Читать книгу Allein. Tagebuch eines vernachlässigten Kindes - Christa Schwägerl - Страница 5
Prolog
ОглавлениеMit zitternden Fingern war es schwierig, das Stäbchen in den Urinstrahl zu halten. Lena Maria packte den Schwangerschaftstest mit Daumen und Zeigefinger beider Hände und legte ihn auf dem Waschbecken ab. Sie starrte ihn an, als hielte sie ihn für ein gefährliches Reptil. Drei Minuten sollte sie warten und sie hatte sich geschworen, vor Ablauf der Frist nicht auf das kleine, runde Kontrollfenster zu sehen. Doch nun starrte sie bewegungslos bis in die Pupillen auf den Teststick.
Seit drei Tagen litt sie beim Gedanken an diesen Moment an Atemnot. Im Grunde war es ein schlechter Zeitpunkt, aber keine Katastrophe. Mama und Paps würden ihr helfen. Natürlich wären sie nicht begeistert. Aber sie würden ihr helfen, würden für sie da sein, wie sie es immer gewesen sind.
Immer.
Oder nicht?
Etwas rumorte in ihrem Gehirn, entwand sich immer wieder ihrem Zugriff. Ein bitterer Geschmack auf der Zunge ließ sie schlucken. Sie konnte sich an keine Gelegenheit erinnern, bei der ihre Eltern eines ihrer fünf Kinder im Stich gelassen hätten.
Nie hatten sie den leisesten Unterschied zwischen ihren leiblichen Kindern und Lena Maria gemacht. Wieso hatte sie plötzlich das Gefühl, sich auf niemanden verlassen zu können, außer auf Kalle und sich selbst? Sie tastete nach dem abgegriffenen Stoffhasen, der über dem Waschbecken auf der Ablage saß und sie mit trüben Augen ansah, als wollte er ihr etwas sagen, sie an etwas erinnern.
Lena schüttelte den Kopf. Was war nur los mit ihr? Was für irre Gedanken schwirrten durch ihr Gehirn? Ihre Hand strich über Kalles Hasenkopf. Aus einem unerfindlichen Grund hatte sie ihn nach dem Ausbleiben ihrer Regel aus dem Schrank gekramt und schleppte ihn seitdem mit sich, als wäre er der einzige, dem sie sich anvertrauen könnte.
Lena verglich die beiden Kontrollfenster und konnte keinen Unterschied feststellen. Falscher Alarm. Wahrscheinlich machte sie sich völlig umsonst verrückt. Sie setzte Kalle zurück an seinen Platz. Sie würde ihr Studium beenden, einen wunderbaren Mann kennenlernen und irgendwann Kinder bekommen. Lena Maria musterte sich im Spiegel. Nein, dachte sie plötzlich mit Bestimmtheit. Ich werde keine Kinder in die Welt setzen. Niemals. Noch nie hatte sie diesen Gedanken so konsequent zu Ende gedacht.
Wieder betrachtete sie den Teststab. Ein Kreis schimmerte dunkler als der andere. Lena Marias Herz klopfte, ihre Hände begannen erneut zu zittern und sie schalt sich einen Narren.
Hannah wird mir helfen. Ich kann das durchziehen. Mama wird mir beistehen und Oma wird den kleinen Wurm nicht mehr hergeben, sobald sie ihn erblickt hat.
Der Kreis färbte sich hellblau. Tränen liefen über Lena Marias Wangen und in dem Moment wusste sie, etwas Schreckliches wird passieren.
Oder war bereits passiert?
Das Kind wird sterben.
Welches Kind?
In ihrem Kopf drehte ein verrückt gewordenes Karussell immer wieder denselben Gedanken in rasender Geschwindigkeit, sodass sie ihn nicht richtig fassen konnte.
Es wird Schaden erleiden, dieses Kind, das Lena Maria mehr liebt, als irgendetwas sonst auf der Welt.
Liebte?
Lieben wird?
Weil Lena kein braves Mädchen ist. Es ist ihre Schuld. Ihre verdammte Schuld.
Der Kreis färbte sich tiefblau. Lena Maria erbrach sich in die Toilettenschüssel. Sie ging in die Knie und umklammerte das kalte Porzellan.
„Alles in Ordnung bei dir?“ Ein Klopfen an die verschlossene Badezimmertür begleitete die besorgte Frage.
Vor Lenas geistigem Auge stiegen Bilder auf, die sie lange verdrängt hatte, angeführt von einem Kaleidoskop an Gefühlen. Einige warme, angenehme Empfindungen, überlagert von einem Wust düsterer, beängstigender Emotionen. Die Szenen in ihrem Kopf wurden immer bedrohlicher.
„Lena?!“, drängte die Stimme vor der Tür.
Nur mit Mühe löste Lena sich von dem Drama, das sich in ihren Gedanken abspielte. Nachdenklich betrachtete sie einen Moment das weiße Türblatt. Dann quälte sie sich auf die Beine, versuchte das leichte Flirren vor den Augen mit einer laschen Handbewegung wegzuwischen und streckte die Hand nach der Klinke aus.
„Lena, bist du da? Mach die Tür auf!“
Dieser Satz zerriss den Vorhang vor den letzten Szenen ihres Gedankentheaters. Mit rasenden Fingern drehte sie den Schlüssel im Schloss und riss die Tür auf. Sie starrte in das fürsorgliche Gesicht ihrer Schwester Hannah.
„Du hast es die ganze Zeit gewusst, oder?“ Lena schlug mit der flachen Hand gegen Hannahs Brust. „Warum habt ihr nie mit mir darüber gesprochen?“