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Im Wald

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2012

Es kam ganz schummerig wieder, das Licht. Zu erkennen war nicht wirklich viel. Die Umrisse der Bäume um ihn herum und die Helligkeit einer kleinen Lichtung vor ihm nahmen Gestalt an. In einer verlaufenden, wasserfarbenen Skizze baute sich ein Bild in seinem Kopf auf. Er kam sich außergewöhnlich ausgeschlafen vor. Und als wenn Einzelteile eines Puzzles von der Decke auf einen Tisch fallen würden, fügten sich wie von Geisterhand diese Teile zu dem diffusen Bild. Es bildete sich dadurch die gedankliche Brücke in seine derzeitige Situation hinein. Seine Sicht wandte sich von dem Schein am Himmel über ihm hinab zu seinen Beinen. Und als wäre es selbstverständlich, waren seine Beine von Wurzeln umgeben und scheinbar überwuchert.

Seine Erinnerung brachte ihn zu seiner Wanderung zurück, deren Zwischenziel, entgegen seiner Planungen, hier im Wald gelegen hatte. Vom Feld aus erspäht, zog ihn der Anblick des Waldrandes unverhofft in eine Art Bann und sein Blick konnte sich von diesem Eindruck nicht mehr lösen. So steuerte er seinen Weg bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Richtung der Bäume, die mit wachsender Nähe ihren Einfluss auf ihn erweiterten. Als ihm schließlich eine Weggabelung keine Möglichkeit mehr anbot, den Abstand zwischen ihm und den majestätischen Gewächsen zu verringern, entschloss er sich querfeldein zu gehen und eine direkte Linie auf sein Ziel zu beschreiten.


Obwohl die Ausgeschlafenheit ganz eindeutig und angenehm war, wurde er sich eines gewissen Schleiers um sich herum bewusst, der nicht sichtbar, nicht ertastbar, sehr wohl aber fühlbar war. Dieses Fühlen kam aus seinem Inneren und erfüllte buchstäblich seinen ganzen Körper. Er lehnte an dem Baum und ließ seinen Blick wieder nach oben durch die Kronen der angrenzenden Bäume wandern. Die Sonnenstrahlen brachen hier und da durch das Blattwerk und erzeugten ein leichtes Flimmern. Wenn die Strahlen auf ein Blatt trafen, erhellte sich das Grün zu einem Leuchten und die leichte Durchlässigkeit des Blattes gestattete dann sogar den dezenten Durchblick.

Ein schmerzhaftes kurzes Zwicken in seinem linken Bein riss ihn aus den Gedanken. Er spürte bei diesem punktuellen Schmerz eine andere Sache, die ihn viel mehr irritierte. Sein Bein wollte eigentlich wegen des beißenden Reizes seine Lage verändern, sich anziehen, hin zum Körper. Wurde aber daran gehindert. Das Bein fühlte sich verpackt und fixiert an.


Der Weg direkt durch das Feld war nicht mehr so behaglich wie das Wandern auf den Feldwegen. Immer wieder sank er in vom Gras versteckte Mulden ein oder erwischte eine Stelle, an der sich Wasser gesammelt hatte, das durch die üppigen Gewächse vor der Verdunstung geschützt war. Seine Schuhe nahmen so sogar einmal ein wenig Wasser auf, was ihm durch die sofort entstehende Kälte am Fuß leidvoll bewusst wurde. Stöcke hätten ihm jetzt gute Dienste erweisen können, aber die hatte er heute zuhause gelassen. Sein Plan war eine reduzierte Runde ohne große Bewältigung von Höhenmetern und immer auf Wegen und Teerstraßen verlaufend gewesen. Das ihn diese unwiderstehliche Aufgabe überkommen würde, auf einen Wald zulaufen zu müssen, war nicht in seinen Überlegungen vorgekommen. Mit jedem Meter, den er sich weiter vorarbeitete, fielen ihm kleine, feine, in der Luft dahinschwebende, gelbe Punkte auf, die sich von den Strahlen der Sonne ab und an durchbohren ließen. So wusste man, dass sie ein Loch in ihrer Mitte hatten. Er erinnerte sich, dass es genau so eine kleine Faser gewesen war, die seinen Blick erstmalig auf den Baumbestand gelenkt hatte, als sie sich anscheinend auf einem seiner Brillengläser niederzulassen schien. Als er die Brille abgenommen hatte, tänzelte das gelbe Pünktchen aber weiter vor seinem Auge. Und als er sie gegen das Licht hielt, um prüfend durch ihre Gläser zu schauen, folgte es seinem Blick. Er drehte seinen Kopf zum Wäldchen hin und genau in diesem Moment entschwand es wie von einem Windstoß erfasst, schnell und zielstrebig. Jetzt sah er die Gruppe von Bäumen. Sie öffneten den Blick auf einen mächtigen Baum, der in seiner Ausstrahlung etwas ganz Spektakuläres hatte. Es schien, als würden sie Spalier stehen. Seine Erscheinung wich von den Bildern, die er von einem Baum im Kopf hatte, weit ab. Obwohl es hier draußen auf dem Feld windstill war, ging dort im Wäldchen wohl ein Luftzug. Denn der Baum, so hätte man interpretieren können, schien mit seinen Ästen zu winken. So zu winken, als hieß er ihn zu sich zu kommen. Von diesem Moment an wuchs seine Sehnsucht, sich diesem Baum zu nähern, unaufhörlich.


Er zog nun sein Bein bewusst an und die zuvor verwundert wahrgenommene Blockierung desselben wurde nun zu einer Feststellung. Sein Bein war unterhalb des Knies, bis hin zum Spann des linken Fußes, von einem Geflecht aus kleinen Wurzeln überzogen. Als er mit Kraft gegen diese kleinen Fesseln anging, spürte er eine überraschende Gegenkraft, die sein Bein gefangen hielt. Wie er da nur reingerutscht sein konnte? Zum ersten Mal stellte er sich die Frage, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass er hier an diesem Baum lehnte und anscheinend eine Pause gemacht und eingeschlafen war. Gleichwohl schwang in ihm ein zufriedenes Gefühl ob dieser Lage mit und die Verwunderung hielt sich in Grenzen. Er studierte nun die Lage seines linken Beines, denn es gab bestimmt eine Position, in der das Bein einfach aus diesem Wurzelgeflecht herauszuziehen wäre, ebenso wie er hineingerutscht war. Er drehte leicht die Hüfte und hob sein Gesäß an, um das andere, das rechte Bein aufzustellen.

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Je näher er zum Waldrand kam, umso dichter tanzten die gelben Samen, so hatte er diese fliegenden Elemente nun für sich erklärt, um ihn herum. Es waren kleine gelbliche Wölkchen, die sich ihm in den Weg stellten, und er versuchte ab und an diese mit einer vertreibenden Armbewegung zu zerstreuen. Doch er wirbelte die Nebel nur durcheinander. Die Teilchen verteilten sich. Ähnlich wie verwirbeltes Wasser fanden sie im Anschluss aber wieder zu ihrer ursprünglichen Verteilung zurück. Ja, manchmal schien es, als würden die Fasern sich weit mehr zusammenschließen und die Nebel sogar dichter werden. Er erreichte den Waldrand unbeschadet, wenn auch mit sehr angestrengten Augen, die von den immer heller abstrahlenden Spiegelungen der gelben Wölkchen stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Es blendete manchmal sehr stark, ähnlich wie bei einer weiten, geschlossenen Schneedecke, hier allerdings alles in grellgelb.

Er strauchelte, als er einen Schritt leicht hinauf über die ersten Wurzeln in den Wald ging, fiel leicht nach vorne, griff in Richtung des nächsten Baumstammes. Dabei durchfuhr er heftig und schnell eine Ansammlung der gelben Schwebeteilchen, die auseinanderwichen und sich umgehend, wie gezielt, auf seinen Kopf zubewegten. In der Schrecksekunde des Ausrutschers sog er tief nach Luft und so war sein Mund weit aufgerissen. Hier hinein stürzte sich nun die gelbe Flut, die sich vor ihm gesammelt hatte, und drang tief in seine Lungen ein. Auch die Nase wurde geflutet, zwang ihn zu einem noch tieferen, japsenden Einatmen und danach musste er heftig niesen. Doch nicht ein gelbes Tröpfchen wurde wieder ausgestoßen. Stattdessen war die Luft um ihn herum plötzlich wie leergefegt und angenehm klar. Er atmete den gesunden Duft des Waldes und er fühlte sich frisch und voller Tatendrang. Ja, Euphorie breitete sich in ihm aus.


Es ging nicht. Zu seiner absoluten Verwunderung konnte er auch das rechte Bein nicht bewegen, seine Schulter war ebenfalls fixiert und gab keinem Befehl zur Bewegung nach. Wie festgeklebt. Wie angewachsen. Er lag da am Fuß des Baumes, teilweise in einem Wurzelwerk verstrickt, und suchte nach einem Weg, dies zu ändern. Normalerweise würde das jemanden wie ihn in Panik versetzen, hatte er doch insgesamt und allgemein ein Problem mit Enge und Nähe. Und nun hatte ihn diese Unbeweglichkeit erfasst und es gab noch keinen Ansatz in seinem Kopf, diese Situation zu verändern oder gar aufzulösen. Sein Blick begann sich ein Bild von der Szenerie zu machen und glitt an seinen Beinen über seinen Schritt und Bauch, seitwärts an dem Arm hoch, der zu der unbeweglichen Schulter führte. Hier war seine Jacke aufgerissen und Blut war an der defekten Stelle von innen durchgesickert. Kein Schmerz war zu spüren, keine Unannehmlichkeit. Er fühlte sich frisch und gesund und guten Mutes.


Den Sturz hatte er abgefangen und stand nun auf einem weichen, dunkelgrünen Moosbett. Die Schritte, die er von nun an unternahm, wurden vom moosigen Untergrund sanft abgefedert. Nicht nur ein weiches Einsinken, nein, es war, als liefe er auf Wolken.

Der Baum, der ihn so anzog und faszinierte, lag jetzt nicht mehr weit vor ihm. Aber die Lichtung, die er noch vom Feld aus wahrgenommen hatte, war ein offenes Oval inmitten des Waldes geworden. Wenn er sich umsah, so konnte er das Feld und den Weg, auf dem er gekommen war, nicht mehr erkennen. Obwohl auch von dieser Seite die offene Stelle im Wald hätte sichtbar sein müssen. Es war das letzte Mal, dass er sich umsah. In seinem Kopf begann sich etwas abzuspielen. Ein Herbststurm an vergilbten Blättern durchfuhr seinen Geist, Äste hörte er knicken, die er nicht zertreten haben konnte. Eine Astgabel erschien und bog sich weit auf, als würde sie die Arme ausbreiten, um ihn zu empfangen. Er griff sich an den Kopf und rang nach Besinnung, aber es sollte ihm nicht gelingen. Er torkelte vor sich hin. Immer weiter auf diesen knorrigen so ganz anders aussehenden Baum im Zentrum seiner Empfindungen. Sein und Schein verwischten, seine Kraft ließ nach. Als all seine Wahrnehmungen in ein gelbes Licht abtauchten und sein Kopf in eine Schale gelben Wassers zur Erfrischung neigte, neigte sich auch sein Körper. Er stand nun direkt an seinem Ziel, sank nieder und sein Geist nahm sich eine Pause.


Ganz schummerig kam es wieder, das Licht. Zu erkennen war nicht wirklich viel. Die Umrisse der Bäume um ihn herum und die Helligkeit der Lichtung vor ihm nahmen Gestalt an. In einer verlaufenden, wasserfarbenen Skizze baute sich ein Bild in seinem Kopf auf. Er kam sich außergewöhnlich ausgeschlafen vor und als wenn Einzelteile eines Puzzles von der Decke auf einen Tisch fallen und sich von Geisterhand ineinander fügten, so fügte sich zu dem diffusen Blick die gedankliche Brücke in seine jetzige Situation. Nun waren sie beisammen, die Erinnerungen und die aktuelle Situation.


Die Schulter schmerzte nicht und dennoch spürte er das warme Blut, wie es unter seinem Hemd den Rücken hinunterlief. Auch an der Brust rann es warm hinab, sodass klar war, dass die Wunde durchgehend sein musste. Aber er bemerkte auch etwas anderes. Es krabbelte etwas über seinen Rücken, als würde jemand ein Stück Faden aus seinem Hemd ziehen und es an seiner Haut entlang führen. Leicht kitzelnd, leicht einschneidend und daher brennend. Gleichzeitig spannte es nun weiter an seinen Beinen und es wurde ihm klar, dass die Wurzeln arbeiteten. Sie zogen sich zusammen, um seine Beine, in denen er nun kaum noch etwas fühlte. Die Aufforderung des Geistes, sich zu bewegen, kam nicht mehr an. Er spürte den Widerstand nicht mehr. Jetzt wölbten sich die Jeans an seinem Schienbein empor und ein spitzer Dorn zerriss sie von innen heraus und drang hervor. Das Holz war durch ihn gefahren, denn die Spitze schimmerte dunkelrot und spiegelte ein wenig. Weil noch feucht, weil frisches Blut, weil sein Blut an dem sich weiter bewegenden Ästchen, dem Tentakel, dem Ableger, der Sprossenwucherung klebte und langsam gerann. Die Jeans verfärbte sich schnell dunkel und sog das austretende Blut auf. Er schloss die Augen und ließ den Widerstand in seinem Kopf los. Entspannte, entkrampfte und spürte.

Die Schlinge um seinen Körper zog sich zu und insgesamt war sein Körper in dem Moos und dem weichen Waldboden um den Baum herum eingedrungen. Sein Kopf hatte sich in der Rinde verfangen, verwuchs mit ihr und die Ohren hatten bereits Maserungen angenommen. Sein Gesicht wurde härter und bräunte von innen heraus in Rindenstruktur.

Sein Empfinden änderte sich immer weiter und anstatt ansteigenden Schmerz zu ertragen, drängte sich ein anderes Gefühl auf. Es wurde nicht mehr im Kopf zentriert wahrgenommen, sondern war umfassender, weiträumiger, unermesslich groß. Es schien, als wäre er vorher eingeengt gewesen, gepfercht in einen kleinen Verschlag, minimiert auf kleinstem Raum. Er verglich es mit dem Bild, wenn er tief ins Wasser eingetaucht war nach einem Kopfsprung und der Körper, Kopf voran, sich den Weg zur Wasseroberfläche suchte. Die Arme angelegt, der Kopf als Speerspitze die Wasseroberfläche durchdringend. So wanderte er durch seinen Körper am Fuß des Baumes. Er war mittlerweile nur noch schwer zu erkennen. Weil gleichsam ohne Inhalt, schien er sich den Konturen des Waldbodens, des Wurzelwerkes und des Baumstammes angepasst zu haben. Er drang ein in das Gewächs und verschmolz mit ihm. An der Stelle, an der sein Kopf an der Rinde gelehnt hatte, war nun ein großes Astloch. Und wenn man genau hinsah, konnte man die Gesichtszüge noch erahnen, die ihn ausgemacht hatten.

Als öffnete sich der Himmel, entströmte das Fühlen aus seiner kleinen Hülle, verteilte sich neu auf ungekannte Bereiche. Die Sonnenstrahlen auf jedem einzelnen Blatt erinnerten an sanfte Berührungen, mit Wärme und Freude gepaart. Jeder Vogel, der sich auf einem Ast niederließ, erzeugte einen kleinen wohligen Schauer. Und hatte sich das Gefühl gerade noch ausgebreitet und alle Regionen des mächtigen Baumes durchdrungen, strömten Eindrücke und Gefühle Anderer auf ihn ein, vermischten sich mit seinen. Die Menge war unendlich, die Intensität berauschend. Letztmalig war sein Sinnen bei seiner vormaligen Existenz. Der heftige, aber warme Regen von Empfindungen, der ihn jetzt überflutete, projizierte Bilder, Gesichter und Geschichten in sein sich auflösendes ICH. Er ging darin auf, verwuchs. Er verschmolz.


Er reckte die Blätter gen Sonne und ein Rauschen erklang, als die Äste, scheinbar im Wind, umherspielten. Aber es war nicht der Wind. Es kam aus ihm heraus, dem Baum. Der ähnlich einem Hund mit dem Schwanz, einer Katze durch ihr Schnurren, einem Kind durch sein Lachen, zum Ausdruck brachte, dass es ihm gut ging, dass er im vollen Saft stand, kraftvoll, erfüllt und wohl genährt.

Die benachbarten Bäume gaben diese Geste zurück und einer nach dem anderen ließ ein Rauschen der Blätter entstehen. Man hätte glauben können, ein kleiner Sturm zöge umher, aber es blieb absolut windstill und das Rauschen verhallte nach einer zweiten Wallung. Das Grün der Blätter schimmerte nur für einen kurzen Augenblick, gelblich grell, und war eins mit der Helligkeit der Sonne. Ein Lächeln.

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Ein Schuh und eine Brille lagen einsam nebeneinander an einer Wurzel. Efeu nahm sich seiner an und ließ es unter dem Dach seiner Blätter verschwinden.

In der folgenden sternenklaren Nacht legte sich kühlender Tau auf die Blätter und Rinden und der Baum kam zur Ruhe. Kraft und Größe waren ausgewogen.


Ein leichtes Vibrieren, rhythmische Schritte, in weiter Ferne.

Die Säfte begannen träge aus der Ruhe zu erwachen, flossen schneller.

Die Blätter stellten sich auf und die Bäume ringsherum bildeten eine kleine Gasse zum Feld hin. Eine Person, die weit hinten über das Feld erkennbar war, bewirkte reflexartig die Anregung der kleinen Knospen an den Blattansätzen. Erst ganz vereinzelt, dann mehr, und schließlich in Stößen entschwanden kleine, dann größere Wolken gelber Schwebkörper aus den Drüsen der Knospen. Zielstrebig, einem imaginären Windstoß folgend, flogen die kleinen Teilchen auf das Feld hinaus auf die Person am Horizont zu.

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