Читать книгу Das Kind ohne Vater - Christa Burkhardt - Страница 6

3 Gute Vorsätze

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Am nächsten Morgen war er der erste, der die Augen aufschlug. Der Bungalow schlief noch tief und fest. Seine Eltern hatten Sex gehabt letzte Nacht und würden wieder Sex haben. Vielleicht genau jetzt? Als Teenager, dessen körperliche Funktionen gerade erwachten, fand er den Gedanken, dass seine Eltern Sex haben könnten, abstoßend. Leidenschaft war etwas für junge Menschen, Geschlechtstrieb etwas für Rammler und Zuchtbullen, beides egal in welcher Form ganz sicher nichts für Eltern. Erst recht nicht für seine Eltern.

Gestern Abend hatte er seine Eltern zum ersten Mal bewusst als Liebespaar wahrgenommen. Ob man es als Sohn jemals schaffte, seine Eltern aus der Mama-Papa-Nische zu entlassen? Sie freizulassen in ein erwachsene-Menschen-Leben? Ein ganz normales erwachsene-Menschen-Leben wie man es selbst lebte oder zumindest versuchte? Mit Lust auf Liebe und Leidenschaft?

Er wollte sich anstrengen das hinzukriegen. Denn als Mama und Papa seiner Kindheit brauchte er sie definitiv nicht mehr. Ihre Anstrengungen, auch künftig Teil seines Lebens zu bleiben, als drei Erwachsene mit mehr oder weniger Lebenserfahrung, wollte er künftig besser honorieren. Bisher hatte er sie eher in die Kategorie plumpe Annäherungsversuche einsortiert, schämte er sich nicht wenig. Es wurde auch in dieser Hinsicht Zeit erwachsen zu werden.

Wie so oft nahm er sich Jonathan zum Vorbild. Der hatte offensichtlich keine Schwierigkeiten damit, seinen Eltern als ganz normale Menschen, die er liebte und respektierte zu begegnen. Er schaffte es sogar, mit seinem Vater Hand in Hand zu arbeiten und sich für seine Mutter Geschenke auszudenken, die sie glücklich machten.

Das Geschenk der Belegschaft. Er wusste immer noch nicht, was es war. Er würde seine Mutter fragen. Leise betrat er die Küche und befüllte die Kaffeemaschine. Hier hatte sich nichts verändert. Lediglich sein Blick auf die vertraute Umgebung war anders geworden. Allerlei Gegenstände, die er nie benutzt hatte, Bilder, die er niemals aufhängen, Möbel, die er sich nicht anschaffen würde. Als Kind war das sein Zuhause gewesen. Heute war es das Leben anderer.

Er nahm sich eine Tasse, öffnete leise die Terrassentür und trat ins Freie. Es war Juli und der Tag versprach Sommer. Das Angebot, das Jonathan ihm gestern Abend gemacht hatte, ging ihm durch den Kopf. „Ich habe einen Ferienjob für dich, Bruderherz“, hatte er gesagt, „die Vergangenheit der Firma wächst uns über den Kopf, Papa hat als Chef bald die 35 Jahre voll, und unser Archiv sieht aus wie unsere Kinderzimmer zusammen: Chaos pur.“

Sie hatten beide gelacht. „Wir wollen die Unternehmensgeschichte rekonstruieren, eine Chronik erstellen und eine entsprechende Kategorie in die website aufnehmen“, hatte Jonathan weiter gesprochen. „Ich möchte, dass das einerseits jemand von außen macht und andererseits jemand, der der Firma verbunden ist, da habe ich an dich gedacht. Wenn du also im August und im September noch nichts vorhast, wir könnten dich gut brauchen.“

„Du meinst, ich soll dein Zimmer aufräumen“, fragte Patrick nach. Jonathan grinste. „Gewissermaßen“, antwortete er, „und Papas und das der Firma und deins gleich mit. Denk‘ darüber nach.“ Damit war er aufgestanden und hatte seine Mutter zum Tanzen aufgefordert. Hatte er Lust, seine Sommerferien im Keller zwischen staubigen Aktendeckeln zu verbringen? Er würde in seinem Elternhaus wohnen müssen, Schlumpf-Bettwäsche inklusive.

Hatte er nicht ein klares Statement abgegeben, was ihm dieses Unternehmen bedeutete, als er seine kaufmännische Ausbildung abgebrochen hatte? Er studierte Medizin, verdammt noch mal! Sei nicht so arrogant, du Arschloch, rügte er sich selbst, der Herr Student lebt schließlich auf Kosten dieser Firma, ist also ohnehin so eine Art inoffizieller Mitarbeiter. Sollte sich diese Investition nicht ein wenig lohnen dürfen?

Er war früher bei der Schülerzeitung gewesen, Geschichte war eines seiner Lieblingsfächer, warum sollte er nicht in der Vergangenheit des Familienunternehmens wühlen? Außerdem lagen neben den staubigen Akten der ersten Jahre sicherlich jede Menge Datenträger, die man einfach mit in die Sonne nehmen und am Laptop im Garten durchsehen konnte.

Und hatte er nicht vorhin noch gedacht, dass es an der Zeit war, seinen Eltern neu zu begegnen? Da war die Chance. Sein Bruder servierte sie ihm auf dem Silbertablett. Er musste nur zugreifen. Was waren schon ein paar Wochen? Er hatte ohnehin noch keine Pläne gemacht und hätte sich wohl wieder als Eisverkäufer oder Vertretung im Paketdienst verdingt. Ein wenig Abstand zu Dresden und seiner Mitbewohnerin waren ebenfalls kein Schaden.

Außerdem würde er keiner seiner Verflossenen der vergangenen Monate über den Weg laufen. Davon hatte er leider einige gesammelt. Er verliebte sich viel zu schnell und zog sich genauso schnell wieder zurück. Noch etwas, das er dringend ändern wollte. Wieder sah er die Bilder seiner Eltern auf der Tanzfläche vor sich. Ihre Blicke, ihre Umarmungen, ihr gemeinsames Lachen. Er beneidete sie um diese Vertrautheit.

Okay, ich bin kein Firmenchef und ich kann auch nicht fotografieren. Aber diese Liebe, die die beiden verbindet, die hätte ich auch gern, dachte er. „Schon wach?“ Sein Vater stand in der Tür, barfuß, Jogginghose und T-Shirt, die Kaffeekanne in der Hand. Wortlos schenkte er ihm nach und setzte sich zu ihm. „Das war ein toller Abend gestern.“ „Danke, dass du trotz deiner Prüfungen gekommen bist, Patrick, das bedeutet deiner Mutter sehr viel.“

„Ich hätte richtig was verpasst“, nickte er, „die Musiker, die Präsentation, Papa, das war traumhaft.“ Sein Vater senkte bescheiden den Kopf und schwieg. „Du liebst sie sehr, nicht wahr?“, fragte Patrick. „Das ist schwer zu übersehen.“ „Du weißt doch, dass ich immer mal wieder Probleme habe, das Offensichtliche zu erkennen“, lächelte Patrick seinen Vater an. „Ist mir noch gar nicht aufgefallen“, lächelte der zurück. „Hat Jonathan schon mit dir gesprochen?“, wechselte er das Thema.

Er nickte langsam. „Du hältst das auch für eine gute Idee, Papa?“, fragte er, um sich zu vergewissern. „Ich weiß, dass du mit der Firma nichts am Hut hast, Patrick, und genau deshalb finde ich es eine hervorragende Idee.“ Sie schwiegen beide. „Du kannst natürlich hier wohnen“, sagte sein Vater überflüssigerweise. „Ich fürchte, ich kann nicht genau formulieren, was ich sagen möchte“, begann er, „aber ich mache das gern. Für die Firma, für dich, für uns alle.“

Es war ihm fast ein wenig unangenehm zu sehen, wie sehr sich sein Vater freute. Jonathan klingelte, eine Brötchentüte in der Hand, oben im Bad hörten sie das Geburtstagskind von gestern hantieren. Kurt machte Rührei mit Speck, Jonathan schnitt Obst, Patrick belegte Käse- und Wurstplatten, gemeinsam deckten sie den Tisch. „So friedlich war es hier früher nie vor dem Essen“, sagte Mutter, als sie frisch geduscht die Treppe herunterkam, „daran könnte ich mich glatt gewöhnen.“

Sein Vater sah ihn an. „Das wirst du auch müssen“, verstand Patrick den Wink. Sie setzten sich. Fragend schaute sie ihren Sohn an. „Ich werde den Job übernehmen“, sagte er, „unter einer Bedingung.“ Alle schauten erwartungsvoll. „Sagt mir endlich, was dir Jonathan im Namen der Belegschaft geschenkt hat.“ Sie lachten. „Das ist genau die Neugier, die du bitte bei deiner künftigen Arbeit an den Tag legst“, knuffte ihn sein Vater in die Schulter.

Mama war aufgestanden, um das Kuvert zu holen. „Gutschein für eine Foto-Safari Erde und Himmel, Wüste, Sand und Sterne, Oasen der Stille“, las sie vor. Marokko. Zehn Tage unterwegs mit einem der berühmtesten Landschaftsfotografen, dessen Name sich Patrick natürlich nicht merken konnte, von dem Jonathan aber allerhand zu berichten wusste und den seine Mutter bewunderte. Papa sah schon die neue Ausstellung im Foyer der Firma, Mama packte in Gedanken schon ihre Koffer. Ende August sollte es so weit sein.

Vielleicht wurde im nächsten Semester ja ein Seminar zum Thema Richtig schenken angeboten, überlegte Patrick. Er würde teilnehmen, auch wenn es montags um 8 Uhr stattfinden würde. Sie plauderten noch über dies und das. Der Abschied fiel kurz aus, denn in spätestens drei Wochen sollte er zurückkommen, um seine Archiv-Arbeit anzugehen. Papa hatte ihm natürlich heimlich einen grünen Geldschein zugesteckt. Jonathan brachte ihn zum Zug. „Bis bald, Herr Kollege“, sagte er scherzhaft, dann setzte sich die Regionalbahn in Bewegung.

Er nahm sich vor, endlich für seine Prüfungen zu lernen. Er nahm sich vor, netter zu seiner Mitbewohnerin zu sein. Er nahm sich vor, seine Eltern neu kennenzulernen. Er nahm sich vor, viel Zeit mit seinem Bruder zu verbringen. Und er nahm sich vor, die beste Archiv-Arbeit zu leisten, die je abgeliefert worden war. In wenigen Minuten erreichen wir Erfurt. Ob er jemals erwachsen werden würde?


Das Kind ohne Vater

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