Читать книгу Gewitter - Christa Dautel - Страница 3

Gewitter

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Die ersten Tropfen fielen, zuerst langsam, wie zögernd, nur für wenige Sekunden kleine Pünktchen auf dem Boden, aber Thomas wusste, dass der Gewitterregen gleich mit voller Wucht einsetzen würde. Er kannte die Gewitter hier in den Bergen, es war ein faszinierendes Schauspiel, die Blitze zu beobachten, wie sie in rasendem Zickzack den Himmel erleuchteten. Er zählte langsam 21, 22, 23, der Abstand zwischen Blitz und Donner wurde immer kürzer. Mit dem Näherkommen des Gewitters begann es heftig zu regnen. Schnell brachte er seine Bücher, in denen er geblättert hatte, in Sicherheit und setzte sich wieder auf die Bank vor dem Haus.

Ein starker Wind war aufgekommen, der den Regen wie in großen Wellen gegen das Haus peitschte. Es störte ihn nicht, dass er nass wurde, er bemerkte es kaum, so sehr faszinierte ihn das Toben der Natur. Er hatte den Eindruck, dass das Gewitter in den Bergen hängen blieb, Blitz und Donner kamen jetzt beinahe gleichzeitig. Dieses Haus steht schon seit über 100 Jahren, dachte Thomas, es wird auch diesem Unwetter standhalten.

Es war ein sehr warmer Herbsttag gewesen, eigentlich viel zu warm für diese Jahreszeit, er hatte schon den ganzen Tag gespürt, dass ein Gewitter heraufziehen und diese Schönwetterperiode beenden würde. Bald würde er seine Zelte hier abbrechen müssen, es würde vielleicht noch ein paar wenige Tage wie diesen geben, aber hier oben würde der Winter nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Thomas liebte den alten Bauernhof, es war sein Refugium geworden, hier hatte er die Ruhe, die er zu Hause so sehr vermisste. In seinem Haus in Berlin war es immer laut, ständig kamen Freundinnen von Gisela, nur auf einen kleinen Kaffee, sagten sie immer, aber dieser Kaffee dauerte endlos. Sie saßen meist in der Küche an dem großen, blank gescheuerten Holztisch. Ihre lautstarke Unterhaltung und ihr Gelächter drangen bis in sein abgeschottetes Arbeitszimmer.

Früher, als die Töchter noch im Haus lebten, war es noch turbulenter gewesen, aber damals war er selten zu Hause gewesen. Er war oft wochenlang auf Geschäftsreisen in den USA und in Fernost, und wenn er in der Stadt war, war er von frühmorgens bis spätabends in der Firma gewesen. Und am Abend herrschte Ruhe im Haus, da hatte er sich mit seiner Frau verständigt: Er rief an, bevor er nach Hause fuhr, so dass sie Gelegenheit hatte, aufzuräumen und ihm die Stille und Ruhe zu verschaffen, die er erwartete.

Seit er vor einigen Jahren in Pension gegangen war, konnte er dem Trubel nicht mehr so leicht entfliehen. Natürlich waren die Töchter inzwischen erwachsen und waren aus dem Elternhaus ausgezogen, aber laut waren sie immer noch und sie kamen häufig auf einen kurzen Besuch vorbei. Seine Frau schien den Trubel zu genießen, wie er immer wieder staunend und befremdet wahrnahm.. Er selbst war eher ein Einzelgänger. Für ihn waren Menschen, die immer jemanden um sich haben mussten, die nicht alleine sein konnten, ein Rätsel.

Das Gewitter verzog sich allmählich, der Donner entfernte sich immer mehr, bis nur noch ein leises Grummeln zu hören war. Thomas ging hinein, es war kalt geworden. In der Stube hatte sich die Wärme des Tages noch gehalten. Mit einem Glas Wein, das er sich in der Küche geholt hatte, setzte sich Thomas an den Tisch in der Stube. Er wollte noch nicht ins Bett gehen, er wollte jede Minute hier oben noch genießen.

In seiner Firma wurden alle leitenden Angestellten mit 60 Jahren nach Hause geschickt, er hatte das immer gewusst und doch heimlich gehofft, für ihn würde diese Regelung nicht gelten. Als er dann doch mit 60 aufhören musste, war er in ein tiefes Loch gefallen, er war nicht darauf vorbereitet gewesen und wusste nicht, was er mit seiner Zeit anfangen sollte.

Gisela hatte ihn immer wieder gedrängt, sich mit seinen früheren Kollegen zu treffen, so wie er es vor seiner Pensionierung auch getan hatte. Aber was sollte er mit denen denn reden, die Firma war immer ihr Thema gewesen, über Persönliches hatten sie nie gesprochen. Er wusste, dass sich die Kollegen regelmäßig trafen, hin und wieder auch gemeinsame Radtouren über mehrere Tage machten, einmal sind sie sogar bis zur französischen Atlantikküste geradelt. Sie hatten ihn immer wieder gefragt, ob er nicht mitkommen wolle, er hatte, obwohl er sehr gerne mit dem Rad unterwegs war, immer abgelehnt. Auf Giselas Fragen, warum er diese Kontakte so abrupt abgebrochen habe, konnte er keine Antwort geben, er wusste es selbst nicht so genau.

Die Tage waren in einem gleichgültigen Einerlei verlaufen, er hatte oft nicht einmal gewusst, welcher Wochentag gerade war. An manchen Tagen wollte er gar nicht aufstehen, er wusste nicht, was er mit diesem Tag anfangen sollte, das Leben war so sinnlos geworden, er könnte genauso gut einfach im Bett liegen bleiben. Die Tage im Büro waren ausgefüllt gewesen, er hatte eine wichtige Funktion gehabt, er war in der Firma und darüber hinaus in der gesamten Branche angesehen, aber das war alles vorbei. Jetzt war er für niemanden mehr wichtig, niemand interessierte sich noch für ihn.

Zufällig hatte er in der Zeitung eine Annonce entdeckt: Alter aufgelassener Bauernhof im Allgäu, Traumlage, phantastischer Bergblick, renovierungs-bedürftig zu verkaufen. Als er diese Anzeige gelesen hatte, war er wie elektrisiert aufgesprungen und zu Gisela gegangen. Er hatte ihr die Annonce gezeigt und gesagt, sie könnten doch gemeinsam dorthin fahren und sich das Haus ansehen. Er wusste selbst nicht so genau, warum er sie fragte, ob sie mitkommen würde. Seine Liebe zu den Bergen hatte sie nie geteilt und so war er von ihrer Antwort nicht überrascht: „Fahr du mal alleine hin, du weißt, es zieht mich nicht in die Berge. Außerdem habe ich unserer Tochter versprochen, beim Umzug zu helfen“.

Wortlos war er in sein Arbeitszimmer gegangen, er hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und seine finanziellen Möglichkeiten geprüft. Nach gründlichen Berechnungen kam er zu dem Schluss, wenn er den Kaufpreis noch ein wenig drücken und sie beide sich ein klein wenig einschränken würden, dann wäre es möglich, den Hof zu kaufen.

In einem kurzen Gespräch legte er Gisela seine Pläne dar. Sie hatte etliche Einwände vorgebracht, er hatte sich aber nicht davon abbringen lassen, den Makler angerufen und schon für den nächsten Tag einen Besichtigungstermin vereinbart.

Am nächsten Morgen war er sehr früh losgefahren. Er fühlte sich gut wie lange nicht mehr, er hatte ein Ziel, eine Idee, die er verfolgen konnte. Mit dem Allgäu waren für ihn Kindheitserinnerungen verbunden, mit seinen Eltern war er fast jedes Jahr dort gewesen, zum Wandern aber auch im Winter zum Skifahren. Mit dem Allgäu verband sich für ihn die Erinnerung an eine fröhliche, unbeschwerte Kindheit.

Thomas stand auf, er ging in die Küche und holte sich noch ein Glas Wein. Auf dem Tisch lagen noch Brezeln, die er zum Frühstück gekauft hatte, er hätte sie nicht offen liegen lassen sollen, sie trockneten so schnell aus. Im Kühlschrank war auch noch ein Stück Bergkäse, er nahm alles mit in die Stube und begann zu essen.

Als Thomas auf der Fahrt zu dem Makler kurz hinter dem Allgäuer Tor die ganze Bergkette der Allgäuer Alpen vor sich gesehen hatte, da war ihm das Herz aufgegangen. Es war ein herrlicher Sommertag gewesen, der Himmel blau-weiß, auf den Wiesen grasten die Kühe, alles war so, wie er es in Erinnerung gehabt hatte. Bei der nächsten Ausfahrt war er von der Autobahn heruntergefahren, er wollte die restliche Strecke gemütlich über Land fahren.

Der Makler in Füssen war mit ihm zu dem Hof gefahren. Die Fahrt war schön, es ging immer weiter in die Berge hinein und nach dem Dorf, zu dem der Hof gehörte, ging es eine steile, sich in engen Kurven windende Straße nach oben. Als sie um die letzte Kurve gebogen waren, hatte der Makler angehalten und nach vorne gezeigt: Dort lag ein Hof, am Fuß einer kleinen Anhöhe, umrahmt von großen, alten Linden. Thomas blieb der Atem stehen. Diesen Hof muss ich haben, genau so habe ich es mir vorgestellt, dachte er und versuchte dabei seine Erregung zu unterdrücken. Der Makler hatte ihn erwartungsvoll angesehen, aber Thomas hatte nur gesagt: „Lassen Sie uns das Haus aus der Nähe ansehen, ich glaube, das Dach ist in einem schlechten Zustand. Aber Sie haben recht, die Lage ist ganz hübsch“.

Sie waren die letzten Meter zu Fuß gegangen, Thomas hatte das so gewollt. Für ihn war es wichtig, sich dem Haus langsam zu nähern, auf sich wirken zu lassen, ohne schon all die Dinge sehen zu müssen, die repariert, verändert, neu gemacht werden mussten. Der Hof lag einsam, es gab nur wenige Nachbarn, zwei andere Höfe waren noch in der Nähe zu sehen, aber sonst gab es nichts. Diese Einsamkeit gefiel ihm besonders. Wie bei allen Allgäuer Höfen schloss sich auch bei diesem der Stalltrakt direkt an das Wohnhaus an, alles, Wohntrakt, Stall und Tenne waren unter einem einzigen großen Dach. Für ihn hatten diese großen Dächer immer etwas Beruhigendes, ihm schien es so, als ob ein guter Geist seine riesigen Hände schützend über Mensch und Tier in diesem Haus ausbreitete.

Das Haus war in einem erbärmlichen Zustand gewesen. Dachziegel fehlten, die Fenster in der Tenne waren ohne Glas. An den Fensterrahmen war die Farbe total abgebröckelt, das Holz schon stark beschädigt. Das ganze Anwesen war von dichtem Unkraut umwuchert. Thomas hatte tief durchgeatmet, bevor hineingegangen war. Das Haus war weitgehend leer geräumt gewesen, nur in der Stube waren noch der große Ecktisch und der alte Kachelofen zurück geblieben. „Ich werde viel Zeit und Geld investieren müssen, aber ich glaube, es wird sich lohnen.“ Thomas hatte seine Gedanken laut ausgesprochen und fuhr erschrocken zusammen, als der Makler erwiderte: „Ja, die Lage ist einmalig schön, das Haus ist, wie gesagt, renovierungsbedürftig, so ist es unbewohnbar, aber die Bausubstanz ist in einem guten Zustand, die Renovierungskosten werden sich im Rahmen halten. Solche Objekte sind selten am Markt, meist werden sie unter der Hand weiter gegeben. Es gibt immer Interessenten aus der Stuttgarter und Münchner Region, die sich hier ein Feriendomizil aufbauen wollen“.

Sie waren noch gemeinsam durch Haus, Stall und Tenne gegangen, Thomas hatte sich alles ganz genau angesehen und Notizen gemacht. Als sie den Rundgang beendet hatten, setzten sie sich auf die Bank, die vor dem Haus stand und von der aus man einen herrlichen Blick hatte. Er hatte den Makler auf alle Mängel hingewiesen, die schon auf den ersten Blick zu erkennen gewesen waren und ihm einen Kaufpreis angeboten, der weit unter dem vom Makler genannten Preis lag. Schließlich einigten sie sich in der Mitte und verabredeten auch gleich einen Termin zur Unterzeichnung des Kaufvertrages. Der Makler war froh gewesen, diesen Hof so schnell verkauft zu haben, er bedankte sich bei Thomas und bot ihm Hilfe bei der Suche nach Handwerkern an.

Die Renovierung des Hauses wollte Thomas so weit wie möglich alleine machen, das würde ihn beschäftigen. Er konnte etwas aufbauen, etwas für sich schaffen.

Das war eine gute Zeit gewesen und er war jeden Tag froh, dass er den großen Sprung gewagt hatte. Vom ersten Augenblick an hatte er gewusst, dass er sich hier wohl fühlen würde. Bei der Arbeit am Haus waren die grauen Gedanken, die ihn immer wieder heimsuchten, weitgehend verschwunden. Die große Schar schwarzer Raben, die mit ihren ausgebreiteten Flügeln die Sonne verdeckten und alles Schöne vertrieben, ihn total lähmten, ihn unfähig machten, irgendetwas zu unternehmen, kamen immer seltener. An solchen Tagen war er noch wortkarger und abweisender gewesen als sonst. Aber hier im Allgäu, hier hatte er wieder etwas Sinnvolles zu tun, hier ging es ihm gut.

Thomas sammelte die Reste seiner späten Mahlzeit ein, es wurde wirklich Zeit, ins Bett zu gehen. Er räumte in der Küche alles sorgfältig weg und ging dann in das kleine Bad, das er sich damals eingebaut hatte. In dem ganzen Haus hatte es nur einen einzigen Wasserhahn mit kaltem Wasser gegeben: in der Küche an dem steinernen Spülbecken. Es war eine schwierige Aufgabe gewesen, das Haus so zu renovieren, dass es den Charakter eines einfachen Berghofes behielt, aber dennoch den Komfort bot, den er gewohnt war. Was die Bauern wohl sagen würden, wenn sie ihren Hof jetzt sehen könnten? Heizung und warmes Wasser auf Knopfdruck, davon hatten sie nur träumen können. Sie waren natürlich auch im Winter hier oben geblieben, sie hatten keine andere Möglichkeit gehabt. Ob diese Bauern mit ihrem Leben zufrieden gewesen sind, zufriedener als er, der doch alle Möglichkeiten hatte und dennoch nicht glücklich war? Aber vermutlich hatten sie gar keine Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen, ihr Leben war von harter Arbeit und Pflichterfüllung geprägt gewesen.

Thomas lag im Bett, von dem Gewitter war nichts mehr zu hören. Es regnete immer noch, es war aber nicht mehr der laute, prasselnde Gewitterregen, jetzt war es ein leiser, fast lautloser Dauerregen geworden. Morgen und auch die nächsten Tage würde das Wetter so bleiben, es würde kalt werden, vielleicht würde es sogar bald schneien. Es half alles nichts, er musste hier seine Zelte abbrechen, für den Winter zu seiner Familie fahren. Ruhelos drehte sich Thomas von einer Seite zur anderen, er konnte nicht einschlafen. Zu viele Gedanken bewegten ihn.

Mit der Renovierung hatte er sofort begonnen, noch ehe der Kauf notariell beglaubigt war. Der Makler hatte mit den Eigentümern gesprochen und die hatten nichts dagegen gehabt.

Zusammen mit einem Architekten hatte er genau geplant, festgelegt, was er selbst machen könnte und wozu er Handwerker brauchen würde. Er schuftete immer bis spät in die Nacht hinein und seine Frau, die einmal auf einen kurzen Besuch vorbei gekommen war, hatte es nicht fassen können, dass er hier so intensiv arbeitete. Zu Hause hatte er nicht einmal den kleinen Rasen vor ihrem Haus gemäht. An diesem Ort spürte vielleicht auch sie die Distanz zwischen ihnen noch stärker als in Berlin. Nur so konnte er sich erklären, dass sie fast nichts sagte während ihres kurzen Aufenthaltes.

Als nach langen Monaten alles soweit fertig war, lud er seine Familie ein, sich sein Haus anzusehen. Sie kamen an einem Wochenende, alle waren tief beeindruckt, fanden es schön und waren froh, bald wieder abreisen zu können. Auch Gisela blieb nicht länger, für sie war die Einsamkeit nichts und im Grunde war er froh, hier alleine leben zu können. Er hatte hier in den Bergen sein Zuhause gefunden, den Sommer verbrachte er ausschließlich hier. Nur im Winter musste er zurück nach Berlin. Der Winter hier oben war hart, manchmal lag meterhoher Schnee und da seine Straße nicht vom Milchauto befahren wurde, war die Gemeinde nicht verpflichtet, die Straße zu räumen. Im Winter wäre er von der Außenwelt vollkommen abgeschnitten, das Leben hier oben wäre zu mühsam geworden. Aber sobald im März oder April die Temperaturen ein wenig stiegen, fuhr er wieder hier her. Anfangs hatte Gisela Einwände gehabt, dass er den ganzen Sommer über weg von zu Hause war, aber offen-sichtlich hatte sie sich damit abgefunden. Das Einzige, worum sie ihn gebeten hatte war, dass er sich zumindest einmal die Woche bei ihr meldete.

Hier hatte er seinen Platz gefunden und es machte ihm nichts aus, oft tagelang mit niemandem zu sprechen. Die Bank vor dem Haus, da saß er am liebsten, er konnte stundenlang die Berge betrachten, in der Ferne die Bauern sehen, wie sie ihre Wiesen mähten oder die Kühe auf die Weide brachten. Er genoss es, dem Leben anderer aus der Ferne zuzusehen.

Manchmal kamen Wanderer vorbei, nie waren es größere Gruppen, meist sogar nur einzelne Wanderer. Diese Berge hier waren wie geschaffen für Einzelgänger. Manchmal bat ein Wanderer um ein Glas Wasser, ab und zu setzte er sich dann zu ihnen vors Haus und erzählte ihnen alte Geschichten aus der Gegend. Einmal war er sogar spontan mit einem Wanderer, der seinen Hausberg besteigen wollte, mitgegangen. Sie waren schweigend hintereinander den steilen Serpentinenweg hochgegangen, beide genossen die herrliche Natur, den weiten Blick in die Berge hinein und auf der anderen Seite in das leicht hügelige Alpenvorland. Beim Abstieg begann wieder seine Hüfte zu schmerzen und er bedauerte, aus Eitelkeit keine Wanderstöcke mitgenommen zu haben. Ohne Stöcke wurde der Abstieg für ihn zur Qual und er beneidete den Fremden, der wohl in seinem Alter war und offensichtlich beim Gehen keinerlei Scherzen hatte. Sie hatten sich dann vor seinem Haus verabschiedet und der Fremde sagte zu ihm: “Lassen Sie sich doch die Hüfte operieren, ich hatte genau dieselben Beschwerden wie Sie und fühle mich mit meiner neuen Hüfte wie neu geboren“.

Thomas war damals erschrocken, er hatte immer geglaubt, niemand würde etwas von seinen Schmerzen bemerken. Aber zu einer Operation, nein, dazu würde er sich nicht entschließen können. Er traute den Ärzten nicht so recht und nur manchmal gestand er sich selbst zu, dass er panische Angst vor einer Operation hatte. Man las doch auch ständig von “ärztlichen Kunstfehlern“, ein Ausdruck den er als zutiefst zynisch empfand.

Die Tage hier oben verliefen ohne große Überraschungen, alles lief seinen geregelten Gang und doch waren sie für ihn ausgefüllt. Es gab im Haus immer etwas zu tun, er hatte immer neue Ideen, was er noch verändern, ergänzen könnte. Langweilig wurde es ihm nie. Seit er die Nachbarn nach Ende der Renovierungsarbeiten eingeladen hatte, kamen diese ab und zu vorbei oder luden ihn zum Sonntagsbraten ein. Er sagte immer zu, denn er wusste, dass er auf sie angewiesen war. Sie würden schon bemerken, wenn er eines Tages nicht mehr vor dem Haus erscheinen würde.

Gisela hatte ihn immer wieder gedrängt, er solle doch endlich einen Telefonanschluss legen lassen oder sich ein Handy kaufen. Wenn ihm irgendetwas zustoßen würde, könne er nicht einmal Hilfe holen. Er wollte kein Telefon, er wollte auch kein Handy haben, das war doch nur etwas für all die Leute, die meinten, immer reden zu müssen. Seine Frau hatte ein Handy, natürlich und sie telefonierte auch ständig. Sie waren nun über 30 Jahre verheiratet, aber er hatte sich noch immer nicht an die lebhafte Art seiner Frau gewöhnt. Es war nie die große Liebe gewesen, für ihn nicht und für seine Frau vermutlich auch nicht, aber sie hatten sich arrangiert.

Schließlich war Thomas doch noch eingeschlafen, es war ein unruhiger Schlaf voller Träume gewesen, an die er sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern konnte. Wie er es erwartet hatte, regnete es immer noch, es war nun auch im Haus sehr kühl geworden, Thomas musste als erstes den großen Kachelofen einheizen. Er würde heute damit beginnen, alles für den Winter vorzubereiten, in den nächsten Tagen würde er zurück nach Berlin fahren.

Plötzlich fiel ihm wieder sein Traum von der vergangenen Nacht ein: Er hatte von Barbara geträumt! Barbara war seine große Liebe gewesen, sie hatten beide in München studiert, sich an der Uni kennen gelernt und waren bald unzertrennlich gewesen. Sie hatten alles gemeinsam gemacht, sie hatten sich wunderbar ergänzt und alle hatten erwartet, dass sie bald heiraten würden. Sobald sie das Examen bestanden hätten, wollte Thomas eine große Hochzeit feiern, er hatte schon alles geplant und dann hatte Barbara ihn plötzlich verlassen. Er war von einem Vorstellungsgespräch nach Hause gekommen und hatte Barbara nicht mehr vorgefunden. Ihre persönlichen Sachen waren nicht mehr da; ihr Schreibtisch, die alte Biedermeierkommode – alles war weg. Nichts mehr, das an sie erinnert hätte. Auf dem Küchentisch lag ein Brief von ihr.

Sie hatte ihm geschrieben:

„Lieber Thomas, ich habe deine Abwesenheit genutzt und meine Sachen gepackt. Wenn du zurückkommst, werde ich schon in Hamburg sein, ich habe dort eine Stelle angenommen.

In den letzten Monaten habe ich immer wieder versucht, dir klar zu machen, dass ich meinen eigenen Freiraum brauche, aber du hast leider nie zuhören wollen. Für dich mag es perfekt gewesen sein, alles gemeinsam zu machen, mir fehlte dabei aber immer mehr die Luft zum Atmen. Es sollte immer alles nach deinen Vorstellungen gehen, an mich hast du dabei wenig gedacht. Du hast eine Hochzeit geplant, ohne mich jemals gefragt zu haben, ob ich dich hei-raten wollte. So stelle ich mir eine Partnerschaft nicht vor, so kann und möchte ich nicht leben…..“

Fassungslos hatte Thomas den Brief, ohne ihn zu Ende zu lesen, in tausend kleine Fetzen zerrissen. Einen Monat später hatte er seine Stelle in der Firma, in der er bis zu seiner Pensionierung geblieben war, angetreten.

Schon am ersten Tag war er Gisela begegnet und da auch sie alleine war, sind sie hin und wieder zusammen ins Kino gegangen. Nach wenigen Wochen hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Zuerst hatte sie nur gelacht, sie würden sich doch gar nicht kennen und das hätte doch keine Eile. Sie würde ihn mögen, sicher, aber so schnell könne man sich doch nicht zu einer Heirat entschließen. Er hatte darauf beharrt, entweder sofort oder dann gar nicht mehr, er wolle klare Verhältnisse haben und letztendlich hatte sie der Heirat zu seinen Bedingungen zugestimmt.

Von seiner Seite war es keine Liebesheirat gewesen, über Gisela hatte er nie nachgedacht. War sie denn glücklich geworden in dieser Ehe, hatte sie andere Vorstellungen gehabt?

Gisela hatte damals eine große Hochzeitsfeier haben wollen, aber er hatte dies abgelehnt. Eine große Feier hatte er mit Barbara geplant, jetzt wollte er nur eine standesamtliche Trauung. Die beiden Trauzeugen waren Kollegen aus der Firma, keine Freunde, keine Familie.

Für alle war ihre Hochzeit völlig überraschend gewesen, viele hatten gedacht, dass diese Ehe nicht lange halten würde. ‚Aber vielleicht hat es deswegen so einigermaßen geklappt, weil wir beide nicht die großen Erwartungen an unsere Ehe gehabt hatten. Wie wäre es wohl mit Barbara gewesen? Er hatte nie wieder von ihr gehört und plötzlich stellte er verwundert fest, dass er sie gar nicht mehr deutlich vor Augen hatte. Er versuchte, sich an ihre Stimme, ihre Sprache, ihr Lachen zu erinnern, es gelang ihm nicht. Mehr als 30 Jahre waren seither vergangen. Die Zeit mit Barbara hatte nur wenige Jahre gedauert und doch hat sie mein Leben bis heute beeinflusst. Ich habe zugelassen, dass ich nicht von ihr los kam, dass ich mein wirkliches Leben darüber vergessen habe. Diese Gedanken hatten etwas Erschreckendes für ihn. Wie wäre sein Leben wohl verlaufen, wenn er Barbara besser zugehört, wenn er sie besser wahrgenommen hätte. Wäre er mit ihr glücklich geworden? Was hatte er denn falsch gemacht, hatte er ihr wirklich keinen Freiraum gelassen?

Gisela hatte sich nie beschwert, sie hatte ihn so genommen, wie er war. Obwohl gerade sie beide doch so grundverschieden waren, hatte sie ihn mit allen Eigenheiten akzeptiert. Thomas musste sich eingestehen, dass er längst nicht so tolerant war, er hatte sich öfters über manche ihrer Eigenschaften mokiert. Ihr lautes Lachen, ihr ständiges Reden, dass sie immer Leute um sich herum haben musste, das alles hatte ihn immer gestört und das hatte er ihr auch oft genug deutlich gemacht. An Barbara hatte ihn nichts gestört, sie war einfach perfekt gewesen, das hatte er damals gedacht, bis sie dann plötzlich ohne Vorwarnung weggegangen war. Verstehen konnte er das bis heute nicht, aber er stellte verwundert fest, dass es ihn jetzt nicht mehr interessierte, es war ihm vollkommen gleichgültig geworden, warum Barbara damals weg gegangen war.

Sein Leben hatte er mit Gisela verbracht, sie hatten eine Familie gegründet und plötzlich war es ihm wichtig, zu wissen, ob sie sich in dieser Ehe arrangiert hatte. Er konnte nicht erwarten, dass sie glücklich geworden ist, aber vielleicht wenigstens zufrieden. Ob sie sich wirklich eine Ehe vorgestellt hatte, in der jeder seine eigenen Wege ging?

Thomas setzte sich auf die Bank vor dem Haus. Es regnete noch immer, dicke Nebelschwaden zogen vom Tal herauf, es war ungemütlich geworden. Die Berge, die er so sehr liebte, wirkten wie bedrohliche, dunkle Riesen. Seltsam, dachte er, so habe ich die Berge noch nie gesehen, für Gisela waren sie immer bedrohlich, aber nicht für mich.

Er dachte an Gisela, nie hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wie sie sich ihr Leben mit ihm vorgesellt hatte. Hatte sie ihn aus Liebe geheiratet, wie hatte sie seine Schroffheit, sein Zurückweisen ertragen können? Nie hatte sie sich beklagt. Mit Barbara hatte er alles gemeinsam machen wollen. In der Ehe mit Gisela hatte er keine Gemeinsamkeit zugelassen. Er war kein guter Ehepartner, er war kein guter Vater gewesen, er hatte keine Nähe zugelassen.

Warum nur hatte er sich so verhalten, hatte er Angst gehabt, hatte die Enttäuschung mit Barbara ihn unfähig für eine gute Partnerschaft gemacht?

Nachdenklich ging er ins Haus, ging von einem Raum in den anderen. Vor seiner Abreise musste er das Haus noch winterfest machen, alles in Ordnung bringen, sich von den Nachbarn verabschieden, dann wollte er s schnell wie möglich nach Hause fahren.

Am Nachmittag würde er ins Dorf gehen, Gisela anrufen und seine Heimkehr ankündigen.

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