seiner Bartpflege beschäftigt war. Sie stellte sich auf den Toilettendeckel und drohte, den eingeschalteten Fön in die steigende Pfütze zwischen seinen Füßen zu werfen. Dann klingelten Nachbarn, bei denen es durch die Decke tropfte. Muhammad flüchtete mit einem spärlich rasierten Gesicht, schnappte sich Brieftasche, Gebetsteppich, Miriams Autoschlüssel und ward nicht mehr gesehen. Ihr Volkswagen Jetta wurde ein paar Tage später in zerbeultem Zustand von der Polizei zurück gebracht, während Miriam selbst mit Napoleons Ur-Ur-Ur-Enkelin Eugénie LaFaloise (Muhammads Mutter) einen Briefkrieg begann, der sich hauptsächlich darum drehte, dass Muhammad einen hässlichen Kupferring bei ihr liegen gelassen hatte. Dieser Ring war ein geheimes Erkennungszeichen, das Louis Napoleon Bonaparte seinem unehelich gezeugten Nachwuchs mit auf den Weg gegeben haben soll. Muhammad trug das Familienerbstück, das seiner Ahnin vor bald zweihundert Jahren Unterhalt und Ausbildung gesichert hatte, an einem Lederriemen um den Hals. Beim Verhör hatte Miriam ihm den Riemen zerrissen und den Ring hinterher eingesteckt. Sie kam zu dem Schluss, das zerbeulte Stück Kupfer sei die eigentliche Ursache für Muhammads neurotisches Verlangen, jemand zu sein, der er gar nicht war. Der Ring symbolisierte eine Familienkrankheit, den Traum vom sozialen Aufstieg, der schon vor Generationen von einem Psychologen hätte behandelt werden müssen. So schrieb es Miriam in ihrem letzten Brief an Eugénie LaFaloise nieder, kurz bevor sie sich aufmachte, den Ring im angetrockneten Betonfundament der neuen Sparkasse für immer verschwinden zu lassen. In diesem Moment fühle ich mich wie Frodo Beutlin, schrieb sie an Stelle eines Abschiedsgrußes an Muhammads Mutter. Jetzt werden wir alle freier sein!

Da der Kupferring als solcher tatsächlich wertlos war, musste Muhammads Mutter von einer Schadenersatzforderung absehen. Aber ihre Briefe kamen noch lange und regelmäßig, mal mit larmoyantem, mal mit mörderischem Unterton, erfüllt von jahrhundertealtem Hass auf les Allemands. In ihrem letzten Schreiben verriet sie, ihr Sohn hätte sich zu einem Gotteskrieger-Trainingscamp nach Afghanistan aufgemacht, und sie erwarte nicht, ihn lebend wiederzusehen. Danach war Ruhe. Miriam wiederum hatte ihr nicht verraten, dass aus ihrer langjährigen Einheit mit Muhammad ein napoleonisches Zwillingspaar namens Jonas und Leonie hervorgegangen war, für das sie den Kupferring im Nachhinein gerne aufbewahrt hätte.

Mittlerweile hatte Miriam ihre spirituellen und erotischen Enttäuschungen mit einer konsequent alternativen Lebensweise zu kompensieren versucht. Zunächst leitete sie einen Oster-Work-shop zum Thema „Eierfilzen“, bei dem sie Kindern beibrachte, wie man die Logos namhafter deutscher Fußballvereine per Filznadel und Märchenwolle auf kleine weiße Styropor-Eier sticht. Es folgten Rollen in diversen Laientheatern. Seitdem nannte sie sich Mime, in der irrigen Hoffnung, mit einem großen Namen leichter in die Profiliga der Schauspieler aufzusteigen. Dann kam ein Clownsseminar, bei dem sie sich mit klebriger weißer Schminke die Haut verdarb, und kleinere Jobs bei Umweltverbänden: Schilf pflanzen, Vögel zählen und im Allrad-Jeep zu verschiedenen Aktionen kutschieren, um sich dort als Mahnmal für die Öffentlichkeit anzuketten.

Das alles ließ sie unausgefüllt. Vor allem fehlte ihr Geld.

Eine Mitfilzerin aus dem Oster-Workshop brachte Mime schließlich auf die Idee, einen Klangschalen-Lehrgang zu besuchen und sich parallel zur Fingeryoga-Meisterin ausbilden zu lassen. Schon bald hatte Mime ein paar gut betuchte Schülerinnen, die zu ihr in die Wohnung kamen und ihr Unterhaltung und Einkommen sicherten. Die napoleonischen Zwillinge besuchten bereits den Kindergarten und fanden zu Hause eine patente, zufriedene Mutter vor.

Milton wartete lange auf ein Augenzwinkern, ein Kräuseln der Mundwinkel oder einen ganz bestimmten Ton in Mimes Stimme, womit sie ihm signalisierte, dass sie insgeheim dachte wie er. Als Kind hatte sie ihre Ernsthaftigkeit so brillant mit herablassender Ironie zu kombinieren gewusst, dass er immer wieder auf sie hereinfiel. Um sich besser gegen ihre Angriffe wehren zu können, begann er, sie zu beobachten. Er lernte, den Klang ihrer Stimme, ihren Augenaufschlag und das Spiel winzigster Muskeln in ihrem Gesicht zu deuten. Ihre facettenhafte Persönlichkeit machte ihm Spaß. Mit erregter Freude sah er zu, wie sie Erwachsene und andere Kinder zur Weißglut trieb, bis sie heulten, brüllten oder losprügelten. Er hingegen wähnte sich immun und erfreute sich an der Hinterhältigkeit seiner Schwester, wie man sich an einer Fernsehserie erfreut, die verschiedene Geschichten mit ganz unterschiedlichen Darstellern zum immer gleichen Ende bringt. Es machte ihm nichts aus, mal eine Episode zu verpassen. Es war auch nicht schlimm, als heimlicher Mitwisser gelegentlich für ihre Spielchen büßen zu müssen. Sie war immer schlauer und tiefgründiger als er. Also lernte er von ihr, halb widerstrebend, halb dankbar. Aber voller Anerkennung.

Und dann wurde sie erwachsen, und ihre leichtere, interessantere Seite war auf einmal nicht mehr da, als sei ein wichtiger Teil ihrer Persönlichkeit brutal amputiert worden. Das Spiel ihrer Gesichtsmuskeln vereinfachte sich, ihre Stimme nahm einen bodenständig sonoren Klang an, der Kinder und nervöse Yogaschülerinnen zu beruhigen vermochte. Ihre Beweglichkeit und Ambiguität war einer ausdruckslosen Säulenanmut gewichen, die Milton unpassend und irritierend fand. Eines Tages musste er sich eingestehen, dass ihn seine Schwester langweilte. Wie ein geliebter Song, den er sich jahrelang angehört hatte, und dem plötzlich die Bässe abhanden gekommen waren, bis nur noch ein kopflastiges Gedudel übrig blieb. Der Text handelte von Kindern, Küche, Krankheiten, Körperpflege; ein klebriger Brei aus unzähligen anderen Texten, von Zeitung, Funk und Fernsehen immer wieder neu kombiniert, bis sie nichts mehr bedeuteten. Miriam fand er darin nicht wieder, und Mime war zum Alltagsmensch geworden: statisch, erdgefesselt, mit beiden Beinen im Leben. Ihre Intelligenz schien sie aufgegeben oder für später an einem sicheren Ort versteckt zu haben.

Milton geizte nicht mit Sticheleien. Er hoffte, auf einen Nachhall ihres früheren Ichs zu stoßen. Manchmal glaubte er gar, ein Echo zu hören. Das ermutigte ihn, sie immer weiter zu provozieren, bis sie ihn und seine Besuche kaum noch ertragen konnte. Milton ist ein Sadist, sagte Mime ihren Freundinnen. Am liebsten würde er mich aufspießen wie ein Insekt und mir dabei zusehen, wie ich mich quäle. Liebenswert geht anders.

Er kam aber weiterhin regelmäßig bei ihr vorbei und Mime ließ ihn. Ab und zu schickte sie ihn mit den Zwillingen auf den Spielplatz, wo er sie auf die längsten Schaukeln setzte und ihnen Schwung gab, bis sie kreischten.

Die Schuhe waren bequemer als Milton gedacht hatte. Die schmalen Riemchen hielten erstaunlich gut und die gewichtigen Absätze erwiesen sich als breit genug, ihn über die tückischen Rillen des Kopfsteinpflasters hinwegzutragen, ohne ihm dabei das Gleichgewicht zu nehmen. Sein kinnlanges Haar hatte er sich von Viktor zu einer steifen Pagenfrisur toupieren lassen, und über dem Erbkleid der einstigen Ringelnatz-Verehrerin trug er eine Kunstnerzjacke, die ihr ebenfalls gehört hatte. Das Ensemble passte perfekt.

In Miltons Handtasche befand sich eine versilberte Zigarettenspitze und ein Fläschchen Absinth, aus dem sich auch Viktor hin und wieder bediente. Aus Stilgründen hatte Viktor ausnahmsweise auf seine Perücke verzichtet. Er kombinierte seinen glänzenden Kugelkopf mit einem noch glänzenderen, sinister aussehenden schwarzen Anzug, der an gewissen Stellen unübersehbare Ausbuchtungen aufwies. Eine schwere vergoldete Halskette machte seine Bodyguard-Verkleidung perfekt. Viktors Bulligkeit ließ die Leute automatisch zur Seite ausweichen, selbst wenn sie im Hexenkostüm und betrunken waren. Miltons Schritte wurden durch das enge Kleid begrenzt, er trippelte hinter Viktor her und musste über sich selbst lachen. In Sachen Frau-Sein versprach ihm diese Rosenmontagsnacht Erlebnisse, die seine Schwester nur aus Büchern und Filmen kannte. Die Erfahrung, in einer Nylonstrumpfhose kalte Beine zu kriegen, gehörte sicherlich dazu.

Die Blaskapellen furzten donnernde Märsche durch die eisige Winterluft. Viktor hatte an einem Glühweinstand angehalten und reichte Milton einen Pappbecher, dessen Wärme ihm angenehm durch die Samthandschuhe kroch.

„Hey, Josephine.“ Viktor stieß seinen Becher gegen den von Milton. „Manche mögen’s heiß an solchen Tagen.“

Tatsächlich. Miltons vorübergehende Ähnlichkeit mit Tony Curtis in seiner besten Rolle war nicht zu leugnen. Bereits zu Hause vor dem Spiegel war ihm die erstaunliche Melancholie in seinen Augen aufgefallen, als er sich von Viktor mit Kamm und Bürste an den Haaren ziehen ließ. Nun nahm er die Wärme des Glühweins dankbar hin, wartete ab, bis ihm das Gewürz Nase und Kehle zu reizen begann, und hustete prompt. Eine Frau im grünen Seegeist-Kostüm, die einer Riesenbürste in der Autowaschanlage ähnelte, rückte von ihm ab. Sicher war ihre Aufmachung besser für die Straßenfastnacht geeignet als seine. Schweißperlen standen auf ihrer Oberlippe. Grimmig sah sie aus, kein Einzelfall in den auf Fröhlichkeit programmierten Menschenmassen. Zwischen den lustig Verkleideten zeigten sich immer wieder düstere Gesichter, enttäuschte, gelangweilte, durch Alkohol erzürnte. Sie guckten unter Perücken und über riesigen Krägen hervor, hinter roten Nasen und dicken Brillen mit aufgemalten Augen. Milton hatte Clowns nie gemocht. Unbehagen und Missstimmungen wurden auf die Kälte geschoben, auf die letzte Runde Obstler, auf die Thüringer Rostbratwurst, auf das schlecht sitzende, alberne Kostüm, die Augenmaske, durch die man nicht alles sehen konnte. Wer war schon so ehrlich, sich nach einer durchkämpften Faschingsnacht, schlechtem Alkohol und noch schlechterem Sex mit fremden Biedermenschen einzugestehen, wie enttäuschend das alles war? Die meisten würden am nächsten Tag erneut losziehen, auf der verzweifelten Suche nach dem versprochenem Vergnügen.

Viktor holte seinen Staublappen aus der Hosentasche und wischte sich über den Kopf. Eine seiner Kundinnen, eine ernst wirkende Dame, die sich in ein völlig unpassendes, silbrig reflektierendes Raver-Kostüm gezwängt hatte, erkannte ihn und rief ihr verstreutes Rudel Freunde herbei. Viktor wurde von allen Seiten umringt. Schnapsflaschen im Miniaturformat machten die Runde. Viktor trank kräftig mit, Milton sah ihm zu. Die Kundin und zwei weitere Frauen hatten den Staublappen an sich gerissen und versuchten spielerisch, ihn Viktor um den Hals zu knoten. Die dazugehörigen Männer, alle drei in samtenem Gurken-Outfit, klatschten zum Rhythmus der Marschmusik.

Viktor lief langsam rot an und Milton überlegte schon, ob er ihm zu Hilfe kommen sollte. Da stieß ihn jemand in die Seite. Glühwein schwappte ihm über die Finger und sickerte durch den Stoff seiner Handschuhe.

„Madame?“ Der Mann, der ihn gestoßen hatte, hielt seinen eigenen Becher entschuldigend in die Höhe. Er trug einen Camouflage-Overall mit rosa und olivgrünen Flecken und einen Blechtopf von der Wehrmacht auf dem schütteren Haupthaar. „Möchten Sie noch einen?“

Milton lächelte. Er hatte diesen Menschen schon mal gesehen, aber wo? Der andere starrte ihm eine Weile ins Gesicht und fuhr dann erschrocken zurück.

„Madame ist ein Mann?“

Jetzt erinnerte sich Milton. Vor ihm stand der Besucher aus dem Feuerwehrmuseum, der ihn mit der Uniform erwischt und schließlich den Job gekostet hatte. Damals trug der Mann einen Trenchcoat. Sein Camouflage-Overall samt Kopfbedeckung ließ ihn noch unvorteilhafter aussehen. Er schien seit mindestens drei Nächten nicht mehr geschlafen zu haben. Hohle Wangen hatte er, und seine Lippen glänzten unnatürlich rot.

„Im richtigen Leben schon“, gab Milton zurück. „Und Sie?“

Der Mann spreizte seine Finger nacheinander, als wollte er auf dem Plastikbecher Flöte spielen, dann hob er die rechte Hand und zeigte auf seinen Overall. „Immer“, bekannte er.

„Das ist aber ungesund fürs Sexualleben.“ Eine Welle gähnender Langeweile überkam Milton. „Wenigstens im Fasching sollten Sie sich mal eine Auszeit gönnen.“

In den glühweinvernebelten Augen des Mannes stieg Sorge hoch. „Wie meinen Sie das?“

Milton spürte, wie der feuchte Stoff seiner Handschuhe langsam kalt wurde, er bereute, sich auf das Gespräch eingelassen zu haben. Viktor stand immer noch inmitten seiner Verehrerinnen. Inzwischen prangte der Staublappen als rosenkohlartiger Knödel auf seiner Nase, festgeklemmt unterm Brillengestell.

„Wenn Sie tagein, tagaus immer das Gleiche machen, können Sie irgendwann überhaupt nicht mehr.“ Damit hoffte Milton, den Mann loszuwerden. „Das geht auf die Psyche, auf die Libido, auf die Potenz. Und dann müssen Sie zum Psychologen. Der Anfang vom Ende.“

„Wie furchtbar.“ Der Mann starrte in seinen Glühweinbecher. „Genau das sagt meine Frau auch immer. Aber ich habe ihr nie geglaubt.“ Seine glänzenden Lippen spannten sich zu einem grimmigen Lächeln.

Milton trank den Rest Glühwein und zog sich die kalten, schlabberigen Handschuhe von den Fingern. Wenn Viktor nicht bald einen Befreiungsschlag wagte, würde er nach Hause gehen. Wenigstens schien ihn der Alte nicht erkannt zu haben.

„Wie ist es denn so?“, hörte er den Mann fragen, und eine Schrecksekunde lang fürchtete Milton, er habe ihn doch erkannt.

„Was?“

„Als Frau.“ Der Alte spitzte die überreifen Lippen. „Fühlt man sich da besser?“

„Kalt.“ Milton knüllte die feuchten Handschuhe zusammen und steckte sie in seine Tasche. „Seien Sie froh, dass Sie eine Hose anhaben.“

Der Mann sah ihn eindringlich, fast flehend an. „Aber Sie denken trotzdem, ich sollte es mal versuchen?“

Milton dachte an seine Gerichtsakte und versuchte, sich den Namen des alten Mannes ins Gedächtnis zu rufen. Er wusste noch, dass der Name ihn damals belustigt und ihm ein wenig über seine prozessbedingten Depressionen hinweggeholfen hatte.

„Wenn Sie es in diesen tollen Tagen versuchen, wird nicht viel schief gehen. Hinterher können Sie sich die Sache in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Bis Ostern ist es noch lang.“

„Stimmt.“ Der Mann wirkte niedergeschlagen. „Mir graut schon davor. Meine Frau ist sehr katholisch, also ist die Fastenzeit eine riesige Sache für sie. Sechs Wochen lang wird sie nichts anrühren, das ihr in irgendwelcher Hinsicht Spaß macht. Nicht mal mich.“

In diesem Moment glaubte Milton zu verstehen, dass religiöse Enthaltsamkeit gelegentlich eine gute Deckung bieten konnte. Gleichzeitig schob sich der Name des Mannes wieder in sein Gedächtnis. Graut oder Kraut und davor noch was. Elfenkraut. Das war es! Milton erinnerte sich, der Name klang nach Märchenbuch und Hexerei. Der Mann war Patentanwalt gewesen. So stand es in der Akte. Während der Anhörung kam er mit Paragraphen und behauptete, Milton habe ihn in der verbotenen Aufmachung provozieren wollen. Als Milton erklärte, er habe den Mann erst gar nicht gesehen, entgegnete Elfenkraut, Miltons Verhalten sei eindeutig libidinös motiviert gewesen. Daraufhin hatte Milton eine kurze Rede gehalten, über betagte Viagra-Schlucker und die geistigen Schäden, die potenzsteigernde Mittel bei Rentnern anrichten konnten. Den Beweis zitierte Milton aus Michel HouellebecqsElementarteilchen. Das Ende vom Lied: vierzig Stunden gemeinnützige Arbeit. Müllsammeln im Park.

Wie auf Kommando stürmte eine grölende Gruppe Flaschen schwingender Jugendlicher um die Ecke. Unter ihren Kapuzen und Gangsta-Wollmützen glichen sie den anderen Narren, doch sie bewegten sich schneller, zielgerichteter. Offenbar wollten sie zur trägen, glühweinseligen bürgerlichen Faschingsstimmung ihre eigene Note beitragen.

„Sehen Sie nur!“ Elfenkrauts empört resignierten Tonfall hatte Milton in den Tagen des Müllsammelns oft von Menschen gehört, die sich nicht trauten, selbst für Recht und Ordnung zu sorgen. Die erste Bierflasche splitterte gegen eine Hauswand. Die Jugendlichen begannen einen Teufelstanz. An Glühweinbuden, Straßenschildern und der Basstuba eines Musikanten gingen Flaschen zu Bruch. Mit perfekt synchronisiertem Gebrüll durchbrachen die Halbwüchsigen die Formation der Blaskapelle und hinterließen angeschlagene Trommeln, verbogenes Blech und durchnässte Uniformen. Die Marschmusik geriet aus dem Takt, setzte mehrfach aus und endete schließlich mit dem verlorenen Pfeifton einer Piccoloflöte und dem Tsching zweier Becken, die einem jungen Wollmützenträger von links und rechts so derb über die Ohren geschlagen wurden, dass er sich taumelnd von dannen schleppte.

Milton sah, wie Viktor sich den zusammengeknüllten Staublappen unter der Brille hervorzog. Seine aufgedrehten Verehrerinnen rückten unauffällig hinter ihm zusammen. Elfenkraut war die Lust vergangen, sich weiter mit Milton zu unterhalten. Zwischen Hauswand und Glühweinbude wollte er im nächstgelegenen Gässchen verschwinden. Zu seinem Pech traf er dort auf einen Jugendlichen, der gerade versuchte, seine Notdurft in einen grau vereisten Blumenkübel zu verrichten. Elfenkraut sagte etwas und gestikulierte heftig, worauf sich der Junge mit der einen Hand den Reißverschluss hochzog und Elfenkraut mit der anderen eine Wodkaflasche gegen den Helm rammte.

„Heh, heeh!“ Viktor erreichte Elfenkraut noch vor Milton, doch in Anbetracht der Damenkleidung und der Schuhe war Miltons Tempo auch nicht schlecht. Er streckte das rechte Bein genau im richtigen Moment vor, und der flüchtige Schläger, der bereits den Blumenkübel, ein schlecht verlegtes Stromkabel und einen umgestürzten Stehtisch hatte bewältigen müssen, ging direkt vor ihm zu Boden. Elfenkraut verlor ebenfalls das Gleichgewicht. Von Viktor gestützt, lehnte er mit schief sitzendem Wehrmachtshelm an der Hauswand. Eine Gefolgsfrau Viktors spähte besorgt um die Ecke der Glühweinbude.

„Schöner Fall.“ Milton ließ seine Handtasche über dem gestürzten Jungen hin- und herpendeln. „Und was machen wir jetzt?“

„Lass mich in Ruh, du blöde Fotze“, röchelte der Junge. Unter seiner Mütze schlängelten sich dunkle, weiche Haare hervor; auf seinem flaumigen Kinn zeigten sich die ersten Anzeichen einer Platzwunde.

„Du brauchst ein Taschentuch“, stellte Milton fest.

„Der da hinten hoffentlich auch“, stieß der Junge gehässig hervor. „Damit es sich lohnt.“

Milton kramte in seiner Handtasche. Aus den Tiefen eines ihm bisher verborgenen Nebenfaches förderte er ein Spitzentüchlein zutage, das schwach nach Eau de Cologne roch. „Du siehst furchtbar aus.“

„Was kümmert’s dich, Alte.“ Der Junge riss ihm das Taschentuch aus der Hand und hielt es sich ans Kinn. „Du bist doch selber aus dem letzten Jahrhundert.“

„Wir Drag Queens haben ein hartes Leben“, erwiderte Milton. „Besonders angesichts solcher Helden wie du einer bist.“

„Ich glaub, das muss genäht werden“, wimmerte der Junge. „Oh Scheiße!“ Er hob den Kopf und starrte Milton ins Gesicht. „Ich weiß nicht. Krieg ich jetzt ne Blutvergiftung oder so was? Mein Schädel tut mir so weh!“

„Nimm doch den Eierwärmer ab“, schlug Milton vor. „Dann können wir nachsehen.“

„Waas?“, sagte der Junge, hockte sich auf die Fersen und starrte Milton noch eindringlicher an. „Was bist du eigentlich für einer?“

„Bloß ein Faschingsnarr.“ Milton zog dem Jungen die Mütze vom Kopf und tastete in seinen dichten Haaren nach Spuren weiterer Verletzungen. „Ich kann nichts finden. Nur dein Kinn …“

Ein Polizistenpärchen hatte sich den Weg durchs Getümmel gebahnt. Zwei Männer. Die anderen Gangsta-Narren waren längst verschwunden, und der Junge merkte es zu spät.

„Oh, nee!“

„Sie haben den Herrn dort hinten mit einer Flasche angegriffen?“, fragte der Ältere der beiden Polizisten.

„Er hat mich beim Pissen angegrabscht“, heulte der Junge. Dann zeigte er auf Milton. „Und der da hat … hat mich … mich …

„ … zu Fall gebracht, als du weglaufen wolltest“, ergänzte Milton.

„Drogen oder Alkohol?“, stellte der jüngere Polizist müde die immergleiche Frage. Der Junge stieß eine Flut wüster Schimpfwörter hervor, und die beiden Beamten verständigten sich mit einem Blick.

„Dann wollen wir mal.“

Sie packten den Jungen links und rechts unter den Armen und zogen ihn hoch. Das vollgesogene Spitzentaschentuch fiel zu Boden. Über die Schulter sah der Junge fluchend und zeternd zu Milton zurück. Milton winkte. Eine junge Frau mit Elbenohren und roter Turmfrisur stand plötzlich neben ihm. Der Junge zappelte und schrie, bis ihm der ältere Polizist den Arm verdrehte. Erst dann ließ er sich mitziehen.

„Ein temporärer Sieg des welken Alters über die Jugend“, sinnierte die junge Elbin.

„Noch ein paar Jahre, und sie werden die Welt regieren“, stimmte ihr Milton zu. „Und wir sitzen dann im Altersheim und müssen ihnen dabei zusehen.“

Die Elbin wandte den Kopf mit einem Schwung, den er kannte, und ihr Blick traf auf seine Schuhe. „Gutes Ensemble! Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Dieses Kleid! Ein Original aus den Zwanzigern! Wo haben Sie das denn aufgetrieben? In meinem Laden jedenfalls nicht, so was hätte ich Ihnen nie verkauft.“

Milton erinnerte sich und lachte. Die Schöne aus dem Secondhandshop trug ein grünes Fantasiegewand. Ihre Ohren waren heute noch spitzer als ihre Wimpern.

„Latex.“ Mit dem Zeigefinger strich sie sich vorsichtig über das linke Ohrläppchen. „Nur bitte nicht daran ziehen, die kleben teilweise an den Haaren fest, und das zerrt ganz fürchterlich.“

„Hübsch.“ Milton betrachtete sie wohlwollend. „Leider habe ich Angst vor dem Herrn der Ringe, sonst hätte ich mir alle drei Filme angesehen und Sie sicher wieder erkannt.“

„Keine Bange. Ich bin nur eine kleine Statistin, und das sogar in meinem eigenen Leben.“

„Die Größe liegt im Auge des Betrachters.“ Milton wunderte sich nicht über ihre plötzliche Niedergeschlagenheit. Sie passte zu seiner eigenen. Er sah, wie sich Viktor noch immer um Elfenkraut bemühte. Die Verehrerinnen trippelten wie nervöse Kanarienvögel vor den beiden auf und ab. Eigentlich sollte er Viktor helfen. Doch er hatte keine Lust dazu. Stattdessen kramte er das Absinthfläschchen aus der Handtasche und reichte es der Elbin.

„Wollen wir durchbrennen?“

Sie nahm einen kräftigen Schluck, dann rückte sie sich die spitzen Ohren zurecht, die vom Faschingstrubel schon ein bisschen verbogen wirkten, und wies auf eine Gruppe älterer Herrschaften in sichtbar lustlos zusammengetragenen Kostümen aus Tchibo-Beständen. Alle drängelten sich gierig um den Glühweinstand, als hätten sie den Zwischenfall von eben längst vergessen.

„Ich muss die da noch in einer Weinstube abgeben“, sagte die Elbin. „Aber dann habe ich frei.“

Die Elbin hieß Renée. Zur Fastnachtszeit geleitete sie Touristen durch die mittelalterliche Innenstadt, um ihnen den heimischen Narrenkult näher zu bringen. Ihre Route führte zu sämtlichen Blaskapellen, Fanfarenzügen und Fahnenschwingern der Gemeinde. Zahlenden Fremden erklärte sie auch den traditionellen Sturm auf das Rathaus und die obligatorische Verschleppung des Bürgermeisters, der von den Narren erst in ein robustes Netz gewickelt und dann durch die Gassen in irgendeine dunkle Beiz seiner Wahl geschleift wurde, wo er sich auf Kosten der Stadt ungestört volllaufen lassen durfte. Das alljährliche Ritual wurde von den Touristen mit Neid und Anerkennung beobachtet.

„Die werden alles gutheißen, solange es nur nach Brauchtum riecht“, sagte Renée und wies auf die dunkle Vertäfelung der Besenwirtschaft, in der sie saßen. Verschiedene Schnitzereien an der Wand stellten mittelalterliche Folterszenen dar. „Ich glaube, in den tollen Tagen könnten wir sogar öffentliche Hinrichtungen durchführen. Wenn in den städtischen Annalen geschrieben steht, dass sich hier einst die Scharfrichter in der Technik des Hängens und Würgens geübt haben, gibt es doch keinen Grund, diese wundervolle Tradition nicht wenigstens in der Fasnet wieder aufleben zu lassen.“

Milton lachte. „Die Kinder wären bestimmt begeistert! Dafür würden sie jedes World of Warcraft-Computerspiel links liegen lassen. Wussten Sie eigentlich, dass dreiundsiebzig Prozent der deutschen Jugendlichen dafür sind, die Todesstrafe wieder einzuführen? Dazu haben sie neulich im Internet eine Umfrage gemacht.“

„Das hat wohl weniger mit Traditionsbewusstsein als mit Langeweile zu tun“, erwiderte Renée. „Jemanden mit dem Wii-Controller erstechen und den Bildschirm abschalten, sobald die Sauerei zu groß wird. So stellen sie sich das vor. Aber es hat keinen Stil.“

„Von ihren Eltern haben viele nichts anderes gelernt“, gab Milton zu bedenken.

Renée fixierte ihn mit Röntgenaugen und schwenkte gleichzeitig ihr Weinglas, bis der heimische Rote fast den Rand erreichte. „Sie haben keine Kinder, oder? Aber sei’s drum. Die Welt braucht mich heute nicht mehr, und hier wird mich niemand finden. Wir sollten also noch was trinken.“

Milton winkte einer betagten Kellnerin im Varietékostüm, die sich einen großen freundlichen Mund über ihren grimmigen eigenen gepinselt hatte, und bestellte zwei weitere Rote.

„Warum möchten Sie denn nicht gefunden werden?“, wollte er wissen.

„Diese Frage ist mir zu persönlich. Sie hören sich an wie mein Heilpraktiker.“

„Vielleicht bin ich ja einer“, schlug Milton vor.

„Vielleicht. Obwohl, als Sie da neulich in meinen Laden spaziert kamen, da dachte ich eher, der Geheimdienst hätte Sie geschickt.“

„Oh!“ Milton war ehrlich überrascht. „Ich bin eben unauffällig. Ein richtiger PhysioGnom. Aber Sie … Sie haben also etwas zu verbergen. Würde es sich für mich lohnen, Sie zu verraten?“

„Das würden Sie tun?“ Die Elbin betrachtete ihn interessiert.

„Wie hoch ist denn das Kopfgeld, das man auf Sie ausgesetzt hat?“

„Phantastisch hoch“, erwiderte die Elbin. „Allein mit den Zinsen kann man sich ein schönes Leben machen.“

Als Milton am frühen Morgen nach Hause kam, saß eine Frau vor seiner Wohnungstür. Sie war sehr hager, ihr Faschingskostüm erinnerte an Sylphen oder Trollmädchen. Roter Filzrock bis zu den Schuhen, ein lila Hemd, dessen Trompetenärmel ihr über die Hände fielen. Glatte weißkrautfarbene Haare. Ein grünes Halstuch mit schwarzen Sonnensymbolen. Die Farbe ihrer Augen rundete ihren bunten Aufzug perfekt ab.

Ihre Augen waren blau. Geschlagen.

Milton, der gerade seinen Wohnungsschlüssel aus der Handtasche ziehen wollte, sah betreten zu Boden. Misshandelte Frauen kannte er aus der Zeitung und aus den Abendserien im Fernsehen. Er besaß eine kultivierte und wohlausgewogene Meinung zu Frauenhäusern, prügelnden Ehemännern und archaisch-patriarchalischen Ehrenmördern mit deutschem Pass. Doch offenbar hatte Milton bisher ein sicheres Nischenleben geführt, denn aus der Nähe hatte er eine verprügelte Frau noch nie gesehen. In seinem Drag-Queen-Outfit kam er sich auf einmal lächerlich vor.

„Alles in Ordnung?“

Mit Daumen und Zeigefingern drückte sie sich die verquollenen Augenlider auseinander, um ihn anzusehen. Sie wirkte verwirrt. Ihr Mund war ein kleiner, trauriger, dunkelroter Fisch, der in der großen Weite ihres weißen Gesichts nicht mehr nach Hause fand.

„Ich will zu Milton Meier“, flüsterte sie. „Er ist …“ Sie stockte.

„Sind Sie sicher? Milton Meier?“ Die Eindeutigkeit seines Namens überraschte ihn selbst.

„Ich weiß, es ist unhöflich. Zu dieser Zeit …“

„Fast fünf Uhr morgens“, bestätigte Milton. „Doch das hat in den tollen Tagen nichts zu sagen.“ Er tastete erneut nach seinem Schlüssel und bekam ihn endlich zu fassen. „Aber kommen Sie doch herein.“

„Und Sie sind …?“ Die Frau blickte auf seine geöffnete Wohnungstür und hielt sich noch immer mit Daumen und Zeigefingern die Lider auseinander.

„Milton Meier, sehr erfreut.“ Milton streckte ihr seine rechte Hand mitsamt der baumelnden Tasche entgegen. „Ich habe mich heute als Ringelnatz-Anbeterin verkleidet. Fürs wahre Leben finde ich Ringelnatz allerdings zu derb. Ihr Kostüm ist aber auch nicht schlecht. Was soll es darstellen?“

„Derb …“, wiederholte die Frau und stolperte ungelenk gegen den Türrahmen. Sie war ganz offensichtlich am Ende ihrer Kräfte. Sie war nicht einmal mehr in der Lage, einen vollständigen Satz über die Lippen zu bringen.

Eine halbe Stunde später lag sie fest schlafend in Miltons Bett, während er unerwartet nüchtern und ohne Hintergedanken auf einem seiner Sperrmüll-Sessel saß und sich fragte, was sie bei ihm wollte. Als Schutzschild vor einem Halsabschneider-Ehemann oder einem stechwütigen Vater würde er ihr kaum dienen können, dafür war er zu feige und schwerfällig. Aber sie kannte seinen Namen. Milton Meier war offenbar weniger einzigartig als angenommen. Sonst müsste er sich Sorgen machen. Milton erhob sich leise und holte seinen Laptop, um nachzusehen, was das Internet über ihn wusste. In den Weiten des Netzes gab es zahllose Miltons, doch keine der Suchmaschinen landete einen Treffer. Vielleicht war er tatsächlich nicht auffällig genug. Leute, die sich mit aller Macht daneben benahmen, sich in U-Bahnen entblößten, den Kot ihrer Hunde nicht beseitigten oder sich in Gegenwart ihrer Neugeborenen eine Zigarette anzündeten, solche Leute konnten für den Rest ihres Lebens am Internet-Pranger landen, wenn sie Pech hatten. Dann blieb ihnen nur, vor einen Zug zu springen oder sich von ein paar netzfernen Mönchen in einem abgeschiedenen Kloster aufs Nirwana vorbereiten zu lassen. Die skrupellosesten unter ihnen besorgten sich ein Maschinengewehr und mähten noch eine Schulklasse nieder, ehe sie die Welt verließen.

Kurz kam Milton der Gedanke, sein Wohnhaus via GoogleEarth anzuschauen. Doch dann schaltete er den Rechner wieder ab. Vorgärten von Mietskasernen wirken deprimierend. Irgendwo steht immer ein Mülleimer herum, und die großzügig bereitgestellten Plastikrutschen, mit denen träge Stadtkinder zur körperlichen Ertüchtigung animiert werden sollen, sehen sogar aus der Satellitenperspektive schäbig aus.

Die Frau schnarchte leise. Den hervortretenden Adern ihrer herunterhängenden rechten Hand nach zu urteilen, musste sie um die Vierzig sein, wie er selbst. Sie hatte ihm nicht einmal gesagt, wie sie hieß. Ihr Gesicht verschwand fast zwischen seinen Biber-Bett-Kissen, ein protestantisches Sopranistinnen-Gesicht, dessen Trägerin geschieden ist, Kirchentage besucht, für den Weihnachtsbasar jede Menge Spekulatius bäckt, mit den Kindern vorm Zubettgehen Gebete rezitiert und vom Schutzengel erzählt. Sollte er jetzt zu ihr in sein Bett steigen, sie von hinten umarmen, bis sie sich umdrehte und ihm ihren kühlen evangelischen Atem ins Gesicht blies? In den tollen Tagen passierten die tollsten Dinge. Ihre blauen Augen allerdings waren keine Clownsschminke.

Draußen läutete eine Kirchturmglocke. Bald würden die ersten Streifen der Dämmerung über die Stadt kriechen und den letzten Feiernden neues Licht geben. Milton war aus seinem Kleid gestiegen und hatte sich in einem bequemen dunklen Jogginganzug vergraben. Seine Müdigkeit war weg. Er könnte seine alte Kinder-Plastikknarre aus dem Keller holen und damit eine Bank überfallen. Es war sechs Uhr, Zeit für den Nachtwächter-Schichtwechsel und die ersten Geld-Transporte. Mit seiner alten Skimütze und den Wildleder-Laufschuhen würde er einen glaubwürdigen Bankräuber abgeben. Kurz vor Schichtende würde er die Überwachungskamera mit einer selbst gekauten Packung Orbit White überkleben, dem gähnenden Nachtwächter seine Kinderknarre an den Hinterkopf halten und ihn dazu bringen, ihm eine Plastiktüte voller knitterfreier Banknoten zu überreichen. Damit würde er sich aus dem Staub machen, bevor der Alarm losging. Im Stadtpark würde er sich der Knarre entledigen, die Plastiktüte im hinter einem Baum versteckten Minirucksack verstauen und mit dem Geld auf dem Rücken als harmloser Jogger nach Hause rennen, während die Polizei Straßensperren errichtete und jeden verdächtigen PKW nach großen Scheinen durchfilzte.

Die Frau hieß Silke. Diplompsychologin Silke Weidemann, eine Freundin seiner Schwester Mime. Kein Wunder, dass Milton zunächst nicht wusste, wer sie war. Sie hatte sich verändert. Vor etwa einem Jahr war sie noch eine feiste Frischvermählte gewesen. Inzwischen trug sie deutlich weniger Gewicht mit sich herum und ihr Ehering schien abgefallen zu sein. Dafür hatte sie sich ein neues Problem eingefangen.

„Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem Patienten.“ Silke schob sich ein Haarband zwischen die Zähne. „Er ist das große V für Versagen, das an der Decke klebt und zu mir herabgrüßt, sobald ich morgens die Augen aufmache. Ich sollte ihn an einen Psychiater überweisen, damit er Psychopharmaka bekommt. Doch er will das nicht, er sagt, er kriegt Pestbeulen davon. Wenn das so weiter geht, kriege ich noch selber Pestbeulen, weil ich aus schierer Verzweiflung die Mittel schlucke, die eigentlich für ihn sind“, brachte sie undeutlich hervor, während sie ihre Haare zu einem bescheidenen Zopf zusammenraffte und mit dem Band umwickelte. „Er war der Meinung, ich sei nicht seine Mutter.“

„Womit er vermutlich recht hat.“

„Seine Mutter hat ihn früher auf dem Stuhl festgebunden, bis er seinen Teller leer hatte. Selbst Milchreis musste er essen, bis zum letzten Korn.“

„Was ist an Milchreis auszusetzen?“, erkundigte sich Milton.

„Es macht ihm noch mehr Beulen. Laktoseunverträglichkeit. Aber dieses Wort kannten in den sechziger Jahren höchstens ein paar Laborratten. Nicht mal die haben daraus die notwendigen Schlüsse gezogen.“

Milton betrachtete die Milchtüte, die immer noch auf dem Frühstückstisch stand. Einskommafünf Prozent Fett. EU-Öko-Siegel. Pasteurisiert. Homogenisiert. Genau das Richtige, um es sich in den Kaffee zu schütten.

„Danach fängt man an zu schmatzen“, sagte er.

„Bitte?“ Die Frau sah ihn hoffnungsvoll und ein bisschen verängstigt an. Milton fragte sich, was sie von ihm erwartete. Sollte er etwa über sie herfallen und ihr die Reste ihres jämmerlichen Kostüms vom Leib reißen? Oder wollte sie nur mit ihm reden? Über einen Problempatienten, dessen Geisteskrankheit schon dadurch diagnostiziert war, dass er sich ausgerechnet diese Frau als Psychotherapeutin ausgesucht hatte.

„Milch hat eine extreme Oberflächenspannung“, erklärte Milton. „Beim Sprechen löst sich die Zunge schwer vom Gaumen und macht so ein klickendes Geräusch. Ein Schmatzen. Das kann äußerst störend sein, besonders bei Tonaufnahmen. Ist er vielleicht Synchronsprecher?“

„Er ist zwanghaft.“ Silkes Stimme klang weich. „Und in seiner Freizeit dreht er schöne kleine Filme über sein Leben, die keiner sehen will. Ich meine, vielleicht … vielleicht haben Sie ja recht.“

„Was?“

„Er dreht Filme aus der extremen Subjektive und beschreibt gleichzeitig, was er da sieht“, sagte Silke. „Er sagt, er will den Augenblick festhalten zwischen Zukunft und Vergangenheit. Also filmt er einen Baum und sagt: Das ist die Kastanie vor meinem Haus. Eine wunderschöne Idee, sehr künstlerisch. Aber dafür muss er eben laufend ins Mikrophon sprechen.“

Milton versuchte, sich ein Leben vorzustellen, in dem ihm eine innere Stimme pausenlos die Welt erklärte. Er war sich sicher, dass es einen Namen für dieses Leiden gab. Selbst als Film musste es eine quälende Angelegenheit sein, dumpf und schwerfällig, unironisch, wortgetreu, eindeutig, unverblümt. Ein Film für Blinde. Die absolute Wahrheit.

„Woher wussten Sie das?“, fragte Silke.

„Es ist zum Durchdrehen.“ Milton vermerkte enttäuscht, dass sie auf seinen primitiven kleinen Wortwitz nicht reagierte. „Ich wusste es nicht. Ich weiß eigentlich nie etwas. Ich habe bloß geraten.“

Daraufhin begann sie zu lachen, lang anhaltend und atemlos. Es klang, als wollte sie weinen.

Ring der Narren

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