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1 Auf See

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Breite = 54° 39' Süd, Länge = 63° 37' West

Tag: 100

Rau. Heute ist sie rau, die See. Eine überlegene Macht, die sich am Boot reibt und ihre Kraft spüren lässt. Draußen wogt das ewige dunkle Grau und blaustichige Grün, die Regentropfen sprenkeln die Scheiben mit den archaischen Mustern eines Naturvolks. Der Niederschlag ist in der Nacht stärker geworden, jetzt steht er konstant. Eine dunkle Wolke, die gekommen ist, um bei mir zu bleiben. Der Wind rüttelt an den Segeln. 7 bis 8 Beaufort aus Südwest. Ich komme gut voran, 6 bis 8 Knoten Fahrt, das wird ein gutes Etmal heute, um die 130 Seemeilen.

Manöver: Großsegel trimmen, Klüver reffen.

Luftdruck 995 hPa, fallend. Kate taucht ihren Bug ins Wasser und kommt unbeeindruckt sofort wieder hoch. Die See wogt unter dem Boot wie eine Unendlichkeit von schiefen Ebenen. Unser Universum ist lebendig, formt und formiert sich ständig neu. Wir gleiten darüber hinweg, haben längst verstanden, wie sinnlos es ist, nach Halt zu suchen.

Kein Wunder, wo bin ich denn unterwegs?

Kap Hoorn liegt voraus, das geht mir seit Tagen durch den Kopf. Ich muss aufpassen, dass ich nicht auf Grund laufe oder in den mächtigen Seen kentere. Oder dass mich der West einfach in den Atlantik zurückbläst wie eine Nussschale und sagt: Geh woanders spielen, Kleiner!

Beim Aufwachen in der dunklen Kajüte versichere ich mich mit einem Blick auf die Borduhr, dass schon Morgen ist. Die Gefahr von Eisbergen. Ich sollte besser Nachtwachen halten, polyphasisch schlafen wie Leonardo da Vinci, 20 Minuten alle 4 Stunden, mehr REM-Schlaf im reduzierten Gesamtschlaf.

Ich winde mich aus der behütenden Nahbarkeit der Koje und mache den Kontrollgang. Wenn ich morgens nach dem Aufstehen Lust habe aufzuräumen, also Ordnung in die unbelebte Materie zu bringen – Kleidung, Möbel, Geschirr –, dann stellt sich wenig später auch meine Lust auf belebte Materie wieder ein, also die Kraft, um weiterzuleben.

Schalte alle Lampen an Deck ein. Gehe in die Plicht und kontrolliere den Kurs. Öffne die Fenster, wo kein Wasser eindringen kann, steuerbords und achtern. Der Wind reißt an ihnen, will mit ihnen seinen Rhythmus trommeln, sie fest auf- und zuschlagen. Ich fixiere die Fensterflügel mit silberfarbenen Teleskophaken im Rahmen und höre, wie der Wind durch die ihm nun viel zu schmale Öffnung zischt. Als ich die kalte Luft an meiner nackten Brust spüre, schließe ich die Fenster und setze die Heizung auf halbe Kraft.

In diesem Moment rollt eine Welle über das Vorschiff und bricht sich an den Scheiben. Am Himmel zeichnet ein Vogel ein Unendlichkeitszeichen. Anderswo würde man ihn für eine Krähe halten. Aber das muss ein Albatros sein, so große Flügel, dass er am Boden kaum laufen kann.

Ich fühle mich geborgen und sicher. Kate wird mich auch durch diese schweren Seen tragen.

Ich habe das Boot von einer alten Fischerfamilie übernommen und mehr als ein Jahr lang vorbereitet. Ausgebessert, verfeinert, das hölzerne Deck abgeschliffen, den Rumpf neu gestrichen. Als ich sie dann in der Marina auf der Elbe vor mir sah … Als ich ihre schlanke Silhouette sah, das weiße Großsegel, den frechen blauen Klüver und die Genua in British Racing Green … Da wusste ich, wie sie heißen musste. »Hiermit taufe ich dich auf den Namen Kate Moss«, sagte ich. Und ließ eine Flasche Edinburgh Seaside Gin und Fever Tree Tonic an ihrem hölzernen Rumpf zerschellen.

Die Inneneinrichtung, viel Holz und Radierungen mit norddeutschen Küstenszenen, habe ich belassen, wie sie war. Ich finde es angenehm, wenn nicht jedes Ding etwas mit mir zu tun hat, wenn mich nicht alles direkt anspricht und an etwas erinnert und Interaktion fordert. Die Neutralität der Wohnumgebung ist wie eine weiße Leinwand, auf der die erlebte Gegenwart präsenter wird.

Ich selbst besitze nur einen Schreibtischstuhl, eine Kaffeemühle (die ich mit verbundenen Augen auseinander- und wieder zusammenbauen kann wie Commander James Bond seine Beretta) und einen Seesack voller Bücher. Alles andere ist unnötiger Ballast. Mit einem leichten Lebensboot manövriert es sich besser.

Dann habe ich den Proviant aufgefüllt. Genug Nudeln, Kaffee (Arabica-Bohnen, 32 Minuten geröstet), Weißwein, Champagner (für jeden 10. Längengrad), Crémant (für die 5er dazwischen), Tomatensaft (für meine tägliche Virgin Mary), Zitronen und Zwiebeln für die Vitamine. Und Schokolade. Nur Salz ist nicht so wichtig, davon bekomme ich auf jeden Fall genug …

Ich liebe es, groß einzukaufen und den Proviant dann zu verbrauchen und zu sehen, wie er allmählich weniger wird, wie er im Laufe meiner Manöver dahinschmilzt. Ich öffne die äußere Sammelverpackung der Dinge und stapele sie in die Schränke, Schubladen und Fächer an Bord. Klopapierrollen, doppellagig, Tempotaschentücher in klassischen Zehnerpacks, Bierflaschen zu 0,33 Liter, Parmigiano Reggiano in 250-Gramm-Portionen verschweißt. Ich möchte von allem mehr als genug haben und das in herrlich handhabbaren Einheiten.

Ich habe meine Arche an meine Bedürfnisse angepasst, Kate Moss und ich, ein perfekt aufeinander abgestimmtes Paar. Schließlich haben wir beide dasselbe Baujahr, 1974.

Seit 100 Tagen bin ich jetzt auf See.

Von Hamburg nach Hamburg.

Allein nonstop um die Welt.

Kurs Südsüdwest – an den drei großen Kaps vorbei: Kap Hoorn, Kap Leeuwin, Kap der Guten Hoffnung.

Gegen den Wind.

Vor dem Wind gesegelt bin ich nur selten in meinem Leben, habe immer schon zum Kreuzen geneigt.

Ich wusste, dass der Moment, der den Aufbruch zu dieser langen, einsamen Reise ermöglicht hat, kommen würde. Der Moment, in dem ich es an Land nicht mehr ausgehalten habe. Der Moment, in dem mir mein Kontinent zu klein geworden ist. Der Moment, in dem ich begann, meine Mitmenschen als Tiere zu sehen: der Dachdecker, der übers Vordach huscht und sein Käsebrötchen mümmelt wie ein Eichhörnchen; die Nachbarn, die mit ihren Rechen auf der Wiese stehen wie Rinder; das Kleinkind, das wie ein Kaninchen über den Gehweg hoppelt.

Landrattenleben eben.

Für mich: kein Leben.

Ich hatte auf mich gehofft. Gehofft, dass ich den Mut haben würde, trotz des lächerlich schmerzhaften letzten Blicks zurück, in See zu stechen.

Und jetzt bin ich hier, an der brodelndsten Stelle des Südatlantiks. Die Seen schäumen am Steven, die Ideen in meinem Kopf.

6. Dezember. Das Hinschreiben des Datums ist die erste Herausforderung und Selbstvergewisserung.

Heute ist Nikolaustag. Die Menschen an Land feiern ihre Gemeinschaft. Eltern zeigen ihren Kindern mit aufmerksam ausgewählten Geschenken, dass sie sie lieben. Arbeitgeber versuchen, ihren Angestellten gegenüber mit einem Schokoladennikolaus und einer Mandarine, die morgens auf deren Schreibtisch liegen und einen Gesamtwert von 1,50 Euro haben, einen ähnlichen Eindruck zu erwecken. Work-Wife-, Work-Husband-, Work-Parents-and-Children-Gefühle, die Rute bleibt erst mal im Sack.

Ich werde mir keine Kleinigkeit schenken, auch heute nicht.

Ich habe mir eine Großartigkeit geschenkt.

Ein Säuger nähert sich bugseits. Er kreist seihend um mein Boot, viel Grünzeug hier. Dann legt sich das Tier in Lee auf den Rücken. Ab und zu hebt es den Kopf aus dem Wasser und blickt zu mir hinauf. Ich beobachte es mit dem Glas und schaue in seine nachtblauen Augen: Hallo, Wesen!

Es weiß, dass es sich Zeit lassen kann. Im Vergleich zu ihm bin ich die lahmste Ente und noch länger in der Gegend. Ich wünsche ihm einen guten Fang. Doch das Tier will nichts mit mir zu tun haben, es hat eine schöne Strömung gefunden und zieht sich zurück. Ein Wellenkamm und ich sehe noch seinen Kopf, zwei Wellenkämme und es ist wieder verschwunden.

Der Südwest ist stärker geworden. Der Windmesser zeigt 9 Beaufort. Solide 6-Meter-Dünung. Böenwetter. Beweg-dich-Wetter.

Manöver: Großsegel reffen, den Klüver bergen und das Try und die Sturmfock setzen.

So viel zu tun an Bord, ich komme kaum zum Nichtstun und zum Segeln-Genießen …

Eine Morsenachricht trifft ein. Ah ja, ich sehe, von wem sie stammt. Die Lektüre hebe ich mir für später auf und verlängere die Vorfreude auf einen gesellschaftlichen Höhepunkt in meinem Leben.

Ich liebe die Rauheit dieser Tage.

Die Gischt, den Gegenwind, die Gnadenlosigkeit, mit der mir die Natur begegnet.

Rau, wie die schönsten Stimmen.

Rau, wie die ernste Seite der Feile.

Rau, wie das Rough beim Golf, wenn das Spiel stockt und du nicht einfach weitermachen kannst wie geplant. Erst wenn du im Spiel der Naturgewalten auf dich allein gestellt bist, merkst du, was du wirklich kannst.

Einhandsegeln stellt die höchsten Ansprüche. Ans Material und an den Segler, der segeln können muss wie im Schlaf und als Kind auf dem Wasser aufgewachsen ist. Aber es gibt auch die, die zur Weltumrundung aufbrechen, ohne jemals zuvor gesegelt zu sein. Die Dinge, die du nicht lernen kannst, sondern die zu lernen bedeutet, sie zu tun. Denn noch wichtiger als deine fachliche und körperliche Eignung ist deine psychische Disposition: Wir Einhandsegler verbringen Wochen, Monate, manchmal gar Jahre allein auf See. Wir berühren, umarmen, küssen, schmecken, riechen keinen anderen Menschen. Wir sehen andere unserer Art nur, wenn wir zufällig einem Handelsschiff begegnen und Besatzungsmitglieder uns von der Reling aus zuwinken. Land kennen wir nur noch aus der Ferne, das Rollen und Stampfen unseres Bootes ist uns zum festen Boden geworden. Als Einhand-Weltumsegler solltest du dich selbst kennen, also denjenigen, mit dem du so lange auf engstem Raum unterwegs bist. Vor dem, was du noch nicht kennst, darfst du keine Angst haben. Denn die einzige Flucht vor dir selbst auf See ist eine ohne Wiederkehr.

Einhandsegler bilden einen Orden der Individualisten, die sich zusammentun würden, wenn sie das Zusammentun nicht so sehr verachteten. Die nicht groß miteinander schnacken, sondern sich auf See aus sicherer Entfernung ihre Kurse zumorsen und sich eine weiterhin gute Alleinreise wünschen. Männer und Frauen, die sich unter den Menschen beengt und einsam fühlen und die diesem Gefühl nur in der völligen Isolation der Weltmeere entkommen können. In der Isolation, die dich so intensiv mit dir selbst verbindet.

Vor allem in Zeiten, in denen sie noch intakt war.

Ich rede von denen, die sich nicht rund um die Uhr mit Social Media, Chats und Satellitentelefonaten bedudelt haben. Die keine Schleppnetznabelschnur in den Heimathafen hatten. Die sich nicht jederzeit in den Strom des Geschehenden einklinken konnten. Fern aller Ströme, körperlich und als Redner, Zuhörer, Denker abgeschnitten vom Rest der Welt, waren sie ihr eigenes Weltgeschehen. Hörten ein Jahr lang nur See, Wind, das Blasen der Meeressäuger und Vogelschreie.

An menschlichen Lauten kamen ihnen nur ihre Körpergeräusche und Selbstgespräche zu Ohren.

Sie hörten ein Jahr lang die Stimmen ihrer Liebsten nicht, nicht die von Frau und Kind, und wenn sie es doch taten und diese Stimmen auf mitgebrachten Tonbandkassetten in einer ruhigen dunklen Minute in der Kajüte abspielten, dann schossen ihnen die Tränen wie Sturzseen durchs Gesicht. Nur ab und an, wenn sie an den Küsten von Kontinenten und Inseln oder in der Nähe von Frachtschiffen in Funkreichweite kamen, wechselten sie ein paar Worte mit den diensthabenden Funkern. Und gaben ihnen Nachrichten nach Hause durch – oder katapultierten sie mit Steinschleudern auf das andere Schiff: »Nach schweren Tagen auf See bei schönem Südost glücklich hinter Hoorn. Vermisse Euch! In Liebe, C.«

Diese Nachrichten wurden dann an die Liebsten telegrafiert. Antwort: ungewiss.

Wie die höchsten Berge ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen werden müssen, sollten Weltumsegelungen nur ohne Internet zählen, ohne künstlichen sozialen Sauerstoff.

Ich rede von den ruhigen Rastlosgeistern, deren neugierige Lust auf sich selbst immer schon größer gewesen ist als ihre Einsamkeitsstrapazenangst. Von denen, die die Gefahr, an Land zu bleiben, höher einschätzten als Schiffbruch vor Kap Hoorn. Zu unflüssig ist so ein Landrattenleben, zu gewiss führt das Rennen auf direktem Wege von der Wiege zur Biege.

Die Angst, als der falsche Mensch zu leben.

Wir stehen an der Küste und blicken auf die Weite des Ozeans. Wo andere Menschen den Horizont sehen, erkennen wir das Versprechen auf ein anderes Leben im Ungewissen. Deshalb gehen wir in dem Moment, in dem wir genug Mut gefasst haben und fürchten müssen, ihn bald wieder zu verlieren, an Bord unseres Segelbootes. Wir lösen die Leinen, um den Horizont zu befragen und sein Versprechen eingelöst zu sehen. Wir setzen einen Kurs in die ausgedehnteste irdische Einsamkeit hinein, in der unsere eigene Einsamkeit winzig klein erscheint. Von Bord gehen wir frühestens dann, wenn wir den Ort unserer Abfahrt wieder erreicht haben.

Und dann …

Und dann …

Dann ist mir die Welt zu klein geworden.

Haushohe Wellen am Beginn der Drake Passage, die Bewegung meines Lebens ist das Heben und Senken von Kate Moss’ Bug.

Eine Gang von Fregattvögeln checkt uns ab. Ich hebe meine Hände hoch und ergebe mich. Mehr als ein paar Croissantkrümel ist bei mir nicht zu holen …

Steuerbords liegt die Isla de Los Estados, diese unbewohnte schroffe waldreiche Trauminsel. Von tiefen Buchten gekerbt, sehen ihre Konturen auf dem Globus aus wie die Unterschrift von Gottes kleinem, linkshändigem Bruder. Dem Kreativen, der mit der strengen Weltanordnung nicht einverstanden war. Durchs Glas sehe ich einige ihrer Gipfel. Das saftige Grün der Baumkronen scheint gegen meine Scheibe zu schlagen, zum Greifen nah. Dort tagelang umherstreifen, mit Zelt und Schlafsack …

Als ich allein an einem Strand lief, fast wie Robinson: Ein müheloses, leichtes Gehen war das. Die Steine unter meinen Füßen wurden unregelmäßiger in Form, Größe und Trittfestigkeit. Viel Arbeit für die Fußsprunggelenke, das Gehen von Schritt zu Schritt schwieriger. Vor mir umgestürzte Bäume, die von der Steilküste bis in die Brandung ragten. Ich lief auf Barrieren zu, die unüberwindlich erschienen. Zumindest aus der Entfernung. Wenn ich mich der Barriere näherte und ihre genaue Struktur sichtbar wurde, dann ging es doch. Dann erkannte ich zwar nicht den kompletten Weg hindurch, aber Pforten im Labyrinth. Unter manchen Baumstämmen musste ich mich hindurchbücken, über andere musste ich hinwegklettern. Mal musste ich ein Stück am sandigen Ufer hochsteigen und wieder hinunter, so weit den Strand hinaus, dass ich mir nasse Füße holte. Wenn die Barriere schließlich hinter mir lag, sah sie wieder genauso unüberwindbar aus wie zuvor und ich wusste nicht mehr, wie ich sie überwunden hatte.

Ist es nicht mit allen Hindernissen so?

Francis Chichester hatte Krebs und nach Meinung seiner Ärzte nur noch wenige Monate zu leben.

Was machte Francis? Sag es mir.

Er stach mit fast 65 Jahren in See und segelte von Plymouth aus allein um die Welt.

Von einer Nation, die weiß, was es heißt, ein seafaring man zu sein, wurde er dafür als Held gefeiert. Große Parade im Rolls-Royce durch London. Von der jungen Königin im weißen Kostüm, Elizabeth, zum Ritter geschlagen mit dem Schwert von Sir Francis Drake, dem ersten Briten, der – nicht allein, sondern mit seiner Mannschaft – die Welt umsegelte.

Dann, 1968, die erste Nonstop-Einhandsegelregatta. Neun Männer nehmen teil. Nur einer von ihnen kehrt mit seinem Boot nach England zurück, doch sie alle erreichen ihr Ziel. Zwei von ihnen finde ich besonders bemerkenswert. Der eine ist Donald …

Großvater?

Großvater, hörst du mich?

Großvater, erzähl mir noch einmal eine Geschichte. Vom Meer und der weiten Welt. Und wenn die Geschichte wieder von der Kriegsmarine handelt, mit der du zur See gefahren bist … Und wenn du wieder anfängst zu weinen, wenn du mir deine Kriegsmarineseefahrergeschichte erzählst … Und wenn …, dann ist es gut so. Bitte, Großvater, ich möchte deine Stimme hören. Einmal noch. Was weißt du vom Einhandsegeln? Du hattest doch auch ein Boot, ein Faltboot, verstaut im Keller. Ganz früher bist du es unter Segeln gefahren. Auf der offenen See? Wir haben zu wenig darüber gesprochen, als du noch gelebt hast …

Ich muss gegen die Reling des Balkons schlagen, sodass sich die Schallwellen im Wasser ausbreiten, das habe ich bei Flipper gelernt. Das ist die Sprache, die nicht nur Delfine verstehen.

Großvater, erzählst du mir die Geschichte von Donald?

Großvater, hörst du mich …?

Ja …?

»Mein Enkel, mein Seefahrerenkel! Du vernimmst meine Stimme aus der Tiefe des Meeres mit Poseidons Kredit, da du so ein tüchtiger Segler bist.«

Großvater! Ich lege mich in die Koje und höre dir zu.

»Ich will dir von Donald erzählen, vom Einhandsegler Donald Crowhurst. Donalds Geschichte fing nicht gut an. Bei der Taufe seines Trimarans benötigte seine Frau drei Versuche, bis die Flasche am Rumpf zerbrach. Als er sich ohne Segelerfahrung beim Rennen um die Welt einschrieb, setzte er alles auf eine Karte: Er war existenzbedrohend hoch verschuldet, das Preisgeld sollte ihn von seinen Sorgen befreien und seiner Familie eine Zukunft geben. Die Teilnahme hatte er mithilfe eines Sponsors finanziert, dem er die investierte Summe im Falle des Scheiterns zurückzahlen musste. Ohne das Risiko zu suchen, hatte Donald Crowhurst ein beachtliches Risiko aufgebaut.

Als Donald von der englischen Küste ablegte, fühlte er sich bereits erschöpft. Das Segel war defekt, noch im Hafen musste er umkehren und noch einmal neu starten. Stell dir die Bilder vor, mein Enkel, von seiner Frau und seinen Kindern, wie sie sein Boot und ihn, in Anzug, Krawatte und Overall, am Horizont verschwinden sehen.

Bald merkte Donald, dass sein Boot nicht seetüchtig war. Schon im Nordatlantik lief es mit Wasser voll. Spätestens in den Brüllenden Vierzigern, der schweren See der hohen südlichen Breiten, wäre er untergegangen. Donald wusste, dass eine Fortsetzung seines Kurses Richtung Kap der Guten Hoffnung Selbstmord bedeutet hätte. Mit einer vorzeitigen Rückkehr hätte er jedoch sich und seine Familie finanziell ruiniert. Wir haben es hier mit einem echten Dilemma zu tun. Hüte dich vor solchen, mein Enkel.

In dieser Ausweglosigkeit in beide Richtungen entschied sich Donald Crowhurst für eine dritte Möglichkeit. Es gab damals noch kein GPS und keine nahezu lückenlose Überwachung der Weltmeere. Donald übermittelte per Funk Koordinaten, als würde er die Erde souverän in östlicher Richtung umrunden, während er sich in Wahrheit im Westen hielt und an der südamerikanischen Küste entlangschipperte.

An Bord herrschte eine Mischung aus Apathie, Realitätsverleugnung und wissenschaftlich-kreativer Betriebsamkeit. Denn Donald musste die Logbücher mit Koordinaten, Wind-, Strömungs-, Wetter- und Sternenstandsangaben fälschen. Beim Funken durfte er sich nie exakt anpeilen lassen und sich nicht mit einer unaufmerksamen Bemerkung verraten. Das alles war intellektuell weitaus aufwändiger als ein echtes Einhandseglerleben. Donald machte seine Sache gut, auf seinem imaginären Kurs begann er, Rekorde zu brechen. 243 Seemeilen an einem Tag, ein Etmal für die Ewigkeit.

So verbummelte Donald einige Monate, während er für die Weltöffentlichkeit beim Rennen in Führung lag. Als die anderen Teilnehmer, aus dem Pazifik kommend, Kap Hoorn passiert hatten, gliederte er sich wieder in die Regatta ein und segelte zurück in Richtung England. Wie im Märchen vom Hasen und dem Igel. Donalds Plan war es allerdings, Zweiter zu werden. Das erschien ihm ein perfekter Kompromiss: eine ehrenvolle Platzierung ohne die maximale Aufmerksamkeit, die dem Sieger zuteilwird. Er ahnte, dass er bei einer Prüfung seiner Logbücher auffliegen würde. So lief das Rennen für ihn in trockenen Tüchern. Doch dann …«

Was, Großvater, was ist dann passiert?

»Dann geschah etwas, das wohl nur Poseidon erklären kann: Ohne vorher Probleme mit seinem Boot gehabt zu haben, sank der vor Donald in Führung liegende Segler – und wurde gerettet. Als Donald über Funk erfuhr, dass nun er auf dem ersten Platz lag und die Regatta gewinnen würde, brachen für ihn gleich zwei Welten zusammen – die echte und seine imaginäre.

Während in seinem Heimathafen schon die Kaimauern geschmückt und Plakate aufgestellt wurden für den bald berühmtesten Segler der Welt, stellte Donald Crowhurst auf seinem Trimaran alle Bemühungen ein. Er barg die Segel und ließ sich vor kahlem Mast abdriften. Als ein Frachtschiff später sein Boot in der Sargasso-See sichtete, war Donald nicht mehr an Bord. In der Kajüte fand man zwei Logbücher: eines mit seinem imaginären Gewinnerkurs und ein weiteres, in dem er seine echte Verzweiflung aufgezeichnet hatte. Bis zu dem Moment, in dem er ins Wasser gegangen war.

Mein Junge! Bei diesen Worten ist Poseidon aufgewacht. Er ruft mich zurück, denn er ist nicht gerne allein in seinem Palast.«

Danke, Großvater! Es ist so schön, deine Stimme zu hören. Kommst du mich bald wieder besuchen …?

Ich hatte heute genug Leben an Deck und bleibe in der Backbordkoje liegen, nachdem mein Erzähler verstummt ist.

Heftiger Südwest. Er drückt gegen die Bootswand, gegen die Kajüte, gegen mein Bett. An die Dünung unter mir habe ich mich längst gewöhnt. Die Wellen hier in den hohen Breiten haben, von keinerlei Kontinentalmasse gebremst, manchmal so große Amplituden, dass ich den massiven Seegang kaum bemerke. Aber die Präsenz des Windes ist jetzt stark, als läge ich mitten in ihm, nackt. Ich wickle die Daunendecke eng um meinen Körper, forme unten mit den Füßen einen Sack, in den ich sie stecke, weil meine Zehen kalt sind.

Es ist so gemütlich, hier unten trocken und warm an große Geschichten zu denken und zu lesen, während draußen der Atlantik rumort und schwere Schwälle über Luv gießt. Ich mache mir noch ein kleines Bier auf und nehme das Tagebuch des Einhandseglers Fritz J. Raddatz zur Hand. Es ist der zweite, todesschwangere Band, der von lauter Havaristen handelt; tagsüber geht es nicht, ich kann das nur nachts lesen. Nach wenigen Seiten schlafe ich mit dem schweren Buch auf der Brust ein …

Im Morgengrauen muss ich raus, der Wind hat auf West gedreht, ich halse.

Die Luft ist herrlich kalt geworden. Klar und frisch, sie sticht leicht in der Nase. Ich habe eine Gänsehaut auf den Armen. Ich ziehe Wollsocken und den Pullover an, dichtes, doppelt gestricktes Kaschmir, von meinem Großvater geerbt.

Ich spüre die Nähe der Antarktis. Kap Hoorn kommt bald und regt mich innerlich auf. Ich habe keine Zeit für andere Dinge und Gedanken. Alles dauert mir zu lange. Sogar das Essen. Ich esse das Käsebrötchen mit der linken Hand im Stehen, während ich mit rechts den Klüver setze, der West auf 6 Beaufort anschwillt und ich vor Tatenfreude mit dem Fuß in die Gischt trete, weil mir die Arbeit der Hände nicht reicht.

Es war einmal ein Außerirdischer. Er war unter den Menschen aufgewachsen, sah aus wie einer und niemand hatte ihm gesagt, dass er keiner von ihnen sei. Er hatte sich das Geschehen auf der Erde eine Zeit lang angesehen, es eingeordnet, sich in alle Richtungen orientiert und war aufgrund eigener Überlegungen zu dem Schluss gekommen, dass er von einem anderen Planeten stammte.

Er passte sich dem Verhalten der Ureinwohner seines Gastplaneten weiterhin an, um nicht unangenehm aufzufallen. Jedoch gab er nie die Hoffnung auf, dass eines Tages ein Raumschiff seines Heimatplaneten auf der Erde landen würde, um die Erde nach den eigenen Regeln zu kolonisieren oder – was wahrscheinlicher war, denn auch er war ein friedliebender »Mensch« – ihn wieder mit nach Hause zu nehmen.

Das Einzige, was er so lange hier unten tun konnte, so hatte er herausgefunden, war zu arbeiten und sein Schicksal zu vergessen. Denn es gab nichts anderes außer Arbeit.

Das heißt, es gab zwei Alternativen, die aber weitaus schwieriger zu realisieren und dazu noch selten waren, weil dafür persönliche Disposition und äußere Bedingungen stimmen mussten: professionell zu spielen oder als Jäger und Sammler ein Auskommen zu finden.

Arbeiten hingegen konnte der Außerirdische wie jeder andere. Zwar nicht auf einem Raumschiff, aber dafür hatten die Menschen ein anderes durch Raum und Zeit gleitendes Fortbewegungsmittel erfunden.

Seitdem ich dieses Rennen angenommen habe, eingesehen habe, auf welchem Kurs ich mich befinde, sind mir die Tage viel zu kurz geworden. Sie vergehen so schnell, dass mir kaum Zeit bleibt, die an Bord anfallenden Arbeiten zu erledigen. Jeder Tag ist ein Wettlauf gegen die Sonne, die schneller aufgeht, im Zenit steht und wieder untergeht, als ich mit dem Sextanten hinterherkomme.

So will ich zwischen 16 und 17 Uhr Bordzeit Kaffee trinken und Kuchen essen. Aber dann ist es ganz schnell 17.30 Uhr, und bis ich den Kaffee gekocht und getrunken habe, ist es kurz vor 19 Uhr.

Arbeiten gegen die Uhr.

Leben zwischen den Zeigern.

Dann an den Kartentisch.

Konkret werden.

Logbuch schreiben.

Stoff wird Gewissheit.

Kurs wird Text.

Was niemandes Ohren hören, wird auch nicht abgelenkt.

An Land ist es so: Du sagst etwas und fürchtest, dass das Gesagte in die falsche Richtung geht. Dass es eine Wirkung entfaltet, die du nicht beabsichtigt hast, eine für dich und für andere nachteilige Wirkung. Auf See geschriebene Worte, aufgeschriebene Worte sind gezügelte Worte. Sie verändern ihre Richtung, so wie ich es will. Worte, mit denen ich gegen den Wind kreuze.

Wenn ich mich an die Niederschrift setze, schreibe ich immer mehr auf als den Gedanken, den Satz, den ich im Kopf hatte und der den Aufschreibimpuls ausgelöst hat.

So auch bei der Morsenachricht von einer alten Freundin auf dem europäischen Festland. Eine der Freundinnen, die ich nicht mehr sehe, sondern der ich nur noch schreibe. Von der einen in die andere Einsamkeit hinein.

Sie schreibt mir, dass sie sich oft an etwas erinnere, das ich übers Schreiben gesagt habe, vor zwei Jahrzehnten: dass das Geschriebene für mich so sei wie Häuser und Hotels beim Monopoly zu bauen – innerer Reichtum, den mir niemand nehmen könne.

Ich setze mich hin, um das im Logbuch zu notieren, weil ich mich nicht erinnern kann, es gesagt zu haben. Und schreibe dann weiter: Wie unsere Worte, Ideen in anderen gespeichert werden und fortleben, wenn sie von uns längst wieder vergessen und verloren sind. Eine Flaschenpost im fremden Synapsenmeer.

Ich morse meiner alten Freundin zurück und frage sie, ob sie schon daran gedacht hat, ein Logbuch zu führen. Denn das kannst du auch an Land tun. Alles, was du dafür brauchst, ist ein Stift und ein leeres Buch. Alles, was dich daraus anblickt, lebt.

Buchstaben: Was du aus den 26 Dingern so alles machen kannst. Mehr Möglichkeiten, als es Atome im Universum gibt. Die Besatzung eines Schlachtschiffs, ein Team diskreter Bodyguards, eine Armada von Rettungsschwimmern, die dich vor dem Untergehen bewahren.

Lass es dir gesagt sein von einem überlebenden Textbrüchigen.

Ich sitze zwischen Kleiderschrank und Kommode an dem kleinen Eck-Schreibtisch, der im 90-Grad-Winkel der Wände die Gedanken so schön auf den Füllfederhalter und die ecrufarbenen Seiten konzentriert. Wie eine Reuse für flüchtige Ideenfische. Sammeln, bis sich dein Ozean gefüllt hat. Irgendwann ist die Textmenge so groß, dass sie aus sich selbst heraus Wirbel, Strömungen und Fortsetzungen erzeugt.

Ich blättere zurück und halte mich an den Zeilen in königsblauer Tinte fest. Wie viele Tage bin ich jetzt schon auf See? Diese Gleichförmigkeit meines sich selbst erzeugenden Stundenplans …

Habe ich mein Bett heute schon gemacht und die Tagesdecke, das Bettzeug komplett bedeckend, am Kopfende festgesteckt und am Fußende locker drapiert? Oder war das gestern und ich muss mein Bett heute noch machen? Ich weiß nicht mehr, ob ich den Datumsangaben in meinem Logbuch glauben kann. Habe ich ein paar Tage verschlafen, verlebt oder verdacht?

Ich ziehe das Ölzeug an und gehe an Deck. Harter Regen von vorn, starker West, um die 10 Beaufort. Ich reffe das Groß durch und trimme die Sturmfock ganz flach, versuche, das Boot an den Wind zu stellen, um die Position am 67. Längengrad zu halten. Vielleicht gelingen mir mit Wenden sogar ein paar Meilen West.

Kap Hoorn, ich kann die Felsen des Ufers nicht sehen, zu dicht sind die Regenwände, Blue Out. Meine Berechnungen zeigen, dass die Hoorn-Insel exakt in Nord liegen muss.

Allein ums gefährlichste Kap der Welt.

Ahoi!

Das muss begossen werden, mit dem Weißburgunder, Großes Gewächs, ausgebaut im Eichenfass. Ich stoße mit Kate an, sie, der Atlantik und der Pazifik bekommen auch einen Schluck.

Mitten in der Drake Passage überrasche ich mich selbst, mit dem Ruder als Fackel in der Hand.

Der andere besonders bemerkenswerte Mann im Einhand-Rennen um die Welt war Bernard Moitessier. Moi-tessier, er trägt das Ich schon im Namen und hat allein auf See sein eigenes Universum gefunden.

Während Donald Crowhurst von dem Biest Einsamkeit verschlungen wurde, hat Moitessier das Biest so dressiert, dass es ihm aus der Hand gefressen hat. Wie das richtige Leben fängt richtiges Segeln mit dem richtigen Denken an. Auch Moitessier beendete das Rennen nicht. Hinter Kap Hoorn bog er nicht in Richtung Europa ab, sondern segelte weiter nach Osten – in die Südsee und bis nach Tahiti: »The rules inside me had changed.«

So etwas sagst du in vollendeter Vergangenheit.

Du darfst nichts ankündigen, du musst es einfach tun und mit vollbrachten Taten überraschen.

Er fühlte sich »krank werden bei der Vorstellung, nach Europa zurückkehren zu müssen«, schrieb er in sein Logbuch. Er konnte »die falschen Götter des Westens nicht mehr ertragen«.

Er führte »Klage gegen die Moderne Welt. Sie ist das Monstrum. Sie zerstört unsere Erde, sie tritt die Seele der Menschen mit Füßen.«

Auf dem Meer jedoch fühlte er, Moi-tessier, sich in Harmonie mit sich selbst: »Ich weiß zu genau, wohin meine Reise geht, selbst wenn ich es nicht weiß. Wie sollten sie das begreifen können? Dennoch ist es ganz einfach, aber es lässt sich nicht mit Worten erklären.«

Natürlich lässt du an Land auch etwas zurück.

Zweisamkeit, ich habe sie in ihrer schönsten Form gekannt.

Sie saßen auf braunen Pferden, als ich draußen mein Fahrrad reparierte.

»Sie spielen hier Golf, sie spielen hier Tennis«, sagte der Junge, »und was spielst du?«

Ich? Ich spiele mit mir selbst.

Das Mädchen auf dem Pferd kniff die Augen unter dem Pony zusammen. Sie war eine Sirene, von den tiefen grünen Augen mit den langen Wimpern über die festen Schenkel in den Reithosen, die den Sattel umschlossen, bis zu den dunkelroten Haaren, die offen auf ihren Rücken fielen. Ihr Pferd muss das Fabelwesen Hippokamp gewesen sein.

Sie, die Ältere, war nun immer dabei, wenn ich den Jungen traf.

Eines Abends würde sie mich anfunken und sagen: »Ich möchte dich sehen.«

Hat er denn auch Zeit?, würde ich fragen.

»Ich rede nicht von ihm«, würde sie antworten, »ich rede von uns beiden.«

Zusammen einschlafen, perfekt zu- und ineinanderpassend wie zwei Legosteine. Ein einzelner Legostein geht zwar im Meer nicht unter. Er schwimmt oben. Aber er weiß nicht, ob bei seiner Rückkehr der andere Stein immer noch so gut zu ihm passen wird. Oder ob er jemals wieder einen so gut zu ihm passenden Legostein finden wird.

Ein Albatros gesellt sich zu mir.

Ich spüre den unruhigen Wunsch, zugleich ungestört und nicht einsam zu sein.

Allein.

Ein Einzelgänger, kein Außenseiter.

Der Wind dreht auf Nordwest, ich komme wieder voran, 5 Knoten. Schwarze Himmelsbrocken im Westen, das Südpolarmeer bittet zum eisigen Tanz.

Als sich die Sonne für einen Moment hervorwagt, werfe ich einen Blick auf die Tudor, ihre Sekunde schleicht auch nach Monaten noch genau. Ich mache das Mittagsbesteck und setze einen Kurs.

Kap Hoorn achteraus, aber der größte Teil des Weges liegt noch vor mir.

Bis zum Horizont: nichts als raue See.

Einhandsegeln

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