Читать книгу First Class Flüge und Bruchlandungen … - Christa Schmeide - Страница 8

Herbst 1971 in Köln

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Klitschnass klebten die dunkelblonden Haarsträhnen an Claires Gesicht, als sie sich ins Innere des Fotofachgeschäfts am Wallraffplatz rettete. Es war ein Desaster: Ihre sorgfältig toupierte Pagenfrisur war im Eimer, das streng geschnittene Mini-Kleid von Mary Quant hing wie ein Sack an ihr, durchtränkt vom Kölner Herbstregen. Ihre einjährige Tochter Anna sass mit grimmigem Blick im Buggy. Milchfläschchen, Schnuller, Lippenstift – alles hatte den Weg in Claires Umhängetasche gefunden. Nur der Schirm nicht.

«Ich Dussel», dachte sie. Eine ältere Kundin im Geschäft verzog missbilligend den Mund. Claire ignoriere sie und nahm die stolzeste Pose ein, die sie sich auf den Laufstegen von Berlin und London angeeignet hatte: Schultern zurück, Kinn in die Höhe, der Blick in die Ferne schweifend. Allerdings blieb eine nasse Strähne hartnäckig an ihrem Mundwinkel kleben und störte das Bild.

«Womit kann ich Ihnen dienen, wertes Fräulein?», fragte der rundliche Mann hinter der Theke. Sein blonder Schnurrbart zuckte beim Reden. «Werte Frau», korrigierte ihn Claire gedanklich. Mit ihren achtzehn Jahren wurde sie oft für Annas­ Kindermädchen gehalten.

«Meine Urlaubsfotos möchte ich abholen, bitteschön.»

«Ihr Name?»

«Falcone. Claire Falcone.»

Der Verkäufer drehte sich um und wühlte in einer Schublade hinter der Theke. Claires Miene hellte sich auf. Der Sommerurlaub in Kroatien war ihr noch in bester Erinnerung: der gegrillte Fisch in den Restaurants von Opatija, die ausgedehnten Spaziergänge in den Parkanlagen, das Herumtollen im Meer mit Alain Delon.

Alain Delon – so nannte sie ihren Ehemann Robert, der dem Schauspieler bis aufs dunkelbraune Haar glich. Er hatte die gleichen tiefblauen Augen und die gleiche sinnliche Unterlippe, die mit den scharf gezeichneten Stirnfalten kontrastierte. Eine betörende Mischung aus bitter und süss.

«Da haben wir Ihre Fotos», riss der Verkäufer sie aus ihren Gedanken. «Da sind ja ein paar gestochen ‹scharfe› Aufnahmen darunter.» Er zwinkerte ihr zu, während er mit seiner dickfingrigen Hand seine Brille zurechtrückte.

Claire dachte sofort an ihre Bikini-Fotos. Beschämt schlug sie die Augen nieder. «Ah was. Sooo besonders …» Sie stockte mitten im Satz, räusperte sich und setzte wieder ihre stolze Miene auf. «Was bin ich Ihnen schuldig?»

Draussen schüttete es noch immer wie aus Kübeln. Trotzdem flüchtete sich Claire mit Anna nicht gleich ins nahe gelegene Café Reichard, sondern stellte sich unter die Markise des nächsten Geschäfts. Dort holte sie den Umschlag mit den Fotos aus ihrer Umhängetasche. Anna griff mit ihren kleinen Händchen danach: «Dada, dadamama!», forderte sie lautstark.

Claire strich ihr über das feuchte blonde Haar. «Ja, du kleine Maus. Schöne Fotos. Anna kann sie gleich ansehen. Aber zuerst kriegst du einen Keks.»

Die Kleine quietschte vergnügt, und Claire fischte einen Babykeks aus der Verpackung in ihrer Tasche. Während Anna auf ihrem Plätzchen herumkaute und ihr gelbes Jäckchen besabberte, riss Claire die Fototasche auf. Die Bilder zeigten Robert beim Wasserskifahren, Anna beim Planschen am Lido-Strand, sie selbst in einem luftigen Sommerkleid, viele weitere unbeschwerte Urlaubsmomente, ein paar nackte Brüste …

Claire zog die Augenbrauen hoch.

Da musste ein fremdes Foto in ihren Umschlag gerutscht sein.

Eindeutig! Das waren nicht ihre Brüste. Sie waren viel zu üppig. Abgesehen davon, würde sie sich niemals so nackig fotografieren lassen.

«Dieser schusselige Verkäufer! Wie peinlich», murmelte Claire.

Auf dem nächsten Foto konnte sie das Gesicht der Nackten erkennen. Es war von langen, dunklen Locken umrahmt. Die Frau schien zu schlafen.

Claire war irritiert.

War es möglich, dass gleich zwei fremde Fotos aus Versehen in ihrer Fototasche gelandet waren? Sie nestelte am Umschlag herum, zog die Negativstreifen hervor und hob sie gegen den grauen Himmel.

Wie ein Blitz schlug es heiss in ihren Magen ein.

Am Ende des letzten Streifens konnte sie die zwei Nacktaufnahmen erkennen.

Ihr Blick wanderte zurück zu den Fotos.

Tatsächlich! Die Frau lag auf dem orangefarbenen Sofa in ihrer Wohnung in Köln-Lindenthal.

Ohne weiter auf den Regen zu achten, schob Claire den Buggy zur U-Bahn-Station beim Dom. Die dort wartende Menschenmenge nahm sie gar nicht erst wahr. Anna forderte vergeblich einen zweiten Keks. Claires Sinne waren absorbiert vom Bilder- und Gedankenstrudel in ihrem Kopf. Die einfahrende Bahn, das Gedränge im Wagen, der Mann, der ihr seinen Sitzplatz anbot – alles war in diesem Augenblick weit weg. Selbst das laute Rattern der Bahn konnte sie nicht aus ihren Gedanken reissen.

Sie sah den Pullover wieder vor sich – diesen roten Feinstrickpullover mit V-Ausschnitt, den sie vor einigen Wochen in einem Wäschehaufen zwischen den Hemden ihres Mannes entdeckt hatte. Robert und sie waren gerade dabei gewesen, sich für ein gemeinsames Abendessen im «Marko’s» schick zu machen. Das Restaurant am Rheinufer gehörte zu den besten Adressen Kölns und war seit Jahrzehnten im Besitz der Familie­ Falcone. Roberts Familie führte insgesamt drei Lokale in der Stadt. Vor drei Jahren war Robert nach Abschluss der Hotelfachschule als Restaurantleiter im «Le Chef» an der Zülpicher Strasse eingestiegen und hatte die 16 Gault-Millau-Punkte seitdem erfolgreich verteidigt. Claire bewunderte ihn dafür. So gut organisiert er das Restaurant leitete, so chaotisch war er allerdings privat. Und trotzdem wunderte sich Claire über den ihr unbekannten Pullover im Wäschehaufen.

«Wo kommt der denn her?», fragte sie ihn arglos und hob das Wäschestück in die Höhe. Robert stand mit nacktem Oberkörper im Badezimmer und rasierte sich. Das Rasiermesser kam auf seinem eingeseiften Kinn zum Stillstand. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Ohne sich umzudrehen, zuckte er mit seinen muskulösen Schultern und fuhr wortlos mit der Rasur fort.

«Also meiner ist das nicht», hakte sie nach.

Im Spiegel konnte Claire sehen, wie er seine Augenbrauen langsam hochzog. Zwei steile Falten bildeten sich auf seiner Stirn. Ein Kribbeln breitete sich unter ihrem seidenen Morgenmantel aus. Er sah hinreissend aus.

«Ach, was du schon wieder hast! Den hat doch Mama letzte Woche für mich gekauft», nuschelte er.

«Ist der nicht etwas klein für dich?» Sie lächelte ungläubig. Ihr fiel ein, dass Roberts schmächtiger Freund Carsten kürzlich einen roten Pullover getragen hatte, als er bei ihnen zum Abendessen eingeladen gewesen war. Vielleicht hatte er ihn versehentlich in der Wohnung liegen gelassen. Andererseits überschüttete Roberts Mutter Marina ihre beiden Söhne tatsächlich mit unzähligen Geschenken – darunter wahllos zusammengekaufte Kleider, Uhren oder Lederwaren. Da konnte man schnell mal den Überblick verlieren. «Zieh ihn doch bitte mal über», forderte sie Robert auf.

«Du siehst doch, dass ich mich gerade rasiere», sagte er, während er sich mit kaltem Wasser den restlichen Schaum aus dem Gesicht spülte.

«Ach bitte, jetzt bist du doch fertig», wandte sie ein.

«Na gut, wenn es sein muss.» Er trocknete sich das Gesicht mit einem Frotteehandtuch ab und nahm Claire den Pullover aus der Hand. Doch schon über den Oberarmen spannte der rote Stoff verdächtig. Roberts breite Schultern setzten dem Anziehversuch schliesslich ein jähes Ende.

«Dass Mama aber auch nie etwas Passendes kaufen kann!», schimpfte er und befreite sich mühsam aus dem engen Feinstrick. Dann warf er den Pullover in die Badewanne.

«Doch nicht in die Badewanne», seufzte Claire.

Robert ignorierte ihren Protest und zog sie zu sich heran. «Was Mode anbelangt, kann ich mich eben nur auf mein Schokoauge verlassen», raunte er ihr ins Ohr.

Claire lächelte und verdrehte verlegen die Augen. Seine warmen Hände waren bereits unter ihren Morgenmantel gewandert.

Mit klammen Händen und eiligen Schrittes schob Claire den Buggy durch die Neuenhöfer Allee. Anna war inzwischen eingeschlafen. War Robert ein Lügner? Gehörte der rote Pullover in Wahrheit der Frau mit dem Lockenkopf?

«Bestimmt», dachte Claire. Robert hatte mit dieser Frau geschlafen. Und das in ihrer Wohnung!

Was würde nun aus ihr und aus Anna werden?

Würde sie mit achtzehn bereits alleinerziehende Mutter sein?

Warum liebte Robert sie nicht mehr?

Würde er sie und Anna aus der Wohnung werfen?

Vielleicht könnten sie eine Weile bei ihrem guten Freund Lorenzo unterkommen.

Claires Herz raste.

Sie schnappte nach Luft.

Es fühlte sich an, als würden die vielen Fragen und Gedanken sie erdrücken.

Als sie die herbstlich gefärbten Bäume des Beethovenparks erblickte, verlangsamte sie ihr Schritttempo. Nur noch wenige Meter trennten sie nun vom Eingang ihres Mietshauses. Im Erkerfenster ihrer Wohnung im zweiten Stock war Licht zu sehen. Robert war also zu Hause. Claires Panikgefühl verstärkte sich.

Sie wollte von ihm hören, dass alles nur ein dummes Missverständnis war, dass er sie liebte – auch wenn sie manchmal ein tollpatschiges, naives Ding war und in der Küche nicht gerade brillierte.

Aber was, wenn er zugab, sie betrogen zu haben?

Wäre dies das Ende ihrer Ehe?

Sollte sie die beiden Fotos in ihrer Tasche vielleicht einfach vergessen? Es wäre so verlockend – und doch so schwer. Sie konnte eitle, dumme und sogar freche Menschen ertragen. Aber Lügner und Betrüger wie ihren leiblichen Vater hatte sie noch nie ausstehen können.

Beim Aufschliessen der Haustür blickte Claire ins nasse Gesicht ihrer Tochter. Die Kleine atmete tief ein und aus. Ihr Kopf war leicht zur Seite geneigt. Die zarten Lieder mit den langen dunklen Wimpern waren geschlossen. Tränen brannten in Claires Augen.

«Papa ist ein Dummkopf», flüsterte sie und schüttelte den Kopf.

Jetzt erst stieg Wut in ihr auf.

Robert hatte nicht nur sie betrogen, sondern auch Annas Zukunft aufs Spiel gesetzt.

«Dieses Ferkel!», zischte Claire, als sie mit Anna wenig später die Wohnung im zweiten Stock betrat. Schmutzige Männerschuhe hatten ein hässliches Muster auf dem Flurboden hinterlassen. Claires Wut kochte weiter hoch. In der Ferne hörte sie Roberts tiefe Stimme. Er schien im Wohnzimmer zu telefonieren.

Sprach er mit seiner Geliebten?

Claire trug das schlafende Kind in sein Zimmer. Sie betrat eine heile Welt aus provenzalischen Eichenmöbeln und hellen Stoffen. Über dem Kinderbett hing ein lustiges Bärchen-Mobile. Doch die Idylle konnte Claire nicht besänftigen. Sie zog Anna einen grünen Strampelanzug mit Bärchenmotiv an und legte sie ins Bettchen. Danach ging sie in den Flur zurück.

Robert telefonierte noch immer.

Claire betrachtete sich kurz im Flurspiegel. Sie blickte in grosse, ernste braune Augen. «Schokoauge» war Roberts liebster Kosename für sie. Süss war an ihrem Anblick allerdings nichts mehr nach diesem schrecklichen Nachmittag. Ihr Haar klebte noch immer unvorteilhaft am Gesicht, und der präzise gezogene Lidstrich war verschmiert. Mit den Fingern beseitigte Claire eilig die schwarzen Spuren um ihre Augen. Dann trug sie etwas roséfarbenen Lippenstift auf und schüttelte die Haare durch.

Besser.

Sie atmete tief durch und strich sich das feuchte Mini-Kleid glatt.

Als Claire das geräumige Wohnzimmer betrat, stand Robert­ am Erkerfenster, ihr den Rücken zugewandt. «Das habe ich ihr schon tausend Mal gesagt! Aber sie kriegt es einfach nicht auf die Reihe», schimpfte er ins Telefon. Es schien sich um eine geschäftliche Angelegenheit zu handeln. Claire sah, wie sich seine breiten Schultern unter dem weissen Hemd strafften. Ihre Wut war längst wieder Angst und Nervosität gewichen.

«Ich kann das nicht mehr akzeptieren», fuhr Robert fort. «Das ist total unprofessionell! – Ja, mach das. Und lasst es ordentlich krachen heute Abend. Beim nächsten Mal bin ich dann auch wieder dabei. Tschüss.» Er beendete das Gespräch und liess den Hörer auf die Gabel fallen.

Dann drehte er sich um.

Seine Miene hellte sich auf. «Kleines! Ihr seid schon zurück? Hast du mir ein Stück Schokoladentorte von Reichard mitgebracht? Ich muss gleich wieder los.» Er ging auf sie zu, um sie zu küssen.

«Nein. Aber ich habe dir deine Fotos mitgebracht», sagte Claire und zog die Nacktbilder hinter ihrem Rücken hervor.

«Diese Fotos!»

Ihr Herz pochte bis zum Hals.

Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Robert erstarrte und liess seine ausgebreiteten Arme fallen.

«Auf diesem Sofa …», begann Claire und zeigte auf die gemütliche Sofaecke vor dem Kamin.

Der sonst so wortgewandte Robert war verstummt.

«Sag etwas! Sag, dass ein Freund diese Bilder geschossen hat», ging es ihr durch den Kopf.

Aber er sagte nur trocken: «Ja, es ist passiert.»

Der Boden wurde Claire unter den Haussandaletten weggezogen.

Ihr war plötzlich speiübel.

Die Lippen bebten, aber sie brachte kein Wort heraus.

Robert hingegen hatte seine Sprache wieder gefunden. «Kleines, das war ein absolut einmaliger Ausrutscher! Ich kenne diese Frau kaum. Das waren doch nur ein paar Fotos auf dem Sofa. Das ist kein Fremdgehen.» Er ging auf Claire zu und griff nach ihren kalten Händen. Wie elektrisiert zog Claire sie zurück.

«Lass das! Nur Fotos? Ich bin doch nicht doof», zischte sie.

Die Wut war zurück. Jetzt bebte ihr ganzer Körper.

«Du zitterst ja, Kleines. Wenn ich doch sage, dass da nie etwas gelaufen ist.» Er hatte seinen treuherzigsten Blick aufgesetzt und wollte sie in seine Arme schliessen.

Sie wich erneut zurück.

Da packte er sie am Handgelenk.

«Genau das ist das Problem», sagte er. «Du wendest dich ab, wenn ich dich anfassen will. Ist dir schon aufgefallen, dass wir viel weniger zusammen schlafen als früher? Ist dir klar, was das für einen Mann bedeutet?» Er sprach jetzt leise und eindringlich. «Ich habe mich trotz allem immer zurückgehalten. Es waren nur Fotos! Und seit wann holst du übrigens unsere Fotos ab?»

Claire war total überrumpelt.

Sie hatte Ausreden und Entschuldigungen erwartet – aber keine Vorwürfe.

«Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, ein Baby zu haben!», schrie sie. «Das ist alles so anstrengend. Ich kann doch nicht jede Nacht auch noch …» Ihre Stimme brach.

Tränen stürzten auf ihre Wangen herab.

«Schtschtscht», flüsterte Robert tröstend und nahm sie in die Arme. Sie war zu aufgewühlt und schockiert, um sich ihm ein weiteres Mal zu entziehen. «Wir schaffen das zusammen», sagte er. «Ich verlange nur, dass du mir wieder öfter zeigst, dass du mich lieb hast. Ich liebe dich doch auch!» Er wiegte sie eine Weile in seinen Armen.

Dann begann er, die Tränen von ihren Wangen zu küssen, zuerst zaghaft, dann leidenschaftlich. Claire war wie versteinert. Erst als sich seine Hand fordernd unter ihr Kleid schob, wurden ihre Glieder zu Butter. Sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an seinen Körper. Unbändige Lust verdrängte ihre Wut und ihre Verzweiflung. Er massierte sie durch ihren Spitzenslip hindurch. Dann hob er sie plötzlich hoch. «Nicht aufs Sofa!», stöhnte sie zwischen zwei wilden Küssen. Er trug sie stattdessen zum Esszimmertisch und setzte sie auf die Tischplatte. Sie spürte das kühle massive Eichenholz unter ihrem Po. Er schob das Kleid mit beiden Händen über ihre schmale Hüfte und zog den Slip nach unten. Mit geschlossenen Augen hörte sie zu, wie er die Gürtelschnalle und den Reissverschluss seiner Anzughose öffnete. Als sie ihn zwischen ihren Beinen spürte, stöhnte sie auf und öffnete kurz die Augen. Er hielt ihrem Blick stand. Seine meerblauen Augen waren aufgewühlt vor Lust, als er mit voller Kraft in sie eindrang.

Die dunkle Schokoladensauce tropfte vom Silberlöffel und blieb auf dem Vanilleeis liegen. Claire hatte sich von ihrem Freund Lorenzo zu einer grossen Portion Coupe Dänemark im Café Reichard überreden lassen.

Sie hatte ihm ein paar Stunden zuvor am Telefon von der Fotoaffäre und von der anschliessenden Versöhnung mit Robert­ berichtet.

«Du brauchst jetzt ganz dringend einen Seelentröster, Schätzchen», hatte Lorenzo ihr geraten.

Und nun sassen sie an einem Zweiertischchen im elegantesten Kaffeehaus der Stadt. Lorenzo trug eine enge weisse Schlaghose und ein rotes Hemd. Claire führte ihr zweiteiliges grünes Kostüm von Rena Lange aus. Sie hatte das Kleid mit fünfzehn als Gage an der Münchner Modewoche erhalten und liebte es seither innig.

«Iss doch, Schätzchen. Das leckere Eis schmilzt davon», ermunterte Lorenzo sie.

Sie gehorchte und schob sich einen gehäuften Löffel Eis, Sahne und Schokoladensauce in den Mund. Lorenzo zwinkerte ihr zufrieden zu und nippte an seinem Kaffee. Dann setzte er die Porzellantasse ab und strich sich mit seiner üppig beringten Hand durchs halblange schwarze Haar. Er wirkte nachdenklich. «Und du glaubst, dass Robert jetzt seine Finger von anderen Frauen lässt?», fragte er plötzlich.

Claire kämpfte noch immer mit der süssen Masse in ihrem Mund. Es wäre ihr aber auch ohne das Eis im Mund schwergefallen, Lorenzos Frage zu beantworten.

Die Zweifel an der Treue ihres Mannes hatten sich bereits am Abend zuvor wieder in ihr Herz zurückgefressen. Eine Viertelstunde nach dem leidenschaftlichen Ritt auf dem Esszimmertisch war Robert ins «Le Chef» zurückgeeilt. «Wir machen genau hier weiter, wenn ich zurück bin», hatte er ihr beim Abschied heiser ins Ohr geraunt.

Als Claire später den Kartoffel-Karottenbrei für Anna zubereitete, musste sie allerdings bereits wieder an das Sofa denken, das wie ein Warnsignal im Wohnzimmer stand. Das süsse Gefühl im Unterleib war inzwischen abgeebbt. Dafür arbeitete ihr Gehirn nun auf Hochtouren.

Hatte es Robert wirklich beim Fotografieren der nackten Frau belassen?

Wie oft war die Fremde in ihrer Wohnung gewesen?

Würde Robert ihr künftig treu sein?

Die Gedankenmaschine ratterte wie der Pürierstab in ihrer Hand.

«Ja, ich … hoffe es», sagte Claire, als sie das Eis endlich hin­untergeschluckt hatte. Sie strich sich eine dunkelblonde Strähne hinters Ohr. «Wir lieben uns. Wir haben Anna.»

«Aber du kannst ihm trotz aller Liebe nicht mehr blind vertrauen, Süsse!»

Claire senkte ihren Blick auf die weisse Marmor-Tischplatte. «Ja … ja, ich weiss», sagte sie leise. «Ich werde ein Auge auf ihn halten. Und ich muss es irgendwie hinkriegen, dass er sich zu Hause wieder wohlfühlt.»

Lorenzo umfasste sanft ihr Kinn und hob ihren Kopf an, damit sie ihm in die Augen schaute. «Er hat doch bereits eine Klasse Frau zu Hause. Er weiss gar nicht, was er an dir hat», sagte er ernst. «Auch wenn dein Sauerbraten eine echte Zumutung ist», schob er nach und gluckste los.

Sie brachte nur ein müdes Lächeln zustande. Dann seufzte sie tief.

Lorenzos Glucksen stoppte abrupt. Sein Gesicht wurde wieder ernst. «Du hast Angst, Schätzchen. Das ist verständlich. Niemand will mit achtzehn eine kaputte Ehe hinter sich haben und ein Kind allein grossziehen. Aber du konntest Lügner noch nie ausstehen. Weisst du noch, wie du zwei Wochen lang nicht mehr mit mir gesprochen hast, weil ich dir meine Beziehung zu Stephano verschwiegen hatte? Du, die immer freundliche Claire? Irre … ich bekam es echt mit der Angst zu tun.» Lorenzo schlug sich theatralisch die Hand vor den Mund. «Was ich sagen will: Du wirst erst wieder glücklich sein, wenn hieb- und stichfest bewiesen ist, dass Robert dich nicht belügt.»

Claire presste die Lippen zusammen und rührte mit dem Silberlöffel im Eis. Lorenzo kannte sie eben einfach zu gut.

Sie hatte ihn fünf Jahre zuvor im renommierten Friseursalon Petermann kennengelernt. Lorenzo arbeitete dort als Meisterfriseur. Claires Mutter Margarete besuchte den Salon zweimal wöchentlich, um sich ihr langes blondes Haar waschen und zu einer bombenfesten Frisur hochstecken zu lassen. Als Sekretärin einer Modezeitschrift legte sie Wert auf ein perfektes Äusseres. Claire begleite ihre Mutter gerne bei ihren Friseurbesuchen. Sie mochte den pompös eingerichteten Salon mit den weissen Marmorböden, den goldgerahmten Spiegeln und den antiken Vasen. Und sie mochte Lorenzo. Der junge, flotte Italiener war ihre erste grosse Flirtliebe, und er war es auch, der ihre Modelkarriere ins Rollen brachte.

Eines Tages rief er freudig aus: «Margarete! Was hältst du davon, wenn wir deine süsse Tochter heute etwas verschönern?» Ihre Mutter willigte ein, und schon wurde Claire zum Stuhl geführt. Lorenzo liess seine Schere fliegen. Im Nu verwandelte sich ihre langhaarige Mädchenfrisur in einen luftigen, schicken Bob. «Aber es kommt noch besser», kündigte Lorenzo an.

Eine junge Kosmetikerin führte Claire in den oberen Stock des Salons, wo sie ihr ein dramatisches Abend-Make-up auflegte. Claire fühlte sich wie ein Mannequin, als sie eine halbe Stunde später die geschwungene Freitreppe hinunterstolzierte.

Lorenzo klatschte begeistert in die Hände. «Hinreissend!»

«Ach, wie bezaubernd», hauchte auch der Geschäftsführer des Salons.

Eine Woche später durfte Claire die Herbsttrends aus dem Hause Petermann vor der nationalen Presse präsentieren. Die mehrseitigen Fotostrecken waren ihre Eintrittskarte für den Modezirkus. Es folgten Einsätze an der Münchner Modewoche, später sogar an internationalen Modeschauen in Paris und London. Dass Claire erst dreizehn war und eigentlich noch nicht als Model arbeiten durfte, wusste ihre Mutter Margarete geschickt zu verbergen. Als Alleinerziehende war sie froh um das zusätzliche Einkommen ihrer Tochter. Auch Claire war es recht, regelmässig auf dem Laufsteg oder vor der Kamera zu stehen. Die Arbeit im Scheinwerferlicht machte ihr deutlich mehr Spass als die Schule, wo sie sich mit Mathematik oder Physik herumplagen musste. Zudem hatte sie in der Schule keine Freundinnen mehr gefunden, seit sie mit zehn von Düsseldorf nach Köln gezogen waren. Auf dem Laufsteg hingegen brachte man ihr Anerkennung und Bewunderung entgegen. Und nicht zuletzt hatte sie in Lorenzo­ einen hervorragenden Modeberater, Friseur und treuen Freund gefunden – auch wenn sie bald schmerzlich zur Kenntnis nehmen musste, dass er auf Männer stand. Claire trauerte dem Gymnasium folglich keinen Moment nach, als sie ihre Schulzeit mit fünfzehn beendete, um sich ganz ihrer Modelkarriere zu widmen.

Genauso reuelos hängte sie ihre Karriere knapp zwei Jahre später wieder an den Nagel. Sie hatte ein paar Monate zuvor bei einem Dinner im «Le Chef» ihren Traummann Robert kennengelernt. Sie heirateten, und kurz darauf trug sie bereits sein Kind unter dem Herzen. Claire war im Hafen der Ehe angekommen.

Das Eis in der Kristallschale hatte sich in eine hellbraune Pfütze verwandelt. Claire unterbrach die Rührbewegung, leckte den Löffel ab und platzierte ihn auf dem silbernen Untertellerchen. «Ich hab eine Idee», sagte sie unvermittelt.

«Na, wer sagt’s denn! Meine alte Claire ist wieder da.» Lorenzo­ klatschte in die Hände und beugte sich über den Tisch. «Und wie sieht unser Plan aus?», flüsterte er verschwörerisch.

Der Plan war gut. Aber die Umsetzung kam Claire so schwer vor wie die Zubereitung eines Sauerbratens. Die wesentliche Zutat fehlte. Wie sollte sie die Frau mit dem Lockenkopf ausfindig machen? Sie hatte dieses Engelsgesicht mit den üppigen Lippen und den langen schwarzen Wimpern noch nie zuvor gesehen.

Während des gesamten Heimwegs nach Lindenthal zermarterte sie sich das Gehirn. Arbeitete die Frau in einem der Restaurants?

Unwahrscheinlich.

Sie hätte sie bestimmt bei einem ihrer häufigen Besuche in den drei Lokalen kennengelernt.

War sie eine Bekannte aus Roberts grossem Freundeskreis?

Möglich.

Aber es würde nur für unnötiges Aufsehen sorgen, wenn sie sich bei Roberts Freunden nach der Frau erkundigen würde.­

Claire stolperte schwer beladen in ihre Wohnung. Sie hatte unterwegs noch Lebensmittel eingekauft und Roberts Anzug aus der Reinigung geholt. «Mist», entfuhr es ihr. Der Anzug hatte die Fahrt in der U-Bahn nicht knitterfrei überstanden. Sie würde ihn noch einmal aufbügeln müssen, bevor sie Anna bei Oma Falcone abholte. Sie stellte die Einkaufstüte auf dem Flurboden ab, schlüpfte in die Haussandaletten und trippelte ins Bügelzimmer. Dort legte sie den Anzug aufs Bügelbrett.

Zuerst nahm sich Claire die Hose vor. Die liess sich einfacher bügeln als die Jacke. Zärtlich strich sie über den feinen Stoff.

Plötzlich erstarrte sie.

Ihre Hände schnellten zum Hosenbund.

Ihr Puls raste.

Das Etikett!

Ein elegant geschwungener Schriftzug zierte das Label: «Modehaus Wagner». Natürlich!

Das war möglicherweise die fehlende Zutat.

Robert hatte kürzlich beim Abendessen davon geschwärmt, dass ihm der neue Anzug von der Modehaus-Chefin persönlich auf den Leib geschneidert worden sei. So nett und serviceorientiert sei sie gewesen. Sie habe ihn sogar mit Kaffee und Keksen verwöhnt. Claire war es eigentlich gewohnt, dass Robert unverkrampft über die Vorzüge anderer Frauen sprach. Aber das Leuchten in seinen Augen hatte sie an jenem Abend irritiert.

Claire schlug sich mit der Hand an die Stirn.

Kein Wunder, dass der Anzug so perfekt sass.

Die Dame hatte es mit dem Massnehmen zweifellos sehr genau genommen.

Claire schleuderte die Hose zu Boden, als wäre sie von Gift durchtränkt.

Der Abend mit Robert und Anna verlief trotz Claires Entdeckung äusserst harmonisch. Claire hatte in einer Metzgerei ein knuspriges Brathähnchen gekauft, nachdem sie Anna in der Falcone-Villa abgeholt hatte. Sie musste es zu Hause nur noch zum Aufwärmen in den Ofen schieben. Zum Fleisch servierte sie leicht angekohlte Bratkartoffeln. Robert und sie tranken ein paar Gläser Rotwein, Anna stopfte zufrieden Hähnchenstücke in sich hinein. «Mein kleiner Fleischtiger», sagte Robert schmunzelnd und wuschelte durch Annas blonden Haarschopf. Auch nachdem Anna in ihrem Bettchen eingeschlafen war, verloren weder Claire noch Robert ein Wort über die Geschehnisse vom Vortag. Robert musste ohnehin noch einmal ins «Le Chef».

Am nächsten Morgen griff Claire zum Telefon und bat ihre Schwiegermutter, sich am Nachmittag erneut ein paar Stunden um Anna zu kümmern. Ihre Mittelohrentzündung sei wieder aufgeflammt, sie müsse dringend zum Arzt.

«Du siehst aber schick aus, Claire!», rief Marina Falcone, als sie Anna ein paar Stunden später in Empfang nahm. «Der Arzt wird sich freuen». Sie liess ihr R rollen wie eine schnurrende Katze.

Claire strich verlegen ihr neues rotes Strickkleid glatt und fragte sich, ob das Kompliment sarkastisch gemeint war. Marina verstand es, Kritik mit einem zuckersüssen Lächeln vorzutragen. Sie hatte wie viele andere daran gezweifelt, dass Claire in ihrem zarten Alter der Mutterrolle gewachsen sein würde. Vom Laufsteg direkt an den Herd – das konnte nicht gut gehen. Entgegen aller Befürchtungen hatte sich Claire inzwischen zwar als Jungmutter bewährt. Dennoch waren die Zweifel ihrer Schwiegermutter nicht restlos beseitigt, was sie häufig zum Ausdruck brachte.

Trotz der leicht angespannten Stimmung drückte Marina Claire beim Abschied zwei dicke Schmatzer auf die Wangen. Anna wurde zwischen ihnen beinahe zerdrückt und protestierte lautstark.

Vierzig Minuten später stiess Claire die Glastür des Modehauses Wagner in der Schildergasse – der bekannten Kölner Einkaufsmeile – auf. Die Türglocke klingelte lieblich. Sofort stürzten zwei junge Verkäuferinnen auf sie zu. Sie erinnerten Claire an das doppelte Lottchen. Beide hatten eine glatt geföhnte blonde Mähne und trugen das gleiche rote Kostüm. «Madame, Sie wünschen?», fragte Lottchen Nummer eins mit auffällig hoher Mädchenstimme.

Claire hatte keine Zeit, das elegante Interieur des Geschäfts mit den dunkelgrauen Teppichen und den burgunderroten Samtvorhängen genauer zu mustern. Und sie kam glücklicherweise auch nicht dazu, nervös zu werden.

«Ich möchte mir ein Abendkleid kaufen», sagte sie. «Es soll eine Überraschung für meinen Mann zu unserem heutigen Hochzeitstag werden.»

Die beiden Mädchen flankierten sie und führten sie zielstrebig in die Abendmode-Abteilung. Das schwarze Kleid, das eine der Schaufensterpuppen trug, stach Claire sofort ins Auge.

«Unser neuestes Modell», hauchte das zweite Lottchen andächtig. «Ein Traum aus Seide», quietschte Nummer eins.

«Diese Eleganz!», seufzten die beiden im Chor, als Claire wenige Minuten später aus der Umkleide trat und sich vor den Spiegel stellte. Claire reckte das Kinn nach oben, drehte sich ein wenig nach links, dann nach rechts. Das Kleid war wirklich aus jeder Perspektive ein Traum. Die bodenlange schwarze Seide schmiegte sich an den richtigen Stellen eng an den Körper. Strassbesetzte dünne Träger umrahmten das atemberaubende Dekolleté. Über dem Kleid trug Claire einen Umhang aus halb transparenter Seide, der an Hals und Saum mit schwarzen Straussenfedern geschmückt war. Claire fühlte sich auf die Laufstege von Paris und London zurückversetzt und lächelte ihrem Spiegelbild zu. «Wunderbar, ich nehme es», sagte sie.

Die Verkäuferinnen strahlten verzückt. «Ihr Mann wird sich freuen.»

«Bestimmt», sagte Claire. Sie zupfte mit den Fingern am Bustier des Kleides herum. «Nur die Brustpartie müsste noch etwas angepasst werden. Mein Mann hat kürzlich von einer ganz tollen Schneiderin in Ihrem Haus geschwärmt. Wenn ich mich nicht täusche, handelt es sich dabei um die Geschäftsführerin höchstpersönlich.»

«Natürlich. Frau Wagner wird das Kleid bestimmt gerne für Sie anpassen», flötete Lottchen zwei. «Marie, rufst du bitte Frau Wagner zu uns?»

Nachdem Lottchen eins davongeeilt war, fasste Claire Lottchen zwei am Arm und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. «Darf ich Sie um etwas bitten? Ich möchte meinen Mann doch schon jetzt mit dem Kleid überraschen. Bis heute Abend kann ich das Geheimnis ohnehin nicht für mich behalten.» Claire stockte kurz und fuhr dann mit gesenkter Stimme fort: «Würden Sie meinen Mann bitte anrufen und ihn unter einem Vorwand ins Geschäft locken? Natürlich darf er nicht wissen, dass ich auch hier bin.» Claire zeigte ihr breitestes Lächeln. «Das wird ein Spass!»

Lottchen war offensichtlich für einen Spass zu haben. Sie kicherte und nickte: «Was für eine tolle Überraschung, Madame!»

«Erzählen Sie meinem Mann doch, dass die Chefin ihm die Frühlingskollektion präsentieren möchte. Er ist schliesslich ein guter Kunde», schlug Claire vor.

«Eine schöne Idee, Madame», bekräftigte das Mädchen und liess sich die Telefonnummer diktieren. «Robert dürfte um diese Zeit zu Hause sein», dachte Claire. «Wie lautet denn der Name Ihres werten Gatten?», fragte das Mädchen.

«Martin … Martin Falcone», antwortete Claire. So wie sie Robert kannte, war er den Verkäuferinnen im Modehaus auch unter seinem Vornamen bekannt. Der falsche Name würde allfälliges Misstrauen zerstreuen. Lottchen zwei liess sich jedenfalls keine Unsicherheit anmerken und eilte davon. Claire blieb allein im Vorraum der Umkleidekabinen zurück.

Einen kurzen Moment lang wäre sie am liebsten auch davongestürmt – raus aus dem Geschäft und rein in den nachmittäglichen Rummel der Innenstadt.

Sie kam sich plötzlich hinterhältig vor. Wie eine schwarze Witwe, die ihr Netz ausgespannt hatte, um ihr eigenes Männchen einzufangen und aufzufressen.

Was, wenn die Geschäftsführerin gar nicht die nackte Frau auf dem Sofa war?

Claire musterte erneut ihr beeindruckendes Spiegelbild. Ach was, sie würde Robert in diesem Fall eine ähnliche Geschichte wie der Verkäuferin erzählen: dass sie ihn mit dem Kleid überraschen wollte. Er würde ihrem Anblick verfallen, das Kleid bezahlen und keine weiteren Fragen stellen.

Was aber würde sie unternehmen, wenn die Geschäftsführerin eben doch die gesuchte Frau war?

Bevor Claire die Gedanken weiterspinnen konnte, stand die Sofa-Frau neben ihr und streckte ihr die Hand zur Begrüssung entgegen. «Ich gratuliere zu Ihrem exzellenten Geschmack, Madame. Mein Name ist Annabelle Wagner.»

Claire ergriff reflexartig ihre Hand und brachte ein Lächeln zustande.

Die Nackte hatte jetzt also einen Namen: Annabelle – die schöne Anna.

Sie trug die dunklen Locken hochgesteckt. Das rote Kostüm schmeichelte ihrer üppigen Oberweite und dem wohlgeformten Hintern. Ihre wahre Wunderwaffe nahm Claire allerdings erst wahr, als Annabelle die freundliche Begrüssung mit einem filmreifen Augenaufschlag beendete. Unter den langen schwarzen Wimpern kamen smaragdgrüne Augen zum Vorschein.

Claire wagte kaum zu atmen, während Annabelle sich minutenlang an ihrem Bustier zu schaffen machte und den neuen Nahtverlauf mit Nadeln absteckte.

Seit wann mochte Robert üppige Hintern?

«Sie zittern, Madame. Ist Ihnen kalt?», fragte Annabelle.

«Nein, nein. Alles bestens», antwortete Claire eine Spur zu kühl.

Da ertönte wieder das liebliche Klingeln der Türglocke.

Claire zuckte innerlich zusammen.

Sie hörte Roberts Stimme von ferne.

Annabelle steckte flink eine Nadel ins Nadelkissen zurück. «Darf ich ganz rasch den Kunden begrüssen, Madame?», fragte sie. «Es dauert nur eine Sekunde.»

«Natürlich», stiess Claire hervor.

Annabelle rauschte davon.

Claire versteckte sich hinter dem roten Samtvorhang, der den Umkleidebereich vom Verkaufsraum trennte.

Sie hielt die Luft an.

«Bella!», hörte sie Robert begeistert ausrufen.

«Berti, wie schön!», entgegnete Annabelle.

Claire spürte einen heftigen Stich in der Brust.

Sie wagte einen Blick in den Verkaufsraum. Robert war gerade dabei, die Sofa-Frau leidenschaftlich auf den Mund zu küssen.

Claire blieb die Luft weg.

Das Bustier kam ihr wie ein zu eng geschnürtes Korsett vor.

Sie sah, wie Lottchen zwei auf ihren Vorhang zusteuerte. «Frau Falcone, Ihr Gatte wird bestimmt auch bald eintreffen! Ein lustiger Zufall übrigens: Soeben ist ein anderer Herr Falcone vorbeigekommen – auch ein Stammkunde.» Sie kicherte vergnügt und warf ihr Haar mit einer schwungvollen Handbewegung zurück.

Claire sah, wie Robert erstaunt den Kopf hob und Annabelles Hüfte losliess.

Ihre Blicke trafen sich.

«Claire? Was …» Sie sah das Entsetzen in seinen Augen.

Lottchen zwei schlug sich die Hände vor den Mund.

Claire trat langsam hinter dem Vorhang hervor.

Ihr Gesicht war zu einer Maske erstarrt.

Nach zwei, drei langen Sekunden setzte sie sich in Bewegung.

Sie wollte nur noch weg, raus aus dieser unglaublich demütigenden Situation.

Ohne Robert und Annabelle eines weiteren Blickes zu würdigen, stolzierte sie raschen Schrittes an ihnen vorbei und steuerte auf den Ausgang zu. Es würde zumindest ein gebührender Abgang werden. «Lügner», zischte sie, als sie die Glastür aufstiess.

Ein ohrenbetäubender Lärm riss sie beinahe zu Boden.

Sie konnte sich gerade noch an der Tür festhalten und wirbelte herum.

«Madame, der Diebstahlalarm! Ihr Kleid ist noch gesichert», kreischte Lottchen eins und machte ein weinerliches Gesicht.

Ein Albtraum!

So etwas konnte nur ihr passieren!

Claire musste gesenkten Hauptes in die Umkleidekabine zurückgehen, um den schwarzen Seidentraum gegen ihr rotes Strickkleid auszutauschen. Wie durch eine Glasscheibe hindurch hörte sie Roberts Flehen und Bitten vor der Kabine: «Kleines, das hätte nicht passieren dürfen. Es wird nie wieder vorkommen. Du musst mir verzeihen. Bitte.»

Als sie nicht antwortete, wurde sein Tonfall vorwurfsvoll: «Wie kommst du eigentlich auf die Idee, mir nachzuspionieren? Mich reinzulegen?»

Claire blieb stumm.

Sie strich ihr Kleid glatt, packte ihre Handtasche und stürmte an Robert vorbei. Diesmal blieb auch der Alarm stumm, als sie durch die Ausgangstür in die Schildergasse stürzte.

First Class Flüge und Bruchlandungen …

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