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New York City, Herbst 1978

Wir befinden uns in einem großen Raum im ersten Stock, wo Pisti und Eva wohnen. Squat Theater, eine ungarische Gruppe von Schauspielern-Künstlern-Untergrundintellektuellen, deren Arbeit in Budapest verboten war, weil sie »moralisch anstößig, obszön« sei und nicht der »kulturpolitischen Zielstellung der Regierung« diene, lebt jetzt in einem Gebäude auf der West 23rd Street mit ihren Kindern. Sie brauchen einen Ort, wo sie leben und arbeiten können, wo sie die Grenzen zwischen ihrem kollektiven Alltag und ihren Performances, dem Inneren ihres Theaters/Zuhauses, zwischen Passanten und Straßenverkehr auflösen und neu ausrichten können. Sie verbringen Monate damit, zu planen und die Details ihrer Performances zu diskutieren, doch sie proben nicht.

In Andy Warhols letzte Liebe sitzt Eva Buchmuller, eine junge Frau mit langem Haar und bekleidet mit einem kurzen schwarzen Unterrock, vor einem Bücherregal an einem Tisch. Sie beschwört die Stimme der toten Ulrike Meinhof durch ein Paar Kopfhörer hindurch. Sie raucht, hört angestrengt zu:

zzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzz

Hier spricht Ulrike Meinhof zu den Erdenbewohnern. Ihr müsst euren Tod öffentlich machen. Am Abend des 9. Mai 1976 in einer speziellen Einzelhaftzelle des Stammheimer Gefängnisses, in der ich ohne Schuldspruch und auf Anweisung des Oberstaatsanwaltes der Bundesrepublik Deutschland als eine der Anführerinnen der Roten Armee Fraktion gefangen gehalten wurde

zzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzz

Als sich der Strick um meinen Hals zusammenzog, im selben Moment, in dem ich meinen Verstand verlor, verlor ich mit einem Mal auch meine Wahrnehmung, gewann jedoch mein gesamtes Bewusstsein und Urteilsvermögen zurück. Ein Außerirdischer machte Liebe mit mir.

Wenn es tatsächlich wahr ist, wie manche Tageszeitungen schreiben, dass man Spermaspuren auf meinem Kleid fand, stammen diese womöglich vom Geschlechtsverkehr.

Nachdem wir Liebe gemacht hatten, stellte ich fest, dass mein Bewusstsein in einem neuen und unverletzten Körper weiter wirkte.

Im Anschluss nahm mich der Außerirdische mit zu einem besonderen Planeten, der zu Andromeda gehört. Die Gesellschaft dort geht mit Zeit und Raum intensiv, sanft, diszipliniert und frei um. Over …

In diesem Stück treffen Andy Warhol und Ulrike Meinhof aufeinander, zwei kulturelle Ikonen, die gegensätzlicher jedoch kaum sein könnten. – Sie bilden eine dialektische Synthese, die in psychische Zustände transponiert wurde. Jahre später schrieb Eva Buchmuller: »Ulrike Meinhof ist eine Legende, die Politik in tragische Poesie verwandelte […]. Nach den Grundsätzen der Popkultur ist Andy Warhol ein Klon seiner selbst. Deshalb ist er so real, wie es eigentlich nur geht. Wie sind Andy Warhol und Ulrike Meinhof einander begegnet? Reiner Zufall.«

Am 17. Januar 1996 flog ich von Los Angeles nach Berlin.

Ich war unterwegs nach Deutschland, um den Berliner Filmfestspielen beizuwohnen, beziehungsweise, um genauer zu sein, um zum European Film Market zu gehen, weil nämlich Gravity & Grace, jener billige Indie-Film, den ich in den drei Jahren zuvor produziert, geschrieben, geschnitten hatte, bei dem ich Regie geführt hatte und den ich nun auch noch vertreiben musste, bereits zweimal in allen drei Kategorien der Berliner Filmfestspiele abgelehnt worden war. Vor einigen Jahren war der European Film Market den Festspielen als kommerzielle Plattform hinzugefügt worden – eine profitable Handelsmesse, auf der all jene Waren gekauft und verkauft wurden, die als unpassend für die Festspiele galten. Hunderte von europäischen Fernsehdramen, asiatischen Action-Filmen, lateinamerikanischen Thrillern wechselten die Besitzer und wurden zwischen Produzenten und Vertrieben, Einkäufern fürs Fernsehen, Entertainment-Anwälten, Banken und Regierungskonsortien hin und her gereicht. Der European Film Market ist der beste Ort für den Zweitmarkt des »Welt-«Films – das heißt für alles das, was außerhalb von Hollywood produziert wird.

Gravity & Grace war ein experimenteller 16-mm-Film über Hoffnung, Verzweiflung, über religiöse Gefühle und religiöse Überzeugungen. Er ist sehr philosophisch, anstatt von Handlung oder Figuren getragen zu werden, und er rahmt das Leben zweier Teenager-Mädchen und einer desillusionierten Frau in ihren Vierzigern.

Tagebucheintrag auf dem Flug von Los Angeles nach London, 17. Januar, die ersten neun Stunden der zwanzigstündigen Reise: »Ich will nicht nach Berlin.«

Weil keine meiner Bekannten oder Freundinnen diejenige sein wollte, die mir endlich ins Gesicht sagt, dass der Film gescheitert sei, taten alle so, als sei diese »Einladung« zum European Film Market eine Ehre und sogar eine Chance. Und dann gab es ja noch jene urbane Legende, dass Jennifer Montgomery, die Ex-Freundin meiner Freundin, der Lyrikerin Eileen Myles, im Jahr zuvor auf dem Market einen Vertriebsvertrag mit New Yorker Films für ihren Spielfilm Art for Teachers of Children unterzeichnet hatte, obwohl der Film vom Festival abgelehnt worden war …

Doch Gravity & Grace war schlicht und einfach unattraktiv das Heimvideo einer Amateurintellektuellen, auf bulimische Längen ausgedehnt, gefilmt und geschnitten in drei Ländern mit einer Besetzung und Crew von insgesamt siebzig oder achtzig Personen, das ungefähr so viel wie eine Dreizimmerwohnung in Park Slope gekostet hatte. In den sechs Monaten nach seiner Fertigstellung war der Film von jedem größeren Filmfestival abgelehnt worden, von Sundance bis Australien und Turin.

Glücklicherweise unterhielt die New York Foundation for the Arts ein Programm, das Filmen wie diesem unterstützend zur Seite stehen sollte. Von der unternehmungslustigen Lynda Hansen initiiert, kaufte die Delegation der American Independents and Features Abroad jedes Jahr einen ganzen Satz von Plätzen auf dem European Film Market und verkaufte sie dann an ein Dutzend Filmemacher weiter. Der Preis – etwa 3000 Dollar – deckte die Registrierung für den Market und eine Aufführung des Films. Als kostenlosen Bonus sorgte die NYFA dafür, dass jeder Film eine Seite PR-Gequatsche in der American Independents-Broschüre erhält und der Regisseurin auf dem Market der Zugang zu »dem Stand« ermöglicht wird, was im Grunde nur bedeutete: Zugang zu den Nachrichtenfächern der Produzenten, die diese Fächer wiederum, wie sich in meinem Fall erwies, überhaupt nicht nutzten.

In diesem Januar 1996 hatte ich nun bereits seit zweieinhalb Jahren aus meinem Koffer gelebt, war unablässig damit beschäftigt, Geld zur Finanzierung des Films aufzutreiben und meinen Ehemann Sylvère Lotringer – ein distinguierter europäischer Intellektueller – für mich zu prostituieren. Einmal war ich überzeugt, mich nun endlich vollkommen der reinen Verschwendung unterworfen zu haben, die dieser Film darstellte, als ich 350 Dollar für eine einzige FedEx-Sendung ausgab, mit der ich 16-mm-Filmbänder von Neuseeland aus, wo das Versprechen einer kostenlosen Labor-Verarbeitung nicht eingehalten worden war, nach Toronto sandte, wo die nötigen Veränderungen immerhin nicht allzu viel kosteten. Und dennoch hatte ich das Gefühl, dass dies nun noch immer nicht alles war. Einer Abwärtsspirale so weit wie möglich zu folgen hat etwas Symmetrisches. In L. A. half mir meine Freundin Pam Strugar dabei, einen Haufen handgemachter Pressebroschüren anzufertigen – ich erinnere mich an eine Diskussion über die Farbe der Büroklammern –, und also schickte ich der NYFA einen Scheck, kaufte ein Flugticket und machte mich auf den Weg.

Weil die 16 kg schwere Nullkopie von Gravity & Grace im Grunde unersetzbar war, nahm ich sie und eine Tasche Pressebroschüren mit ins Flugzeug. Und das war die richtige Entscheidung gewesen, weil nämlich die Fluglinie mein Gepäck in Heathrow verlor, während ich auf meinen Anschlussflug nach Berlin-Tegel wartete, der verschoben worden war. Es dauerte drei Tage, bis das Gepäck wieder auftauchte.

Nach einer 24-stündigen Reise trat ich mit dem Film und ganz ohne Winterkleidung in die kalte und bleierne Januarluft hinaus. Ich hatte ein Stück Papier mit der Adresse und Telefonnummer der Gelegenheitsfreundin eines Radioproduzentens aus Los Angeles, den ich kaum kannte. Bei ihr sollte ich unterkommen. Gudrun Scheidecker erwartete mich. Wir hatten einmal telefoniert. Sie hatte mal einen Sommermonat lang mit dem Radioproduzenten zusammengewohnt und betrachtete meinen Besuch unerklärlicherweise nun als Gelegenheit, ihre Schuld zu begleichen. Ich hatte mich auf dieses Arrangement gestürzt, weil der Wechselkurs zwischen dem US-Dollar und der Deutschen Mark so niedrig war. Ich wusste inzwischen längst alles über die Wechselkurse ausländischer Währungen.

Am frühen Abend des 18. Januar also nahm ich mit der Nullkopie und den Pressebroschüren unterm Arm ein Taxi vom Flughafen zu Gudrun Scheideckers Wohnung in einem zentral gelegenen Viertel namens Kleistpark. Ich trug nichts als ein Sweatshirt über meinen Reiseklamotten.

Weil wir beide Mädchen waren, berichtete mir Gudrun Scheidecker alles über ihr Leben.

Obwohl sie, wie sie selbst schon bald betonte, sehr viel jünger aussah, war Gudrun Scheidecker 48 Jahre alt. Sie war nie verheiratet gewesen, hatte jedoch zwei Liebhaber, deren Existenz sie beiden jeweils verheimlichte. Das klang kompliziert, folgte jedoch einem exakten Zeitplan: mit dem einen traf sie sich immer montags und donnerstags; mit dem Zweiten samstags und mittwochs, und an den übrigen Abenden schlief sie allein.

In Europa stehen bestimmte Formen gegenkultureller Zeit still. Gudrun Scheidecker sprach mehrere europäische Sprachen und beschrieb sich als Gymnasiallehrerin und Reisende. Ihre Stelle ermöglichte ihr, regelmäßig unbezahlten Urlaub zu nehmen, weshalb sie immer nur gerade lang genug arbeitete, bis sie wieder aufhören und ein Jahr lang reisen konnte. Die Stadt Berlin gab sich längst nicht genug Mühe, die Gudrun Scheideckers aus Vierteln gehobener Preisklasse wie Kleistpark herauszuspülen: Sie brüstete sich damit, dass sie in dieser ungeheizten, mietgeschützten Dreizimmerwohnung mit hohen Decken nun schon seit fast dreißig Jahren wohnte.

Plötzlich schüttelte Gudrun Scheidecker ihr gepflegtes langes braunes Haar und fragte mich, ob ich die Künstlerin Sophie Calle möge. »Hm, ich glaube schon«, sagte ich. »Ich liebe sie«, quietschte Gudrun, »und zwar, weil sie genau wie ich ist!«, und dann erzählte sie mir alles über das neue »Hobby«, dem sie nachging, um sich in den Jahren aufzumuntern, die sie nicht auf Bali oder Sumatra oder Fidschi verbringen konnte: »Erinnerst du dich an das Projekt, das Sophie mit ihrem Adressbuch gemacht hat? Nun«, sagte sie, »manchmal macht es mir Spaß, draußen herumzugehen und nach gutaussehenden Männern zu suchen. Ich teste, wie lange ich ihnen folgen kann, ohne dass sie mich sehen.«

Ich sah sie erschrocken an: eine schlaksige Frau in Stiefeln und Jeans, mit handgestricktem Pullover und den vollen, dunklen Lippen und der seidigen Haut einer 28-Jährigen. Mit fast fünfzig hatte Gudrun Scheidecker keinerlei Vergangenheit, war nicht gebunden, hatte keinen Beruf, keinen Besitz und nichts vorzuweisen als ihr jugendliches Aussehen. Interessanterweise fühlte nun auch ich mich wie verjüngt von dem Schauspiel dieser Gudrun. Wenn man jung ist, betrachtet man ältere Frauen, als seien sie Chiffren. Chiffren, die man lieber nicht decodieren möchte, weil man ahnt, dass man die eigene Zukunft zu Gesicht bekommen könnte. Ihre Niederlagen und Kompromisse sind so offenkundig. Man fragt sich, ob sie bemerken, dass man ihre Gesichter studiert, während sie sprechen: das hängende Fleisch um den Mund herum und auf der Stirn, die schweren, fragilen Augenlider, man fragt sich: Könnte ich das sein? Vage Ahnungen eines Mädchens, das überzeugt davon ist, dem Schicksal trotzen zu können, obwohl sie nur allzu gut weiß, dass die Frau, die sie sieht, einst auch einmal ein Mädchen war … Der Unwille, dann noch weiter darüber nachzudenken, wie man letztlich unweigerlich von hier nach dort gelangen wird. Beziehungsweise, genauer gesagt, der Unwille, sich die Ereignisse auszumalen, die einen in den bevorstehenden zwanzig Jahren noch entstellen werden …

Es war bereits dunkel geworden, und es hatte zu schneien begonnen. Gudrun Scheidecker half mir, meine Sachen zu verstauen. In der Wohnung war es kalt. Das Zimmer, in dem wir gesessen hatten, Gudruns Schlafzimmer, wurde von einem kleinen Kohlenofen aus Keramik geheizt. Weil das andere Zimmer, das Gästezimmer, überhaupt nicht geheizt wurde, gab sie mir zwei Wolldecken, als sie mir eine gute Nacht wünschte.

Am nächsten Morgen drückte Gudrun mir eine U-Bahn-Karte in die Hand und wünschte mir viel Glück. Es war Montagmorgen. Ich nahm die U-Bahn bis zum Ku’damm, gegenüber vom Zoo. Ein riesiges Vordach am Gebäude, in dem sich das Hauptquartier der Berliner Filmfestspiele befand, verkündete die Weltpremiere, morgen Abend, eines Action-Films mit Sharon Stone. Der European Film Market war in einem vierstöckigen Bürogebäude in der Nähe untergebracht, das man für diese Woche in ein Messezentrum mit sechs Vorführsälen, 340 Informationsständen und 6000 hungrigen Medienprofessionellen verwandelt hatte.

Der Stand der American Independents-Delegation befand sich in einer hinteren Ecke in der Nähe des Kodak-Film-Stands auf dem dritten Stock. Gordon Laird, der Koordinator dieser »Delegation« der New York Foundation for the Arts, den ich noch nie getroffen, mit dem ich jedoch am Telefon gesprochen hatte, überreichte mir ein Informationspaket und einen Zeitplan, dann drehte er sich um, um jemand Wichtigen zu begrüßen.

Na ja, ich musste nirgendwo sein und hatte nichts zu tun, also lehnte ich mich an den Stand und blätterte in den Broschüren. Ich fand eine Liste mit Vorführzeiten für die zwölf Filme der Delegation. Ich hatte bereits das Gefühl, dass der richtige Zeitpunkt von großer Bedeutung war, es gab Tausende von Vorführungen, und Gravity & Grace war für 9 Uhr am Freitagmorgen eingeplant, dem letzten Tag des Market. Ich ging davon aus, dass die Leute erst gegen 11 Uhr in die Messehalle zu stolpern beginnen würden, wenn überhaupt, und zwar nach einer oder gar mehreren wilden Abschlusspartys, zu denen ich, wie ich feststellte, ebenfalls nicht geladen war. Und dass die Partys am allerwichtigsten sind, wissen ja alle. In Rotterdam beim Cinemarket vor zwei Jahren war ich überhaupt nur deshalb an ein paar Meetings gelangt, weil ich mich besoffen und dann mit einem ehemaligen Philosophen geflirtet hatte, der nun als Produzent arbeitete und dem ich erzählte, ich sei die Großnichte des Satirikers Karl Kraus. Meine einzige Einladung hier galt für die einzige von der NYFA gesponserte Cocktailparty am Dienstagabend …

Ich zog Gordon am Ärmel und fragte ihn: »Was ist mit den Partys?« »Mach dir keine Sorgen«, antwortete er, »du wirst noch Leute treffen, die dich dann zu den anderen Partys einladen.«

Das erschien mir schon jetzt ziemlich zweifelhaft. Überall um uns herum wurden Geschäfte gemacht, und ich schwitzte, konnte keinen Ort finden, an dem ich meinen schweren Lammfellmantel hätte ablegen können, den Gudrun mir geliehen hatte, bis mein Gepäck ankam, und also zuckte ich mit den Achseln und lächelte auf charmant selbstironische Weise. »Nun, Gordon, dann denke ich mal, wenn schon sonst nichts passiert, bekomme ich immerhin eine Menge Filme zu sehen.« Er sah mich spöttisch an. »Das ist ein Filmmarkt. Zu den Vorführungen haben nur Einkäufer Zugang.« Sofort zuckten meine Gedanken über das Dreieck zwischen Messezentrum, U-Bahn-Station Kleistpark und Gudrun Scheideckers Wohnung hinweg. Ich hatte keine Kontakte, keine Termine. »Und denk bitte daran, dass du hier bist, um zu netzwerken«, sagte Gordon und entließ mich.

»Warte!«, sagte ich. Ganz egal, wie sehr Gordon Laird mich auch hasste, wie unbedeutend, absurd meine Anwesenheit war, ich war eine New Yorker Jüdin und hatte deshalb das Recht, darauf zu pochen, dass ich etwas für mein Geld bekomme. »Was meine Vorführung angeht – sie findet so früh statt, am allerletzten Tag. Glaubst du wirklich, dass da irgendwer kommt?« Gordon sah mich an und sagte: »Das hängt ganz von dir ab. Du weißt schon, du musst die Leute auf dem Market ein bisschen bearbeiten, Flyer verteilen.«

Meine Gedanken schossen voraus zu einem Bild meiner selbst, wie ich in den Messehallen in Gudruns Lammfellmantel Flyer austeilte wie eine Zeugin Jehovas. Es war kein angenehmes Bild. Gordon sah das. »Weißt du«, sagte er, »es könnte durchaus sein, dass du noch eine zweite Vorführung zu einer besseren Zeit kaufen kannst.«

Als ich zustimmte, übergab er mich an seine Assistentin Pam, eine junge schwarze Absolventin des Sarah Lawrence College, die mir einige Formulare zum Ausfüllen gab und mir erklärte, an wen ich mich zu wenden hatte. Dieses Projekt dauerte weitere 40 Minuten und kostete 300 Dollar. Und nach all dem war es noch immer erst halb zwölf morgens. Überall wurden in anderen Sprachen Geschäfte getätigt, und nirgendwo konnte man sich hinsetzen, ohne drei Dollar für einen Kaffee zu bezahlen, und sogar wenn ich das tat, wollte niemand mit mir sprechen.

Draußen war alles grau und matschig. Ich zitterte auch trotz des Mantels, in dem ich den ganzen Morgen geschwitzt hatte. Als ich hier auf dem Bürgersteig mit dem dicken Verzeichnis des European Film Market unterm Arm stand, mit einem tragbaren Büro in der Handtasche, mit selbstgemachten Pressebroschüren, kopiertem Briefpapier mit Briefkopf und einem Filzstift, war ich mit meinem Film an einen Endpunkt angelangt. Genau hier geht alles zu Ende, dachte ich.

Innerhalb weniger Augenblicke nach ihrem Tod im Jahr 1976 wurde Ulrike Meinhof zu einer Außerirdischen. »Erst im Moment des Todes erlangt ein Erdling die Eigenschaften und die Intensität, mit der Außerirdische geboren werden.« In Squat Theaters Stück reitet Andy Warhol auf einem weißen Pferd in den Financial District von Manhattan ein. Meinhof kehrt zurück, um ihm entgegenzutreten, sie bewohnt den Wirtskörper eines Kindes. Zzzzzz. »Ihr müsst«, sagt sie, »euren Tod öffentlich machen.«

Genau wie vom Squat Theater heraufbeschworen, treffen der Mythos Warhol und der Mythos Meinhof in einer Performance aufeinander. Anstatt vorab alles schriftlich auszuarbeiten, »wurde ein potenzielles Handlungsfeld abgesteckt«. Diese Unberechenbarkeit erweckte die Wirklichkeit zum Leben, die nun auf sehr viel unmittelbarere Weise theatralisch war als das Theater.

Lange bevor der Künstler Gerhard Richter in seinen verschwommen spektralen Gemälden ihrem mythischen Bild einen Körper verleihen sollte, hatte Meinhof ihr Leben zu einem Mythos umgestaltet. Wie war sie zum Mythos geworden? Während Andy Warhol, wie das Squat Theater behauptete, »entkräftete Kunst in tägliche Nahrung verwandelte und seine Freiheit in der vollkommenen Einheit mit der existierenden Welt fand«, lebte Meinhof in der Opposition. Für Eva Buchmuller existiert ihre Politik außerhalb der historischen Zeit – als Akt »tragischer Dichtung«.

Was mich an Meinhofs Leben am meisten bewegt, ist die Art und Weise, auf die sie eine öffentliche Transformation durchlief. Die Art und Weise, auf die sie die sehr bewusste, gewissenhaftigkeitsgetriebene Welt des akademischen öffentlichen Diskurses weit hinter sich ließ und unmittelbar vor ihrem Tod in das Reich der reinen Empfindung eintrat. So wie das Squat Theater die Arbeit eines Schauspielers beschreibt, genau so lebte sie: »eine Existenz manifestierend, die sich über ihre bloße Repräsentation hinwegsetzte«.

Am 14. Mai 1970, als sie Andreas Baader dabei half, aus dem Tegeler Gefängnis auszubrechen, überschritt Ulrike Meinhof die Trennlinie zwischen Aktivistin und Terroristin. Als jene Fernsehjournalistin getarnt, die sie tatsächlich einst gewesen war, organisierte sie ein Interview mit ihm und dem schicken Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen. Als er ankam, in Handschellen zwischen zwei Gefängniswärtern, wartete sie mit ihrem Presseausweis und einer Pistole. Dann traten auf Kommando zwei Mädchen mit Perücken und Aktenkoffern ein und begannen mit den Wärtern zu flirten, schufen auf diese Weise eine Ablenkung für den maskierten Mann, der mit gezückter Waffe hereinkam. In den folgenden verwackelten 30 Sekunden drückte Ulrike eines der bleischweren Fenster auf, die von Wand zu Wand reichten, griff nach Andreas’ Hand und sprang. Sie landeten und rannten.

Bis dahin war Meinhof eine zunehmend militante, aber überaus sichtbare Journalistin und Intellektuelle gewesen, die kurz mit Klaus Rainer Röhl verheiratet gewesen war, einem Funktionär des Mainstream-Kommunismus, der später behauptete, ihr alles beigebracht zu haben. Jahre später schrieb er in einer selbstverliebten Autobiografie, dass ihre Liebe zum Kommunismus und zu ihm im Grunde ein und dasselbe gewesen seien. Mit 18 hielt man sie für brillant, sie gewann Stipendien und Preise und wurde von der Führung von Röhls eigener Partei umworben, die ihr eine große politische Karriere vorhersagte.

Mit 27 war sie Chefredakteurin von konkret, einem einflussreichen Politmagazin. Sie und Röhl hatten Zwillingstöchter und ein Landhaus. Sie hielt Vorträge, kommentierte fürs Fernsehen das politische Geschehen, schrieb. Sie war die symbolische Vorzeigefrau auf jedem Panel. Und trotzdem fand sie kein Gefallen an ihrem Leben. »Das Verhältnis zu Klaus […], [d]as Haus, die Partys, Kampen, das alles macht nur partiell Spaß, ist aber neben anderem meine Basis, subversives Element zu sein […]. Menschlich ist es sogar erfreulich, deckt aber nicht mein Bedürfnis nach Wärme, nach Solidarität, nach Gruppenzugehörigkeit«, schrieb sie mit 31 in ihr Tagebuch.

Während Meinhofs schwieriger Schwangerschaft, die ihr unablässige, lähmende Kopfschmerzen verursachte, übernahm Röhl ihre Position bei konkret, das er in eine Art deutsches Evergreen verwandelte: Politik vermengt mit affigen Bildchen nackter Hippie-Mädchen, »eine Wichsvorlage«, wie sie es nannte. 1968 ließ sie sich von ihm scheiden und führte einen Aufstand gegen das Magazin an, über den weit und breit Bericht erstattet wurde.

Und dann nahm sie sich ein Jahr lang frei und recherchierte einen Fernsehfilm namens Bambule. Sie hing im Eichenhof herum, einer Reformschule in Berlin für analphabetische, abgefuckte Teenager-Mädchen. Meinhof war zu ihrem Einfluss und Erfolg gekommen, weil es ihr nie an Worten gemangelt habe, doch in diesem Moment verliebte sie sich in die verwirrte Logik der Stimmen dieser Mädchen. Ihr fiel auf, dass es ihr unmöglich war, sie zu objektivieren. Sie stritt sich mit dem Regisseur, rebellierte gegen die Rolle der Journalistin.

In dem Manuskript, das Jahre nach ihrem Tod im Jahr 1976 publiziert wurde, lässt Meinhof ihre Figuren in ebenjenem nüchternen und abgestumpften Rhythmus ihrer eigenen Worte über das Leben auf der Straße sprechen. Sie eröffnet die Geschichte von Irene aus der Perspektive der Beobachterin: »Irenes Geschichte ist eine Kindergeschichte, ein Schabernack. Sie endet mit Polizeieinsatz und Bunker.« Und dann übernimmt Irene …

Erika und ich, wir durften ja immer auf den Hof, weil se gehofft ham, daß wir abhaun. Aber den Gefallen haben wir denen ja nicht getan. Na sind wir unten geblieben, ham da Blödsinn gemacht. Und die hat aus der Schule rausgekiekt, die Lehrerin war grad nicht rin. Und da sagt sie, sie will abhaun, ob wir ihr helfen. Naja, ham wir gesagt, ist gut.

… Ham wir so ne kaputte Leiter da an die Mauer gestellt, ging nicht, ist se nicht hochgekommen. […] Ham wir gedacht Scheiß. […] … Naja – ich hab den Anfang gemacht. Bin auf die Mauer geklettert und hab een Stein nach’m andern nach hinten runtergeschmissen. Na ich hab gedacht, hat keener gesehen. Kam Eka [sic] mal dran, hat een-zwe Steine runtergeschmissen. Bin ich wieder hoch. Nachher war die Mauer nur noch so hoch, daß man eben drübersteigen konnte. Und da [hat] se sich dann bequemt und is gegangen.

… Komm ich unten ins Zimmer, da sitzen da die ganzen hohen Tiere da. Die ham gesagt, was ich eben da hinten gemacht habe? Hab ich gesagt: Gar nischt. Und da sagt se: Was heißt gar nischt? Von der Mauer ist ja nichts mehr zu sehen. Mein ick, naja wird wohl einer n paar Steine abgenommen haben. … Naja, ein Wort ins andere, hab ich dann doch gesagt, daß ich’s war. Da wollt se wissen, wer noch bei war. Hab gesagt, na hab ich allein gemacht.

… Na ist gut, Du kommst in Bunker. Hab ich gesagt, na, ihr kriegt mich aber nicht rin, wa. […] Na ham se gesagt, müssen wir eben d’ Polizei holen. Hab ich gesagt, macht doch, mach ich mir nichts draus.

… Na hab doch nicht damit gerechnet, daß die wirklich die Polizei holen. Ham se angerufen, kam zwee Polizisten, ham gesagt, ich soll uffstehen. Hab ich nicht gemacht. Hat der eene mich hochgezogen, der andre mir n Tritt gegeben, da lag ich im Bunker, wa. […]

Und dann entdeckt Meinhof-die-Journalistin die übersinnliche Mobilität der Fiktion. Sie wechselt die Seiten, beginnt sich einzufühlen, aus der Perspektive der Mädchen zu sprechen:

Der primäre Zusammenhang zwischen Heimleben und späterem Leben ist: weil die Mädchen niemanden und nichts hatten und sich damit nicht abfinden wollten, kamen sie ins Heim. Daran, daß sie niemanden und nichts haben, hat das Heim nichts geändert. Niemanden haben, das bedeutet, daß wenn man von der Arbeit kommt, keine Butter und kein Brot im Haus ist, wenn man nicht selber eingekauft hat. […] Niemanden haben bedeutet mit anderen Worten, daß man in Kneipen und Lokalen rumhängen muß, wenn man jemanden treffen will, das bedeutet Geld ausgeben, das bedeutet, die Nacht durchmachen, das bedeutet, daß man nicht weiß, was das alles für einen Sinn hat.

Als arbeitende Journalistin und Intellektuelle empfand Meinhof eine gewisse Empathie, hatte jedoch keine direkte emotionale Verbindung zu dem, was sie an diesen Mädchen am meisten beunruhigte, was sie an ihnen als so verlockend empfand: der Mangel an Ambitionen, an Plänen, der schwebende Zustand des Verloren- und Unbedeutendseins. Anders als ihr Zeitgenosse Alexander Kluge, der die in eine Schieflage geratene Jugendliche »Anita G.« in seinem vielgepriesenen Film Abschied von gestern anthropologisierte, war Meinhof bereit, über die Distanz zwischen ihr selbst und den jungen Mädchen nachzudenken, die sie sich zum Thema gemacht hatte. Und dennoch waren sie Welten voneinander entfernt.

Würde Meinhof wirklich einen sprachlichen Krieg führen, nun da sie dem »bewaffneten Widerstand« beigetreten war? Direkte Aktion als Flucht aus der gehemmten Klaustrophobie eines arroganten, objektivierenden Diskurses. Ein Jahr später hatte sie sich mit Gudrun Ensslin angefreundet, einem Mitglied der RAF, und war federführend an Andreas Baaders Flucht aus dem Tegeler Gefängnis beteiligt. Hier ist der Wortlaut des Kommuniqués, das sie im Anschluss an ihre Flucht verfasste:

unsere aktion am 14. mai 1970 ist und bleibt die exemplarische aktion der metropolenguerilla. […] die aktion war exemplarisch, weil es im antiimperialistischen kampf überhaupt um gefangenenbefreiung geht, aus dem gefängnis, das das system für alle ausgebeuteten und unterdrückten schichten des volkes schon immer ist und ohne historische perspektive als tod, terror, faschismus und barbarei; aus der gefangenschaft der totalen entfremdung und selbstentfremdung, aus dem politischen und existenziellen ausnahmezustand, in dem das volk im griff des imperialismus, der konsumkultur, der medien, der kontrollapparate der herrschenden klasse, in abhängigkeit vom markt und vom staatsapparat zu leben gezwungen ist.

Direkte Aktion als Weg, dem Schicksal zu entgehen. Wie jeder terroristische Akt war der Überfall auf das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen »exemplarisch«, eine Metapher, die von den Rändern aus auf eine sehr viel größere Bildfläche explodierte. Meinhof jedoch lebte nach wie vor innerhalb der engen Grenzen diskursiver Sprache. Es sollte noch sechs Jahre dauern, bis auch sie, als sie in ihrer Hochsicherheitszelle im Gefängnis Stammheim einsaß, »exemplarisch« wurde. Dass sie zu einer Außerirdischen wurde – zu jemandem also, die sich verändert hatte.

Ein paar Wochen vor ihrem Mord/Selbstmord, schreibt sie in ihrem geheimen Tagebuch in demselben dunklen Tonfall, mit dem sie einst die Mädchen in Eichenhof transkribiert hatte:

das Gefühl, es explodiert einem der Kopf (das Gefühl, die Schädeldecke müßte eigentlich zerreißen, abplatzen) – das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepreßt, das Gefühl, das Gehirn schrumpelte einem allmählich zusammen, wie Backobst z. B. das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man würde ferngesteuert – das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt – das Gefühl, man pißte sich die Seele aus dem Leib, als wenn man das Wasser nicht halten kann – das Gefühl, die Zelle fährt. Man wacht auf, macht die Augen auf: die Zelle fährt

Mit 42 hatte sie endlich denselben übersinnlichen Raum bezogen, in dem sie sehnsüchtig einst die inhaftierten Teenager-Mädchen beobachtet hatte.

Einige der Menschen, die an Außerirdische glauben, halten sie für feindliche, sadistische und emotionslose Invasoren, die menschliche Genitalien und Ani mit Hightech-Teleskopspiegeln erforschen. Ein bisschen wie SM, bloß ohne jedes Vergnügen.

Genau wie im Kino und wie bei SM folgt die Entführung durch Außerirdische einer Art narrativer Struktur in fünf Akten. Das Opfer wird aus der Sicherheit ihres Hauses oder ihrer Nachbarschaft entführt. Sie wehrt sich vergeblich, bis sie unter Drogen gesetzt wird, und dann werden unsägliche Experimente an ihrem Körper durchgeführt. Ihre Identität und ihr Wille werden gebrochen. Schließlich, nachdem sie diese Marter überstanden hat, wird sie mit einer Audienz bei dem verantwortlichen Außerirdischen belohnt.

Ausnahmslos ist dieser Außerirdische männlich. Die Entführte bemerkt, dass er all den anderen Außerirdischen übergeordnet ist: seine Körpergröße, seine mentalen Fähigkeiten, sein außerordentliches Ausdrucksvermögen. Sie ist dankbar für die Großzügigkeit, die er ihr zukommen lässt, indem er mit ihr spricht. Angesichts der Anforderungen seiner Zeit und der Allwissenheit seines Willens und seines Einflusses, ist seine Aufmerksamkeit ein kostbares Geschenk.

Der Große Mann, ups, ich meinte natürlich »der verantwortliche Außerirdische«, erfreut und foltert sie sodann mit einer unvollständigen Erklärung. Er erzählt ihr Dinge über außerirdische Technologie und Kultur, die sie niemals wirklich verstehen wird. Er sagt, dass er ihr die Gründe dafür begreiflich machen wolle, warum sie entführt worden sei. Sie sei als Zeugin ausgewählt worden, oder vielleicht deshalb, um mit einem außerirdischen Baby schwanger zu gehen. Er lässt quälend wolkige Andeutungen auf das apokalyptische Schicksal fallen, das die Außerirdischen planen …

In allen Fällen wird dem Opfer erst durch diese Befragung ein »Wissen« vermittelt. Die sexuelle Begegnung wird im Anschluss dann als Preis erachtet für dieses »Wissen« und nicht als dessen Quelle. Menschen, die sich vor Außerirdischen fürchten, sind extrem puritanisch. Ähnlich einer wiederhergestellten Erinnerung sind die Experimente von Außerirdischen eine beschämende und entsetzliche Qual. Noch nie hat jemand gesagt: »Ich wurde von Außerirdischen entführt und hatte den besten Sex aller Zeiten.«

Andere, die an Außerirdische glauben, betrachten sie als Freunde. Ausnahmslos ist dieser Kontakt asexuell. Der Zeitrahmen ihrer Begegnungen mit Außerirdischen ist diffus und vertrackt wie ein experimenteller Film.

Diejenigen, die es nach Begegnungen mit Außerirdischen verlangt, organisieren sich normalerweise in Gruppen, um nach ihnen zu suchen. Einem weitverbreiteten Glauben zufolge fühlen sich Außerirdische von magnetischen Energien angezogen, die größer sind als die Energien einer Einzelperson. Um zu einer Gruppe werden zu können, muss jede Person kleine Stücke ihrer selbst abgeben. In einem Magnetpool vergrößern sich die Stücke. Höhlen im Körper jeder einzelnen dieser Personen, die von den Bruchstücken eines aufgegebenen Egos geschaffen wurden, verwandeln sich in Rezeptoren für die Gruppenenergie, für Außerirdische und für das Dritte Gehirn.

Auf diese Weise wird die Gruppe zu einem sich selbst perpetuierenden Riesendurcheinander, das seinesgleichen verschlingt und ausscheidet.

Ganz grundsätzlich sind solche Arten von Gruppen vertrackt, führungslos und harmlos. Diese Menschen suchen außerhalb ihrer selbst nach Hilfe von Außerirdischen, weil sie so unbedingt »aus der gefangenschaft der totalen entfremdung und selbstentfremdung, aus dem politischen und existenziellen ausnahmezustand« entkommen wollen.

Die Aufzeichnungen, die die Philosophin Simone Weil während des Krieges in ihrem Notizbuch festhielt und die posthum in einem Buch namens Schwerkraft und Gnade erschienen, sind eine Chronik ihrer Bereitschaft, auf Gott zu warten. In dem Film Gravity & Grace, benannt nach Weils Buch, wartet eine Gruppe zu allem entschlossener Wahnsinniger auf Außerirdische, die sie aus einem Kleinstadtgarten in Neuseeland befreien sollen.

Gegen Mitte des Jahrhunderts, gegen Ende des Jahrhunderts. Immer wenn sich eine meiner befreundeten Rivalinnen in New York nach dem Film erkundigte, sagte ich: »Ich arbeite an einem kleinen Film über Gott.« Das brachte sie normalerweise zum Schweigen.

Millenniumscountdown: noch 454 Tage.

Die zweite Vorführung war für 15 Uhr am Donnerstag angesetzt, und jetzt war es Montagnachmittag. Zum Informationspaket gehörte eine Liste aller Einkäufer auf dem Market. Ich fand ein schmuddeliges chinesisches Restaurant am Ku’damm, bei dem ich davon ausging, dass man mich dort den Nachmittag über sitzen lassen würde. Beim Überfliegen der Liste fand ich etwa zwanzig Namen, mit denen ich vage vertraut war. Von diesen hatten zehn mein Werk bereits gesehen, ohne es sonderlich zu mögen.

Wenn ich auch keine Filme machen konnte, so wusste ich doch immerhin, wie man einen Brief schreibt. Ich nahm das Papier mit Briefkopf und Pressebroschüren heraus und schrieb zwanzig persönliche Briefe per Hand, variierte dabei die Tonlage und mein Verkaufsargument je nachdem, was ich über die Vorlieben des jeweiligen Empfängers wusste. Als dann endlich alle Briefumschläge versiegelt waren, wurde es dunkel, und es schneite.

Ich zahlte meine Rechnung und ging mit dem Gedanken zurück zum Market, dass ich meine Pakete in die Briefkästen der Einkäufer werfen würde. Doch anders als die American Independents hatten diese Leute keine eigenen Postfächer. Sie konnten nur erreicht werden, indem man die Pakete persönlich in ihrem Hotel ablieferte. Ich holte den Stadtplan hervor. Die Einkäufer waren in sieben verschiedenen Luxushotels untergebracht, die innerhalb eines Umkreises von knapp fünf Kilometern vom Ku’damm entfernt lagen. Gut und gerne hundert Dollar für ein Taxi aufzuwenden, um diese hoffnungslose Mission zu erfüllen, war undenkbar. Und so ging ich los …

Auf den Bürgersteigen lag der Schnee schon wadentief. Die vollen Straßen jedoch waren frei, und so folgte ich dem matschigen Rinnstein vom Interkontinental zum Regency zum Park Royal und überreichte die Pakete an Conciergen und Portiers. Die Innenstadt wand sich um mich herum wie ein gebördelter Samtschal. Szenen der Macht, des Wohlstandes, der Ambition, aus der Perspektive eines Maulwurfs betrachtet – Flashbacks zu jener Zeit, als ich in meinem ersten Jahr in New York City noch als Kurier arbeitete und mich auf verrückte Weise beschwingt fühlte von dem Wissen, dass das hier etwas ist, was ich nie wieder tun werde.

Gudrun Scheidecker hatte auf mich gewartet, als ich gegen 23 Uhr zum Kleistpark zurückkehrte. Sie war entzückt, mit einer amerikanischen Filmemacherin unter einer Decke zu stecken, die zum Filmfestival eingeladen worden war. Sie hatte es allen ihren Freunden erzählt. Und ob es nicht unglaublich sei, dass Frauen tatsächlich noch zu unseren Lebzeiten dieselben Möglichkeiten erhalten wie Männer, wenn sie einen Film drehen wollen? Ich musste von meinem ersten Tag auf dem Market berichten – ob ich auf irgendwelche Partys gegangen sei? Mit wem habe ich geredet, und wie sei es gewesen?

Tagebucheintrag am 19. Januar gegen Mitternacht unter der Decke: »Noch vier Tage von all dem hier.«

Können Filme mit Bildern beginnen? Wer war es noch mal – war es Flaubert? –, der gesagt hatte, dass er den gesamten Roman Die Erziehung des Herzens geschrieben habe, um die Farbe des blätternden Lacks eines Fensterbretts zu evozieren? Dreißig Jahre lang hatte er rückwärts geschrieben, und ich stelle mir dieses Gelb vor: Senf, der von dem Schimmelgrau des Gebäudes getrübt und vertieft wurde.

Irgendwann in den späten Achtzigern kam ich auf Besuch zurück nach Neuseeland. Alles hatte sich verändert. Innerhalb von zwei Jahren hatte das Land fünfzig Jahre übersprungen und war von einem verschlafenen Kaff aus den Vierzigern zu einem Außenposten der Neuen Weltordnung katapultiert worden.

Wie in einem Dritte-Welt-Land war das globale Kapital in Windeseile zugeströmt und hatte diese Transformation quasi über Nacht erwirkt. Was einst die sozialdemokratische Nation einer xenophoben Mittelklasse gewesen war, war nun polarisiert und entweder sehr reich oder sehr arm. Lange Benz- oder BMW-Prozessionen krochen durch die Geschäftsmetropolen. Andere gingen zu Fuß. Nachdem man die Kupferminen in Twizel stillgelegt hatte, wurden die Arbeiterhütten umgebaut und als Wochenend-Ski-Eigentumswohnungen verkauft. Alle Regierungssubventionen für Butter, Milch und Schaffleisch – Nahrungsmittel, die einst als elementare Menschenrechte gegolten hatten – waren aufgehoben worden. Der Markt und die dazugehörige New-Age-Ideologie der Selbst-Aktualisierung hatten die Herrschaft übernommen.

Meine engste Freundin, die Arbeiterführerin Eunice Butler, war von ihrer Position als Leiterin der neuseeländischen Unfallentschädigungsgesellschaft beseitigt worden. Der gesamte Fonds war aufgelöst worden. Eunice, eine brillante, charismatische, disziplinierte Politikerin, verbrachte nun ihre Tage damit, Arbeitslosengeld zu erhalten, Workshops zu besuchen, auf denen man lernt, wie man ein astrales Medium wird und sich selbst hinterfragt. Was hatte sie falsch gemacht? War es Selbstsabotage? Wie auch der Krebs kann das Scheitern doch nur eine Manifestation der geheimen Wünsche einer Person sein. Die meisten Markenzeichen neuseeländischer Populärkultur waren verschwunden. In den Teesalons der Bahnhöfe gab es nun keine Porzellantassen mehr und kein steinhartes Gebäck. Sie waren allesamt geschlossen oder durch Fast-Food-Ketten ersetzt worden.

Unterwegs auf dem Highway 2 von Wellington Richtung Norden nach Masterton hörte ich eine Diskussionssendung auf einem christlichen Radiosender. Eine dreifache Mutter berichtete dem selbstgefälligen und sorgenfreien Moderator davon, wie Gott ihr geraten hatte, ihrem kleinen Sohn den Hintern zu versohlen. Genau wie in Rumänien und Guatemala hatte sich auch in Neuseeland der Evangelismus amerikanischen Stils rasend schnell verbreitet. Die Frau hatte jenen vertrauten, quengeligen neuseeländischen Akzent, ihre Stimme erhob sich am Ende eines jeden Satzes zu einer Frage, und ich dachte über diese merkwürdige Amnesie nach: Wie man man selbst bleiben könne und dennoch einen solch außerirdischen Glauben verfechten.

Ich fuhr in Silverstream ab, um etwas zu essen, bevor der Rimutaka-Gebirgszug begann. Die Stadtgrenzen von Wellington hatten sich verschoben. Einst hatte die Stadt bei Lower Hutt aufgehört, und Silverstream war ein Nest auf dem Land gewesen. Doch jetzt wirkte alles hier sehr unfertig, weil sich zwei Zeitschaften dabei beobachten ließen, wie sie sich verschoben und zusammenbrachen. Es gab noch immer eine Wurstfabrik und Lagerhäuser, einen Metzger und ein Ratenkaufgeschäft.

Um 18 Uhr war die Stadt geschlossen. Ich fuhr herum und fand eine Take-out-Burgerbar in einer Seitenstraße den Hügel hoch. Drinnen hatten sie eine einzelne Weihnachtslichterkette längs des Fensters aus Spiegelglas genagelt. Und alles, was ich bislang gesehen hatte, gerann in der Traurigkeit dieser Lichter –

In dem Film Gravity & Grace gerät Ceal Davis, eine neuseeländische Kleinbürgerin in ihren Vierzigern, aus der Spur ihres Lebens und in die Verzweiflung. Sie trifft einen Mann namens Thomas Armstrong, der an fliegende Untertassen glaubt. »Den ganzen Frühling über«, sagt sie zu ihm, »bin ich mir vorgekommen, als stünde ich auf dem Rand von etwas, so als ob sich etwas in meinem Rachen verfangen habe. Ich spüre da eine unglaubliche Traurigkeit, eine gute Traurigkeit jedoch. Ich will nicht, dass sie endet.«

Für Thomas ist ihre Traurigkeit eine Quelle. Gegen Ende der Landkriege im Jahr 1862 hatte der Māori-Prophet Te Ua am Vorabend des europäischen Sieges eine Vision, dass die Welt mit einer Flut enden würde. Daheim in ihrem Tudor-Haus in Remuera nehmen Außerirdische zu Ceal Kontakt auf, die ihr mitteilen, dass die Welt mit einer Flut enden wird. Ceal weiß nicht recht, ob sie das glauben soll, doch sie tut es.

Mithilfe einer numerologischen Lesung des Buches Daniel sagte der Bauer William Miller aus Massachusetts im Jahr 1818 voraus, dass die Welt in ungefähr 25 Jahren enden werde. Es gelang ihm, diese Botschaft weiter zu verbreiten, als er 1839 den wohlhabenden Geschäftsmann Joshua Humes bekehrte.

1840 warteten dann bereits Tausende von Menschen aus dem Mittleren Westen bis New Hampshire auf den Mitternachtsschrei. Zeitungen, Zeitschriften, Traktate und Pamphlete, die die kommende Herrlichkeit verkündeten, wurden überall wie Herbstlaub verstreut und in die Welt hinausgeschickt. Man legte das Datum auf den 23. April 1843 fest. In jenem Jahr waren die Erweckungstreffen so derart überlaufen, dass es unmöglich geworden war, die Massenhysterie noch in Grenzen zu halten. Man hörte davon, dass Einzelne wahnsinnig wurden. Als der 23. April kam und ging, revidierte Miller seine Prophezeiung gemäß jüdischem Kalender. Ein zweites Datum wurde festgelegt: diesmal der 22. Oktober 1844. Merkwürdigerweise schien dieser erste Widerrufden allgemeinen Glauben nur noch zu verstärken.

Joshua Humes berichtete: »Ich habe noch nie einen stärkeren oder aktiveren Glauben erlebt.« In jenem Sommer weigerten sich die Bauern in New Hampshire, ihre Felder zu eggen, weil der Herr ganz sicher noch vor dem Winter kommen werde. Andere, als sie in die Felder gingen, um ihr Gras zu schneiden, stellten fest, dass sie nicht dazu in der Lage waren, weiterzuarbeiten, und so ließen sie ihre Ernte auf dem Feld stehen, um auf diese Weise ihren Glauben zu demonstrieren. Städtische Jünger verkauften ihr Hab und Gut, um die Welt als ehrbare Menschen und bar jeder Schuld zu verlassen.

Doch am Morgen des 23. Oktobers, nachdem man die ganze Nacht über gewartet hatte, berichtete ein Jünger der Bostoner Tagespresse: »Unsere edelsten Hoffnungen und Erwartungen wurden vernichtet, und es überkam uns ein solches Weinen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Diese Enttäuschung erschien uns viel schlimmer als der Verlust all unserer irdischen Freunde. Wir weinten und weinten, bis der Tag anbrach.«

Als ich mir den Film Gravity & Grace zum zweiten Mal ansah, lebte ich in East Hampton mit meinem Mann. Nach einer Reihe leerer Erledigungen, die in der letzten Zeit immer mehr meiner Tage anfüllten, befand ich mich auf dem Heimweg. Ich war nicht mehr arm. Arm zu sein jedoch hatte immerhin eine Art von Struktur bedeutet, und jetzt war ich ein Niemand.

Alles schien hoffnungslos. Es war ein verregneter Nachmittag, Anfang November. Bachs Partita für Violine in h-Moll, in der Cello-Version von Ute Uge, lief im Radio. Ich hielt auf dem Seitenstreifen der Springs Fireplace Road an und weinte. Meine Haut wurde so porös, dass das Vibrato des Cellos in meinen Körper kroch wie ein Außerirdischer.

Hier spricht Ulrike Meinhof zu den Erdenbewohnern. Ihr müsst euren Tod öffentlich machen. Als sich der Strick um meinen Hals zusammenzog, machte ein Außerirdischer Liebe mit mir … Wie gelingt es eigentlich irgendwem, sein Leben in den Griff zu bekommen? Es gibt ein Gemälde von Franz von Assisi in der Sammlung Frick, auf dem er sich auf dem Boden windet, nachdem ihm Gott erschienen ist. Nicht länger ist er der sanfte Heilige der Vögel und Tiere. Er ist nun vollkommen geistesgestört.

Begegnungen mit Außerirdischen sind Markierungsphänomene – Nadeln auf der Karte einer emotionalen Landschaft, durch die man sich bewegt hat, ohne eine Form bemerkt zu haben. Verzweiflung ist die rührselige Ekstase des barocken Romantizismus. Man wartet auf Zeichen.

Am nächsten Tag, Dienstag, dem 20. Januar, schien es mir sinnlos, zum Market zu gehen, doch es war zu kalt in Gudrun Scheideckers Wohnung, um daheim zu bleiben.

Ich nahm die U-Bahn zum Ku’damm, und während ich hinaufging, um nach meinen Nachrichten zu sehen, dachte ich darüber nach, dass es zwar nett wäre, aber nicht sehr viel wahrscheinlicher als das Leben nach dem Tod, wenn auch nur einer der zwanzig auf meinen Brief geantwortet hätte.

Mein Postfach war leer. Gordon Laird war in eine Unterhaltung vertieft mit den Co-Produzenten eines Trailers für einen Film über irgendwelche College-Mädchen und -Typen, der für reichlich Wirbel sorgte. Ich versuchte Blickkontakt zu ihm herzustellen, und weil mir das nicht gelang, begann ich langsam über das Messeareal zu laufen, den Lammfellmantel in der Hand haltend und lächelnd. Die Rolltreppen hoch und runter, Stock eins bis vier. So ging das ungefähr zwei Stunden lang. Irgendwann bettelte ich dann die Person, die an der Tür zu Todd Verows Frisk stand, so lange an, bis sie mir schließlich erlaubte, mich hinzusetzen und mir den Film anzusehen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich ganz ungemein beeindruckt war.

Eine Umfrage der Weekly World News verkündet, dass Frauen nur vor einer Sache mehr Angst haben als vor Schlangen und Nagetieren: und zwar davor, alleine auf eine Party gehen zu müssen, wo sie niemanden kennen.

An jenem Abend auf der Party der American Independents kreiste ich langsam im Raum umher wie eine Beduinin und hielt mich an einem Glas Rotwein fest. Alle um mich herum waren ober flächlich in Gesprächen verankert, verzweifelt nach jenem Moment suchend, in dem einem endlich der Gesprächsstoff ausgeht. Ich verbrachte zehn Minuten damit, mich mit dem Direktor des Mill Valley Film Festivals zu unterhalten, der drei Monate später dann meinen Film ablehnen sollte.

Der European Film Market verwandelte sich allmählich in Zimmer 101 aus Orwells 1984, einer Schreckenskavalkade, die einen mit den eigenen tiefsten Ängsten konfrontiert. Und alles war so barock, dass ich so gerade eben darüber schwebte und dachte: »Das alles hier kann mir jetzt nichts mehr anhaben …«

Es war unvorstellbar, noch einen einzigen weiteren Tag damit zu verbringen, auf dem Market zu versuchen, irgendwie geschäftig zu wirken. Am Mittwochmorgen schmiedete ich einen Plan: Ich würde wie immer gegen halb neun aufbrechen und dann zurück in die Wohnung schleichen, nachdem sich Gudrun zur Schule aufgemacht hatte. Am Mittwoch jedoch meldete sich Gudrun krank. Zittrig berichtete sie mir von all den Zeichen einer frühen Menopause. Hitzewallungen, lähmende Krämpfe, der schluchzende Wahnsinn, auf etwas zu warten, das niemals kommt –

Sie schloss ihre Schlafzimmertür, um zu schlafen. Ich packte meine Koffer und schrieb einen Zettel und schob den Schlüssel unter der Wohnungstür hindurch.

Draußen hielt ich ein Taxi zum Crystal Hotel an. Der Name kam mir irgendwie New Age vor, irgendwie Nazi. Es handelte sich um eine Ein-Stern-Unterkunft ganz unten auf der »Empfehlungsliste« des Market. Zwei Dokumentarfilmemacher checkten gerade aus, und glücklicherweise bekam ich ihr Zimmer.

Inzwischen fühlte sich mein ganzer Körper bereits so an, als sei er aus Glas. Ich ging an Unterkühlung zugrunde, konnte mich nicht dazu bringen, mein leeres Postfach zu checken, lächelte Gordon Laird zu, saß wieder einmal allein in einem Restaurant oder Café herum. Ich kaufte eine Schachtel Cracker und ein Stück Feta-Käse und verbrachte den Tag damit zu lesen. Die Heizung schnurrte. Ein einziger Klecks Sonnenlicht vor dem Mansardenfenster draußen bewegte sich über die Dachgeschosswände.

»Unmöglich«, schreibt Simone Weil in Schwerkraft und Gnade, »jemandem, der uns Böses zugefügt hat, zu verzeihen, wenn dieses Böse uns erniedrigt. Man muß den Gedanken wagen, daß es uns nicht erniedrigt, sondern unseren wahren Rang offenbar gemacht hat.«

Sie schrieb dies 1942 in Marseille in ihr Notizbuch, während sie mit ihren Eltern zwar nicht auf Gott wartete, sondern auf amerikanische Einreisevisa, die ihnen ihr Bruder André Weil, ein Mathematiker, der bereits sicher in New York war, dann schließlich auch besorgen sollte.

Während des gesamten Krieges wurden insgesamt weniger als 3000 französischen Juden die Einreise in die USA gewährt. Weils gebildete Bürgerfamilie war darunter. 75 000 Juden wurden während der deutschen Besatzung in Frankreich zusammengetrieben und deportiert. Von diesen überlebten nur drei Prozent. In Marseille dachte Weil über die Ungewissheiten des Zufalls nach, über all die Systeme der Kausalität, die wir nur deshalb erfinden, um so zu tun, als herrsche der Zufall nicht.

Sie schrieb, dass es »unerträglich ist, sich vorzustellen, das Kostbarste, was die Welt besitzt, sei dem Zufall ausgeliefert. Gerade weil dies unerträglich ist, soll man es betrachten. […] Das einzige Gut, das dem Zufall nicht unterworfen ist, ist jenes, das außer der Welt ist.« Obwohl, wie Weil nur allzu gut wusste, die Reichen schon immer viel mehr »Glück« gehabt haben als die Armen.

Weil fand die Sicherheit in New York unerträglich. Sie träumte davon, zurück nach Frankreich zu fliegen und per Fallschirm mitten zwischen den Nazis abzuspringen. Ihr ganzes Leben lang, seitdem sie zehn war, hatte sie mit den Armen und Entrechteten gefühlt. Ein panischer Altruismus. Sie empfand das Leiden anderer in ihrem eigenen Körper und fand eine Sprache und ein System dafür. Wert, entschied sie, existiert nur in der Verbindung zweier ehedem separater Entitäten. Wert schwindet, sobald diese Union aufgelöst wird. In ihrem Verlangen nach Einheit wand sie sich zu einem panischen Altruismus empor – zu einem Zustand, in dem es keine Grenzen zwischen dem gibt, der man ist, und dem, was man sieht.

»Ein Mensch, dessen sämtliche Angehörigen unter der Folter umgekommen wären«, schrieb sie später in London, »der selbst lange Zeit in einem Konzentrationslager gefoltert worden wäre. Oder ein Indio des sechzehnten Jahrhunderts, der als einziger der völligen Ausrottung seines ganzen Volksstammes entronnen wäre. Wenn solche Menschen an die Barmherzigkeit Gottes geglaubt haben, so glauben sie nun entweder nicht mehr daran oder ihre Vorstellung davon hat sich von Grund auf verwandelt. Ich habe dergleichen nicht durchgemacht. Aber ich weiß, daß es vorkommt: folglich, welcher Unterschied?«

Weil sie selbst brillant war, versuchte sie den Wert der Intelligenz zu diskreditieren. »Der intelligente Mensch, der auf seine Intelligenz stolz ist, ist wie ein gerichteter Mensch, der auf seine große Zelle stolz ist …« (London Notebooks)

Das übergreifende Anliegen von Weils Schreiben, das etwa fünfzehn Bände füllt, die ein halbes Jahrhundert später in den Éditions Gallimard veröffentlicht wurden, bestand darin, die Interaktionspunkte zwischen dem Mahayana-Buddhismus und den frühen Griechen zu finden. Weil sah in der griechischen Kultur die Wurzeln des westlichen Denkens. Dem Antikenforscher Pierre Vidal-Naquet zufolge war ihr gesamtes Verständnis der griechischen Kultur verrückt und ekstatisch, fehlerhaft.

Weil war viel eher Mystikerin als Theologin. Das heißt, all die Dinge, die sie schrieb, waren Feldnotizen für ein Projekt, das sie an sich selbst ausübte. Sie war eine performative Philosophin. Ihr Körper war Material. »Der Körper ist ein Hebel für das Heil«, dachte sie in ihren Notizbüchern. »Aber wie? Wie gebraucht man ihn richtig?«

Eine Mystikerin, und insbesondere eine moderne, hat etwas einfach nur Groteskes an sich. 1942 verließ sie New York in Richtung London, wo sie 15 Monate lang lebte und arbeitete, bevor sie im Alter von 34 Jahren einen tuberkularen Hungertod starb. »Sie spricht davon, entsetzliche Schmerzen für andere zu empfinden, für diejenigen, ›die mir gleichgültig oder nicht vertraut sind‹. […] Es ist fast, als spräche aus ihr eine komische Dickens-Figur«, schrieb Graham Greene. Alain, ihr Lehrer am Lycée Henri-IV, bezeichnete Simone liebevoll als Außerirdische. Ihr Spitzname war »der Marsmensch«.

Bis vor Kurzem behandelten nahezu alle Sekundärtexte zu Simone Weil ihre philosophischen Schriften als eine Art biografischen Schlüssel. Unmöglich, sich ein weibliches Leben vorzustellen, das aus sich heraustreten könnte. Unmöglich, die Selbstzerstörung einer Frau als strategisch zu akzeptieren. Weils Befürwortung der Entschaffung wird als Beweis für ihre Funktionsunfähigkeit gelesen, für ihren Hass auf ihren Körper und so weiter.

Es gibt eine mittelalterliche mystische Tradition, die das Selbst als »übelriechende Geschwulst« definiert, die zersetzt werden muss. Als Frau, die im mittleren 20. Jahrhundert lebt, geht Weil noch einen Schritt weiter: Es ist nicht nur das Selbst in der zweiten Person, das sie zu zerstören sucht. Sie beginnt mit dem, was ihr am vertrautesten ist: ihrem eigenen.

In Schwerkraft und Gnade ist für Weil das Ich das Einzige, was wir wirklich besitzen, und deshalb müssen wir es zerstören. »Benutzt das ›Ich‹«, scheint sie uns zuzurufen, »um das ›Ich‹ aufzuheben.«

Sie will sich verlieren, um größer als sie selbst zu sein. Eine Rhapsodie des Verlangens überkommt sie. Sie will wirklich sehen. Deshalb ist sie Masochistin.

»Es existiert eine Wirklichkeit«, schrieb sie in London, »jenseits der Welt, das heißt, außerhalb von Raum von Zeit, außerhalb einer jeden Sphäre, die dem Menschen mit seinen Fähigkeiten zugänglich ist. Im Innersten des menschlichen Herzen befindet sich eine Sehnsucht nach einem absoluten Guten, die dieser Wirklichkeit entspricht …«

Die Forscherin Nancy Huston kritisiert Weil für ihre Leugnung des Körpers. Sie bemitleidet sie, weil sie nie gefickt hat und deshalb an mangelndem Selbstwertgefühl gelitten haben muss. Es ist, als ob Weil, da sich insgesamt nur wenige Frauen überhaupt zu ihrer Zeit geäußert haben, einzig und allein als eine Art Rollenbild beurteilt werden muss, das »ihrer Rasse alle Ehre macht«.

Weils englischem Herausgeber und Biografen Richard Rees zufolge besteht für sie der Hauptwert der menschlichen Seele im Zustand vollkommener Unpersönlichkeit. Und dennoch, wie ihre Freundin/Feindin Simone de Beauvoir später in Das andere Geschlecht argumentieren wird, lässt sich das weibliche Selbst, weil es vorrangig als Gender definiert wird, niemals unpersönlich wahrnehmen.

In seiner Weil-Biografie aus dem Jahr 1991 schreibt der Forscher Thomas Nevin: »Ihre intellektuelle Strenge, ihre unnachgiebige, niemals Zugeständnisse machende Art und Weise, für Position zu argumentieren, ihr Suchen nach dem Reinen – all dies funktionierte wie ein Mechanismus, um sich selbst von dem zu distanzieren, wie andere sie sehen könnten – als Frau.«

In einer außerordentlich herablassenden Einführung zu Mary McCarthys Übersetzung von Weils Monografie Die Ilias oder das Poem der Gewalt merkt ihr Bruder André an, dass die Welt sie vielleicht ein wenig ernster genommen hätte, hätte sie sich nur mal die Haare gekämmt, Strümpfe getragen und Absatzschuhe.

Ihr Werk sei »abstoßend« schrieb ihr Freund/Feind Georges Bataille sechs Jahre nach ihrem Tod. »Unmoralisch, abgedroschen, irrelevant und paradox.«

Der bibliografische Quellenband zu Weils Werk, 1992 von der University Press Santa Cruz herausgegeben, beschreibt sie als »anorektische Philosophin«, die sich im Alter von 34 Jahren zu Tode gehungert habe. Weil als dieses brillante verrückte Mädchen. Als unbeholfene Vogelscheuche in flachen Schuhen, als selbsthassende und sich selbst zu Tode hungernde Androgyne.

Romantische Menschen tendieren dazu, ihr Leben als Raster und Irrgärten zu betrachten, die sich als Netz aus zwar erratischen, jedoch miteinander verknüpften Linien entfalten. Diese wahllos auftretenden Kausalitätsreihen formen, wie sich im Blick zurück feststellen lässt, ein Muster

Und so, wie die Philosophen Deleuze und Guattari aufgrund ihrer William-Burroughs-Lektüre vermuten, wird die Idee des Zufalls zu einer Art Märchen. Der Zufall als Weg und Mittel, über das Chaos zu triumphieren und eine allumfassende geheime Einheit in der Welt zu entdecken.

Im Brownie-Handbuch für junge Pfadfinderinnen gab es ein Spiel namens »Pfenningspaziergang«, das wir häufig spielten. Man geht nach draußen und wirft an jeder Straßenecke eine Münze. Bei Kopf biegt man links ab, bei Zahl biegt man rechts ab. Wenn die Fügung ein Zauber ist, kann der Zufall dann tödlich sein? Wenn man nicht weiß, was man tun soll, dann sucht man nach Zeichen.

Zeichen sind Wunder, die immer dann erscheinen, wenn wir sie am wenigsten erwarten – in Augenblicken, in denen der bewusste Geist aufgegeben hat, abgeschaltet hat. Zeichen erscheinen in einer Vielzahl von Formen: Fundstücke und verlorenes Eigentum, die Worte eines Fremden.

Im Jahr 1453 veröffentlichte die Londoner Hebammengilde eine Liste von Zeichen, aus denen hervorging, dass die Pest vor der Tür stand. Wenn die Raben sich am Feldrand versammeln und Babys noch vor Dämmerung weinen … Du gehst die Third Avenue in der Nähe der Kreuzung mit der East 53rd Street in Manhattan entlang, nachdem du dich für irgendeinen Job beworben hast. Du kommst an einem randvollen Müllcontainer vorbei und siehst ein Buch. Du öffnest es: Seite 3 – 5 – 3, die Koordinaten, an denen du dich befin dest, und diese Seite verrät dir alles, was du über dein Leben wissen musst. Zeit und Umstände haben dich bis hin zu diesem Punkt der Erschöpfung geführt. Das Tao des Versäumnisses: einen Zustand erlangen zu wollen, in dem du porös sein kannst – mobil, verloren und mittellos und unablässig aufmerksam.

Für André Breton ist seine Suche nach Schönheit das Gleiche wie sein Werben um die verrückte Nadja. Er sitzt an seinem Schreibtisch, sie befindet sich in einer Pflegeanstalt südlich von Paris namens Perray-Vaucluse. Er spricht davon, einen »Schock« zu erleben, das »Königtum der Stille«.

Im 20. Jahrhundert erklärten zahlreiche Gruppen hochgebildeter Männer den Zufall zur Grundlage ihrer künstlerischen Praxis. Man Ray fotografiert Robert Desnos zur »Mittagsschlafszeit« im Hauptquartier der Surrealisten, einer Suite in einem Hotel, das dem Vater eines der Surrealisten gehört. Auf dem Foto sieht Desnos aus wie ein wilder und wahnsinniger Typ, seine Augäpfel rollen und streben durch seinen Schädel hindurch zur Decke. (Obwohl er später auch »Pech« haben wird, als ihn die Deutschen 1942 deportieren …)

In Zürich im Jahr 1917 schrieben Hugo Ball und Tristan Tzara Nonsens-Gedichte aus Glossolalien. Sie versuchten, wie es in Balls Dada-Manifest heißt, »moeglichst ohne Worte und ohne die Sprache auszukommen […], an der der Schmutz klebt wie von Maklerhaenden«. In New York in den frühen Sechzigern schufen John Cage und die Mitglieder der Fluxus-Bewegung vollkommen willkürliche Kompositionen aus Klängen und Gesten. Im Londoner Empress Hotel schufen Brion Gysin, William Burroughs und Ian Sommerville »Cut up«-Texte und -Filme, indem sie ihre Intuition mit aller Gewalt öffneten wie Tulpenknollen, um die versteckten Botschaften in all dem zu offenbaren, was wir hören und sehen.

Diese Männer waren Krokodile in Clubsesseln, Dirigenten kontrollierter Chaos-Experimente. Im Interesse einer höheren Wissenschaft waren sie darauf vorbereiten, sich Stücke ihrer eigenen nichtporösen Haut auszureißen. Mädchen hingegen sind viel weniger reptilisch …

Katia Perry trampte gern die Nordinsel von Neuseeland zwischen Wellington und Auckland hinauf und hinunter. Per Anhalter zu fahren war ein Glücksspiel. Weil Katia damals noch Englisch studierte und ihr die kritische Intelligenz fehlte, nur irgendeinen Unterschied zwischen sich und ihrem Studienfach zu entdecken, kam ihr das Trampen wie ein pikarisches Abenteuer vor.

Tom Jones wurde zum Urtext. Jedes Mal, wenn Katia mitgenommen wurde, begann ein neues degressives Kapitel, das mit den Worten »In welchem …« begann. Highway 1 von Wellington nach Auckland war wie eine Zauberkiste der Postmoderne. Fast 900 Kilometer lang handelte es sich um eine zweispurige Straße, in deren Verlauf sich die Landschaft vom Regenwald hin zur Wüste wandelte und zu allem dazwischen.

In Otaki, wo die Hügellandschaft braunschweigisch grün war, stellte Katie sich gerne vor, dass der Pick-up-Truck, in dem sie mitgenommen wurde, eine Postkutsche war. Nördlich von Palmerston, als das Heidekraut sich zu einem Wald sammelte, wanderte Katia durch die nördlichen Provinzen Japans im 17. Jahrhundert. Sie war der Dichter Bashō auf einer Pilgerreise. In Taihape verengten sich die Hügel voller Schafe zu gekrümmten Felsen, die auf den Himmel zeigten wie flämische Felswände in einem mittelalterlichen Gemälde. Auf dieser Reise war alles möglich, und Katias Ambition bestand darin, ihre Lebenszeit darauf zu verwenden, all das zu lernen, was es zu lernen gab.

Während sie auf diese Weise durch Kontinente und Jahrhunderte reiste, hielt Katia gerne nach Zeichen und Botschaften Ausschau. Die Tatsache, dass sie trampte, bedeutete, dass sie diese Botschaften von Menschen erhielt, die sie nicht kannte. Und hatte ihr Lieblingsdichter James K. Baxter nicht dazu aufgefordert, die eigene Haustür für Fremde offen zu halten, weil jeder Fremde Christus sein könnte?

Eines Sonntags wurde Katia von Wellington nach Silverstream mitgenommen. Die nächste Fahrt brachte sie 80 Kilometer weiter bis zu einer Abfahrt nördlich von Dannevirke. Die Straße war leer und so ging sie mehrere Kilometer zu Fuß. Es handelte sich um eine Übergangsgegend, in der das landwirtschaftlich genutzte Land ganz allmählich den Bergen wich. Die Hügel waren zerklüftet und von schlammigen, von Schafen ausgetretenen Kämmen zerfressen. Der Highway führte zwischen den Hügelspitzen hindurch und durch ein Tal. Es war Frühling: kalt und feucht, und Wasser tropfte die Felsen hinunter und sprang über die Straße.

Katia hatte gehofft, noch vor Einbruch der Dunkelheit bis nach Taupo zu kommen, einem Seeort mit zwanzig billigen Motels, doch gegen halb vier schien dieses Vorhaben bereits zweifelhaft. Als also die drei Betrunkenen in einem ramponierten Ford anhielten und ihr anboten, sie mitzunehmen, schien es ihr das Beste zu sein einzusteigen. Ein Landwirt und dessen Frau hatten sie von Silverstream aus mitgenommen; diese Fahrt bedeutet einen abrupten Szenenwechsel in ein anderes soziales Reich. Wie lautete noch jene Zeile, an die Katia sich erinnerte? Sei bereit für den Fremden, denn jeder Fremde könnte Christus sein.

Sie warf ihren Rucksack ins Auto und fragte sich, ob Bier ein Sakrament sei, als der Fahrer seinen Arm um sie legte. Was verstehest du unter dem Worte: Sakrament? Ich verstehe darunter ein äußerliches und sichtbares Zeichen einer innern und geistlichen Gnade, die uns verliehen wird. Es war romantisch: Vier Fremde, die in einem Wagen aus den Sechzigern den Highway hinunterrumpelten. Sie boten ihr etwas zu trinken an und dann ein paar Pillen, und sie nahm sie und lauschte ihren ländlichen Akzenten. Ihre Stimmen wurden mit dem schlechten Radioempfang vermengt, der kam und ging. Es gab ein berühmtes Gedicht über Schafe von Allen Curnow – die Schafe breiteten sich aus wie eine Pest über den Hügel – Katia lächelte. Die Sonne verabschiedete sich, während sie die holprige Straße entlangreisten.

Die Pillen dehnten alles in die Länge. Katia fiel auf, dass sie den Highway verlassen haben mussten, weil sie nun eine nicht asphaltierte Straße hinunterfuhren. Niemand sprach. Ein flaches weißes Haus tauchte auf: das Quartier eines Schafscherers? Satellitenschüssel, mehrere Autos, und durch die offenen Türen und Fenster dröhnte Musik. Eine Party. Der Fahrer sagte: »Wir sind da«, und Katia folgte, als die Männer ausstiegen und hineingingen.

Was ihr auffiel, waren die Möbel. Wie sie sich, obwohl sie gar nicht zueinander passten und schäbig waren, ganz leicht großmütterlich anfühlten. Drinnen befanden sich ein Paar und zwei weitere Männer, einige der Anwesenden unterhielten sich. Die Typen, die sie mitgenommen hatten, waren Gäste. Ein Fetter mit Bart in Jeans schien hier das Sagen zu haben. Irgendwann verzog sich das Paar.

Katia wusste nicht, ob sie einen Trip fuhr, doch sie begann, sich den Typ mit Bart als Roland vorzustellen, jenen Banditenkönig in de Sades Justine. Sie sprang hin und her zwischen diesen Zeiten und Orten und war sich ihrer eigenen Präsenz in diesem Bild nicht ansatzweise bewusst. Deshalb sah sie keinerlei Gefahr und erkannte nicht einmal die Tatsache, dass sie ein Teenager war, der mit fünf betrunkenen Männern Trips schmeißt. Etwas später löste sich der Nachmittag in einen Nebel aus Möbeln und Boden und blauen Flecken auf. Doch Katia kroch hinaus, überlebte –

Mein Freund Dan Asher kehrte 1978 nach New York City zurück. Er hatte eine Zeit lang in Paris gelebt, wo er Penner und Rockstars und Béjart-Ballerinen fotografierte, manchmal in der Wohnung irgendeines Freundes unterkam, manchmal an der Seine schlief. Ich kann mich nicht erinnern, wo wir uns kennengelernt hatten – vielleicht in einem Café, vielleicht am Zeitungskiosk Gem Spa. Das Wort »obdachlos« war noch nicht erfunden worden, doch wir hatten keinen Wohnort, und ich hielt ihn für ein Genie, das heißt, wir hassten viele von denselben Leuten, also bot ich ihm an, doch einfach bei mir unterzukommen. Dan Asher über die Kunstwelt: »Ich verbringe lieber Zeit mit Pennern, den Clochards, sie sind interessanter als die Wichser, die in der Kulturindustrie das Sagen haben!«

Dan trug einen sackartigen Mantel und prügelte sich ständig mit irgendjemandem. Erst später definierte er seinen Zustand als »autistisch«, einen Zustand, über den er seitdem mit großer Präzision redet und schreibt. Ich hatte schlicht und einfach angenommen, dass er verrückt sei, dass auch ich verrückt sei, und dass wir uns deshalb so gut verstanden. Ich hatte mich dieser Gruppe von Leuten angeschlossen, die an Colleges und Unis wie Swarthmore, Harvard und Grinnell studiert hatten. Dan und ich waren Teil ihrer urbanen Übergangslandschaft, einer Halbwelt, der sie irgendwann entwachsen würden. Sie waren bereits in ihren späten Zwanzigern und führten gequälte Gespräche über ihre Zukunft. Sie waren lächerlich, genau wie die Arschlöcher in Zeit der Reife, diesem Buch von Jean-Paul Sartre. Es war offenkundig, dass es keine Zukunft gab. Punk kam uns gerade gelegen.

Dan machte Fotos für ein paar Leute von irgendeinem Magazin, das er hasste. Ich trat in einem Theaterstück auf. Der Regisseur sah mich oft an und sagte: »Ich will, dass du verletzlicher bist«, was natürlich ein totaler Witz war. Ich hatte kein Geld und keinerlei Aussicht, irgendwann welches zu verdienen. Ich konnte meine Miete nur zahlen, wenn ich irgendwem im Hinterzimmer einer Obenohne-Bar einen blies. Der Regisseur hingegen bekam ein Taschengeld von seinen Eltern und hatte gerade sein Studium bei Grinnell beendet. Dan störte sich nicht daran, dass ich die X-Ray-Spex-Platte Oh Bondage, up yours! ungefähr dreißig Mal am Tag auflegte.

Mein Mitbewohner Tom, der an der New School Philosophie studierte, schlief im Schlafzimmer, ich schlief in der Abstellkammer, Dan schlief auf der Couch. Wir standen gegen 11 auf, nachdem Tom zur Uni gegangen war, und verbrachten Stunden damit, uns über einfach alle, die wir kannten, ins Fäustchen zu lachen. Die Wohnung war vollkommen aboriginal. Sie war unsere Höhle. Manchmal wurden unsere Gespräche so intensiv, dass ich aufstand und ein Set Poster-Farben kaufte, um unsere Gedanken als Aphorismen in die Küchenschränke zu schreiben, auf die Wände.

Meistens sprachen wir darüber, dass alles so transparent war. Die gesamte beschissene New Yorker Punkszene war einzig und allein davon motiviert, wie man Karriere machen und wen man ficken konnte. Die Mädchen waren am schlimmsten, weil sie eigentlich nur das Ficken hatten. Wie sie da in ihre Netz-Outfits aus schwarzem Leder gestopft an Clubwände gelehnt standen, waren sie nicht mehr als Pro-bono-Huren, die einfach nur wollten, dass die coolsten Jungs sie liebten. Wenn ich nicht gerade irgendwo oben ohne tanzte, trug ich eine ausrangierte Armee-Uniform. Es war mir vollkommen unerklärlich, wie nur irgendwer ihre Titten für umsonst zeigen konnte. In seinem sackartigen Mantel war Dan immun gegen alles, was mit Sex zu tun hatte, fand Sex im Grunde ekelhaft. Wir lachten uns schlapp, wie all diese Leute so taten, als befänden sie sich in einem Zustand permanenter Rebellion, wo sie doch eigentlich nichts anderes wollten als Anerkennung. Dan hasste all diese Rockstar-Heterojungs. Was uns am meisten bewegte, waren symbolische Gewalt- und Zerstörungsaktionen. Wir waren eine aus zwei Personen bestehende Anti-Sex-Liga.

Dan war pleite, doch er wollte nach Frankreich zurück. Irgendein Typ, den er kennengelernt hatte, hatte ihm angeboten, ihn an einem Geschäftsplan zu beteiligen, doch er brauchte 500 Dollar im Voraus. Ich arbeitete ein paar extra Tanz-Schichten, doch dann löste sich das Projekt in Luft auf. Als seine Mutter ihm schließlich das Flugticket kaufte, fühlte Dan sich schuldig, dass er einfach so abhaute, ohne das Geld zurückgezahlt zu haben, und so hinterließ er einen Pappkarton voller Zeug, das er durch die ganze Welt geschleppt hatte.

»Hier, Chris, du kannst diesen Karton behalten«, krächzte er am Morgen seines Abflugs, und dann sollte ich ihn zwanzig Jahre lang nicht wiedersehen.

Vor langer Zeit lebte in einem Land, das ein wenig wie Japan war, ein Bauer, der sich eine Schwalbe als Haustier hielt. Seine Frau war eine bösartige und eifersüchtige Frau. Sie hielt ihren Mann für einen Narren, weil er den Vogel mit den Resten seiner eigenen dürftigen Mahlzeiten fütterte. Eines Tages, als sie gerade bügelte, flog die Schwalbe durch das Fenster und stieß eine Flasche mit Stärke um. Die Frau nahm ihren Besen und schlug den Vogel und hieß ihn, nie wiederzukommen.

Als der Mann dies hörte, zog er seine Stiefel und seinen Mantel an und machte sich auf den Weg in den Wald, um die Schwalbe zu suchen. Und nachdem er lange und ermattet durch den Wald gestapft war, hielt er einen Moment lang inne, um zu Atem zu kommen. Und eine Briefschwalbe kam von einem Baum herab, landete auf seiner Schulter und winkte ihn auf eine Lichtung zu. Der Mann zögerte einen Moment lang, doch dann ging er hinüber. Und als er auf die Lichtung trat, sah er ein Haus – ein Strohhaus, besetzt mit Silber und mit Gold. Es war das feinste Haus, das der Mann je gesehen hatte.

Eine Frau trat aus dem Strohhaus. Sie war groß, mit langem schwarzem Haar und weichen und feierlichen Augen. Sie hieß ihre Köche, ein Bankett anzurichten, sie hieß ihre Kammerfrauen, vor dem Mann zu tanzen. Und nach all dem Essen und Tanzen trat die Frau einen Schritt vor und gab sich dem Mann zu erkennen. Sie sagte: Die Schwalbe ist nur eine meiner vielen Formen. Du warst sehr gütig zu mir. Deine Güte soll dir vergolten werden.

Ich vermisste ihn. Wochen vergingen, bevor ich endlich dazu kam, den Karton zu öffnen. Und als ich es tat, fand ich eine Reihe seiner Fotos von Patti Smith, Keith Richards, Tom Verlaine. Einige Kunstperlen und Federn. Und dann noch einen Stapel von Büchern: die Schriften des Dadaisten Hugo Ball, einige französische Bücher von Antonin Artaud. Die erste Plon-Ausgabe von Simone Weils Schwerkraft und Gnade, auf Französisch La Pesanteur et la grâce. Die Schriften von Ulrike Meinhof, inklusive ihres auf Französisch als Le Foyer übersetzten Drehbuchs. Ich kaufte ein Wörterbuch und begann zu lesen.

Obwohl mir nie zuvor der Gedanke gekommen war, dass ich Kunst machen könnte, enthielt Dans Karton alles, mit dem ich später arbeiten sollte. Und zwar die ganzen nächsten fünfzehn Jahre lang.

Zufall und Magie, Zufall und Klaustrophobie.

Am Donnerstagnachmittag stand ich auf und ging zurück zum Market für meine Vorführung, die mich 300 Dollar kostete. Zwölf Leute waren da. Die bemerkenswerteste Figur unter den Anwesenden war die Direktorin des Boston Jewish Women’s Film Festival, die sich später die Zeit nehmen sollte, mir eine persönliche Ablehnung zu schicken. Als das Licht ausging, zog ich Bilanz. Wenn man den Flug, das Hotel und die Gebühren für den Market berücksichtigte, kostete mich jeder der Anwesenden, die sich Gravity & Grace ansahen, ungefähr 275 Dollar. Neun gingen noch vor dem Bandwechsel. Mir wurde klar, dass Gravity & Grace wahrscheinlich überall sonst sehr viel erfolgreicher gewesen wäre als hier. Zwei weitere gingen während des zweiten Bandes, und als das Licht wieder anging, war nur noch einer da. Sein Name war Thomas Niederkorn.

Er stellte sich mir vor als Deutscher, der in New York lebte. Er hatte Film an der NYU studiert. Thomas Niederkorn war 25, sehr gepflegtes Äußeres, sehr elegant auf eine klassenlose Art und Weise. Er sagte, dass er als Produzent von Independent-Filmen arbeite und hier auf dem Market allerlei Meetings habe, um Geld für einen Spielfilm aufzutreiben. Es kam mir vollkommen unglaublich vor, dass er sich den ganzen Film angesehen hatte. Mein Herz hüpfte, als er das Wort Produzent sagte.

»Ich würde Sie gerne etwas fragen«, sagte Thomas.

»Ja? – « Ich lächelte erwartungsfroh.

»Ob Sie womöglich noch Kontakt haben mit einer neuseeländischen Freundin von mir. Sie heißt Delphine Bower.«

Ich wusste sehr viel über Delphine Bower. Ihr Name war im Abspann von Gravity & Grace als Co-Produzentin gelistet. Angesichts der Umstände von Delphines Mitarbeit bedeutete die Tatsache, dass ich ihr einen Platz im Abspann eingeräumt hatte, einen finalen Akt meines Märtyrertums. So dachte ich jedenfalls –

»Ahhh, sie war außergewöhnlich«, sagte Thomas. »Ich halte sie für ein Genie. Sie war so schön und so großzügig. Delphine hat mir geholfen, den Pilot für meinen Thriller zu drehen. Sechs Monate lang war sie meine Freundin. Und als sie ging, gingen wir als Freunde auseinander.« Thomas wollte wissen, ob ich sie gesehen hätte.

Im Stillen rechnete ich. Es war jetzt Ende Januar 1996. Delphine Bower war im November 1993, zwei Tage nachdem wir in New York fertiggedreht hatten, endgültig verschwunden. (Tatsächlich hatte sie das Set bereits am ersten oder zweiten Drehtag verlassen, doch sie kam in der letzten Drehwoche noch einmal zurück, um unter den Darstellern und der Crew ein Bewusstsein dafür zu schaffen, auf welch herzlose Weise sie ausgebeutet wurden, und, oh ja, um weitere 300 Dollar an Ferngesprächsrechnungen anzuhäufen –.) Nun, wenn Thomas seinen Piloten im Herbst 1995 gedreht hatte, dann bedeutete das, dass sich Delphine tatsächlich noch zwei Jahre lang in New York herumgetrieben haben musste. Für eine Waise aus einer Wohnwagensiedlung in Taranaki ohne Green Card oder Arbeit kam dies einem Triumph gleich.

Perverserweise und völlig leidenschaftslos hatte ich Delphines Bewegungen bis Ende 1994 im Auge behalten. Faszinierend, die Bewegungen eines bestimmten Subjekts, »Delphine B.«, durch konzentrische Kreise der New Yorker Kunstwelt zu kartografieren. Ihre Bewegungen ergaben eine Art Soziogramm. Noch lange nachdem sie auch unsere engsten Bekannten durchgebrannt hatte, sickerten aus Harlem und Tribeca Nachrichten von den Bewegungen des Subjekts zu mir durch. Die Flugmuster von »Delphine B.« waren wie ein freies Assoziationsspiel für eng miteinander verflochtene Gruppen aus Freunden und Persönlichkeiten und Bekanntschaften. Weil sie eine Spur aus Geheimnissen, gestohlenen Objekten, Lügen und unbezahlten Rechnungen hinterlassen hatte, erinnerten sich eigentlich fast alle an sie. Zuletzt hatte ich gehört, dass »Delphine B.« gesehen worden war, wie sie Kopien im Büro von Artforum machte.

Wenn Delphine in jenem Herbst mit Thomas gearbeitet hatte, dann musste sie neun Monate länger in New York gewesen sein, als sich bislang hatte nachweisen lassen. Ich verspürte eine gereizte Verbitterung, als Thomas ihren Namen erwähnte. Ein Teil von mir war versucht, ihm alles zu berichten.

Das erste Mal traf ich Delphine Bower in Neuseeland im Januar 1933. Ich war sofort verliebt, und sie war liebenswert. Den gesamten Herbst über, den ich mit meinem Mann Sylvère Lotringer in Easton in Pennsylvania verbracht hatte, um Geld für den Film zu sparen, hatten wir diese Fantasie gehegt, dass ich in Neuseeland dann endlich eine Freundin haben würde. Ich malte sie mir als Baby-Butch mit rosigen Wangen vor, vielleicht mit Motorrad, eine jüngere Version meiner Freundin Darlene. Sie würde mich in all den Bars herumführen und es überhaupt erst ermöglichen, dass wir einen Film drehen. Die vergangenen zwei Jahre war ich mit Gänsehaut und großen Gefühlen in eine Studentin meines Mannes verknallt gewesen, die überzeugt war, dass die Professorengattin zu verführen das Aufregendste überhaupt sei. Doch dann lachte sie mich aus, und nichts passierte.

Im Sommer zuvor hatte Delphine eine Hauptrolle in einem langen Experimentalfilm von Jason Pauling gespielt. Jason verliebte sich in sie. Sie war lebhafte und taufrische zwanzig Jahre alt. Seitdem hatte sie ihr Studium geschmissen und hatte weder Job noch Wohnung, und als Jason versuchte, ein ernsthaftes Gespräch mit ihr über ihre Zukunft zu führen, sagte Delphine: »Aber das Einzige, was ich wirklich machen will, sind Filme.« Jason hatte gehofft, ich könnte einen Job für sie finden. Sie hatte ein Gespür für Kleidung … vielleicht könnte sie mir ja bei den Kostümen assistieren?

Als wir darüber sprachen, gewann Delphine mich sofort für sich, indem sie sich über Jasons Aussehen, über seinen Paternalismus und über seinen Film lustig machte. Ich war erst seit zwei Wochen in Auckland, hatte jedoch bereits das Gefühl, als trete ich für irgendeine Wahl an, weil ich ständig irgendwo Gefallen schnorrte und zu allen nett war, weshalb ich Delphines Boshaftigkeit als köstlichen Rausch empfand. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Neuseeland gab mir Delphine das Gefühl, dass ich wirklich mit jemandem klickte.

Wir trafen uns im Stadtzentrum. In einem trendigen Bistro wartete sie schon auf mich, gelangweilt mit ihren falschen Perlen spielend. Ihr Haarschnitt glich dem von Louise Brooks. Sie trug eine zweireihige Nadelstreifen-Jacke. Delphine wollte, dass ich sie mochte, und ich mochte sie. Sie war wirklich entzückend, aber auf eine interessante Art. Sie performte mit dem sanftesten, bedächtigsten Gespür für Ironie. Delphine Bower war keine eifrige Filmcrew-Mädchen-Sportskanone. Vielmehr spielte sie die demütigende Rolle der »Arbeitssuchenden« mit einem selbstreflexiven Unterton. Während sie sich hin- und herbewegte zwischen einer grausamen Jason-Parodie und einem berührend aufrichtigen Enthusiasmus für mein Drehbuch, sonderte Delphine einen Hauch leidenschaftsloser Abscheu für eine Welt ab, die einfach nicht anders konnte, als sie zu enttäuschen. Sie war ein Genie, das in einer Welt umhergeworfen wurde, die keinen Platz hatte für Arbeiterklassemädchengenies. Und dann war sie emotional auch noch so zerbrechlich und wunderschön –

Beim zweiten Drink war klar, dass es undenkbar geworden war, Delphine auf etwas so Unbedeutendes wie die Kostüme zu verschwenden. Wir gingen eine Liste von Jobs am Set durch. Keiner passte so richtig. Deshalb konnten wir sie im Grunde nur zur Co-Produzentin erklären. Schnell wurde vereinbart, dass Delphine im Austausch für ihre Arbeit an dem Film in mein Reihenhaus in Grey Lynn ziehen sollte. Sie sollte mein Auto benutzen, und ich würde für all ihre Spesen aufkommen.

Monatelang war Delphine unfehlbar effizient und ganz einfach eine tolle Person. Ich begann diese »Freundinnen«-Idee von mir zu revidieren. Delphine war ein hübsches Mädchen und keine Baby-Butch. Sie behandelte mich wie eine Mutter, deshalb war Sex zwischen uns vollkommen undenkbar. Doch sie war charmant, leuchtete geradezu. Da ich noch nie ein hübsches Mädchen gewesen war, konnte ich genau wie all die Männer, mit denen ich konkurrierte, nun endlich eines haben.

Delphine erzählte mir Geschichten, während wir herumtelefonierten. Von Geburt an Waise, wurde sie von einem Paar aus Taranaki adoptiert. Ihr Adoptivvater starb, als sie zwölf war, und Vi, ihre Mutter, bandelte mit einer schwertrinkenden, Flanellhemden tragenden Lesbe namens Di an. Vi und Di zogen die kleine Delphine gemeinsam in einer Wohnwagensiedlung groß und brachten ihr bei, auf Hunde zu wetten. Sie hatte eine Wahnsinnsimitation der beiden drauf, die jeweils von Geschenkpaketen und Briefen ihrer Mutter ausgelöst wurde.

In den späteren Geschichten von Delphine Bower ging es um die Schicksale all der Jungen, die sich tragisch in sie verliebt hatten. Es gab da einen jungen Medizinstudenten, der sich das Leben nahm, als die sechzehnjährige Delphine ihn zurückwies. (Keiner ihrer Antagonisten trug einen echten Namen, sie waren alle nach ihrem Rang benannt, so wie Charaktere in einer mittelalterlichen Allegorie.) Als Delphine die Neuigkeiten erhielt, weinte sie, bis sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde und Beruhigungsmittel verabreicht bekam. Am dritten Abend brach Delphine ein unverschlossenes Fenster im Sanatorium auf. Sie kletterte das Rankgitter bis ganz nach unten und nahm einen Bus nach Auckland. Delphine war Nadja, sie war Rapunzel. Ich was so sehr hingerissen davon, dass ich vergaß, dass es im Umkreis von 500 Kilometern Taranakis gar keine »Medizinuniversität« gab …

Inzwischen machte Delphine unglaubliche Fortschritte mit der Organisation des Films. In Auckland war sie von der wohlhabenden Familie ihres Privatschulfreundes Dodge aus Remuera praktisch adoptiert worden. Und während Delphine ein Gespür für die Grenzen des spindeldürren Dodge und seiner neureichen Eltern zu entwickeln begann, war die Familie für unsere Zwecke sehr gut vernetzt. Delphine beschwatzte Dodges Mutter, eine Sonntagsmalerin, die mit einem Investmentbanker verheiratet war, so lange, bis sie uns ihr Haus in Remuera lieh, damit wir es als Hauptdrehort verwenden konnten. Wenn Delphine in Schwung war, dann konnte niemand Nein zu ihr sagen. Sie war genau jene unbekümmert stylische Anarchistin, die ihre Opfer unbedingt sein wollten. Und zuweilen kam dieses Talent gepaart mit einem Sinn für Dankbarkeit, Respekt, Verantwortung. Als die Produktion längst über uns beide hinausgewachsen war und aus einer Horde eifriger Jungprofessioneller bestand, für die sich unser Film in keiner Weise von irgendeinem Film-der-Woche oder nur von einer Lexus-Werbung unterschied, war Delphine meine einzige Vertraute und Verbündete.

Die ersten Anzeichen, dass etwas schieflief, kamen zwei Tage, nachdem wir einen echten Produktionsmanager anstellten. Delphine besoff sich, parkte auf einem Hügel und vergaß, die Handbremse meines Autos anzuziehen. Der Morris-Minor-Oldtimer krachte in irgendeinen Toyota Celica. Das war natürlich eindeutig ein Test. Liebte ich sie noch? Natürlich liebte ich sie nur noch mehr. Ich beglich die Rechnung von ungefähr 1200 Dollar.

Alle, die Delphine kannten, begannen mich zu warnen, dass sie gefährlich und inkompetent sei. Und sie begann zu beweisen, dass sie recht hatten. Eines Abends, als Delphine in meinem Wagen unterwegs war, verschwand auf mysteriöse Weise Jason Paulings kostbarster Besitz aus dem Auto – ein Nagra-Aufnahmegerät, das 2000 Dollar gekostet hatte. Und trotzdem, meine einzige Freude bestand darin, sie zu sehen. Als also endlich die US-Gelder bewilligt wurden, mit denen ich den letzten Teil des Films in New York drehen konnte, kaufte ich Delphine ein Ticket für einen Air-France-Flug. United wäre billiger gewesen, war jedoch viel zu geschmacklos.

Am letzten Abend, den wir gemeinsam in Neuseeland verbrachten, sahen wir Robert Altmans Drei Frauen, Delphines Lieblingsfilm. Ich fand ihn eklig. Als könnten drei Frauen ausschließlich eine familiäre Beziehung zueinander haben, Mutter-Tochter-Schwester. Als sei rein gar nichts anderes denkbar. Und trotzdem lieh ich Delphine an diesem Abend mein Auto. Bis sie fünf Monate später in New York zu mir stoßen sollte, würde sie allein sein, ohne dass jemand dafür sorgte, dass alles mit dem Rechten zuging.

Zuerst legte Sylvère Einspruch ein, doch er hatte ein Kind und ich hatte niemanden, um die ich mich kümmern konnte. Delphine und der Morris Minor waren die einzigen beiden Dinge aus Neuseeland, die ich wirklich liebte, weshalb es einfach zu passen schien, dass sie zusammenbleiben sollten. Am Abend ihres Abflugs nach New York City betrank sie sich. Ihrer eigenen Schilderung zufolge hielt sie dann um 5 Uhr morgens auf der Queen Street in der Innenstadt an und schlief ein. Als die Polizei kam, ließ sie die Schlüssel in der Zündung. Ich sollte das Auto nie wieder sehen.

Während ich in Neuseeland noch Delphines geliebte ältere Freundin gewesen war, stellte sich in New York schon bald heraus, dass ich mich in einen weiteren Dodge verwandelt hatte: ein Hindernis für ihre Mobilität und Freiheit. Sie lieh sich Geld, verschwand, tauchte wieder auf und log. Sie häufte enorme Ferngesprächsrechnungen an. Delphines Erfolg darin, aus gelegentlichem Barsex Kapital zu schlagen, in Form von Geld und Schutz, war erstaunlich. Ich hatte angenommen, dass ihre Schmolllippen und ihr Babyspeck, ihr ultrafeminines Geflirte es in New York nicht bringen würden, doch ich lag falsch. Innerhalb von zwei Wochen nach ihrer Ankunft in New York prügelten sich eine Handvoll liebestrunkener Typen mit Jobs um sie.

Unterdessen blieb mir nichts anderes übrig, als zu sehen, wie ich einen 40-minütigen Teil des Films für 20 000 Dollar gedreht kriege; wo die im Oktober ankommende neuseeländische Besetzung und Crew untergebracht wird; wo ich das Filmmaterial herbekomme, mit dem wir in jenem 1:9-Format filmen können, das die neuseeländische Kamerafrau Colleen forderte, die bis dahin ausschließlich für Fernsehserien und Werbeclips als Kameraassistentin gearbeitet hatte.

Delphine bezauberte alle, die ich ihr vorstellte. Fred Harvey, seit zehn Jahren ein enger Freund von mir, bettelte sie an, den Film doch einfach aufzugeben und mit ihm zurück nach Los Angeles zu fliegen. Weil sie spürte, dass sich noch andere, noch bessere Möglichkeiten ergeben würden, erzählte sie mir von Freds Angebot. Ich brüllte vor Lachen, als Delphine die Schweigsamkeit und die exzellenten, sehr weißen und sehr protestantischen Mittelklassemanieren meines guten Freundes imitierte. Zweifel kamen auf, schwanden jedoch gleich wieder, wann immer Delphine morgens schluchzend auftauchte.

Zu diesem Zeitpunkt war vollkommen klar, dass Delphine dem Film in keiner Weise mehr helfen würde. Die einzige Frage war, wie sich der Schaden in Grenzen halten lassen könne. Gerade als ich endlich den Mut aufzubringen versuchte, sie loszuwerden, traf die neuseeländische Besetzung und Crew aus Auckland ein. In meiner Abwesenheit war Delphine bei Kamerafrau Colleen Sweeney eingezogen. Colleen war Delphines neue Beschützerin geworden, und sie war entsetzt, dass ich eine Waise auf die Straßen von New York City hinauszujagen vorhatte. Gemeinsam überzeugten Delphine-Colleen die Besetzung und Crew, deren Honorare Sylvère und ich zahlten, dass wir herzlose geldgierige Juden und Monster seien.

Am sechsten Tag der Produktion versuchte Colleen, einen Streik zu mobilisieren, weil Sylvère und ich uns weigerten, für das Catering aufzukommen. Am zwölften Tag verboten mir Colleen und die Assistenzregisseurin Harriet, die gerade erst frisch aus der experimentellen Filmschule kam und 600 Dollar pro Woche bei uns verdiente, in meinem eigenen Auto mitzufahren, das zum »Produktionswagen« erklärt worden war. Jeden Abend cruisten Sylvère und ich an den äußersten Rändern der Bronx umher auf der Suche nach billigen Hotels, sodass Delphine-Colleen in unserer Wohnung allein sein und Ferngesprächsrechnungen anhäufen konnten. Alles Gelächter und Geflüster hörte mit einem Mal auf, sobald ich das Set betrat. Die Überzeugung, mit der ich eine mehrheitlich weibliche Besetzung und Crew angestellt hatte, verwandelte den Film in einen Schulhof-Albtraum. Samstags spielte ich Gastgeberin für Colleen, führte sie in New York aus. Weil wir beide Mädchen waren, hielt sie mir Standpauken. »Ernsthaft«, sagte Colleen, »du solltest echt an deinen ganzen Problemen arbeiten, die du so mit Geldfragen hast.«

Drei Tage nachdem sie alle nach Hause zurückgekehrt waren, erholte ich mich in East Hampton. Während ich ziellos in den Seitenstraßen herumfuhr, wurde ich am Steuer ohnmächtig. Der Vorderteil meines Autos war vollkommen zerstört. Ich hatte keine Ahnung, was geschehen war.

Die Autoreparaturen in Neuseeland nicht mit eingerechnet, hat mich Delphine Bower insgesamt um die 6000 Dollar gekostet. Unserer Visa-Kreditkartenabrechnung zufolge blieb Delphine im East Village, kaufte Gourmet-Lebensmittel und Make-up. Doch als ich die Karte sperren ließ, verlor sich ihre Spur. Sie hatte mehrere Tage lang bei Carol Irving gewohnt, einer New Yorker Produktionsmanagerin, stahl Kleidung und Familienschmuck. Im Anschluss mietete sie die Wohnung von Carols Freundin Jayce auf Avenue B und prellte Jayce um zwei Monatsmieten und Telefonrechnungen. Und danach, wer weiß schon? Sie hatte eine leidenschaftliche Affäre mit einem Studenten meiner Freundin Ann Rower und lebte eine Weile lang in seinem Studentenwohnheim. Monate später hörte ich von einer entfernten Freundin, dass Delphine Bower mit einem russischen Dichter zusammengewohnt hatte, der auf tragische Weise in Harlem erschossen worden war. Deshalb nahm ich einfach an, dass Delphine nach Neuseeland zurückgekehrt war. Carol Irving hatte jedoch gehört, dass sie in einer Sendung im Kabelfernsehen über die Kunstwelt gesichtet worden war, und dann hörten wir noch von jemand anderem, dass Delphine nun bei Artforum ein Praktikum machte. Sollte dies etwa Delphine Bowers finaler Triumph sein?

Delphines Geschichte war apokryph. Monatelang hatte ich gegrübelt, ob ich einen Film über sie drehen sollte. Ich würde einen Privatdetektiv anstellen, um sie ausfindig zu machen. Diesmal würden wir auf Hi8-Video drehen. Durch Interviews mit Delphines Opfern würde ein Porträt der Stadt entstehen. Sie war der Faden, der viele Welten und Charaktere miteinander verbindet. Ihre Geschichte war wie Balzac; sie war wie Fellinis Roma. Ich schrieb einen ganzen Haufen von Förderungsanträgen. Keinem wurde stattgegeben.

Und so sah ich Thomas Niederkorn also an, nickte und lächelte ausdruckslos. Die Delphine-Bower-Geschichte war mein kostbarster Schatz. Ganz offensichtlich war er enttäuscht.

Ich ging nicht mehr zum Market zurück. Am nächsten Tag, als der Film vor einem Publikum von vielleicht dreißig Personen oder vielleicht nur dreien lief, ging ich in der Berliner Gemäldegalerie umher. Es gab eine Ausstellung von Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Holocaust, auf eine Art eine recycelte Version des Films Shoah. Interessierte mich nicht. Im Museumsladen gab es den Katalog einer Ausstellung namens The Wonderful World That Almost Was des Künstlers Paul Thek, die schon längst wieder vorbei war. Der Mann hinter dem Schalter erklärte auf Englisch, dass es sich dabei um die großartigste Ausstellung gehandelt habe, die er je gesehen hatte, und dass ich den Katalog doch unbedingt kaufen solle.

Den 20. ging Lenz durchs Gebirg. […] Es war nasskalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. […] Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heranbrausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so dass ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Täler schnitt[.]

Ich ging zurück in das Kristallnacht-Hotel und begann zu lesen.

Die Chronologie auf dem Umschlag zitierte eine Postkarte, die Thek irgendwann in den späten Siebzigern an den Fotografen Peter Hujar in New York geschrieben hatte: »Das Leben wird länger. Ich rauche Gras, ich verliebe mich ins Leben.« Peter Hujar war jemand, den ich fast sogar gekannt hatte. Er war der Liebhaber, Freund und Mentor von jemandem gewesen, den ich wirklich kannte, dem Künstler David Wojnarowicz. 1986, daheim in New York City und allein, schrieb Paul Thek noch eine Postkarte, diesmal an Franz Deckwitz: »Dieser Tage verbringe ich den Großteil meiner Zeit in dem, was man als ›hochtoxischen‹ Zustand beschreiben könnte. Rauche viel Gras …« Hujar starb 1987 an AIDS. David testete 1989 positiv und starb im Sommer 1992. Thek testete 1986 positiv und starb 1988 an AIDS.

Und hier nun beginnt die schwierige Aufgabe, noch eine Person zu begreifen.

Aliens & Anorexie

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