Читать книгу Die Havarie der Lorna O'Gvaith: Die Raumflotte von Axarabor - Band 213 - Christian Gallo - Страница 6

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Es begann mit einem Videoanruf zu einer, zumindest auf der Hemisphäre dieses Planeten – Corlan –, nachtschlafenden Zeit. Das nervtötende, scheinbar endlose künstlich-exotische Vogelgezwitscher durchdrang die ansonsten völlig lautlose Planetennacht. Im stockdunklen Schlafzimmer brachte Gath Cheplan die leuchtenden Ziffernblätter seines altmodischen Handgelenkchronometers denkbar dicht vor seine schlaftrunkenen, noch kaum einen Spalt weit geöffneten Augen. Einem ersten aufgrund seines nur sehr mäßig schnell aufwachenden Verstandes etwas irrigen und paranoiden Impuls folgend, dachte er an eine neue Schocknachricht bezüglich des zwischen Axarabor und den aufständischen Kräften der sogenannten Re-Konföderation herrschenden bewaffneten Konfliktes, der mittlerweile in über einem halben Dutzend Sternensystem des Quadranten des Reiches tobte. Er fluchte lautstark, wie er es schon immer gut gekonnt hatte. Und fluchte ein weiteres Mal, diesmal noch etwas lauter. Dann verwies er bei sich auf die späte Stunde, in der dieser Anruf, von wem und weshalb auch immer, erfolgte. Er wartete noch etwas ab. Vielleicht hörte das verdammte Ding ja doch noch auf zu Klingeln. Aber nichts da! Das nervtötende Anrufsignal brach einfach nicht ab, wie sehr er es sich auch wünschte.

»Scheiße auch!«, rief er und nahm den Anruf schließlich entgegen. Neben ihm regte sich seine noch immer im Schlaf gefangene attraktive Frau. Cheplan fluchte erneut, und diesmal hatte sein Ausbruch einen Adressat, nämlich irgendein gottloses und offensichtlich vollkommen unanständiges Arschloch am anderen Ende der Leitung. Das Gesicht dieser Person baute sich in bunt schillernden periplasmatischen Passagen unmittelbar vor Gath Cheplans eigenem, jedoch zornesrotem Gesicht auf. Cheplan hätte sogleich losbrüllen können, besann sich aber im letzten Moment eines Besseren. Dieser Kerl, viel zu dicht und in viel zu grell gezeichneten Farben vor ihm, steckte in einer Uniform der verfluchten Raumflotte! Im Grunde seines Herzens respektierte Cheplan die Frauen und Männer jener hoch gezüchteten Flotte, die nicht nur hier, sondern in weiten Teilen der Galaxis für Recht und Ordnung sorgte, also entschied er, die Klappe zu halten und erst einmal abzuwarten. Und sich anzuhören, was dieser Hochdekorierte überhaupt loszuwerden hatte.

Neben ihm, in Halblicht getaucht, regte sich Cheplans Ehefrau, Issa. Sie regte sich zwar nur schwach, aber, verdammt, sie regte sich. Gath schnitt es aus zusammengekniffenen Augenwinkeln mit, während er diesen Marinecaptain oder -colonel äußerlich recht ruhig fixiert hielt.

»Verdammter Mist, Gath ...«, brummte Issa neben ihm, »weißt du, wie spät es ist …?«

Er wusste es, bedauerlicherweise wusste er es ganz genau, und das Ergebnis stimmte ihn ebenso wütend wie die Frau mit der wild zerzausten grau melierten Haarpracht, mit der er sein Bett teilte. Er sah weiterhin nur seinen potenziellen Gesprächspartner an – potentiell deshalb, weil er es sich bereits bestens ausmalen konnte, wen dieser Lackaffe am anderen Ende der Supralichtleitung tatsächlich sprechen wollte. Und Issa wäre davon alles andere als begeistert, so viel stand jetzt schon fest. Ihr Hass auf die Raumflotte war legendär. »Also?«, begann Gath Cheplan dennoch ganz unvoreingenommen. »Sie haben uns erfolgreich aus dem Schlaf geklingelt. Zunächst einmal: Mit wem genau habe ich denn die Ehre und darüber hinaus: Wiegestalt kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Zwei berechtigte Fragen, fand nicht nur Gath. Er sah dem Flottenmilitär offen entgegen. Gleich – wenn Issa erst einmal richtig wach sein würde – würde hier ein wahrer Höllensturm losbrechen.

»Hier spricht Lieutenant Commander Xay T. Borrus, militärischer Planungsstab der ehrwürdigen Raumflotte von Axarabor ...«

»Jetzt erlaubt sich sogar schon ein simpler Lieutenant Commander so etwas. Ach was«, murmelte Gath, aber Borrus sprach, von der Provokation anscheinend ungerührt, weiter.

» … Könnten Sie bitte Professorin Issa Cheplan vor die Projektionslinse holen?« Seine Stimme verriet seine Herkunft aus den Randgebieten, grob eingegrenzt, wie Gath bei sich erwog, die Sektoren um H'rhanorath oder auch Birincraly; sie klang makellos souverän, unterschwellig herrisch und dennoch so offen wie die eines freiheitlichen Sternentramps. Ein aufgesetztes Lächeln erschien wie durch Geisterhand auf Borrus' Raubvogel-Gesicht. »Ich wäre Ihnen überaus verbunden, Sir, sollten Sie meiner Bitte umgehend nachkommen, denn wir haben einen äußerst dringenden Notfall.« »

»Ach – tatsächlich? Na, einen nicht dringenden Notfall will ich auch erst mal sehen, Lieutenant Commander.«

»Ganz gewiss würde ich Sie nicht ohne triftigen Grund zu dieser späten Stunden behelligen.« Borrus' fadenscheiniges Lächeln verschwand nicht – zumindest nicht sogleich. Gath wurde unbehaglich zumute, mehr als ohnehin schon, wie er es sich doch insgeheim eingestehen musste. Hier war etwas im Busch, entschied er, und für seine andauernde Begriffsstutzigkeit hätte er sich am liebsten Ohrfeigen können, aber auch dies verkniff er sich.

Kurzum wandte er sich im Bett liegend um und seiner neben ihm halb schlafenden Gemahlin zu. Issa Cheplan schien zu dem zweifelhaften Schluss gelangt zu sein, dass maximales Stillhalten und eine minimale Atemtätigkeit sie in dem Fall schon aus dem Allergröbsten heraushalten würde – natürlich ein unweigerlicher Trugschluss, aber soweit war sie noch nicht im Bilde. Noch überwog der hehre Wunsch.

Gath rief laut und deutlich: »Issa, Schatz!« Und dann wurde sein zuvor schon dröhnendes Timbres noch eine Spur einschneidender. »Es ist irgendein feiner Pinkel von der Scheißraumflotte mit irgendeinem verfluchten Notfall für dich!« Gath zumindest war zufrieden mit sich. Wenn schon nicht mit der Welt, denn er wollte einzig und allein seinen gesunden Schlaf zurück, aber so doch mit sich selbst.

Anders Issa. Deren Gereiztheit stieg exponentiell. »Das ist doch nicht zu fassen! Was soll dieser Blödsinn denn?« Doch zugleich strampelte sie sich unter ihren Decken frei.

Gath polterte, Borrus' markantes wie schockgefrorenes Antlitz im Rücken: »Ja, das würde ich auch gerne wissen. Was verflucht hast du denn noch mit diesen Kriegstreibern zu schaffen? Was geht hier eigentlich vor?«

»Sag ihnen, ich bin ein für alle Mal ausgeschieden«, knurrte Issa.

»Ich denke doch, dass wissen sie, mein Schatz.«

Seine Frau wuchtete sich mit einer wenig eleganten, aber zielführenden Bewegung aus dem warmen Bett. Beinahe wäre ihr Busen unter ihrem zerschlissenen Universität von Neu-Caldoria-T-Shirt vorgesprungen.

Gath wurde im darauf folgenden Moment schlagartig ernsthaft. »Komm schon, Liebling, was verheimlichst du mir?«

»Was ist?«, krächzte Issa angewidert.

»Du hast mir geschworen, niemals mehr etwas mit diesen Verbrechern zu schaffen zu haben, schon vergessen?«

Und Issa sah ihn an. Genau genommen betrachtete sie ihn wie eine aufmerksame Passantin einen frisch entdeckten Haufen Hundekot mitten auf dem ansonsten blitzblank gefegten Gehsteig betrachtet. Ihre Stimme veränderte sich nun; sie wurde ruhiger, aber nun wirklich drohend. »Gath, du Idiot, ich habe seit über drei Standardjahren kein Wort mit einem dieser, wie du sagt … Verbrechern gewechselt, das weißt du ganz genau, also höre schon auf, mir etwas Gegenteiliges zu unterstellen, verstanden?« Sie hob kurz den Kopf, um Borrus visuell entgegenzutreten. »Guten Morgen, Lieutenant Commander.«

Borrus, scheinbar ein höflicher, integrer Mensch, sandte prompt ein verständigendes Kopfnicken an sie zurück. »Guten Morgen, Professorin – Ma'am. Tut mir aufrichtig leid, sollte ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten.«

»Schon gut, schon gut. Warten Sie noch eine Sekunde.«

»Aber natürlich.«

Sie drehte sich weg, schob die Decken nun vollständig beiseite und stand auf. Issa Mae Cheplan, eine durchtrainierte, asketische, drahtige, aber an den richtigen Stellen augenscheinlich üppige Frau von über sechzig Jahren. Neben ihrer angestammten Bettseite stehend, bemaß sie ihren Gemahl mit einem ihrer typischen strengen Blicke. Gath' Gesicht hatte etwas falkenartiges: schiefe Nase, tief in ihren Höhlen liegende Augen, die aber selbst (oder gerade jetzt) noch messerscharf blickten. Ganz klar, er war auf der Jagd und suchte nach einem wehrlosen Opfer – nur, dass er hier keins finden würde. Sein mittlerweile an etlichen Stellen ergrautes Haar stand in buschigen dichten Strähnen zu allen Seiten ab. Der Kerl sah aus wie ein verwirrter Oberschullehrer. Issa seufzte; eigentlich war es ein Stöhnen. Dieser alte, deppernde, auf der Leitung stehende, aufbrausende Trottel. Er begriff noch immer nichts. Darum sagte sie ihm, und wahrscheinlich schon zum tausendsten Mal in ihrem ausgeleierten Eheleben: »Liebling, mein törichter nichtsnutziger Ehemann, du weißt doch ganz genau: Einmal Raumflotte – immerzu Raumflotte.«

Gath, nicht wie von Issa erhofft, erwiderte tatsächlich: »Bei allen Sternennebeln, allen Anomalien, allen Sonnenexplosionen – wenn ich es irgendwann mitschneiden sollte, dass du mit diesen adretten und geschniegelt daherkommenden Aufschneidern ...« Ohne hinzusehen deutete er mit dem ausgestreckten zitternden Zeigefinger auf den weiterhin ruhig und wie erstarrt auf dem Schirm wartenden Lieutenant Commander. »... zusammenarbeitest oder sonst etwas mit ihnen zu schaffen hast, dann, ich schwöre dir, dann ...«

Ja, dann was? Jedenfalls brach dieser kleine Schreihals mitten im Satz wie von sich selbst ausgelaugt einfach ab.

Issa beäugte ihn misstrauisch. Dies alles war so dermaßen stillos. Fast war es ihr peinlich, aber auch nur fast. Sie hatte schlicht und ergreifend zu Vieles erlebt im Leben, Gutes, Schlechtes, Aufreibendes, vor allem aber Sensationelles, das einem die wahren Relativitäten im Leben immerzu vor Augen stehen ließ, um auf eine Scharade, wie sie ihr Mann aufzog, hereinzufallen.

Gath setzte sich nun ebenfalls auf, blieb aber im Bett. Was sollte er nun tun: im Boden versinken oder weiterhin hier herum wüten? Er wusste es selbst nicht, und das war grotesk.

Ein weiterer Grund für Issa, ihn zu ignorieren. Ihre vollen und sinnlichen Lippen pressten sich zu einem harten Strich zusammen, ein wirklich unheilverkündendes Zeichen, besonders Gath wusste es genau, und selbst Borrus via Holofunk machte sich dahingehend seine Gedanken.

»Ähm … äh ...«, ließ dieser sich nun vernehmen. »Also es tut mir außerordentlich Leid, Professorin, dass ich Sie und Ihren ...« Ein – was? etwa mitleidiger? Blick gen Gath, der noch immer im Bett hockte wie ein kindlicher Greis. » … Ehemann. Aber es ist so, wir haben ein in einem Asteroidenfeld havariertes Forschungsschiff. Es liegt in einem nur sehr schwierig zugänglichen Raumgebiet fest. Wir haben Sprechverbindung mit der verbliebenen Crew. Sie haben bei einem Unfall fünfundzwanzig Besatzungsmitglieder verloren. Das ist wirklich tragisch. Vermutlich handelt es sich bei der primären Ursache um einen imminenten Ventilbruch. Das atmosphärische Gasgemisch konnte in hohen Mengen in den Weltraum entweichen, Professorin. Dazu kam das komplette Versagen der meisten vorrangigen Warnungs- und Kontrollsysteme, praktisch der gesamten primären Schiffssteuerung. Ma'am, der Reaktor des Sternenantriebs musste infolge irreparabler Systemstörungen notabgeschaltet werden ...«

Issa war inzwischen etwas näher an das flimmernde Abbild des Sprechenden getreten. Ihre Hände hatten sich zu Fäusten geballt, so dass die Sehnen an ihren Handgelenken deutlich zu erkennen waren. Gath, nun mehr schweigsam, jedenfalls sah sie an. Als er nun wiederum zu Borrus starrte, erkannte er in den nur scheinbar völlig emotionslosen Augen des Flottenmannes tatsächlich eine metaphorische Ionenspur hinzugewonnener Emotionen: Mitgefühl, Anteilnahme gehörten unwiderruflich dazu.

Verdammte Scheiße, dies und Issas Reaktion, die gar nicht ihrem eigentlichen Naturell zu entsprechen scheint, nämlich die Reaktion eines leidenden Muttertiers … Das kann doch unmöglich wahr sein!

Wirklich Soénnes ambitionierter Forschungskreuzer? Es durfte einfach nicht sein, bitte nicht, Gott, Galaxis, oder wer oder was auch immer sich für all dies hier verantwortlich zeigte.

Es käme einem gefühlten Hochverrat eines am Ende doch hinterhältig und arglistig agierenden Schicksals, dem man doch eigentlich ein Leben lang blind vertraut hatte, gleich, aber so verhielt es sich bei Tragödien und Unglücksfällen doch praktisch immer. Ein Narr, der etwas anderes annahm.

… während Borrus weiterhin die bislang bekannten Informationen auf Flottenart schonungslos offen auf den Tisch brachte. »Sechsundfünfzig Frauen und Männer sind noch übrig und kämpfen im Weltraum um ihr nacktes Überleben. Abgesehen von den zahlreichen verstrahlten und kontaminierten Räumen haben sie zum restlichen Teil des Schiffes zutritt, was Ihnen die Sache zumindest etwas erleichtert.«

Issa Cheplan dachte an die Tiefe des endlosen Weltraum und schüttelte den Kopf. Noch hegte sie diese schwache Hoffnung, die sie zwar innerlich aushöhlte, ihr aber zugleich den Atem zum flüssigen Weitersprechen verlieh. Vielleicht doch nicht die LORNA O'GVAITH; komm schon, altes Mädchen, reiß dich zusammen! Issa hielt Borrus' stahlgraue Augen fixiert, als stellten sie gar keine Sinnesorgane dar, sondern ein Doppelanker zu einem lebenswichtigen Fundament, allseits umgeben von nichts als brodelnder, feuriger, lebensverneinender Abgeschiedenheit, die einfach kein Ende nahm.

Borrus sah tatsächlich kurz zur Seite; es schien zu viel für ihn.

Issa sagte endlich: »Aber die Adom-Hegemonie liegt doch nur einen stellaren Katzensprung weit entfernt, Lieutenant Commander. Oder New Esco. Das liegt doch praktisch gleich um die Ecke. Deren Spezialisten sind exzellent ausgebildet.« Sie schwieg kurz, sammelte sich für den nächsten Anlauf, um weiterzusprechen. »Warum gerade ich?«

Doch sie kannte die Antwort bereits; sie kannte sie schon längst. Weil es um ihr Kind ging, darum. Weil es um ihre Tochter ging. Um Soénne, die liebliche, unschuldige, taffe Soénne. Soénne, dessen Lieblingszitat eines längst toten Schriftstellers schon sehr früh gelautet hatte: › Die Jugend ist ein Blitzlicht. ‹ Verdammter Mist, dachte sich Issa Cheplan, das gesamte Leben ist ein Blitzlicht.

Lieutenant Commander Xay T. Borrus, ein Getriebener von Gewissenhaftigkeit, Zeitnot und ebenso schonungslosem Kalkül vergaß kurzum den ganzen eingetrichterten Blödsinn bezüglich emotions-basierter Herangehensweise, um in möglichst kurzer Zeit das ausgelobte Ziel, nämlich Inbesitznahme von Geist und summierter Befähigung, und schilderte die Lage, wie sie sich ihm eben darbot.

»Professorin, Ma'am, es tut mir leid, hätten wir eine andere Wahl, würden wir Sie sicherlich nicht kontaktieren.«

»Schluss mit den Mätzchen! Ist es die LORNA, oder nicht?«, schrie nun Gath dazwischen. »Handelt es sich bei dem havarierten Sternenschiff um die LORNA O'GVAITH, Lieutenant Commander?« Am Ende überschlug sich seine Stimme. Sie purzelte in Fragmente zerteilt mitten vor Issas nackte Füße, die nur fassungslos schweigend dastehen und ihren Mann anstarren konnte.

Borrus schwieg zunächst, es war den Eheleuten Cheplan schier unverständlich, unbegreiflich. Schließlich sah Issa von Gath zu Borrus und verlangte von ihm zu wissen: »Sie haben ihn gehört; mein Mann hat Ihnen, wie ich meine, eine berechtigte Frage gestellt.«

Und Borrus gab zu: »Ja. Selbstverständlich handelt es sich dabei um dieses Schiff. Aber so viele weitere Sachverhalte kennen wir dagegen nicht. Professorin Cheplan, ich will nicht mit Ihnen herumstreiten, oder diskutieren, oder sonst wiegestalt Zeit verlieren. Und mit Ihnen auch nicht, Mister Cheplan.« Er sah wieder zu Issa. »Das, was vor über drei Standardjahren geschehen ist, spielt nun keine Bedeutung mehr. Oder was Sie uns vorwerfen. Oder was Sie – Mister – von uns halten mögen. All dies muss jetzt ohne Belang sein.« Issa setzte sich langsam auf die Bettkante von Gath' Seite.

Borrus fuhr unbeirrt fort: »Von nun an gibt es ein neues, gemeinsames Ziel, haben Sie mich verstanden?«

»Verstanden«, flüsterte Issa.

»Gut. Die gegenwärtige Situation an Bord der O'GVAITH stellt sich meiner Kenntnis nach wie folgt dar: Bei dem Unfall wurde die Kapitänin getötet. Das Kommando ist demnach auf den Ersten Offizier übergegangen, einen was man hört fähigen X'Collerianer namens Ecbal Suop-Trichtias.«

Erneutes Schweigen – weil Issa Cheplan all ihre Selbstbeherrschung sammeln musste, um nicht laut los zu brüllen, und Gath nicht wissen konnte, weshalb seine Frau jetzt so reagierte, und weil Borrus durchaus ein Mann mit einem, wenn auch mäßigen Taktgefühl zu sein schien, allen Unkenrufe über kaltherzige und gewissenlose › Flottenschweine ‹ zum Trotz.

Letztlich sagte der Lieutenant Commander: »Ich nehme an, Sie wissen, was das bedeutet?«

Natürlich. Ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber ehemaligen Schutzbefohlenen regte sich, ebenso ihr Pflichtgefühl. Ihr menschlicher Beschützerinstinkt und die panische Angst davor, ihr eigen Fleisch und Blut zu verlieren, hatten sich ja längst geregt. Die meisten Menschen wissen, wie es sich anfühlt; die meisten, aber beileibe nicht alle.

»Einen Commander Ecbal Suop-Trichtias, der an der medizinischen Fakultät der Universität Neu Caldoria Ihr Student war, und zwar in der interdisziplinären Fachrichtung der Umweltmedizin.«

einer meiner besten, begabtesten und hoffnungsvollsten Studenten , korrigierte sie ihn in Gedanken, oder – besser noch: vervollständigte sie Borrus' ohnehin schon detailliertes Hintergrundwissen. Die ganze Geschichte allerdings, beschwor Issa es in ihren geheimsten Gedanken, wussten selbst die Chargen der Raumflotte nicht – Gott sei Dank nicht.

Wieder solch ein Blickduell zwischen den beiden Protagonisten dieser Szene mitten im Schlafzimmer der Eheleute Cheplan. Klingelt etwas bei Ihnen? fragte Borrus' stechender Augenkontakt über so viele Lichtjahre hinweg. Natürlich, schließlich bin ich keiner Ihrer bürokratischen Totalausfälle, sandte sie ihm mit ihrem langen Blick zurück. Ich erinnere mich an jeden meiner ehemaligen Studenten – und erst recht und ganz besonders an den jungen wilden charmanten und leidenschaftlichen Draufgänger von X'Colleria. Und dann: Was haben Sie noch an Wissen auf Lager, Borrus, Sie überkandidelter Flottenprimus? Ich bin willens und fähig, um zu bewerkstelligen, was Sie von mir verlangen, um diese beide Menschen aus ihrer brandgefährlichen Lage am Rande der Unendlichkeit zu befreien.

Schien Xay Borrus ihre Gedanken zu erraten? »Vor annähernd zwei Jahren hat Commander Suop-Trichtias einen nahezu komplett ausgearbeiteten Einsatzplan für, Ma'am, ich zitiere: ›das Aufrechterhalten der Funktionsfähigkeit aller, ich wiederhole, aller überlebenswichtigen Parameter in einem havarierten Sternenkreuzer der Klassen 1 bis 5 ‹ an die Unterdirektionen des Quadranten versandt.«

Gath sah man mittlerweile deutlich an, dass er, trotz der seelischen Schmerzen, die er offenkundig litt, allmählich abschaltete. Issa registrierte es nur beiläufig und sagte zu Borrus: »Ich erinnere mich dunkel und schemenhaft, dass er noch zu Studierendenzeiten ...«

Doch Borrus, jetzt ganz der befehlsgewohnte Flottenmann, ließ sie nicht aussprechen, sondern fuhr ungerührt fort: »Ich weiß, er hat dieses Ansinnen bereits in einem Ihrer letzten Kurse vor Ihrem Ausscheiden aus dem Universitätsbetrieb als Studienprojekt angefertigt, ausgearbeitet und abschließend eingereicht.« Nur ganz kurz gestattete sich Borrus, der ernsten Lage zum Trotz, ein lindes Lächeln, das ihm zugegebenermaßen nur recht unterkühlt gelang. »Sie können stolz auf ihn und Ihre eigene Fertigkeiten als Dozentin sein, Professorin: Suop-Trichtias' Plan findet nämlich jetzt an Bord der LORNA O'GVAITH seine berechtigte, durch nichts zu beanstandende Anwendung.«

Issa Cheplan starrte das Holobild an. Ihr ehemaliger Student und Liebhaber führte das Kommando? Er führte das Kommando! So war es schon besser. Also gab es noch Hoffnung. Hoffnung für Soénne und für alle anderen an Bord des verunglückten Raumschiffes, vor allem aber für Soénne.

Sie atmete hörbar durch. »In Ordnung – abgesehen davon, dass sich meine Tochter an Bord der LORNA O'GVAITH befindet und einer meiner früheren Schüler nun das Kommando innehat … was, mit Verlaub, soll ich jetzt dabei, Lieutenant Commander?«

Sie hatte es längst geahnt. Hier ging es noch um etwas ganz anderes, als der bloßen Unterrichtung dringend in Kenntnis zu setzenden Eltern.

»Suop-Trichtias vermeldet, dass ihnen in etwa acht Tage verbleiben, ehe sie die Notfallatmungsgeräte anlegen und den Druck im Schiff senken müssen, um aufgrund der enorm unterschiedlichen Druckverhältnisse nicht von Innen heraus zu detonieren. Sie bis zu diesem Zeitpunkt da herauszuholen, wird unseren Bergungstrupps höchst wahrscheinlich nicht möglich sein. Unser Rettungs-Basisschiff, die NUNEZ STORIA, lag vor Vandor und geht bereits jetzt dicht an der Unglücksstelle in eine stabile stationäre Position. Das auf so etwas spezialisierte Rettungsteam auf Nagomi ist bereits beim Verladen, um in den Quadranten herüberzusetzen.«

»Das ist gut, Lieutenant Commander.« Die Anspannung ließ sie kaum noch die Kiefermuskeln bewegen. Sie klang, als hätte sie sich einen gewaltigen Wattebausch in die Mundhöhle gestopft.

Borrus straffte sich merklich. »Offen gestanden, Professorin, wir möchten von Ihnen, dass Sie die optimierte Abstimmung der Lebenserhaltungssysteme entsprechend des von Ihrem Ex-Schülers seinerzeit ausbaldowerten Plans überwachen.«

»Gut. Natürlich werde ich das tun. Vielen Dank, dass Sie mich einbeziehen, Lieutenant Commander Borrus.«

»Admiral Caidkin ist der überzeugten Auffassung, dass Sie und Suop-Trichtias mit großem Abstand am meisten von der Materie verstehen, da Sie ja bekanntlich bereits an der Universität daran gearbeitet haben.«

Issa versuchte mit ein paar spontan ausgeführten Kopfbewegungen ihre verspannte Nackenmuskulatur aufzulockern. »Ein nur allzu logischer Gedankengang, Sir. Ich hoffe inständig, dass die Hoffnung, die man in den Commander und mich selbst dahingehend setzt, auch ihre unumstößliche Bestätigung findet.«

»Oh, das hoffe ich ebenso. Jeder hier tut es.«

Sie glaubte ihm kein Wort und dachte an Curv Caidkin, der Mann war ein alter Intimfeind aus Flottentagen. Dieses Drecksschwein hatte Soénne seinerzeit zum Weltraummilitär gelotst, wenn nicht gar mit falschen Versprechungen geködert. »Wenn ich zur O'GVAITH komme – zu meinem einzigen Kind, Lieutenant Commander –, dann nicht nur, um Suop-Trichtias Berechnungen aus dem Sternenschiff zu kontrollieren und abzusegnen. Wenn ich komme, gehöre ich zum Rettungsteam. Ich werde an allen Diskussionen und Beschlüssen über jedwede Vorgangsweise teilnehmen. Ich werde ein maßgeblicher Teil der Mission sein, Admiral. Ich fordere das Recht ein, bei jeder Kommunikation mit dem Sternenkreuzer dabei zu sein.«

Borrus seufzte vernehmlich. »Galaxis – Sie sind Soénne Cheplans Mutter! Sechsundfünfzig Raumfahrer befinden sich dort draußen eingeschlossen hinter meterdicken, hermetisch abgeriegelten Stahlschotts! Sie haben dieses Projekt damals abgesegnet – Ecbal Suop-Trichtias in allen Belangen vortreffliche Abschlussarbeit. Die Rettungsmannschaft und die Abgeordneten im Gewählten Rat, die uns Flottenleuten derart hart im Nacken sitzen … die Angehörigen der Eingeschlossenen … sie alle wollen nur Sie, Ma'am! Ich selbst weiß am Besten, was es bedeuten würde, all diese Leute zu verlieren! Falls Sie eine Möglichkeit auftun sollten, die überlebende Besatzung da herauszukriegen …« Er schnappte nach Luft – warum? War er wütend oder einfach nur erschöpft? Mutmaßlich beides, wie Issa argwöhnte. »Verdammt, Ma'am, es sei Ihnen versichert, falls es eine Möglichkeit gibt, dann, glauben Sie mir, wird man auch auf Sie hören!«

»Sicher, sicher«, sagte Issa eilends und dahinter stand nur ein Gedanke: Dies will ich verflucht noch eins auch hoffen! Gut verständlich sagte sie: »Nun, Lieutenant Commander, dieses Mal kommt demnach also wirklich alles zusammen, ist es nicht richtig?«

Zuerst schwieg er dazu, irgendetwas schien er bei sich zu erwägen. Er hielt es von Issa fern, das spürte sie, vermutlich ginge es um irgendein Staatsgeheimnis, und damit entspräche Borrus wiederum genau jenem symbolhaften und unsympathischen Erscheinungsbild eines Offiziers, das Issa seinerzeit dazu bewogen hatte, diesem ganzen Flottenzirkus ein für alle mal den Rücken zu kehren.

Ein für alle mal … Am liebsten hätte sie laut aufgelacht. Und jetzt war es ausgerechnet ihre Tochter, ihr einziges Kind, das sie dazu brachte, sich diesem › Zirkus ‹ aus Gehorsam, Unterdrückung und ungeheurem Leistungsdruck erneut anzuschließen, allerdings für nur, wie sie hoffte, einen begrenzten Zeitraum, nämlich bis Soénne wieder in Sicherheit wäre.

Borrus sagte: »Nun, wir sind gerade dabei, einen Teil des bevorstehenden Rettungseinsatzes von Quantuseth-4 aus in die Wege zu leiten. Wenn Sie sich bis acht Uhr in der Früh Ihrer gegenwärtigen Planetenzeit dort einfinden könnten, wird Sie einer unserer dort stationierten Heli-Jets der Raumwacht hinaus bringen. Die COYOCHIA liegt am nördlichen Rand des kontinentalen Festlandsockeln, nur etwas südöstlich gelegen von Manikor.«

Der Flottenstützpunkt auf Quantuseth-4, einem sehr nahen Mond, Issa war bestens im Bilde. Er lag an einem unbewohnten, weil unwirtlichen Küstenabschnitt des Njuk-Kwaioranischen Archipels, ziemlich abgelegen von allem, was nichts von einem solch aufgedunsenen militärischen Reigen wie dem nimmermüden Armeisenhügel einer Flottenbasis mitbekommen sollte, gut verborgen unter dem Deckmantel der chronischen Geheimniskrämerei, wie es sich für einen guten Stützpunkt eben gehörte.

»Die COYOCHIA«, sagte Issa, um das Wort einmal im Mund zu schmecken. »So heißt mein Schiff?«

»Die TAMÁZ COYOCHIA, ganz recht, Ma'am. Sie wissen schon, benannt nach dem Bomberpiloten, der in Abwesenheit die Ehrenmedaille vom Gewählten Hochadmiral erhalten hat, weil er ...«

Issa nickte, ein Nicken, das nichts anderes als ein höfliches, aber konsequentes Abwürgen Borrus' darstellte. Natürlich wusste sie in der Tat, wer dieser Tamáz Coyochia gewesen war. Dieser Teufelskerl hatte seinerzeit sämtliche im Wrack eines havarierten Sternenschiffes festsitzende Besatzungsmitglieder sicher und wohlbehalten in ein bereit stehendes Bergungsschiff verbracht, und dies mithilfe der ersten Generation eines speziell für diesen Zweck konzipierten Rettungsanzugs. Leider hatte er selbst dabei den Tod gefunden; sein Körper war in die Weiten des Weltraums getrudelt, um niemals wieder aufzutauchen.

Die Havarie der Lorna O'Gvaith: Die Raumflotte von Axarabor - Band 213

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