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VERLASSEN VON DER ZEIT (I)

Die Zeit, die Zeit! Sie ist in aller Munde und zwischen den Buchdeckeln, aber mich hat sie verlassen. Keine Zeit! Diese Geliebte scheint uns im 21. Jahrhundert lebende Erdbewohner allesamt im Stich zu lassen und an sämtlichen Radarfallen busslos vorbeizubrausen. Mein Sinnieren und Recherchieren darüber war so faszinierend, dass ich mich unmöglich auf nur eine Kolumne beschränken kann.

Im Gegensatz zu Peter Bichsel kenne und wünsche ich mir keine Langeweile, aus der dann etwas entsteht und mir das Gefühl eines langen Lebens gibt. Nein, mein Leben gleicht eher einem Roller-Coaster-Ride, inklusive dem etwas schwerfälligem Anlauf. Mit siebzehn Jahren war ich ein in den Tag hineinwandelnder Hippiefreak in Neuenburg. Ich lernte Französisch, ein paar andere eher unnütze Dinge und verbrachte viel Zeit mit der akustischen Gitarre. Hätte mir damals jemand erzählt, dass ich 45 Jahre später ein striktes Zeitmanagement brauchen würde, um meine »Work-Life-Balance« im Griff zu haben und nicht auszubrennen, dann hätte ich gelacht. Wie ändern sich doch die Zeiten – wer sind sie überhaupt, die Zeiten?

Zeit ist alles: Luxus, Tyrann, Heiler und Leben. Sich Zeit zu nehmen, kostet Geld. Das sagt die Wirtschaft. Vom Piepsen des Weckers friert es mich an den Zähnen. Und doch muss ich den Halunken am Bettrand grummelnd akzeptieren, darf nicht schlafen, bis ich von selber damit fertig bin. Bedauerlicherweise lassen sich Brot und Früchte nicht im Schlummer verdienen. Abends hingegen, wenn mein Kopfkino die farbigsten und anregendsten Filme startet, soll ich gefälligst abschalten und schlafen. Tatendrang, hau ab, du kommst ungelegen! Weshalb kann der Tag überhaupt nicht mit dem Abend anfangen? Am Ende des Tages scheint mein geistiger Werkraum viel üppiger gefüllt zu sein Ich denke über eine Volksinitiative nach.

Ich erlebte traurige, kranke und herzschwere Zeiten, in denen ich gern in die Hände geklatscht hätte, um im Spiel des Lebens drei Jahre vorzurücken – in der Hoffnung, dass die Zeit geheilt hat und ich bis dahin vielleicht den Bachelor in Sachen Weisheit geschafft hätte. Doch so läuft das nicht. Sie lässt sich gern Zeit mit dem Heilen von Wunden, die Zeit, und wir haben die Musse dafür verloren. Wir finden zu wenig Zeit, Verluste zu beklagen und sie zu Grabe zu tragen. Das wirkt ausserdem uncool. Brüche und Schicksalsschläge betrachtet der Trendsetter als Chance zur Neuorientierung und Ausgestaltung des Lebenslaufs. Ausgeleierte Lismersocken werden fröhlich entsorgt und durch anpassungsfähigere und durchlässigere intelligente Fasern ersetzt. Wir besitzen ferngesteuerte Backöfen, sensible Sonnenschütze, die sich selber aus- und einfahren, alleskönnende Smartphones, jedoch keinen Geschirrflickomaten.

Das sollte jetzt eine Streicheleinheit sein für all die ewiggestrigen Schwerenöter, Melancholiker und Scherbenhaufenproduzenten, die ich von Herzen mag. Da kommt mir das Lied von Mani Matter in den Sinn: Mir hei e Verein, i ghöre derzue. Gibt es nicht auch noch den Verein derer, die die Zeit totschlagen müssen, die Metzger der Zeit? Gibt es solche, die nach einer Beschäftigung Ausschau halten – im gleichen Augenblick, in dem ich den Finger auf den Zeiger der Uhr drücken möchte, damit sie mir eine Verschnaufpause gönnt? In dem Augenblick, wo ich der Welt den Stecker ziehen möchte, suchen andere den Starterknopf. Menschen, die aus purer Langeweile ins Virtuelle abdriften oder online »Freunde« suchen, um »Spass zu haben«.

Zeitgenossen aller Gattungen streben nach den unterschiedlichsten Dingen, um die Zeit zu geniessen – aber jeder ist auf seine Weise ihrem Galopp untergeordnet. Der Mensch ist Anschauungsmaterial der Vergänglichkeit, welche zugleich plagend und barmherzig ist. Wir können die Zeit nur im Geiste aushebeln. Wenn wir uns Geschichten erzählen aus der Vergangenheit, dann löst sie sich für einen Atemzug auf. Ich liebe diese zeitlosen Momente! Am häufigsten erlebe ich solche, wenn ich Musik mache. Da gerate ich in einen Fluss, der mich wegträgt aus dem Sekundentakt. Dieses Vertieftsein in etwas, das man liebt, ist vielleicht das erhebendste Gut der Menschen. Kinder können das noch bestens in ihrem Spiel. Neugierig, witzig, leichtfüssig, frei, herzoffen, urvertraut und voll da. Eine arglose, in die Natur hinaus ergänzte, erweiterte Freudigkeit.

Ich kann es kaum erwarten, in den »Mouse-Room«, mein Einstern-Zimmer im Süden Kretas einzuchecken und alles andere auszustecken. Dort, wo die Zeit noch nicht dem Rasertum verfallen ist, kann ich meine Seele schweben lassen, die Sterne betrachten, mit meinem Tochterherz braune, ausgetrocknete Erde bewandern, ins vom Sommer gewärmte Salzwasser springen, Berge von griechischem Salat verspeisen, Raki trinken, Gespräche mit einheimischen Zeitzeugen führen, ein paar Akkorde auf der Gitarre schrummen, ein Hemingway-Buch lesen und immer wieder das Meer betrachten, bis die Zeit wieder zu mir zurückfindet und sich für eine kleine, luxuriöse Ewigkeit reumütig in meinen Schoss legt. Wie damals in Neuenburg.

SOMMERTRAUM

Alles schön ruhig und friedlich. Die Hälfte des Landes ist weg. Fühlt sich an wie Neunzehnhundert-Blumenkohl. Sommer! Du hast mich gelehrt, dich zu packen, wenn du endlich mal wieder zu Gast bist hierzulande. Dein magischer Zauber hält nur kurz und schon bist du wieder weg.

Ich entspanne auf einer orangefarbenen Luftmatratze. Der See liegt spiegelglatt und flimmernd vor mir. Die Sonne brennt mit voller Kraft herunter und spiegelt einen blauen, von gross geballten, schneeweissen Sommerwolken durchzogenen Himmel. Hinter mir entfernt sich langsam das schattige Wiesenufer mit seinen tief hängenden Trauerweiden. Mit dem Ufer bleibt auch das zurück, was mich dort umtreibt und beschäftigt. Je weiter ich in diesen See hineingleite, die Gerüche, die Farben und Geräusche aufnehme, desto fremder und unbegreiflicher wird das eben noch Gewichtige. Die Sonne prickelt auf meiner Haut, wohlig bis tief in die Knochen hinein, und ein laues Lüftchen umschmeichelt mich. Liebe Leser, so muss sich die Ankunft im Paradies gestalten …

Daheim liegen Notizblöcke voller guter und schlechter Ideen, an die 50 unbeantwortete E-Mails, Briefe, inflationäre Werbebroschüren, Rechnungen, die fällig sind, Einladungen, die ich ablehnen muss, aufgeschlagene Magazine, Zeitungen, Bücher und ein Haufen waschfälliger Kleider. Alle diese Dinge erscheinen mir hier auf dem See plötzlich fremd, überflüssig – einer verirrten, grotesken

Welt zugehörig, der ich heute entkommen bin und mit der ich zunehmend meine Mühe habe. Es ist die busygoing-nowhere-Falle – zu viel machen, reden und studieren – zu wenig freies Leben. Ich weiss, dass es vielen Menschen auf diesem Planeten so geht, nur tröstet mich das wenig.

Wenn ich hier und jetzt in diesen vieltausendjährigen, tiefblauen Himmel blicke, die Wolken gelassen vorbeiziehen sehe, wenn diese Berge, so majestätisch, kühn und unverrückbar klar vor mir stehen – wie kann es da sein, dass daneben all dieser lumpige Alltags-Bagatell-Kram der Trostpflaster-Konsumwelt noch ihre Relevanz hat? Warum lassen wir uns da bloss immer wieder so reinziehen? Die fragwürdige Kunst eines jeden Tages ist doch heute, die Perlen im ganzen Ramsch zu finden, der uns umgibt und angeboten wird. Doch selbst die Lüge dient der Wahrheit und die Schatten löschen die Sonne nicht aus, vor allem nicht im Sommer. Auf geht’s …

Wieder zu Hause, fragt mich meine liebe Tochter, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr ins nahe liegende Kloster zu gehen. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen nach dem See. Eine braungekleidete Kapuzinernonne öffnet uns freundlich die Pforten. Lange dunkle Gänge führen in den Innenhof. Ein paar Schwestern machen im Halbschatten ein Kartenspiel. Wir zwinkern ihnen zu und ich glaube, sie freuen sich, zwei so bunte, streunende Hunde in ihren Mauern zu sehen. Es fühlt sich gut und sehr kühl an. Die Kirchen und Klöster sind ja eigentlich die Erfinder der Aircondition … nur liess es sich nicht patentieren.

Wir lassen uns den umwerfend schönen Garten zeigen. Wie man mir berichtete, durfte man früher hier nur unter strenger Strafe aus den Klosterzellen darauf herunterblicken. Zu gross waren wohl die Verführungskraft und die Ablenkung all der prächtigen, alten Rosen, Hortensien, Lindenbäume und dem berauschenden Jasmin und Lavendel. Das passte nicht zur streng auferlegten Kasteiung der jungen Nonnen – obwohl sich eigentlich Gott, oder wie wir es nennen wollen, in dieser wunderbaren Natur, in all den Blüten, Früchten und Düften so gross und stark offenbart.

Wir ergreifen die Gelegenheit und nehmen auch noch am anschliessenden Vesper, dem liturgischen Abendgebet, teil. Da sitzen fünfzehn ältere Nonnen im Halbkreis in einem holzgetäfelten Raum in engen, unbequemen Chorstühlen und lobpreisen mit wackligem aber herzvollem Gesang Gottvater, Gottsohn und den heiligen Geist – fern von der Aussenwelt und ohne Nachkommenschaft. Far out! Ein wirklich spezieller Moment, den ich mit meiner Tochter erleben durfte.

Spätnachts im Bett sinniere ich über diesen Tag, das Erlebte, über die Vergänglichkeit und ob jetzt ich oder die Nonnen etwas im Leben verpasst haben … Wie lange mag mein Tochterkind wohl noch so schöne Ausflüge mit mir machen? Ist meine neue Songidee dazu himmlisch genug? Ganz leise hallt ein Ferngewitter. Mein Haus liegt zwischen drei Klöstern und auch morgen werde ich wieder von einem ihrer Glöcklein geweckt werden. Die wunderbaren schwarzen Kirschen und Aprikosen warten auf dem Tisch und ich bin frohgemut, dass sich ein weiterer Sommertag ankündet. Ich möchte unbedingt noch die Gefilde goldener und rauschender Ähren besuchen, bevor sie die Sense oder der Mähdrescher bald schon zu sich holt. Und schliesslich bitte ich noch den grossen Manitu, er möge mir Ruhe, Durchlässigkeit und Kraft geben. Ich meine damit die Art von Kraft, die uns wieder mehr eins sein lässt mit dem Schöpfer und die uns in den Schoss der Natur zurückführt. Oh Sommer, tust du mir gut!

QUARTIERPIRATEN

Die Sonne nickte dem Städtchen Solothurn freundlich zu und ich spielte mit meiner Tochter vor dem Haus Strassenfussball. Immer mehr Kinder kamen dazu. Jemand brachte die Idee, die Quartierstrasse abzusperren, um ungestörter zu spielen. Dieser erst zaghafte Wunsch wuchs rasch zu der Massnahme heran, von motorisierten Eindringlingen einen Wegzoll zu verlangen. Ich fand das grossartig und freute mich diebisch darüber, wieder einmal etwas zu tun, das, mit dem strengen Auge des Gesetzeshüters betrachtet, nicht ganz lupenrein war. So unterstützte ich das Vorgehen natürlich von ganzem Herzen.

Strassenarbeiter hatten in der Nähe ein paar orange-weisse Gummihütchen zurückgelassen. Die eigneten sich hervorragend als Tore und Strassenblockade. Ein Junge fuhr seinen Traktor auf und das Nachbarmädchen ein Märitkörbchen auf Rädern. Strassensperren sind sonst etwas Widerliches. Diese hier war aber wunderbar hübsch anzusehen und offenbar anziehend. Sie zog weitere Aktivisten aus ihren vier Wänden heraus. Schliesslich waren etwa zwölf Kids in guter Spiellaune zugegen. Das Spiel verschob sich sachte vom Fussball zum Wegelagerertum. Man spähte mehr nach dem nächsten Auto, als sich fürs nächste Goal reinzuhängen.

Etwa alle sieben Minuten fuhr eines vor. Es folgte die kecke Ansage der Kids: »Das kostet einen Franken, dafür gibt’s freie Fahrt und einen Krokus-Totenkopfaufkleber.« Die Reaktionen der Fahrer fand ich spannend: Je billiger die Karrosse, desto grosszügiger fiel das Passiergeld aus. Aus einem Lada – eh, einem Škoda – wurden drei Franken herausgereicht, ein Toyota generierte vier und eine witzige Rostlaube sogar fünf Stutz. Der Driver des noblen Flügeltüren-Mercedes mit Beifahrerdekoration hingegen konnte dem Spiel nichts Lustiges abgewinnen. Die Sorge um sein Prestigegeschoss war gross und in seiner Welt wird wohl andersherum gespielt. Er war die motzende Ausnahme, die den anderen Autofahrern zu entsprechend mehr Ansehen und Beifall verhalf.

Da erschien meine frühere Lebenspartnerin mit einer Schüssel Tiramisu auf dem Platz und wir setzten uns mit all den Kids an meinen Gartentisch und schlemmten wie die Räuber. Rundum zufriedene Gesichter. Ich fühlte mich in die Zeit zurückkatapultiert, wo das Blabla vom Ernst des Lebens noch nicht in meine Ohren drang. Ich fragte mich, was Kinder durchleben, bevor sie in die konfuse, hektische Erwachsenenwelt eintauchen, von der wir meinen, sie sei reifer. Ausgetreten aus dem Land der Könige und Elfen, wo man doch viel mehr wusste, als die Erwachsenen – die kennen ja nicht einmal mehr Geheimverstecke. Ja, wirklich: »Werdet wie die Kinder.«

Kinder stellen Fragen. Sie begehren auf, wenn sie etwas nicht verstehen und bevor die Sache nicht bereinigt ist, geht nichts mehr. Da werden sie zum bockigen Grautier. Dafür sind sie wiederum Meister im Verzeihen und Frieden machen, wenn der Gegenstand der Differenzen diskutiert und jeder Beteiligte angehört wurde. Ich beobachte da eine erstaunliche Sachlichkeit und Akzeptanz, die in den Politstuben der Erwachsenen oft schmerzlich fehlt.

Eine bittere Bilanz. Manche Erwachsene greifen tief in den Köcher, um ihre Giftpfeile abzufeuern. Das gemeinsame Streben nach dem Guten, nach Frieden und Unversehrtheit für alle scheint als vordergründiges Motiv unpopulär zu sein. Wir sind Höhlenbewohner mit Flatscreens und digitalisierten Keulen. Wir zertrümmern uns gegenseitig die Schädel und Seelen – wofür? Für einen lumpigen Haufen Geld, etwas Mobiliar und abstruse Ideen.

Kinder sind noch sehr Anteil nehmend. Mitleid, Neugier, Staunen, Freude, Leidenschaft und Mut kommen mir in den Sinn, wenn ich überlege, womit mich Kinder beeindrucken. Diese Lebendigkeit hat ihren Preis. Kinder wuseln herum, sobald sie wach sind und sie fordern unsere physische und psychische Präsenz, bis sie ihre Äuglein wieder schliessen. Oft bleibt nach einem ereignisreichen Tag für Erwachsenenaugen ein buntes Chaos zurück, wenn der Kindermotor endlich einen leeren Akku vermeldet – und der Feierabend verschiebt sich in die dunkle Nacht. Ein erfülltes Kinderherz schmiert den elterlichen Bewegungsapparat und auch sein Hirn. Wer Kinder betreut, muss verhandeln, besänftigen, Lösungen finden und Fragen beantworten. In Sekundenschnelle wechselt sich Philosophisches mit Sachfragen ab: Darf ich? Warum denn? Warum denn nicht? Hat Käthi auch Kinder? Warum hat sie denn keine? Warum kriegen denn nur Frauen Kinder? Warum ist der Himmel blau?

Das ist geistig anstrengender als das Tippen am stimmlosen Bildschirm. Neumütter und Neuväter stellen fest, dass sie vorher sackweise Zeit gehabt haben, ohne es zu merken und zu nutzen.

Hochgeschätzte Kinder, ihr seid unverzichtbare Fitnesstrainer und Vorbilder in Menschlichkeit und Lebensfreude. Wir brauchen euch!

DIGITALE DEMENZ

Ferienplanung. Die Eltern haben auf dem Stubentisch eine Landkarte ausgebreitet und bringen sich in Stimmung für die bevorstehende Reise. Der kleine Sprössling juckt hinzu, wirft einen interessierten Blick auf das Papier und versucht umgehend, es mit Daumen und Zeigefinger auseinanderzuziehen, um die Ansicht zu vergrössern. Erst einmal Gelächter … dann beschleicht die Anwesenden ein mulmiges Gefühl. Ist der Junge bemerkenswert gelehrig oder hat ihn bereits im Vorschulalter die digitale Demenz heimgesucht?

Die Diskussion darüber, ob der digitale Fortschritt ein Gewinn ist oder nicht, finde ich müssig. Ich profitiere selber gerne von diesen leuchtenden Hilfsmitteln und Werkzeugen. Als Neohippierocker, der sich neben der Bühne auch gern ohne GPS in den Wiesen und Wäldern aufhält, bin ich jedoch bestrebt, dem digitalen Wahn Paroli zu bieten und die gesunde Balance zu finden. Ich hoffe, damit meinem Geist und Körper einen guten Dienst zu erweisen. Einmal mehr macht die Dosis das Gift. Glauben Sie mir: Ich freue mich wahrlich darüber, dass meine Waschmaschine mir den Gang zu Waschbrett und Zuber erspart. Dennoch sitze ich nicht stundenlang davor, um ihr beim Schleudern zuzusehen. Umso mehr erstaunt es mich, wie achtlos viele Menschen das echte Leben dem digitalen Pulsschlag opfern.

Spazierende Eltern schieben ihre Kinderwagen mit gesenkten Häuptern durch Stadt, Park und Spielplatz. Nicht etwa, um sich auf Augenhöhe mit den Kids zu unterhalten, sondern weil sie sich offensichtlich permanent ihrem Bekanntenkreis mitteilen wollen. Bei den neuen, riesigen Smartphones benötigt man oft beide Hände, um sie zu bedienen. Folglich ist der Handysüchtige praktisch gezwungen, das Babycabrio mit dem Bauch zu schieben, und das möglichst erschütterungsfrei. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich auch dieses Problem mittels digitalen Spielzeugs lösen lässt und das Kind ferngesteuert spazieren fährt. Unterdessen kann Mama der Kollegin das süsse Filmchen weiterleiten, welches der Kollege ihr geschickt hat. Und sie können sich gegenseitig per Wazäpp entzückte »Jööös« zusenden, weil das Zeichentrick-Bärli oder -Kätzli auf dem Display so putzig trällert.

Der Nachwuchs sieht auf seiner Spazierfahrt andere Dinge: Zum Beispiel zwei Hunde, die sich beschnuppern und begrüssen. Die Vierbeiner tun das natürlicherweise. Sie sind nicht im Besitz eines Smartphones und holen sich ihre Informationen über das andere Wesen auf diesem Weg. Sie wissen von nun an, ob sie den Kollegen Lumpi riechen können oder nicht. Die Eigenart des digitalen Sozialkontaktes ist ja, dass man gar nicht mitbekommt, welcher Körpergeruch den anderen umgibt. Die digitale Welt stinkt nicht.

Das Buch Digitale Demenz von Manfred Spitzer zeigt uns, wie nahe und gefährlich die digitale Sucht ist. Er mag die Sache etwas überspitzen – nomen es omen – aber sicherlich ist Doc Spitzer nicht einer, der haltlos Wände mit dem Teufel bemalt. Der bekannte Hirnforscher bringt alarmierende Fakten. Wer einem Kindergartenkind erlaubt, am Computer zu spielen, wer seinem Teenager gestattet, jeden Tag Stunden mit Spielkonsole und in Online-Netzwerken zu verbringen, fügt dem Nachwuchs vor allem Schaden zu. Erwachsene haben fertige, entwickelte Gehirne, Kinder nicht. Nachgewiesen sind Aufmerksamkeits-, Schlaf- und Lesestörungen, Ängste, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und Abstumpfung.

Die Empfehlungen für achtsame oder überforderte Eltern: Leben Sie die Dosis und ihre Werte klar vor. Was andere Kinder in der Schule und der Freizeit machen, muss mein Kind nicht unbedingt auch machen. Keine Technik im Kinder-und Jugendzimmer, sonst verlieren die Verantwortlichen sämtliche Kontrolle über Konsum und Missbrauch. Und die wichtigste Botschaft: Es geht nicht darum, nur Spass zu haben, sondern Spass zu haben bei Aktivitäten, an denen man wachsen kann.

Wenn jemand besonders viele virtuelle »Freunde« hat und sich durch zahlreiche Einträge auf sozialen Plattformen auszeichnet, dann tut er mir fast leid. Welcher Schmachtlappen vernachlässigt schon seine Liebsten und setzt sich mausbeinallein vor den Computer, um an seinen diversen Profilen zu schrauben? Wie egal müssten mir Heim und Garten, Leidenschaften, Beruf und meine Freunde sein, wenn ich derart im Netz hänge? Ja, ich bin ein hausbackener Mensch, denn das alles ist mir heilig. Bin ich nun schon wieder modern und rebellisch? Mein Slogan für die Youngsters heute: Schockiere deine Eltern – Lies ein Buch! Eines aus Papier!

BUCHSTABENSUPPE

Buchstaben ziehen mich seit jeher in ihren Bann. Ich halte diese Erfindung der Menschheit, mit Linien in verschiedenen Formen zu kommunizieren, für genial. Obschon wir lediglich 26 Lettern zur Verfügung haben, sind wir in der Lage, damit einen emotionellen Tsunami loszutreten und Stimmungen zu transportieren, die wir, objektiv gesehen, doch gar nicht in dieses Gewusel von Zeichen packen können. Und doch geht es – grosses Kino! Ein befreundeter Verleger nennt mich einen Stilisten – das gefällt mir. Ich probiere immer wieder, dem Inhalt eine gewisse Farbe und Rhythmus beizumischen. Musikalisch ausgedrückt: Den Sprachswing. Phasenweise gelingt es.

Unsere ganz persönliche Art, wie wir aus den einzelnen Lauten Wörter formulieren und daraus Sätze komponieren, liefert auch ein Bild davon, wie es in unserer Seele aussieht. Obwohl ich das im Text gar nicht beschreibe. Das Schreiben und Lesen hat eine metaphysische Dimension. So kann mich nach der Lektüre eines Buches, eines Interviews oder der Kolumne eines anderes Schreibakrobaten gar das Gefühl heimsuchen, den Verfasser zu kennen, ich fühle mich ihm seelenverwandt und ginge am liebsten etwas mit ihm schlürfen … kennen Sie das?

Kürzlich paarte sich das Buchstabenwunder in den Tiroler Bergen mit einem anderen sinnlichen Grossereignis im Leben des Menschen – dem Essen. Ich fand folgendes Angebot auf der Kinderkarte: Teller und Besteck zum Krachmachen – 0.00 Euro.

Sprache kann uns – einerlei, ob in gesprochener oder geschriebener Weise – auf einen Schlag aufheitern, entzücken und beflügeln. Ebenso vermag sie uns binnen eines Atemzugs aus der Bahn zu werfen oder vibrieren zu lassen. Jeder von uns erinnert sich an eine unfeine Bemerkung, die sich schmerzhaft in die Seele gebrannt hat und auch nach Jahren nicht verschwinden will. Andererseits trage ich verbale Schätze in mir, lieb und teuer. An denen halte ich mich in Zeiten des Zweifelns fest.

Sprache ist offensichtlich ein Machtinstrument. Manchmal, wenn ich in einer Zwickmühle bin, wo eine schwierige Situation eine Reaktion von mir erfordert, mache ich erst ein Gedankenspiel: Welches wäre die direkteste und niederschmetternste Antwort, die ich geben könnte? Was weiss ich zu sagen, das sitzt? Danach überlege ich mir die witzigste oder charmanteste Antwort, die ich auf diese unangenehme Sache geben könnte.

Normalerweise wähle ich ehrlichen, ungeschönten Klartext, wobei die Haltung des Empfängers schon eine Rolle spielt. Muss ich jemanden fadengerade aufklären, auf seinen Platz verweisen oder will ich ihm eher Mut machen und den Sand von den Schultern klopfen? Meist finde ich so meinen Weg.

Bereits Grundschulen und Eltern müssen sich heute mit dem Thema Cybermobbing befassen. Das Internet wird als beinahe rechtsfreier Raum für allerlei Schimpf und Schmutz benutzt. Wer dem verbalen »Nahkampf« nicht gewachsen oder zu feige ist, dem bieten sich einschlägig platte Formen an, um Dreck hinter dem Gesicht hervor auf den Bildschirm zu schleudern. Das ist oft nicht schön und grausam.

Ich gebe mit meiner Art zu kommunizieren vieles von mir preis. Sprache ist eine individuelle Stil- und Charakterfrage. Ebenso wie die Art zu gehen, die Schrift oder die Kleidung es sind. Auch in der Sprache zeigt sich, ob ich eher ein Trendsetter und Wiederkäuer bin oder ein eigenständiger Anwender. Ich liebe es, mit der Sprache zu spielen und hie und da gelang mir ein Volltreffer. Die Ausdrücke »Dumpfgummi« und »Blockflötengesichter« verbreiten viel Freude und »Meh Dräck« wurde gar zum Wort des Jahres gekürt. In unseren Songs hingegen bevorzuge ich Englisch. Ich suche Ausdrücke, die Google und YouTube, in dieser Zusammensetzung, noch nicht kennen. »Hoodoo Woman«, »Dög Song«, »Bedside Radio«, »Easy Rocker«, »Long Stick Goes Boom« …

Der begnadete Künstler David Bowie, der die Popund Modewelt revolutionierte, sagte mal: Würde Gott zu den Menschen sprechen, täte er das auf Deutsch. Das könnte stimmen, denn es gibt kaum eine Sprache, die einerseits so dramatisch verspielt und andererseits so zackig präzis ist. Die schönsten deutschen Wörter für mich sind: Geborgenheit, Sternenstaub, Morgenland, Schmetterling, Fernweh und Vergissmeinnicht. Sie beschreiben auf unglaubliche Art ein Gefühl, für das ich sonst kein Wort kenne. Pure Musik! Aber auch »lieben« ist wunderschön, weil es nur ein »i« von »leben« entfernt ist. Und »Lust« beschreibt aufs Vortrefflichste diesen Zustand. »Hafenkran« tönt etwas härter – ist es auch. Übrigens: wenn man diesen wunderbar stolzen, verlebten Kran schon unbedingt in Zürich hinstellen musste, warum liess man ihn dann nicht auch mindestens ein paar Jahre da stehen? Er hätte dem herausgeputzten Zürich sicher nicht geschadet. Der perfekte Kontrast zu den Limmatquai-Kafis, Sonnenbrillenshops und Nobelboutiquen.

Wussten Sie übrigens, dass Vanille aus dem lateinischen Vagina abgeleitet ist und Klavier ursprünglich aus Schlüssel hervorging? Fabelhafte Etymologie! Dann gibt es noch die unübersetzbaren Wörter, jene, die einmalig sind in einer bestimmten Sprache. Besonders angetan bin ich von den schönen japanischen Zeichen die Komorebi bedeuten. Das heisst: Das Sonnenlicht, das durch die Bäume scheint. Das Zusammenspiel von Blättern und Sonne. Wunderbar! Oder im Spanischen: Sobremesa: die Zeit, in der man sich mit Menschen austauscht nach einer Mahlzeit.

Im Indonesischen gibt’s das Wort Jayus – das steht für einen schlecht erzählten Witz, der überhaupt nicht funny ist. Und im Hawaiianischen sagen sie Pana Po’o, was den Akt beschreibt, wenn du etwas vergessen hast und dich am Kopf kratzt. Im Schwedischen steht Mangata für die glimmernde Reflektion des Mondes auf dem Wasser und die Inuit sagen Iktsuarpok, wenn sie ungeduldig sind und schauen, ob jemand kommt. Waldeinsamkeit beschreibt das Gefühl wenn du allein im Wald bist, verbunden mit der Natur.

Natürlich hat Nietzsche recht, wenn er sagt, dass Wörter nicht alles sagen können. Sie sind nur Symbole für Beziehungen zwischen Sachen und Menschen. Sie können nicht die absolute Wahrheit ausdrücken.

Das mag sein, aber sie beschreiben etwas kraftvoll und auf wunderbare Art und Weise. Wer dazu mehr wissen möchte, dem empfehle ich das grossartige Buch von Guy Deutscher, Im Spiegel der Sprache, in dem der Linguist den Zusammenhang einer Sprache und ihrer Sprecher verdichtet. »Ich spreche Spanisch zu Gott, Italienisch zu den Frauen, Französisch zu den Männern und Deutsch zu meinem Pferd.«

Die scherzhafte Vermutung Karls V., dass verschiedene Sprachen nicht in allen Situationen gleich gut zu gebrauchen sind, findet wohl auch heute noch breite Zustimmung. Doch ist sie aus sprachwissenschaftlicher Sicht haltbar? Sind alle Sprachen gleich komplex oder ist Sprache ein Spiegel ihrer kulturellen Umgebung – sprechen »primitive« Völker »primitive« Sprachen? Und inwieweit sieht die Welt, wenn sie »durch die Brille« einer anderen Sprache gesehen wird, anders aus?

Dieses Buch von Guy Deutscher ist eine sagenhafte Tour durch Länder, Zeiten und Sprachen. Auf seiner Reise zu den aktuellsten Ergebnissen der Sprachforschung geht man mit Captain Cook auf Kängurujagd, prüft mit William Gladstone die vermeintliche Farbblindheit der Griechen zur Zeit Homers und verfolgt Rudolf Virchow in Carl Hagenbecks Völkerschau auf dem Kurfürstendamm im Berlin des 19. Jahrhunderts. Mitreisende werden mit einer glänzend unterhaltsamen Übersicht der Sprachforschung, mit humorvollen Highlights plus unerwarteten Wendungen und klugen Antworten belohnt.

»Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus), stimmt, und ich bin – alterseidank – längst niemandem mehr ausgeliefert, der mir nicht passt und nicht gut tut. Meine Ohren führe ich an Orte, wo eher meine Lachfalten gefördert werden denn die Sorgencanyons. Sonst bin ich wohler daheim mit einer guten Buchstabensuppe. In dem Sinne: Salem Aleikum, gehen wir in Frieden, aber gehen wir … mindestens 10 000 Schritte pro Tag, empfiehlt Hausdoktor Ali Mabulu.

DIE RITTER DER KOKOSNUSS

»Danke, dass Sie an der Zukunft der Schweiz mitwirken«, meinte der neue Bundespräsident bei seiner Neujahrsansprache.

Ich lag auf meiner Denkercouch und sinnierte darüber, was der Bundespräsident uns damit sagen wollte. Zwei Riesenraben flogen am Fenster vorbei. Ich nahm ein paar abgelegte Artikel der letzten Wochen zur Hand und staunte, was da alles drinstand.

Das Bundesgericht verfügte, dass private Weihnachtsbeleuchtungen um ein Uhr abzuschalten seien – Achtung! – ab dem sechsten Januar schon um 22 Uhr! Eine Bündner Gemeinde will ein Verbot von Gartenzwergen durchsetzen und Hobbyfeuerwerker müssen ab jetzt einen teuren Kurs besuchen, wenn sie Raketen in den Himmel steigen lassen wollen.

Ich könnte hier 50 Seiten lang den kleinen und grossen Regulierungswahn aufführen. Es grüssen die Ritter der Kokosnuss! Oder anders gesagt: Ich sehe Zeichen von Übermut und trunkener Abgehobenheit, während ein Grossteil der Welt am Taumeln und Ächzen ist.

Mit anderen Worten, der Staat mischt sich zunehmend dort ein, wo er nichts zu suchen hat: Wir regulieren uns zu Tode und machen keinen Schritt mehr ohne Juristen und Anweisungshandbuch. Eine Welt zum Schreien, ohne nennenswerte Liberalisierungen.

Erstaunt es da, dass das Verwaltungswesen mehr wächst als die Privatwirtschaft? Jemand muss diesen Irrwitz ja erfinden, bearbeiten und durchsetzen. Der Personalzuwachs der letzten Jahre bei Bund, Kanton und Gemeinden bewegt sich im fünfstelligen Bereich. Auch im nächsten Jahr soll die Staatsquote weiter ansteigen. Nur wenige denken an die Folgen dieser Fehlentwicklung. Man schaue nur mal nach Frankreich. Es erstaunt mich immer wieder, wie wenig wir Bürger uns darum kümmern, wie die sauer verdienten Steuergelder eigentlich eingesetzt werden. Man akzeptiert es einfach als »verlorenes« Geld, als notwendiges Übel, zu dessen Verwendung wir eh nix mehr zu melden haben. Die Puppenspieler lassen ihre Puppen tanzen und die Falschen bereichern sich schamlos.

Ich betrachte das Treiben in Bern hie und da aus nächster Nähe. Folgendes ist mir aufgefallen: Selten hört einer dem anderen richtig zu. Eine richtige, vertiefte Debatte findet kaum statt. Fast jeder geht mit vorgefasster Meinung ans Rednerpult und liest meist parteigetreu vom Zettelchen ab. Andere verstecken sich während dieses 50-%-Jobs hinter dem Laptop, lesen Zeitung oder gucken auf ihr Handy. Als ich das zum ersten Mal sah, war ich konsterniert – was soll das? Ist das seriöse Arbeit, für die man 130 000 Franken plus fette Zusatzvergütungen pro Jahr bekommt? Und dann diese ewige Unruhe? Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ein Privatunternehmen, ein Fussballklub oder eine Band solche respektlosen Meetings abhalten würde? Könnte dabei etwas Konstruktives herausschauen?

Schmunzeln musste ich, als letzthin ein geschätzter Kolumnenkollege etwas überspitzt einen Berufspolitiker fragte, ob er wirklich glaube, dass es sich bei der Politik beziehungsweise der Angewohnheit, allen Geld zu versprechen, dabei aber nur Kosten zu verursachen, tatsächlich um einen ehrbaren Beruf handle, der entlöhnt werden müsse. Und ob es denn nicht reichen würde, wenn wir den Parlamentariern einfach die Reise- und Verpflegungskosten vergüten würden. Die Antwort des Parlamentariers können Sie sich vorstellen, liebe Leser. Mitwirken könnte auch mal genaues, selbstkritisches Hinschauen sein!

Ich lese auch von Staatsstellen, die für das tägliche Kopieren von Dokumenten 7000 Franken pro Monat bekommen und von dem Führungschaos beim Bundesamt für Strassen. Die meisten Ämter können über ihre Leistungen und damit über ihr Budget frei entscheiden. Was die Arbeit tatsächlich kostet und ob für Preisgünstigkeit und Effizienz gesorgt wird, durchschaut längst niemand mehr und es wird eh meist nur die teuerste, aber längst nicht beste Variante bevorzugt. Siehe das Informatik-Insieme-Debakel, wo Insidergeschäfte, Filz und mangelnde Transparenz einen Fehleinkauf forcierten. Den Steuerzahler kostete das 102 Millionen Franken. Als wäre das nicht schon beunruhigend genug, werden parallel dazu Schulden angehäuft, als gäbe es kein Morgen. Sparen, das sollen gefälligst die anderen oder im dümmsten Fall halt die zukünftigen Generationen.

Nein, es reicht nicht mehr, nur die Abzocker in der Wirtschaft an den Pranger zu stellen und masszuregeln. Wir müssen jene Hochmütigen in der Politik, die hart verdientes Geld arg- und schamlos abkassieren und verschleudern, genauso kritisch angehen und kontrollieren. Je schneller, desto besser, denn ihr Treiben wird zunehmend dreister und die Leistung nicht besser. Dazu schaden sie all jenen, die einen respektablen, kräftezehrenden Herzblutjob im Staatswesen machen.

Etwas überspitzt ausgedrückt: Wenn man jedoch Menschen zu viel Geld fürs Nichtstun gibt, werden sie übermütig, verlieren Bodenhaftung, Motivation und wälzen die Verantwortung ab. Es ist eine Krankheit, gegen die eigentlich nur Fasten helfen würde, aber eben, wer hat den Mut und die Eier, das durchzusetzen? Für einen lumpigen Haufen Geld hat schon manch einer seine Seele und sogar die Familie verkauft. Wir kultivieren hier phasenweise ein falsches Anreizsystem aus dem Allesversprecher und Lügner wachsen, die logischerweise nicht mehr aus dem süssen Honigtopf wollen. Und neuerdings verbandelt sich sogar die freie Wirtschaft mit dem antiliberalen Staat, um an die Steuergelder zu kommen. Eine extrem ungesunde Entwicklung.

»Wenn das Geld regiert und nicht mehr dient, dann sagen wir Nein! Auch zum spirituellen Alzheimer, zur mentalen Erstarrung und zum Terrorismus des Geschwätzes, der Krankheit der feigen Menschen, die nicht den Mut haben, direkt mit jemandem zu sprechen.« Das sagte kürzlich der Papst Franziskus. Ich habe selten so weise Worte von einem Kirchenoberhaupt gehört. Er scheint ein gebödeleter Mann zu sein.

Nun, Herr Bundespräsident, der Papst und ich sind zur Mitwirkung an unserer Zukunft bereit!

CHRISTKINDERLAND

Für viele mag die Weihnachtszeit nur noch Ärger und Stress bedeuten. Die ganze Materialschlacht, Konsumwut und Rastlosigkeit haben die einstigen Sinn- und Glücksgefühle dieses Rituals fast besiegt. Man mag nun gläubig sein oder nicht, wer aber in diesen Tagen an nichts Grösseres als an sich selbst und seinen Porsche glaubt, kann auch unter vielen Menschen recht einsam und leer bleiben.

Ich verbinde das Christkindfest immer wieder mit dem Glück, mit Eltern und Grosseltern feiern zu können, einem Glück, das es für mich nicht mehr gibt. So ist der Lauf des Lebens – nichts für empfindsame Seelen. Gerade an Weihnachten wird einem das schonungslos vor Augen geführt. Trotzdem klingt da, nebst der Freude meiner Tochter, noch etwas nach, an das ich immer wieder gerne zurückdenke – wundervolle Geschichten, als seien sie erst gestern geschehen.

Es war in unserem Elternhaus in Solothurn am Heiligen Abend im schön geschmückten Wohnzimmer. Kurz vor dem Essen sangen wir Weihnachtslieder, die Grossmutter wie immer köstlich falsch in den hohen Lagen. Zwischendurch ging meine Mutter in die Küche, um anzurichten. Mein Hund Buzzli beobachtete, wenn’s ums Essen ging, die Szene ganz genau. Das wohlriechende Rollschinkli lag nur 20 Sekunden unbeaufsichtigt am Tischrand und schon war es im Mund des Labradors. Oma Idaso-was-war-noch-nie-da rief entsetzt: »Gib aus Buzz, gib aus!«, was er auch sofort in geduckter Haltung tat. Wir Kinder hielten uns die Bäuche vor Lachen. So war er eben der Buzz und man konnte es ihm nicht verübeln, schliesslich wollte er auch etwas Spass haben an diesem Festtag.

Nach dem Nachtessen sassen wir alle um den Baum und bestaunten seine Schönheit, mit all den Kerzen, dem Glitter und Glimmer und den alten farbigen Kugeln, in denen sich das ganze Zimmer spiegelte.

Dann las unser charismatischer Grossvater Hermann aus der Bibel über die Geschichte von Jesu Geburt, den Hirten und der Herde. Das war der Kern dieses Festes, die bewegte Stimme des Grossvaters und der Blick zur Krippe mit all den schönen Figuren. Die drei Heiligen Könige, Maria, Joseph und ein kleines weisses Schaf, das friedlich auf dem Schilfdach lag. Ein ganz schwaches rotes Licht brannte im Inneren der Hütte. Ein unschlagbarer Anblick, gerade in dieser Einfachheit.

Daneben dann, unter dem Baum verstreut, die Geschenke, die so treffend den Gegensatz zwischen Erd- und Gottesreich, zwischen natürlicher und andächtiger Freude aufzeigten. Die Freude über Jesus Geburt im Stall von Bethlehem, dieses Kerzenlicht, der Duft von Zimtsternen und Lebkuchen, und dann diese drängende Unruhe im Herzen, ob nun das so lang Ersehnte auch unter den Geschenken sei. Eine wirklich skurrile Mischung.

Unvergessen bleibt mir das Gesicht meines vier Jahre jüngeren Bruders beim Anblick seines Geschenks. Es war ein Forscherkasten mit diversen Experimentierfläschchen. Etwas, das er sich immer schon gewünscht hatte. Im Glanze des feinen Kerzenlichtes erschien sein Antlitz wunderschön. Ein selig strahlendes, vor Glück und Freude ganz und gar verzaubertes, blond gelocktes Kindergesicht, so rein und leuchtend, wie ich es nie zuvor gesehen habe.

Während ich, ausser dem weissen Beatles Album, keines meiner Geschenke von damals noch in Erinnerung habe, blieb das Bild dieses Brudergesichtes für immer in mir haften. Später fand ich heraus warum. Es war nicht nur Schönheit, der diesem magischen Moment innewohnte, nein, es war auch ein entferntes, damals noch nicht bewusstes Erkennen, dass meine Kindheit vorbei war. Mein Bruder erlebte seine Geschenke wie ein Paradies. Mir blieb dieses unbeschwerte Glück bereits versagt. Ich konnte es zwar noch von aussen betrachten, aber die Unschuld, das Wertvollste war verloren. Ich war zwar jetzt gescheiter und älter, aber auch kälter und verächtlicher.

Hermann Hesse schrieb: »Es gibt kein Wachstum das nicht ein Sterben enthält. Es fällt in jedem Augenblick ein Blatt vom Baum, es welkt eine Schuppe von mir ab. Dies geschieht in jeder Stunde unseres Lebens, es ist des Werdens und Welkens kein Ende. Nur selten sind wir wach und achten darauf, was in uns vorgeht. Aber muß das so sein? Warum eigentlich scheint es uns selbstverständlich, daß das Leben eine böse Macht ist, die aus dem Kinderland hinein in Schuld, Enttäuschung und ungeliebte Arbeit führt? Warum soll Freude und Unschuld diesem Leben notwendig zum Opfer fallen?«

Ich weiss es nicht, doch seit ich mir diese Frage stelle, sind für mich Weihnachten und auch viele andere Tage des Jahres wieder wertvoller, bedeutender und inhaltsvoller geworden. Nicht Geld, Macht oder Besitztum machen uns reicher, sondern Hingabe, Teilnahme und Liebe. Das ist ein altes Lied, ich weiss, aber Wahrheit veraltet nicht.

WÜSTENWINTER

Schnee! Ich breitete meine Arme aus, als er vom Himmel fiel. Auch heute vermag mich diese Kristallwatte wie in Kindertagen zu faszinieren. Die weisse Pracht beruhigt meine Psyche, dämpft die hässlichen Geräusche und bringt dieses unvergleichliche Licht hervor.

Ich malte mir schon aus, wie ich mit meiner Tochter als Zugabe ins Zermatter Winterparadies fahre. Sie hielt dem jedoch entgegen, dass sie nun wirklich genug gefroren hätte und warf mir diesen abgewandelten Rap-Satz an den Kopf: »Du bist verliebt in der falsches Wetter … wie soll ich das begegnen?« Auf Seniorendeutsch: Bleib geschmeidig, wir gehen besser nach Ägypten in die Wärme. Ich bockte etwas, willigte aber schliesslich ein – unter der Bedingung, meinem langjährigen, geistreichen Life Coach Dr. Ali Mabulu, der den Winter stets in al Qusair verbrachte, einen Überraschungsbesuch abzustatten.

So rief ich Duppi von Duppenstein, den Minister für den Dienst am Service, Abteilung Spass am Leben, an. Wie es denn zurzeit mit etwelchen Terroraktivitäten am roten Meer so aussähe? Er meinte trocken: Der einzige Terror auf eurem Trip findet am Euroflughafen in Basel statt, beim Sicherheitscheck. Und er behielt recht. Übel gelaunte, französisch sprechende Frustianer machten einen auf CIA. Als ich sagte, dass ich mein Kopftuch aus nicht religiösen Gründen trug, durchleuchteten sie mir danach fast noch den Allerwertesten. Langhaarrocker zu schikanieren, gefiel ihnen.

Nach vier Flugstunden landeten wir sanft in Hurghada und unser Driver erwartete uns. Ashraff stand lächelnd neben seinem verbeulten, vom Wüstensand gepeitschten Kia. Er fragte, wohin er uns fahren dürfe. Und so gondelten wir Richtung Süden. Es fühlte sich an wie auf der Ai 1975 – das heisst, alle zwei Minuten ein Auto. Dichtestress? Dieses Wort können sie hier nicht mal buchstabieren. Ich fragte Ashraff, ob das normal sei. Er nickte und meinte: »Wir haben viel Platz und fast keine Frauen am Steuer.« Wir könnten jetzt bis Port Sudan – so ca. 700 km – weiterfahren, er habe genug Wasser und Sprit im Kofferraum. Ich schüttelte den Kopf und antwortete, dass wir nach al Qusair müssten, unsere Frauen übrigens bestens Auto fahren und wir sie vor der Hochzeit sogar anschauen dürfen. Er blinzelte kurz: »Du meinst die Bikinifrauen?« – »Genau die, Ashraff.« Meine Tochter auf dem Rücksitz begann sich zu amüsieren. Das fand sie weitaus spannender, als sich im kalten Schnee die Zehen abzufrieren. Direkt von minus drei auf plus 25 Grad, das brachte Stimmung. Vor uns lag eine unendlich weite Wüste, gespickt mit ein paar lustigen Palmen. Wir schauten mit grossen Augen durch die Fensterscheiben und genossen die Magie dieser frischen Eindrücke.

Es war nachmittags gegen fünf. Unser Fahrer stoppte in einer kleinen Hafenstadt mit dem Namen Safaga. Wir vertraten uns etwas die Beine und betrachteten das muntere Treiben. Doch plötzlich war es aus mit der Ruhe! Haben Sie vor ein paar Wochen die Sirenen-Alarmübungen in der Schweiz mitbekommen? Hier in unmittelbarer Nähe des alten Hafens schmetterten gleich drei Muezzins los, und zwar volles Rohr. Meine Tochter zuckte zusammen und fragte, halb Spass, halb Ernst: »Papa, kommt jetzt der Krieg?« Ich lachte und erklärte, dass dies im Grunde das Gegenteil sei, nämlich ein Aufruf zum Gebet. Sie sah mich ungläubig an. »Was schreien sie denn so laut von den Türmen herunter?« – »Sie rufen immer wieder ›Gott ist gross‹ auf Arabisch und das fünfmal innert 24 Stunden.« – »Auch in der Nacht?« »Nein, aber vor Sonnenaufgang am Morgen.« Mein Tochterkind hob die Augenbrauen und ich schmunzelte. Ja, wie würde ich reagieren, wenn mir in aller Herrgottsfrühe aus einem übersteuerten Megafon die Grösse von Gott eingehämmert würde? Könnte dies mein Herz erwärmen? Vermutlich etwa gleich wenig wie das übertriebene Sturmgeläute der Solothurner Kirchenglocken, die in Gottes Namen alles überdröhnen. Da lobe ich mir den Ruf des Kuckucks oder des Muschelhorns.

Eine Stunde später waren wir in al Qusair. Das Hotel, von einer Schweizerin geführt, präsentierte sich wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Die Begrüssung war ein Ereignis, Palmen- und Bugaliengärten ein Zauber und das Nachtessen ein Gedicht. Selig sanken wir in unsere Betten und die Wellen des nahen Meeres wogen uns in einen wohlverdienten Schlaf.

Tags darauf machten wir uns auf den Weg zu Ali Mabulu. Wir trafen auf ein lustiges Bogendachhaus im nubischen Stil ausserhalb der Stadt. »Ihr sucht Ali?«, fragte die kleine Haushälterin Mucka. »Der ist nicht hier, er reiste vorgestern zum Skifahren in die Schweiz.« – »Wie bitte …!?« Enttäuschung. Aber nur kurz, denn ich erinnerte mich zum Glück an einen seiner stärksten Sätze. Nein, es war nicht: »Hütet euch vor den Iden des März«, sondern: »Du findest selten, was du suchst, sondern bekommst immer das, was du gerade brauchst.«

Sand! Ich liess ihn durch die Finger rieseln, als wir zurückschlenderten und musste zugeben: Der warme Steinpuder fasziniert mich nicht minder als der kalte Puderzucker.

GLEICHMACHERMURKS

Wir fühlten uns dem Himmel nah. Und offensichtlich waren wir auch der Sonne näher gekommen, als wir auf einem Felsblock neben Schneefeldern Siesta hielten. Bereits beim Abstieg erhärtete sich der Verdacht, dass wir unsere Gesichter sogleich als Nachtlichter einsetzen können.

Wenn ich zuweilen die verdichteten Wohngebiete verlasse, sehe ich die verschiedenen Backgrounds der Mitmenschen. Von wegen kleine Schweiz! Wer ein paar Tage in Berghütten verkehrt – wo bisher weder Latte Macchiato noch Cola Zero hinaufgeklettert sind – und anschliessend nach Zürich fährt, muss mit einem Kulturschock rechnen! Ich bezweifle, dass das auch den Bildungspädagogen stets bewusst ist, wenn sie in den Verwaltungsgebäuden und Fachhochschulen zwischen Nespressomaschinen und Klassenzimmer umherschreiten und ihre Lernmethoden postulieren. Ein neues Schuljahr beginnt. Wer sind die Kinder, die da hingehen sollen?

Der Emmentaler Sämi bessert sein Taschengeld auf, indem er im Acker Mausefallen verlocht, der Zoran jagt derweil im betonierten Agglokasten vor einem Bildschirm Soldaten durch einen Rohbau und irgendwo in einer Acht-Zimmer-Terrassenvilla packt Emma unter der Aufsicht ihrer Nanny Tennisschläger und Turnschuhe in eine Sporttasche. Die drei führen ein völlig unterschiedliches Leben – vom Zmorge bis zum Znacht. Und es würde uns nicht wundern, wenn der Sämi einen bäuerlichen Beruf ergreift, Zoran Elektronikverkäufer wird und Emma Jura studiert. Aber wäre es auch andersrum denkbar? Die Bildungsexperten sprechen von Chancengleichheit – ich stelle vor allem einen grossen Eifer im Gleichschalten fest. Bringt’s das überhaupt?

Ich glaube, dass wir die besten Chancen vertun, wenn wir Sämi, Zoran und Emma und ihre Land- und Stadtschullehrer harmonisieren, pasteurisieren, sterilisieren und alle an den gleichen Ort müpfen. Denn diese Kinder und ihre Rudelführer haben völlig unterschiedliches Potenzial und ebensolchen Förderbedarf. Wenn wir sie schon in der Primarschule zu Englisch und Französisch zwingen, statt eine Fremdsprache richtig zu vertiefen, sind die Schwachen überfordert und bremsen die Starken aus. Individuelle Wahlfreiheit wäre angebrachter – neben den Kernfächern könnte sich jeder Schüler auf Gebiete konzentrieren, die ihm liegen. Für Zoran ist es überlebenswichtig, in Deutsch sattelfest zu werden, damit er eine Lehrstelle bekommt und seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Fertig. Emma will am liebsten an ihrer Sportlerkarriere schrauben und den Sämi nimmt am meisten wunder, was die Argrarwissenschaft Neues an den Tag bringt. Heute, wo die Menschen zunehmend Mühe haben, Hasen und Chüngel, Zwetschge und Pflaume oder Rasen und Wiese zu unterscheiden, sind wir froh um solche Sämis, die das Wissen über die natürlichen Zusammenhänge quasi mit der Muttermilch aufsaugen.

Früher erlebte ich pädagogischen Wildwuchs. Oft richtete sich der Unterrichtsstoff nach den Steckenpferden der Lehrpersonen. Bei der einen wurden Schlangen im Klassenzimmer gehalten, bei der anderen zur Sternwarte gepilgert und bei der dritten kriegte man eine Ausbildung in Chorgesang und Walzertanzen verpasst. Für die Schülerschaft war es ein Glücksfall, wenn Chemie und Interesse mit den Affinitäten der Lehrkraft übereinstimmten. Manche hatten aber das Gefühl, die berühmte Popokarte gezogen zu haben. Diese Problematik ist heute entschärft, aber nicht beseitigt. Trotz Gleichmacherwahn sind manche mit der Themenwahl glücklich und andere müssen darben. Dafür gleichen Herstellung, Art der Korrektur und Bewertung von Tests bald einer Doktorarbeit. Es muss gerecht sein. Kernkompetenzen und erweiterte Kompetenzen werden definiert und prozentual geprüft. Dies wird gemanagt von Menschen, die vielleicht die Kommaregeln herunterbeten können, aber überfragt sind, wenn ein Kind wissen will, weshalb die Milch weiss ist. Was ist Elementarwissen und wer bestimmt das? Bildungsdirektoren vertrauen in dieser Hinsicht ihrem Hofstaat – den Bildungsexperten, welche nicht selten »abverheite« Lehrer sind. So erklärt sich die Herummurkserei im Bildungswesen.

Möglicherweise läuft es im Schulwesen ähnlich wie mit dem Gemüse beim Grossverteiler. Dort schlägt das Pendel jetzt zurück. Man will den Kunden wieder ein dreibeiniges Rüebli kaufen lassen, wenn er Freude daran hat. Unter dem Label Ünique – Einzigartigkeit – soll die Ware so feilgeboten werden, wie sie gewachsen ist. Da fällt mir ein: Mittlerweile gibts Wassermelonenbauern, die zimmern Schablonen, damit das Fruchtgemüse artig hineinwachsen und dann als Würfel geerntet und gestapelt werden kann. Ob sie das den hiesigen Schulen abgeschaut haben?

Unsere Gesichter sind derzeit auch ünique. Der Teint hat etwas von Tomaten, die weit gen Himmel gewachsen sind … Henu, wer den Himmel berühren kann, sollte auch nicht an seiner Gesichtsfarbe herumstudieren.

GARTENZAUBER

Am liebsten sitze ich draussen auf meiner Holzbank. Sie steht am Ende meines Gartens, der direkt in ein grosses Feld zwischen drei Klöstern mündet. Wie schön ist es an sonnigen Tagen, diese Wiese zu betrachten! Butterblümchen, Margeriten, Johanniskraut, auch Herrgottsblut genannt, und zig Wildblumen kämpfen sich durch das im Wind wogende Gras. So etwas gibt’s in keinem Blumenladen: frei, frech und wild, launig von der Natur angerichtet.

Der grosse Dominator ist aber der sonnengelbe Teppich der zu Unrecht verschmähten Saublume. Die Kühe mögen sie nicht wegen ihres bitteren Saftes, aber die Blätter sind eine schmackhafte Salatbeigabe und die Bienen lieben ihre Blüte. Es gibt Honig und Sirup davon. Die Pusteblume bereitet den Kindern viel Spass und mich animiert sie zur Morgengymnastik. Ich reisse zurzeit täglich um die fünfzig dieser Pfanzen aus meinem Garten, damit sie nicht überhandnehmen. Ich mag die eigenwillige Saublume, diesen Löwenzahn. Die geliebte Mutter meiner Tochter nenne ich heute noch so. Nicht, weil sie sich inflationär vermehrt – das tut sie nicht, sondern, weil dieser Name einfach zu ihr passt. Löwenzahn … Das ist doch Musik, Poesie! Ein grossartiges deutsches Wort, perfekt!

Meinen Gartenstil würde ich als kontrolliert verwildert bezeichnen – inklusive »meh Dräck«. Leben und leben lassen, bloss kein Stress wegen ein paar Schnecken, Unkraut, Wildkatzen, Riesenraben, Frechspatzen, Igeli, Hunden oder sonstigen Kreuch- und Fleuchtieren, die via Feld zu mir kommen. Die haben alle ihren Platz und tragen ihren Teil zum Ereignis Garten bei. Momentan explodieren gerade die Apfelblüten und die sagenhafte Glyzinie alias Blauregen. Ich habe zwei davon: eine als Baum und eine als Kletterpflanze an der Hausfassade. Ihr pompöser Maiauftritt, ihre Farbe und ihr Klettertalent suchen ihresgleichen. Oft zur selben Zeit jubiliert auch der Flieder, dessen Duft fast unschlagbar ist. Daneben logiert seit Jahren ein Rhododendron in einem Tonkübel. Ich staune, wie er und die Stachelbeersträucher den Winter so schadlos überleben, ohne Heizung und Pulswärmer.

Der Garten ist für mich die Verwirklichung des eigenen Paradieses. Ich vermute aber, dass viele Menschen nicht den Mut oder das Interesse haben, in Sachen Gartengestaltung ihrer eigenen Stimme zu horchen. Sie tun schlicht dasselbe wie die Nachbarn: Abhauen, roden, flachmachen und darüber schimpfen, weil sich das Grünzeug nicht an die Topfgrösse oder die Grundstücksgrenze hält.

Der Mensch sehnt sich nach Natur. Aber nachdem die Unterkunft mit Garten bezogen ist, fallen oft die Stauden, Büsche und Bäume der Verstädterung zum Opfer. Die üppigeren unter den botanischen Erdenbewohnern entschliessen sich halt alljährlich im Herbst, einfach ihr Kleid auszuziehen und es gleich an Ort und Stelle auf den Boden zu werfen. Wenn sie wenigstens selber damit zum Grüncontainer watscheln würden, dann könnte man ja vielleicht Gnade walten lassen. So aber folgt der Kahlschlag und danach schmachtet man unter dem künstlichen Sonnenschutz statt unter luftig fächernden Ästen. Die würden eh nur Ungeziefer anlocken oder gar Vögel, die ihr Geschäft wiederum einfach auf den Gartentisch fallen lassen. Mit einem kleinen Rasen hat man seinen Frieden. Er lässt sich neuerdings bequem von einem Robotermäher streichholzkurz halten und verbleibt so lebloser als die Sahara. Kein Laub, keine Kröten, die sich in die Waschküche verirren und keine Amseln, die einem morgens mit ihrem Gezeter in den Traum reinschnorren.

Mensch, wann lerne ich, dich zu verstehen? Wie viel Natur willst du und bist du bereit zu verteidigen und mitzutragen? Warum bückst du dich lieber im Fitnesscenter als im Garten? Warum lässt du dir Krabben, Crevetten und Tintenfische auf deinem Teller anrichten, ekelst dich jedoch vor den Würmern vor deiner Tür?

Oje, jetzt habe ich mich ins Feuer geschrieben – das verzeihe ich mir. Denn ich brenne wirklich für meinen Garten und die ganzen Viechereien. Aber mein sarkastischer Eifer stört mich selber. Es ist halt nicht immer einfach, ich zu sein. Zu üppig blüht es auch in mir drin. In meiner Seele spriesst der Sonnenhut neben giftigen Lupinen, dornigen Rosenranken und viel buntem Gjätt, das jeden Eingriff der Zivilisation überlebt. Meine Fantasie quillt oft über und nicht alle Gedanken, die spriessen, sind löblicher und lieblicher Natur, das will ich gestehen. Zuweilen klatscht wohl der Mohn aus meinem Löwenmäulchen und der Ritter spornt mich noch an. Dann werde ich zur gemeinen Nachtkerze. Wo die Herzen schlagen, ereifern sich die Zungen und aus Schalk wird zuweilen ohnmächtiger Zynismus.

Und die Moral von der Geschicht? Die Artenvielfalt braucht’s doch, nicht?

Götterfunken

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