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minus zwei Fußgelenk

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Irene war ausgezogen. Sehr plötzlich. Ohne erkennbaren Grund und ohne zu sagen, wohin sie ging. Sie beantwortete weder E-Mails noch WhatsApps und war nach ein paar Wochen unter ihrer Handynummer gar nicht mehr zu erreichen. Es wurde heftig darüber diskutiert, vor allem von Laura und Leon, Stefan machte hin und wieder eine zynische Bemerkung, Niklas schwieg und litt, und erst als Selina selber ging, überlegte sie, ob Irene wohl dasselbe Problem gehabt hatte, aber sie verwarf den Gedanken.

Irenes Zimmer blieb leer, sie konnten die Miete auch zu fünft bezahlen und brauchten kein neues WG-Mitglied, Laura und Leon vermissten Irene nicht, Stefan konnte sie leicht auswärts ersetzen und Niklas sowieso nicht. Nach ein paar Wochen mit nur zwei Frauen in der Wohnung, von denen eine für ihn tabu war, schien Stefan die Situation doch recht unpraktisch zu finden und gab Selina zu verstehen, dass sie Irenes Erbe antreten möge. Er kam mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein in ihr Zimmer – es war der gleiche billige Normawein, den Niklas immer in der Küche getrunken hatte –, stellte alles auf ihren Schreibtisch, legte das Hotelschild daneben und sagte: «Guck mal, das hat sie dagelassen.»

«Komisch», sagte Selina, «das braucht sie doch.»

Stefan zuckte die Achseln.

«Soll ich es an deine Tür hängen?», fragte er. «Ich meine, mit der roten Seite nach außen?»

«Ich hab da keinen Nagel auf Augenhöhe.»

«Kann ich einschlagen», bot er an.

«Ich lass mich nicht von dir nageln», sagte sie.

Aber sie warf ihn nicht hinaus, und sie tranken den Wein.

«Ich weiß, dass du in Niklas verliebt bist», sagte Stefan, und während sie entschieden leugnete, bewunderte sie wieder seine klare, genaue Beobachtungsgabe und dachte: Warum eigentlich nicht? Ich hab doch keinen anderen, ist schon so lange her, wär doch mal wieder schön …

Und während Stefan das Schild – rot abweisend – an ihre Türklinke hängte, überfiel sie ein kleines, böses Gefühl, eine Art Rache an Niklas für ihre einsame Gemeinsamkeit in der Küche, für die unsinnige Innigkeit, die zerrissene Zärtlichkeit, für ihr lustvolles, frustvolles Ertrinken im gleichen billigen Wein.

Stefan überraschte Selina noch einmal. Mit Niklas in der Küche sitzend hatte sie ihn sich ganz anders vorgestellt. Er wiederholte mehrmals mit stammelnden Fingern und weicher Stimme «Ich liebe dich!», das klang nicht einmal wie eine Lüge, denn es gab nicht vor, eine Wahrheit zu sein, sie nahm es dankbar entgegen, es half ihr sehr.

Sie trug in jenem Sommer ein Fußkettchen aus Halbedelsteinen. Malachit und Obsidian, Mondstein, Opal und immer wieder Rosenquarz begleiteten jeden ihrer Schritte mit einem kühlen glatten Hüpfen am Fußgelenk, und regelmäßig wie ein Refrain wiederholte sich in der Runde die wärmere Berührung ovaler Bernsteinperlen; nur wenn sie lange in der Sonne lag, kippte das Wechselspiel in sein Gegenteil, die Steine nahmen mehr Hitze auf als das erhärtete Harz, das sich wenig veränderte und das sie darum «mein Freund» nannte, «mein Beständiger». Manchmal jedoch fühlte es sich unvermittelt wie Plastik an, billig und chemisch, künstlich und nachgemacht.

Stefan wurde immer seltsam still, wenn er das Kettchen um ihr Fußgelenk drehte, er schien geradezu melancholisch, wenn er es über ihre Haut gleiten ließ, immer im Uhrzeigersinn, als wollte er sie aufziehen, und so wirkte es auch. Dabei berührte er sie nicht, seine Hände blieben in einer Ferne, die sie als kaum erträgliche Nähe empfand, niemals durfte sie das Kettchen ablegen. Sie aber begann, seine Haare zu lieben. Ihre Fingerspitzen ertasteten seine kurzen Stoppeln als deutlich gebogen, das hatte sie nicht gewusst; aber sehr wohl wissend, dass Niklas jetzt nicht Rotwein trinkend in der Küche saß, versank sie in dem Gefühl, dass sie nur warten müsste, lange genug warten müsste, bis die angedeuteten Kringel in ihren Fingern wachsen würden, Stoppeln zu Locken, und dann würde sie Niklas’ Kopf in den Händen halten, jetzt, genau jetzt.

Sie musste nicht so lange warten, ein oder zwei Haarschnitte, eher Rasuren über Stefans dunklen Schopf, und sie zitterte unter dem Mann, den sie liebte. Es war Wirklichkeit und kein Traum, es war Tatsache und keine Verwechslung, es war ungültig, denn Niklas war betrunken. Er hatte den Alkohol aus allen Gläsern, Bierkrug bis Weinglas, mehr eingeatmet als geschluckt, weil Irene nicht zurückgekommen war, und Leon hatte doch gesagt: «Wartet mal bis zum Seminarfest, da sitzt die am Tresen, hundert pro, und garantiert will sie wieder einziehen!» Aber sie kam nicht.

Niklas entschuldigte sich eine Woche lang täglich bei Selina für das, was er «den peinlichen Ausrutscher, kommt nie wieder vor» nannte, bis sie es wirklich nicht mehr schaffte, dieses Ereignis goldverbrämt in ihr Regal der Seligkeiten zu stellen. Da schon erkannte sie, dass sie würde gehen müssen, und als sie zwei Monate später merkte, dass sie schwanger war, stand ihr Entschluss. Von den vier Möglichkeiten, die ihr nun blieben, verwarf sie drei, eine – Stefan in die Verantwortung zwingen – mit leichtem Schulterzucken, die beiden anderen nach langem Kampf: Informationen über Abtreibung, Gespräche mit anderen Frauen, die dies hinter sich hatten, machten ihr diese Entscheidung unmöglich. Aber der Gedanke an ein Leben mit Niklas wehte eine Weile süßlich durch ihre Tagträume, während ihr immer bewusst war, dass es die Süße der Verwesung war, einer verfallenden Lüge, die sich auf immer zersetzen würde, aber niemals sterben dürfte, sie liebte Niklas nicht verzweifelt genug, um dies sich selbst, und zu sehr, um es ihm anzutun.

Es war Stefans Kind, sie durfte nicht daran zweifeln. Das Kondom war geplatzt. Er hatte es gemerkt, als er es abzog, und mit einem leisen Fluch auf den Boden geklatscht.

«Hast du die Pille danach?»

«Nein.»

«Geh in die Apotheke und hol welche.»

Sie nickte.

«Scheiße, es ist Samstag!», sagte er. «Muss wohl schnell gehen, scheiße, Irene hätte eine gehabt. Weißt du, welche Apotheke aufhat?»

Er tippte hektisch auf seinem Smartphone herum.

«Mach dir keinen Kopf», sagte sie, «da passiert nichts, ist nicht der richtige Zeitpunkt.»

«Sicher?»

«Ziemlich.»

«Das ist deine Entscheidung.»

Er griff nach seinen Kleidern und lief nackt aus ihrem Zimmer.

Sie zog sich langsam an. So ganz stimmte das nicht mit dem richtigen, dem unrichtigen Zeitpunkt. Sie ging zum Fenster, sie rechnete, aber die Mathematik versagt bei Gleichungen mit zu vielen Unbekannten, x=Eisprung, y auch, davon hing alles ab, nach dem Eisprung ist es auch für die Pille danach zu spät, das wusste sie aus ihrer Zeit mit Marcus. Sie blickte hinunter auf die Straße. Wie immer waren mehr Radfahrer als Autos zu sehen. Irgendwie beruhigte sie das. Sie horchte in ihren Körper, der sagte ihr nichts.

Ich muss schnell sein, dachte sie.

Aber sie war nicht schnell. Als doch ein Auto durch die Straße fuhr, riss es mit seinem Tempo eine Angst quer durch ihren Bauch, ihr Blick klammerte sich an einen Radfahrer, kam zur Ruhe und ließ Zeit vergehen, die letzte Zeit, in der sie hätte handeln können. Und das Einzige, was sie dann tat, war Aufräumen, ihre Kleider, ihr Zimmer, die Decken, alles um das geplatzte Kondom herum, das noch immer auf dem Boden lag und da nicht liegen bleiben konnte. Schließlich nahm sie es mit ein paar Tempotüchern auf, trug es ins Bad, wollte es in den kleinen Abfalleimer dort werfen, da war schon eins und sie zuckte zurück.

Der Eimer ist voll, dachte sie, da passt nichts mehr rein, auf keinen Fall dies, das geht nicht, gar nicht, so ein Quatsch, wirf es endlich weg, weg, weg!

Sie wusch es gründlich, trocknete es ab, trug es zurück, wickelte es in ein Handtuch und schob das unten in ihren Schrank. Dann rannte sie aus dem Zimmer, aus der Wohnung, die Treppe hinunter, riss ihr Rad aus dem Ständer, fuhr zur nächsten Apotheke, schnell, nun war sie schnell.

Von diesem Tag an ging Stefan ihr aus dem Weg, er mied alle Gelegenheiten, mit ihr allein zu sein, und kam nie wieder in ihr Zimmer. Sie vermisste ihn, sie hatte sich an ihn gewöhnt, und mehrmals erwischte sie sich dabei, dass sie das Kettchen um ihr Fesselgelenk drehte, Malachit und Obsidian, Mondstein, Opal und immer wieder Rosenquarz und ein wärmeres Streifen von Bernstein im Refrain, und immer im Uhrzeigersinn, rund und rundherum. Dann fehlte er ihr schmerzlich, doch ihre Zeit hier war abgelaufen, ihre Uhr drehte sich gegen den Sinn.

Eineinhalb Monate später verließ sie die WG. Sie meldete sich in Andrés Sprechstunde an, bat um die versprochenen Gutachten, behauptete, sie wolle sich eine Auszeit nehmen und entscheiden, ob sie ins Theoretische – Kunstgeschichte – oder ins Praktische – Restauration – gehen wolle. André war äußerst verständnisvoll, wirkte geradezu erleichtert. «Ich hab immer mitgelitten, wenn du dich so gequält hast!», versicherte er, und sie glaubte ihm.

Ihr Auszug aus der WG war weniger spektakulär als Irenes, denn alles schien klar und offen.

«Du weißt doch», sie grinste Stefan an, «Grete Siebenschein, letztlich hat die’s auch gesteckt.»

Sie versprachen, Kontakt zu halten, «Du bleibst ja in unserer WhatsApp-Gruppe!» «Lieber nicht, ich brauch Abstand.»

«Schick uns deine Adresse», «Klar, aber meine E-Mail bleibt», und Niklas murmelte sein «tschuldigung, du weißt schon …», sie nickte und ging, und keiner wusste, dass sie schwanger war.

Alle Farben weiß

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