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Im Schwesternzimmer blinkte aufgeregt das Lämpchen von Zimmer 4. In Zimmer 4 lag seit fast einem halben Jahr der Komapatient Professor Schellberg mit den amputierten Beinen. Ungläubig setzte Schwester Manuela ihre Kaffeetasse auf den Tisch. Sollte er...?

Sie stand auf und nahm vorsichtshalber ihren Piepser mit. Ihre Haare zum Pferdeschwanz gebunden, wippten, als sie im Laufschritt zu Zimmer 4 lief. Routinemäßig klopfte sie an der Tür und öffnete sie einen Spalt. Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie Johann aufrecht im Bett sitzen sah. Sie drückte automatisch den Knopf auf ihrem Piepser. Der Stationsarzt wurde dadurch alarmiert.

„Dr. Schellberg? Hallo? Wie geht es ihnen?“

In Windeseile war sie an sein Bett geeilt und hielt ihn an der Schulter fest. Empört sah er sie an.

„Wo bin ich? Wie komme ich hierher? Was ist mit meinen Beinen passiert? Was soll das mit den Schläuchen?“

Manuela drückte ihn sanft zurück in die liegende Position.

„Lehnen Sie sich bitte wieder zurück. Der Doktor kommt sofort. Bitte bleiben Sie ruhig liegen.“

Sie stellte an einem seitlich angebrachten Hebel die Lehne so hoch, dass sich Johann in einer bequemen halbsitzenden Stellung anlehnen konnte. Hinter ihr kam der Diensthabende Arzt Dr. Orter zur Tür herein.

„Na, das ist ja mal eine Überraschung. Herr Dr. Schellberg. Sie sind wach, das freut uns sehr, nicht wahr Manuela?“

Dr. Orter machte sich sogleich an eine Untersuchung von Johann. Doch Johann hatte anderes im Sinn als sich einer neurologischen Untersuchung zu unterziehen. Er wollte schleunigst die lästigen Schläuche loswerden. Gleichzeitig war ihm an einer Aufklärung über die Umstände gelegen, die ihn in diese Lage gebracht haben. In den letzten Minuten dämmerte ihm langsam, dass er wohl eine längere Zwangspause genommen hatte. Er musste unbedingt alles über sich erfahren. Abwechselnd musterte er den Arzt und die Schwester.

„Dr. Orter, hätten Sie bitte die Güte und befreien mich von diesen Infusionsschläuchen und vor allem diesem Katheder. Das ist sehr ...unangenehm.“

„Natürlich, Schwester Manuela...“

„Ähh, also ich...“

„Herr Dr. Schellberg, Schwester Manuela macht so etwas nicht zum ersten Mal. Haben Sie nur Vertrauen.“

Schwester Manuela hatte inzwischen einen Rolltisch herangefahren auf dem alles Notwendige bereit lag. Die Prozedur dauerte nur wenige Minuten. Dr. Orter erklärte sich bereit mit Johann in die Cafeteria zu fahren und mit ihm etwas zu trinken. Dabei konnte er ihm das Unglück, welches zum Verlust seiner Beine führte, näher erörtern. Johann durfte nur Wasser trinken. Geschockt reagierte er auf die Nachricht, sechs Monate im Koma gelegen zu haben.

„Sechs Monate! Ich habe sechs Monate im Koma gelegen? Mein Gott. Und meine Beine. Wer hat mir meine Beine abgeschnitten? Ich muss alles darüber wissen. Jetzt gleich sofort. Los fangen Sie schon an!“

„Warten Sie doch ab, ich erzähle ihnen alles was ich über ihren Unfall weiß.

Also, Sie arbeiteten in ihrem Institut in Tübingen und an jenem Unglückstag gab es einen terroristischen Überfall auf Sie und ihre Mitarbeiter. Es waren international operierende Wirtschaftsterroristen. Sie wurden dabei mehrmals angeschossen. In die Arme und die Beine. Die Narben an ihren Armen sind die Andenken daran. Man konnte Sie in allerletzter Sekunde retten. Das Gebäude wurde mit dem Brandbeschleuniger von schätzungsweise 5000 Liter flüssigem Brennstoff regelrecht eingeäschert. Die Feuerwehr war völlig machtlos. Soweit bekannt wurde, gab es außer ihnen keine Überlebenden. Das Inventar und Laboreinrichtung waren nur noch Asche. Bedauerlicherweise natürlich auch die gesamte Forschung. ...Tut mir leid für Sie.

Sie hatten bei dem Anschlag sehr viel Blut verloren. Man verlegte Sie umgehend hierher ans Klinikum Würzburg. Bedingt durch den Blutverlust und die schweren Gewebeverletzungen blieb den Ärzten nichts anderes übrig, als die zerfetzten Gliedmaßen zu amputieren.“

„Alles vernichtet? Meine gesamte Arbeit? Ein Terrorakt? Ich versteh das nicht.“

„An was können Sie sich den erinnern? Wo waren Sie, als man auf Sie geschossen hatte?“

„Ich habe momentan keine Ahnung. Die Erinnerung daran fehlt mir vollständig. Vielleicht fällt mir ja in ein paar Tagen etwas ein.“

„Unter Umständen kann ihnen ihre Freundin weiterhelfen. Sie wird bald kommen. Sie besucht Sie fast täglich. Ihr kleiner Sohn wird Sie bestimmt auf andere Gedanken bringen, glauben Sie mir.“

„Mein Sohn?“

Johann blieb der Mund offen stehen. Sein Sohn? Wie sollte er zu einem Sohn kommen? Eine Freundin hatte er auch noch. Was war alles geschehen? Johann hatte keine Erinnerung. Nichts. Ja, das Institut und die Forschung, das wusste er alles noch. Aber die Geschehnisse vor dem Unfall waren wie weggeblasen.

„Dr. Schellberg? Alles in Ordnung?“

„Ja, ja, ich habe nur nachgedacht. Es ist alles so weit weg. Ich werde eine Zeit lang nachdenken müssen. Ich danke ihnen. Bringen sie mich jetzt bitte in mein Zimmer zurück. Wann kann ich entlassen werden? Spricht etwas dagegen, wenn ich sie mich bevorzugt behandeln, damit ich so rasch als möglich wieder arbeiten kann?“

„Nein, prinzipiell keineswegs. Ihre Verletzungen sind weitgehend ausgeheilt. Aber ohne gründliche Neurologische Untersuchungen und eine mehrwöchige Rehabilitation kann ich sie nicht gehen lassen. Ich würde ihnen aber dringend dazu raten, anschließend noch ein paar Tage länger zu bleiben. Sie sollten auch nicht unterschätzen, dass sich ihre Muskulatur durch das monatelange Liegen stark zurückgebildet hat. Das wird Sie am Anfang sehr viel Kraft kosten. Ein paar Aufbauübungen mit unseren Physiotherapeuten können da Wunder bewirken. Aber überlegen Sie es sich. Es hat keine Eile. “

Johann blickte nach unten auf seine Beinstümpfe. Sie ragten unbedeckt unter seinem Krankenhausnachthemd hervor.

„Wenn Sie möchten, dass wir Sie noch auf ihr Leben mit dieser Behinderung vorbereiten, sind wir gerne bereit dazu. Es wird leichter für Sie werden als Sie denken. Später, wenn sich ihre Muskulatur komplett erholt und regeneriert hat, sind auch Vollprothesen möglich. Sie könnten damit fast so laufen wie ein Gesunder. Dementsprechendes Training vorausgesetzt.“

„Das wäre vielleicht gar nicht so schlecht. Aber Sie müssen wissen, ich habe viel zu tun. Ein neues sehr wichtiges Forschungsprojekt wartet bereits auf mich. Ich habe sechs wichtige Monate meines Lebens verloren.“

Nun war Dr. Orter einigermaßen irritiert. Der Mann war vor einer halben Stunde aus einem halbjährigen Koma aufgewacht, wusste praktisch nichts mehr über den Vorfall, der in diese Lage gebracht hatte und sprach von einer wichtigen Forschungsarbeit die er schnell anpacken wollte! Es war doch angebracht einige ausführliche Tests mit ihm durchzuführen. Er hatte vermutlich doch einige Schädigungen seines Geisteszustandes hinnehmen müssen. Dr. Orter beschloss seine Einschätzung mit dem Oberarzt zu besprechen. Johann verabschiedete sich und versuchte mit seinen dünnen Armen ohne Erfolg den Rollstuhl vorwärts zu bewegen. Dr. Orter sah ihm besorgt dabei zu. Nachdenklich schob er ihn in seine Zimmer. Professor Schellberg war in bestimmten Kreisen sehr bekannt und geachtet. Nicht auszudenken, wenn so eine Kapazität der Wissenschaft dauerhaft verloren ginge.

Johann vermisste seine Beine. Plötzlich nicht mehr gehen zu können, war eine grausame Erfahrung. So hilflos an das Bett gefesselt zu sein. Dazu war sein eigenes Institut abgebrannt und dem Erdboden gleichgemacht. Alles war vernichtet. Mit 5000 Litern an Brennstoff. Wer war so verrückt und hatte das getan? Seine ganze jahrelange und höchst erfolgreiche Arbeit umsonst. Er war, soweit konnte er sich noch erinnern, auf gutem Weg gewesen. Seufzend und unter größter Anstrengung mühte er sich unter Beihilfe von Dr. Orter vom Rollstuhl wieder in sein Bett. Erschöpft brachte er sich in eine liegende Position. Der Arzt hatte Recht: Seine Kraft in den Armen war bedeutungslos. Sie reichte kaum aus um sich wieder in das Bett zu ziehen. Johann seufzte und schloss die Augen. Kurz darauf schlief er ein.

Johann hörte Stimmen und wachte auf. Eine der Stimmen davon, war ihm völlig unbekannt. Sie hatte keinen menschlichen Klang. Ein hohes Quieken ähnlich einem Katzengeschrei. Eine Katze hier im Krankenhaus? Hatte jemand eine Katze mitgebracht? Er blinzelte, um unbemerkt etwas sehen zu können.

Eine junge Frau stand neben seinem Bett. Sie hatte eine Art menschliche Puppe auf dem Arm. Die Puppe bewegte sich heftig. Die Frau hatte große Mühe, die mit den Armen und Beinen heftig zappelnde Puppe festzuhalten. Er vernahm ihre Stimme die beruhigend auf die Puppe einredete. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor.

Johann öffnete die Augen.

„Johann! Du bist tatsächlich wach! Wie geht es dir? Erkennst du mich?“

Karin setzte sich auf den Bettrand. Sie lächelte in freundlich an. Die Puppe auf ihrem Arm lächelte ebenfalls.

„Schau mal, wen ich hier dabei habe, Johann. Kommt er dir bekannt vor? Das ist Winston. Schau, er kann es kaum erwarten zu dir zu kommen. Er hat immer mit dir gespielt während du im Koma warst.“

Karin setzte Winston auf seinen Schoß und der Kleine krabbelte augenblicklich los, in Richtung seines Gesichtes. Er gluckste und quietschte dabei vor Vergnügen. Johann hob die Hände, damit Winston nicht herunterfallen konnte. Winston streckte ein Händchen aus und patschte damit in Johanns Gesicht. In Johann öffneten sich die Erinnerungen. Immer klarer wurden Namen, Bilder und Zusammenhänge in seinem Gedächtnis. Winston war ihr Star gewesen. Er war mit Karin und Bernhard im Institut gewesen. Er hatte ihnen die Forschung gezeigt. Karin hatte Winston herausgenommen. Am Abend hatten sie du dritt noch endlos lange diskutiert. Aber dann war der Film vorerst zu Ende. Johann betrachtete ausgiebig den Winzling der mit seinen kleinen Händchen versuchte, die große Nase von Johann zu greifen. Johann genoss das Gefühl von diesem wunderbaren künstlich geschaffenen Wesen berührt zu werden. Er riskierte einen vorsichtigen Blick zu Karin.

„Na, was sagst du? Er mag dich. Wir haben dich sehr oft besucht, weißt du.“

Sie nahm die dürre Hand von Johann. Mit der anderen streichelte sie über seine Wangen. Deutlich spürte Sie die Knochen darunter.

„Gott sei Dank, bist du wieder aufgewacht. Weißt du eigentlich wer ich bin?“

Johann hatte plötzlich Tränen in den Augen. Sehr genau war da die Erinnerung an Karin, wie Sie im Babysaal gestanden hatte und hemmungslos geweint hatte. Damit hatte alles angefangen. Winston hatte es inzwischen geschafft und sich seiner Nase bemächtigt. Er drückte und zerrte daran herum. Mit seiner Piepsstimme begleitete er lautstark seine Erkundung.

„Karin. Ich kann es noch nicht begreifen. Wie ist das alles passiert? Woher hast du denn unseren Winston? Du musst mir alles erzählen. Mir fehlt eine ganze Menge. Eigentlich fast alles.“

„Natürlich, ich werde es dir alles haarklein erzählen, Johann. Der Arzt sagt, wenn du darauf bestehst, darfst du schon bald nach Hause gehen. Entschuldige...“

„Ist schon in Ordnung, ich werde mich wohl oder übel daran gewöhnen müssen nicht mehr gehen zu können. Wo wohnst du denn und was hast du seither gemacht?“

„Ich wohne mit Winston hier in Würzburg. Wir haben ein nettes Haus gemietet. Alles andere ist eine lange Geschichte, Johann. Am Besten, ich erzähle es dir wenn du zu Hause bist. Dein Freund Bernhard Hollmann wird sich auch sehr freuen, dass du wieder wach bist. Er hat mir sehr geholfen. Du kannst übrigens gerne bei mir wohnen, solltest du nicht zurück zu deiner Mutter wollen.“

„Ach ja, meine Mutter. Kennst du Sie?“

„Ja, Sie war erschüttert als man ihr das Unglück mitteilte.“

„Karin ich muss zurück in die Universität. Ich muss unbedingt weiterarbeiten. Ich habe unendlich viel zu tun.“

„Du wirst doch nicht dieses Irrsinnsprojekt weiterführen wollen? Sag, dass das nicht wahr ist! Außerdem gibt es jemand der gar nicht erfreut sein wird über deine Genesung…“

„Klaus Timmen!“

„Du hast es erfasst. Er wird dich augenblicklich umbringen lassen, sollte er erfahren, dass du diese Forschung fortführen willst. Johann überleg dir das!“

Karin hatte den letzten Satz sehr leise, fast unhörbar ausgesprochen.

„Ach, das glaube ich nicht. Er hätte doch genug Gelegenheit gehabt, während ich im Koma lag. Aber nein. Nein, keine Angst, ich werde das Projekt natürlich nicht weiterverfolgen. Das ist vorbei. Diese Forschung muss unter offiziellem Dach erfolgen und nicht unter der Knute einer Privatgesellschaft. Aber lassen wir das lieber. Ich glaube es ist besser sich nicht mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Dr. Orter hat mir schon alles Wichtige darüber erzählt. Ich will nach vorne schauen.

Ich werde ein neues Projekt verfolgen. Mir sind nämlich, während ich im Koma war, verschiedene andere Zusammenhänge klar geworden. Ich will sie wissenschaftlich beweisen und erklären. Ich muss meine Vermutungen nachweisen.“

„Und wo willst du denn diese Forschungen betreiben?“

„Na, hier in Würzburg. Robert Welger, der Dekan hatte mir eine Professur versprochen. Ich werde hier in Würzburg eine neue Forschung aufbauen.“

Karin sagte nichts darauf. Über die internen Angelegenheiten der Universität wusste sie nicht Bescheid. Sie hatte in den letzten Monaten Abstand von den Vorfällen genommen und sich voll und ganz auf Winston konzentriert. Karin wollte ihm eine gute Mutter sein. Sie hoffte darauf, Johann würde sich um die bestehenden Anomalien von Winston kümmern. Seine Existenz konnte schließlich den Behörden nicht länger verheimlicht werden. Es war schwer genug gewesen ihre eigene Existenz nachzuweisen. Ohne Bernhard wäre ihr das nie und nimmer gelungen. Er hatte bezeugt, sie bei dem Unfall gerettet zu haben und dass alles ein großes Missverständnis gewesen war. Auf diese Weise konnte sie wieder ihre Papiere bekommen. Aber Winston war noch immer ohne jeglichen Nachweis.

Sie nahm den kleinen Kerl von Johanns Brust. Johann hatte die ganze Zeit über größte Mühe damit gehabt, Winston von seiner Nase fern zu halten. Sie hatte es dem Kleinen angetan. Hin und wieder hatte Winston die Augen geöffnet. Johann war erschrocken als er die winzigen roten Augen hinter den Lidern zu sehen bekam.

Karin bändigte gekonnt den quirligen und puppenhaft wirkenden Winston. Sie steckte ihm einen selbstgebauten Schnuller in den Mund. Zufrieden nuckelte er daran. Sie verabschiedete sich von Johann und versprach am nächsten Tag wieder zu kommen.

Kaum war Karin mit Winston verschwunden, klopfte es an der Tür. Seine Mutter erschien im Türspalt.

„Johann! Mein Junge! Gott sei Dank. Du hast es geschafft. Wenn das dein Vater wüsste!“

Johann war total überrascht. Er konnte sich nicht erinnern, ob seine Mutter in den letzten Jahren gelächelt hatte. Seine Mutter zog sich aus der Ecke energisch einen Stuhl heran und setzte sich neben sein Bett. Aufmerksam beobachtete sie ihn.

„Mein Gott, Johann du bist so mager geworden. Hoffentlich erholst du dich bald. Ich freue mich schon darauf, wenn wir sonntags zusammen wieder Tee trinken können. Hast du Schmerzen? Brauchst du etwas? Kannst du dich an alles erinnern. Du kannst es mir ruhig erzählen. Man erfährt ja gar nichts. Das ist doch seltsam, findest du nicht? Johann, hörst du mir zu?“

„Ja, Mutter ich höre dir zu.“

„Weißt du, das mit deinen Beinen ist schon sehr schrecklich.“

Johann betrachtete seine Mutter aufmerksam. Sie war alt geworden. Neben ihm saß eine Frau an der die Jahre deutliche Spuren hinterlassen haben. Vor allem ihre stark ergrauten Haare, die Sie nun straff zusammengebunden hatte, verstärkten das Bild einer älteren Frau. Johann wusste in diesem Moment gar nicht wie alt seine Mutter eigentlich war. Aber es hatte sich nur ihr Äußeres verändert. Ihre schroffe, abweisende und kühle Art hatte Sie nicht abgelegt. Johann überlegte, ob Sie noch arbeitete oder bereits pensioniert war. Er entschied sich gegen die Pensionierung, weil die Arbeit der einzige Lebensinhalt seiner Mutter war. Sie wäre ob der Frage bestimmt beleidigt gewesen.

Trotz der Bedenken von Dr. Orter, hatte Johann darauf bestanden die Klinik so bald als möglich zu verlassen. Auch wenn die drei Wochen Reha geradeso genügten um seine Muskulatur soweit aufzubauen, dass er die notwendigsten Dinge ohne fremde Hilfe verrichten konnte.

Karin holte Johann wie versprochen ab. Sie hatte ihm sogar etwas Neues zum Anziehen gekauft. Ein Großteil seiner Kleidung war mitsamt seinem Hausrat verbrannt. Johann besaß deshalb kaum mehr persönliche Sachen. Während der letzten Tage im Krankenhaus hatte er diese Tatsache weitgehend verdrängt. Doch als er nun im Auto sass, wurde es ihm so richtig bewusst, was es bedeutete, seiner Habseligkeiten beraubt zu werden. Schweigend fuhren sie durch Würzburg. Er hatte nichts mehr. Seine Arbeit war restlos vernichtet. Das war eine sehr, sehr bittere Erkenntnis.

Als Dank für seine erfolgreiche Forschung hatte er einen Rollstuhl und Krücken bekommen. Das war kein gerechter Lohn für sein emsiges Streben.

Am nächsten Morgen, fuhr ihn Karin zur Universität. Johann war fassungslos, als er im Vorzimmer des Dekans erfuhr, dass Robert Welger nicht mehr an der Universität war. Er hatte kurz nach dem Brand des Instituts in Tübingen, die Universität auf eigenen Wunsch verlassen. Seine Sekretärin konnte Johann nur die Gerüchte erzählen, nachdem Welger in die Privatwirtschaft gewechselt war. Der neue Dekan der Mikrobiologie nahm sich freundlicherweise die Zeit für eine ausgiebige Unterredung mit Johann. Sie kannten sich beide nur vom Hörensagen. Professor Gerhard Epping eröffnete ihm schon nach wenigen Minuten, dass die Molekularbiologie momentan vollbesetzt sei und die Universität keine neuen Stellen schaffen wollte. Natürlich würde er sich über eine Kapazität wie Dr. Schellberg eine darstellte, außerordentlich freuen. Deshalb räumte er ihm freundlicherweise die Nutzung einer zeitlich begrenzten Stelle ein. Johann sollte die Möglichkeit haben die Geräte und Laboreinrichtungen in Anspruch zu nehmen. Mitarbeiter musste er allerdings auf eigene Kosten einstellen. Epping blieb die ganze Zeit über freundlich, aber sehr bestimmt. Trotzdem lag eine gewisse Spannung in der Luft. Dieser mysteriöse Brand in Tübingen und der Weggang von Welger hingen irgendwie zusammen. Johann konnte intensiv das Quentchen Misstrauen spüren, das ihm Epping entgegenbrachte. Professor Welger hatte seinem Nachfolger keine Informationen über die Beziehung der Universität Würzburg zu dem Molekularbiologischen Institut von Tübingen hinterlassen. Die Forschung die dort unter der Leitung von Johann betrieben wurde, lag immer noch im Geheimen. Epping nahm ihn deshalb nicht unbedingt mit offenen Armen auf. Doch Johann brauchte sofort einen Platz um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er sagte trotzdem zu, um wenigstens für den Anfang einen Platz zum Forschen zu haben. Johann musste unbedingt wieder in seinen gewohnten Rhythmus zurückfinden. Er brauchte die Arbeit um sein privates und körperliches Unglück zu kompensieren.

Die nächsten Tage waren trotz seines Ehrgeizes enorm anstrengend für Johann. Sein Körper war durch das monatelange Liegen immer noch total geschwächt. Er hatte den Muskelschwund und die Schwäche völlig unterschätzt. Vielleicht wäre es besser gewesen auf Dr. Orter zu hören und sich im Krankenhaus noch weiter aufbauen zu lassen. An seinem ersten Arbeitstag war er jedenfalls schon mittags nicht mehr in der Lage seine Arme zu heben. Er hatte einfach keine Kraft mehr darin. Nur sein Kopf arbeitete weiter auf Hochtouren. Wie besessen war er von seinem Forschungsvorhaben. Diesmal drängte ihn niemand von außerhalb. Die Triebfeder war er nun selber. Er selbst konnte es kaum erwarten, die Geheimnisse der ruhenden und abgeschalteten Gene auf zu decken.

Johann hatte von Epping nur ein winziges Arbeitszimmer bekommen. Das hatten die anderen Mitarbeiter eher widerwillig an ihn abgetreten. Johann fühlte sich überhaupt nicht wohl in diesem Klima des Misstrauens. Und doch hatte sich die Nachricht von seiner Genesung in der wissenschaftlichen Welt wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Nach drei Tagen wurden von der Telefonverwaltung immer mehr Gespräche an ihn durchgestellt. Nachdem sich die Anrufer nach seinem Gesundheitszustand erkundigt hatten, wollten sie über seine weiteren Pläne informiert werden. Professor Johann Baptist Schellberg war zurückgekehrt und er genoss weiterhin einen exzellenten wissenschaftlichen Ruf.

So dauerte es keine Woche und Johann hatte ein interessantes Angebot der Universität von Münster auf dem Tisch liegen. Der Dekan Professor Waldhans sicherte ihm sorgloses Arbeiten zu. Zufälligerweise hatte man dort einen Auftrag zur Erforschung der Krankheit Parkinson auszuführen und eine unbesetzte Stelle zu vergeben. Weiterhin wurde ihm von Waldhans in Aussicht gestellt, dass er die Einrichtungen der Universität für eigene Forschungen nutzten konnte. Das war das eigentlich Reizvolle an dem Angebot.

Am Abend besprach er die aktuelle Situation mit Karin.

„Niemand an dieser Universität will mir etwas über den Weggang von Robert erzählen. Das ist doch komisch, findest du nicht?“

„Bernhard hatte erzählt, dass Welger sich geweigert hatte über die Forschung in Tübingen Auskunft zu geben. Immerhin hatte er dich doch zu dem Projekt gedrängt, oder nicht?“

„Doch, das ist schon richtig. Aber ich werde von den Kollegen wie ein Fremdkörper behandelt. Ich komme mir vor wie ein Eindringling. Das ist kein Platz mehr für mich. Ich habe übrigens ein Angebot bekommen. Nach Münster. Was hältst du davon?“

„Münster?“

„Genau, dort ist eine Stelle frei und sie haben keine Vorurteile. Ich könnte mich um meine Privatforschung kümmern und nebenbei etwas von der Parkinson herausfinden. Möchtest du mitgehen? Wenn du Lust hast könnte ich dir ein Stelle beschaffen.“

„Wie weit ist denn das von Würzburg entfernt?“

„Ziemlich genau 400 Kilometer. Mit dem Auto wird man 3 bis 4 Stunden unterwegs sein.“

„Na, ja wenn du meinst. Ich kann schon mitkommen.“

„Ich habe noch nicht zugesagt. Ich habe gehofft, du begleitest mich beim Vorstellungsgespräch. Ich meine, diese Beinstummel schränken meine Mobilität ein. Es wäre schön wenn du mich fahren könntest. Winston nehmen wir natürlich mit.“

Karin zuckte mit den Achseln. Sie befand sich immer noch in einer Art seelischem Schwebezustand. Ihr Leben war noch lange nicht im Lot. Ob Sie nun in Würzburg lebte oder in Münster, spielte dabei keine Rolle. Sie spürte, dass es noch Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern würde, bis Sie in der Lage war, die schrecklichen, traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.

„Na gut. Ich kann dich gerne begleiten. Wann hast du einen Termin?“

„Ich kann morgen anrufen und etwas vereinbaren.“

„Ich habe Zeit.“

„Vielen Dank, Karin. Das ist wirklich sehr nett von dir…Ich meine alles ist sehr nett. Wie du dich um mich kümmerst. Und Winston. Es ist dein Baby. Dein Kind.“

Ohne es wirklich zu wollen, brach es plötzlich aus ihr heraus. Gerade Winston war zu einem zentraler Punkt in ihrem Leben geworden, nach den Ereignissen in Tübingen. Johann hatte in darin herumgerührt und die Erinnerungen waren wieder lebendig wie schon lange nicht mehr. Sie erhob die Stimme und wurde wütend. Es war eine Wut gemischt mit Trauer und Vorwürfen.

„Weißt du Johann, ihr habt mein Leben zerstört. Ihr habt mir meine Familie genommen. Ihr habt sogar meine Existenz ausgelöscht. Einfach so. Weil wir euch lästig waren und dieser Timmen um seine dubiosen Geschäfte fürchtete. Johann, du bist ein einsamer Phantast. Sie haben dich in deiner Naivität schamlos ausgenutzt. Schau dir doch Winston an. Das ist allein dein Werk...“

„Es, es tut...mit leid. Ich werde alles was möglich ist, für ihn tun. Und für dich auch, sofern du es möchtest.“

Karin stand auf und ging zum Fenster. Oft hatte Sie in den vergangen Monaten dagestanden und in die Nacht hinausgeblickt. Gedanken von Rache und Genugtuung sind ihr dabei durch den Kopf gegangen. Aber jedes mal wenn Sie Johann mit Winston besuchte, war das Mitleid und Mitgefühl stärker als alles andere. Jeden Tag, ständig wurde Sie daran erinnert, dass es sich tatsächlich jemand in den Kopf gesetzt hatte, kleinere Menschen zu produzieren. Und dieser Jemand hatte nichts gemein mit einem Monster oder einem durchgedrehten Wissenschaftler. Johann hatte aus tiefster Überzeugung der Menschheit zu helfen gehandelt. Die Gespräche, die Sie vor der Katastrophe mit ihm geführt hatte, waren sehr überzeugend gewesen. Nun sass er da, ohne Beine, zu einem Skelett abgemagert, die langen Arme und Hände in den Schoss gelegt und Sie konfrontierte ihn mit den Folgen seiner Forschung.

Karin musste in nächster Zeit über ihre Zukunft nachdenken. Sie hatte schließlich ihr eigenes Leben. Das war sehr kurz gekommen in den vorangegangenen Monaten. Sie hatte ohne Ziel dahingelebt, in der Hoffnung wenn Johann aufwachen würde, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Im Moment sah es nicht danach aus.

Denn Johann war nach der Entlassung aus der Klinik, ein körperliches Wrack. Sie beschloss ihn vorerst zu begleiten und noch eine Weile bei ihm zu bleiben, bis er mit seiner Behinderung besser zurechtkam.

Wenn Johann soweit war und in seinem Forscherdrang lebte, brauchte er sie nicht mehr. Vielleicht tat eine Ortsveränderung ganz gut, um auf andere Gedanken zu kommen. Sie brauchte eine Inspiration wie sie ihr Leben mit Winston gestalten sollte.

Sie drehte sich wieder um und sah Johann in die Augen. Er erwiderte ihren Blick.

„Karin, ich könnte es sehr gut verstehen, wenn du...“

„Mach dir keine Sorgen, ich werde dich fahren. Du solltest im Übrigen mehr essen. Du musst unbedingt zu Kräften kommen. Du siehst immer noch sehr mitgenommen aus.“

„Ich habe aber keinen Hunger.“

Schon bei dem schieren Gedanken an Essen wurde Johann schlecht. Essen war doch außerdem reine Zeitverschwendung. Er hasste das Gefühl einen vollen Magen zu haben.

Karin nötigte ihn dennoch eine für seine Verhältnisse üppige Mahlzeit einzunehmen. Es gab Spagetti mit Fleischsosse und Salat. Danach klagte er über Bauchweh.

Johann telefonierte am nächsten Tag fast zwei Stunden lang mit Professor Waldhans. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Sie vereinbarten einen Termin. Waldhans konnte es kaum erwarten Johann persönlich kennen zu lernen.

Das Vorstellungsgespräch in Münster verlief mehr als erfreulich. Münster empfing sie als eine wunderbare Stadt. Die Universität, die Menschen dort, begegneten ihnen mit einer warmen Freundlichkeit, die sie beide überraschten. Die Verwaltung war in einem historischen schlossähnlichem Prachtbau untergebracht. Vom Schlossplatz bis zu Fakultät der Mikrobiologie an der Corrensstrasse waren es nur wenige hundert Meter Entfernung.

Nach dem Gespräch gingen sie mit Professor Waldhans durch den wunderschönen botanischen Garten der Schlossanlage. Waldhans war ein kräftiger Mitvierziger mit schwarzen langen Haaren und einem sympathischen Lächeln. Bei jedem seiner Worte konnte man den Ehrgeiz und die Begeisterung heraushören, die er bei seinem Beruf empfand.

Sprachlos wurde Waldhans allerdings erst, als er Winston erblickte. Zuerst hatte er, wie so viele Menschen vor ihm, an eine Puppe gedacht die Karin mit sich führte. Es gab ja jede Menge Leute die einen absonderlichen Spleen hatten. Aber die Puppe war lebendig. Ein Mensch im Miniformat. Karin liess Winston herunter und er lief wie ein Wiesel durch den Park.

Waldhans beugte sich zu Johann hinunter während Karin Winston wieder einzufangen versuchte.

„Sagen Sie, Schellberg: Ist das wirklich ein Mensch? Das ist ja sensationell.“

„Selbstverständlich ist das ein Mensch. Ich möchte Sie bitten, Diskretion zu bewahren. Meine Freundin leidet sehr darunter. Der Kleine hat ein sehr ausgeprägtes Hallermann-Streiff-Syndrom. Ich hoffe ich werde ihm eines Tages helfen können.“

„Ah, davon habe ich schon mal gehört. Tut mir leid. Aber es sieht so surreal aus, wie er da läuft.“

„Kann ich mir vorstellen. Sie müssen wissen, die Krankheit ist extrem selten. Meines Wissens gibt es auf der ganzen Welt nur eine Handvoll Betroffene. Ich hätte nicht gedacht, dass er älter wie ein Jahr wird. Aber Karin kümmert sich so aufopfernd um ihn. Ansonsten ist er übrigens kerngesund.“

„Mein Vertrauen haben Sie. Ich neige im Allgemeinen nicht zum Ausplaudern von Geheimnissen.“

„Vielen Dank. Das kommt uns sehr entgegen.“

Karin kam mit Winston wieder zu ihnen zurück. Winston streckte sein Ärmchen nach Waldhans aus. Er zögerte kurz und nahm aber dann doch Winston in seine Hände. Genau genommen hätte eine Hand gereicht. Winston lachte vor Vergnügen und Waldhans bekam einen weiteren Schock. Karin konnte sehen wie er blass wurde. Sie kam nicht umhin Professor Waldhans aufzuklären.

„Seine Augen und seine Zunge sind leider verkümmert. Aber er stört sich nicht daran. Es sieht schlimmer aus als es ist.“

„Ich sehe schon, Sie haben ihre Freude mit ihm. Entschuldigen Sie bitte meine Reaktion. Er ist in jeder Hinsicht ungewöhnlich.“

Während Sie nebeneinander her gingen untersuchte Winston ausgiebig das Gesicht von Waldhans.

„Na, das ist mir aber ein aufgeweckter Junge. Der ist ja kaum zu bändigen.“

Waldhans musste lachen. Er wollte ihn gar nicht mehr hergeben.

Seine Freude über die Zusage von Johann Schellberg konnte er kaum verbergen. Die Fakultät versprach sich durch die Mitarbeit von einer Kapazität wie Johann, einen baldigen Durchbruch bei den Erkenntnissen der Parkinsonschen Krankheit. Schon lange vermutete man genetische Ursachen für deren Auftreten. Professor Waldhans fand, Johann sei genau der Richtige für die Besetzung der Stelle. Beim ersten Anblick von Johann war er einigermaßen schockiert. Dass Johann die Beine amputiert werden mussten, war ihm bereits bekannt, nicht jedoch sein schlechter Allgemeinzustand. Diese hagere ausgezehrte Gestalt hatte wenig mit seiner eigenen Persönlichkeit zu tun. Doch das Äußere von Johann täuschte. Im Grunde war Johann sein Körper nur lästig. Sein Kapital war sein Kopf und sein genialer Verstand.

So waren sie sich nach der Besichtigung der Labore im Institut sehr schnell einig. Waldhans stellte es Johann frei, die Stelle sofort anzutreten, sobald es ihm wegen des Umzuges möglich war. Aber zuerst brauchten sie eine behinderten gerechte Wohnung oder ein Haus.

Professor Waldhans empfahl ihnen eine Immobilienagentur die vorzugsweise für leitende Universitätsmitarbeiter Objekte bereithielt.

Bevor sie die Rückreise antraten, statteten sie dem Büro einen Besuch ab und liessen sich einige Angebote heraussuchen. Entscheiden konnten sie sich auch noch zu Hause. Für Johann war es ohnehin zu stressig sich auch noch Wohnungen oder Häuser anzusehen. Er überliess diese Arbeit lieber Karin. Er war überzeugt, sie würde das Richtige für sie finden.

Münster

Eine behindertengerechte Wohnung zu finden war dann doch nicht so einfach wie anfangs gedacht. Karin entschied sich nach langen hin und her für eine relativ teure Wohnung in der Nähe der Fakultät. Johann hatte kein Problem darin gesehen, jeden Monat fast 2000 Euro dafür auszugeben. Ein großer Vorteil des Objekts war, dass sie einen Teil der Möbel übernehmen konnten. Den für den Einkauf von Möbel hätte Johann nie und nimmer Zeit gefunden. Gleich nach ihrer Ankunft stürzte sich Johann mit Enthusiasmus in die Arbeit. Parallel zu den Forschungsarbeiten des Universitätsprojektes betrieb er natürlich seine Studien zur Erforschung der Zukunftsgene.

Seine Idee erforderte jedoch eine gründliche Überarbeitung der bereits bekannten Gene des Menschen und verschiedener ausgewählter Tierarten. Natürlich waren ausgiebige Tierversuche unabdingbar. Johann musste bei Tier und Mensch zuerst nach Gemeinsamkeiten suchen.

Doch bevor Johann mit den praktischen Versuchen beginnen konnte, musste er sich erst eine passende Theorie zurechtlegen. Diese Theorie galt es alsdann zu beweisen.

Johanns Überlegungen gingen wie bereits erwähnt, von einer bedeutenden Funktionalität der verborgenen und bisher abgeschalteten und nicht genutzten Gene aus. Diese Gene wurden im Allgemeinen als Pseudogene bezeichnet. Die Wissenschaft ging bisher immer davon aus, dass diese abgeschalteten Gene nicht benutzt wurden, weil sie Beschädigungen aufwiesen oder sich nicht bewährt hatten. Vielleicht dienten sie auch als Reserve. Eine genau bewiesene Bestätigung für ihre wahre Bedeutung gab es nicht. Niemand war bisher auf die Idee gekommen, diese Pseudogene zu aktivieren. Alle gingen davon aus, dass derartige Aktivierungen keinen Sinn machten. Johann war hingegen überzeugt, dass sich die Gene, die sich sehr zahlreich in nahezu jedem Chromosom befinden, zu einem Zukunftsgedächtnis, wie er es nennen wollte, gehörten. Dieser bisher geheime Funktionsumfang würde ausschließlich Zeiträume betreffen, die vor dem jeweiligen Erlebten liegen.

Er musste nur die dazugehörigen Steuergene finden. Das war das ganze Geheimnis der biologischen Baupläne. Alle Lebewesen und Pflanzen besassen dementsprechende Steuergene.

Dazu stellte Johann folgende These auf:

Alle Lebewesen verfolgen ein bestimmtes Verhaltensmuster. Nur Organismen mit einer ausgeprägten Persönlichkeitsentwicklung wie die höheren Säugetierarten, können durch ihren eigenen Willen diese eingeprägten Verhaltensmuster durchbrechen. Aber oft sind die freien Entscheidungen eben nur scheinbar frei. Meistens stecken Hormone dahinter. Und noch etwas: Je älter diese Lebewesen werden, desto berechenbarer und fester werden ihre Bewegungen und ihr Tun, ihre Abläufe. Jeder Mensch weiss, dass ihre Artgenossen im Laufe der Zeit Angewohnheiten entwickeln, an denen sie ihr Leben lang festhalten. Gewollt oder ungewollt ist in diesem Fall zweitrangig. Sie tun es und man kann es somit vorhersehen. Das würde bedeuten, es wäre sehr einfach im Voraus zu wissen, was der Einzelne tun wird. Genauso oder noch viel einfacher verhält es sich mit den Pflanzen und anderen niederen Tieren und Organismen. Alles Tun, jeder Schritt ist vorgegeben.

Da alle anderen Akteure der Natur sich nach der ähnlichen, wenn nicht nach der selben Methode verhalten, wird die Zukunft eine Gleichung mit sehr vielen, aber relativ leicht berechenbaren Bekannten. Das Potential unseres Gehirnes wäre alleine von seiner theoretischen Rechenleistung her, locker in der Lage derartige komplizierte Zusammenhangsberechnungen anzustellen. Alleine fehlen uns hierzu die Möglichkeiten die Informationen unserer ,Mitspieler‘ aufzufangen und dementsprechend auszuwerten. Der Rest wäre nahezu ein Kinderspiel. Soviel die Theorie.

Das heisst, die erste Gruppe von Genen, die er entdecken und aktivieren wollte, mussten die Informationssammler sein. Sie mussten dem Lebewesen, bei Bedarf eine Art multivisuelle Möglichkeit einräumen, die Signale zu empfangen. Vermutlich strahlen alle lebenden Organismen eine Art Telegramm aus. In diesem Telegramm dürfte der Plan des Lebewesens hinterlegt sein, was es in den nächsten Minuten oder Stunden, vielleicht auch Wochen oder Monate, zu tun gedenkt. Eine Pflanze verfolgt einen bestimmten Rhythmus der von ihren Genen gesteuert wird. Der Zyklus wird sich nie ändern, sondern nur die Geschwindigkeit und die Zeitpunkte. Man kann durch äußere Einflüsse zwar die Größe der Früchte beeinflussen, niemals aber die Abfolge von Knospenbildung, Blüte, Besamung und Ausbildung einer Frucht und so weiter. Zwar denken Planzen und Tiere nicht so wir Menschen, aber ihre Vorgehensweise ist damit von vornherein weitgehend festgelegt und nicht mehr zu ändern.

Bei der Vorhersehung von Naturkatastrophen und Kriegen war sich Johann nicht sicher, wie die Informationen zustande kommen, um empfangen zu werden. Und doch dürfte sich aus einer Summe von Veränderungen ein Bild zusammensetzen lassen. Wenn sich etwas zusammenbraut, geschieht dies niemals von einer Minute auf die andere. Es gab immer Vorzeichen, oftmals nur kleine, kaum wahrnehmbare Veränderungen. Ein Mensch mit einem Zukunftsgedächtnis ausgestattet, müsste aus der Summe der Veränderungen, ungewöhnliche Ereignisse in der Natur terminieren können. Das wäre das Ziel solch einer Funktion.

Aber wir Menschen sind natürlich etwas ganz Besonderes. Wir stehen nach wie vor an der Spitze der Entwicklung. Und doch verstehen wir uns oft selbst nicht ganz. Wie unsichtbar werden wir immer noch geleitet von Hormonen und von unserem Unterbewusstsein. Auch der Mensch handelt nach Plan. Unsere Spontaneität und Kreativität ist nach Johanns Theorie reine Einbildung. Wir wissen genau was wir jeweils vorhaben. Nur wenigen Personen gelingt es von ihrer festen Programmierung abzuweichen. Dazu gehört eine enorme Willenskraft. Bei Extremsportlern werden diese Ausnahmesituation des Öfteren beobachtet. Aber bei allen anderen wird nach Plan gehandelt, der oft bereits auf Jahre hinweg vorgegeben ist. Ohne es wirklich wissen zu wollen, sind sich immer wieder Leute im Klaren darüber, wann sie krank werden oder sterben werden. Doch die Angst davor, lässt solche Gefühle immer wieder in der Tiefe des Unterbewusstseins verschwinden. Die Vorhaben und Vorsätze mit den man morgens aufsteht und dann doch nicht durchsetzt, sind ein weiteres Beispiel. Wir können einfach nicht anders.

Daher sind die Menschen immer wieder Rat- und fassungslos wenn sie hinterher begreifen müssen, was sie eigentlich getan haben, oder was sie, ‚geritten‘ hatte. Johann ist überzeugt davon, dass solche Ausbrüche, Taten und diverse von Gefühlen geleitete Handlungen durch ein Zukunftsgedächtnis auch von Außenstehenden rechtzeitig erkannt werden können.

Noch ein Beispiel: Würde ein Mensch mit diesen Fähigkeiten ausgestattet sein, wäre es möglich folgende Situation vorherzusehen:

Während sich eine Person vornimmt, zu einem Ziel zu gehen und dabei mehrere Strassen überquert, könnte man ein Fahrzeug identifizieren, dass diese Person wenig später überfahren wird. Die Informationen von Fahrzeuglenker und Unfallopfer, sowie die der pflanzlichen Umwelt würden ausreichen, um daraus eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeitsberechnung durchzuführen. Vor dem geistigen Auge könnte der Zukunftsehende, das Geschehnis wie einen Film vor seinen Augen ablaufen lassen. Das Gehirn oder das Nervenzentrum sendet dafür die Signale in Form von winzigsten elektronischen Strahlen aus. Das ist keine reine Theorie oder Wunschdenken. Schon oft wurden unerklärliche elektrische Felder bei Testpersonen und Versuchstieren gemessen. Leider konnte bisher mit diesen eigenartigen Feldern niemand etwas anfangen. Das sollte sich nach Johanns Meinung bald ändern.

Die der Wahrscheinlichkeit nach wesentlich größere Gruppe von Genen, dürften jedoch diejenigen Gene sein, die die dafür nötige geistige Intelligenz ermöglichen, um mit dieser Informationsflut überhaupt erst fertig zu werden. Um es technisch zu benennen: Welches ungeheure Analyseprogramm wäre nötig, um hier alleine, beispielsweise die Kurzzeit von der Langzeit zu trennen. Wie weit und tief würden die Fähigkeiten des Gehirns reichen, um etwas Sinnvolles mit dem Wissen anfangen zu können? Die Gehirne von hoch entwickelten Säugern waren theoretisch dafür ausgelegt diese Rechenleistung bei Aktivierung der richtigen Gene zu erbringen.

Es gab und gibt Thesen nach denen das Gehirn des Menschen nur zu etwa 10 Prozent ausgelastet sei. Das ist natürlich nicht richtig. Richtig ist vielmehr, dass es nicht nötig ist, alle Bereiche diese komplexen Organs ständig durch Aufgaben auszulasten. Der Energieverbrauch des Menschen wäre dementsprechend um ein vielfaches höher. Diesen Umstand musste Johann unbedingt bei seinen Überlegungen berücksichtigen. Eventuell müsste man mehr Fleisch und andere proteinreiche Nahrung zu sich nehmen.

Für die Aufgaben die der Mensch zu bewältigen hat, reichen im Mittel etwa 10 - 30 Prozent der theoretisch möglichen Leistung.

Würde es Johann gelingen die Zeitgene zu aktivieren, dürfte sich aller Wahrscheinlichkeit nach, der Sauerstoffverbrauch und der Energiebedarf des Gehirns etwas erhöhen. Möglicherweise hätte die volle Nutzung des Zukunftsgedächtnisses und seiner Rechenleistung, Einfluss auf andere Aufgaben des Gehirns. Vielleicht wären diverse andere motorische Fähigkeiten nicht gleichzeitig möglich. Auch auf anstrengende Bewegungen der Muskeln, zum Beispiel beim Sport, oder Konversationen, künstlerische oder auf handwerkliche Betätigungen, müsste man mit Sicherheit verzichten, während man den Blick in die Zukunft riskiert.

Genau hier begann aber Johanns Theorie zu wackeln. Wo setzte denn die Natur eigentlich ihre Grenzen? Bei welchem Wert würde die Grenze der Auslastung erreicht werden? Würde das Gehirn eines Säugers dauerhaft in der Lage sein, diese Informationsflut zu verarbeiten? Und die Kernfrage lautete: Wie würde man das Ganze steuern können?

Funktioniert es so ähnlich wie unser normales Gedächtnis? Wenn der Mensch nachdenkt, kann er sich Erlebnisse aus seinem Gedächtnis holen und sie sich noch ein Mal vor Augen führen. Man kann sich auch Formeln merken oder Gedichte, Melodien und vieles mehr. Die Meisten können damit sehr gut umgehen. Johann hoffte, dass es sich bei der Zukunft ähnlich verhalten würde.

Musste man, vorausgesetzt die Theorie entsprach der Wahrheit, das Zukunftsgedächtnis erlernen und trainieren? Die Erfahrungen auf diesem Gebiet waren logischerweise nicht vorhanden. Der Wissenschaft war bisher niemand bekannt, der nachweislich in die Zukunft sehen konnte. Leute, die behaupteten sie könnten in die Zukunft sehen, wurden vielleicht gerade noch von einer kleinen Schar aus der Allgemeinheit als glaubwürdig eingestuft. Von der Wissenschaft wurden sie höchstens milde belächelt. Ab und an beschäftigten sich mit diesen Phänomenen einzelne Psychoanalytiker, aber ohne konkrete Ergebnisse vorweisen zu können. Schon aus den verständlichen Gründen, nicht ernst genommen zu werden, behielten Menschen die über die besagten Fähigkeiten verfügten, ihre Informationen besser für sich.

Johann blieb nichts anderes übrig. Er musste ganz von vorne anfangen.

Natürlich konnte man nicht willkürlich in das Genmaterial eingreifen. Hinter den Milliarden an Kombinationsmöglichkeit steckte ein einzigartiges und ausgeklügeltes System, welches die Natur entworfen hatte. Vielleicht hatte es auch tatsächlich einen Gott gegeben, der sich diesen genialen Bauplan ausgedacht hatte. Niemand wird es je erfahren.

Johann war es schließlich als bisher einzigem, seriösen Molekularbiologen gelungen, die Gene des Menschen, diese hochkomplizierten Stränge an Aminosäureverbindungen zu entschlüsseln und Funktionen zuzuweisen.

Wobei man unter einer einfachen Entschlüsselung nicht verwechseln durfte, dass lediglich die Reihenfolge der Verbindungen bekannt war. Nicht jedoch deren einzelne Bedeutung. Das wurde in den Pressemitteilungen gerne verschwiegen.

Johann war schon früher einen Schritt weiter gegangen. Ihm hatte die Auflistung der Gene nicht genügt. Er wollte wissen welche Aktivitäten dahinter stehen.

In seiner Würzburger Studienzeit hatte er eine spezielle Software entwickelt, die ihm eine Art Matrix lieferte. Das Programm war nur wenige hundert Kilobyte groß, aber es hatte es ihn sich. Mit ihrer Hilfe wurden die netzwerkartigen Querverbindungen sichtbar und Johann konnte die Gene direkten Funktionen zuordnen. Damals war er auch auf die Mastergene gestossen. Sie waren der eigentliche Clou an dem komplizierten Bauplan.

Diese Software und ihre Benutzung machte Dr. Johann Baptist Schellberg zu diesem genialen gefragten Wissenschaftler. Niemand hatte bisher auch nur annähernd so detaillierte Kenntnisse wie Johann. Das machte ihn so einzigartig.

Für Johann war es ein leichtes die Gene zu bestimmen welche die Parkinson auslösten. Doch damit war es alleine nicht getan. Seine Mitarbeiter und Studenten animierte er Lösungen zu finden, wie sich solche Gene dauerhaft ausschalten liessen. Damit waren sie beschäftigt und Johann konnte sich um seine viel wichtigere Forschung kümmern. Er isolierte Stammzellen von Mäusen und stellte ein Extrakt her, welches einen veränderten Bauplan enthielt. In diesen Stammzellen hatte Johann eine Anzahl von Pseudogenen eingeschaltet. Die Mäuse begannen sich darauf hin tatsächlich zu verändern.

Mäuse sind die idealen Versuchstiere. Ihre rasche Population versorgt die Wissenschaftler mit einem unerschöpflichen und steten Nachschub. Ein Mäuseweibchen ist in der Lage, bis zu achtmal Junge pro Jahr zu bekommen. Die enorm wichtigen Erkenntnisse von Veränderungen über mehrere Generationen hinweg, lassen sich dadurch in kürzesten Zeiträumen nachweisen.

Eine Maus ist dem Menschen genetisch sehr nahe. Viele ihrer Gene finden sich auch beim Menschen wieder. Von den über 20000 Genen der Maus, kann man 15000 identische, auch beim Menschen nachweisen. Auch das Mausgenom wurde inzwischen komplett entschlüsselt. Das war ein großer Vorteil bei der Forschung. Johann konzentrierte sich zu allererst auf die äquivalenten Gene und Pseudogene von Mensch und Maus.

Mittels seiner speziellen Technik die er entwickelt hatte, musste er die Schlüsselgene finden und sie eindeutig lokalisieren. Wenn es ihm bei dem Genom der Maus gelang, konnte er bei seinen Versuchen auf den Menschen übergehen. Ihm war natürlich bewusst, dass er dafür geeignete Versuchspersonen finden musste. Doch das konnte er immer noch entscheiden, sollten die Erkenntnisse erfolgreich sein.

Die Chromosomen 2 und 11 waren ihm schon immer aufgefallen. Vor allem Nummer 2 hatte eine ungeheure Zahl an aktiven Genen. Aber auch Nummer 11 war eines der wichtigsten Chromosomen. Beide Gene wiesen in etwa eine gleiche Anzahl an Genen auf. Auch die große Zahl an Pseudogenen zogen die Aufmerksamkeit von Johann auf sich. Es waren ähnlich viele wie aktive Gene. Hier irgendwo musste sich etwas Besonderes befinden.

In einem der anderen Chromosomen musste sich der Hauptschalter befinden. Die Natur war zwar erfinderisch, und doch verfuhr sie stets nach identischen Verfahren. Für die intakten und aktiven Gene hatte Johann bereits vor längerer Zeit bestimmte Zusammenhänge und Mastergene, auch Steuergene genannt, identifiziert. Sie versteckten sich in anderen Chromosomen. Es war eine ähnliche Ausgangslage wie bei den Geschlechtschromosomen. Diese waren nur vorhanden um die Entwicklung zu einem männlichen oder weiblichen Organismus zu steuern.

Nächtelang stellte Johann Daten zusammen und liess sie von einem der schnellsten Universitätsrechner der Welt bearbeiten. Der Supercomputer hatte seinen Platz bei der Universität von Hamburg. Münster und Hamburg hatten einen Kooperationsvertrag geschlossen, das der Uni von Münster umfassende Nutzungsrechte einräumte. Das war ein Glücksfall für Johann. Auf diese Weise kam er unerwartet schnell zu seinen Ergebnissen. Er hatte mit seiner Vermutung Recht behalten.

Ein bisher im Chromosom 1, bekanntes Gen, das die Bezeichnung RYR2 trägt, steuert die Gedächtnisbildung. Ein äquivalentes Gen hatte die Computerauswertung in den Pseudogenen gefunden. Johann musste versuchen dieses Gen zu aktivieren um seine Theorie bestätigt zu wissen. Das würde eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen und es war natürlich nicht sicher ob die gewünschten Auswirkungen auch eintrafen.

Seine Abteilung war weiter mit den Analysen für die Parkinson beschäftigt. Erste kleine Ergebnisse gab es schon und Professor Waldhans war zufrieden. Johann begann deshalb mit seinen praktischen Versuchen. Mit zwei Assistenten hatte er einen speziellen Versuchsaufbau konstruiert der es ihm ermöglichen sollte, seine gefundenen Zeitgene bei den Mäusen nachzuweisen. Denn die Ausnutzung des gesamten Genvorrates musste bei den anderen Säugern in etwa die selben Auswirkungen zeigen. Johann hatte ausgerechnet, dass die vollständige Transkription etwa vier Wochen dauern würde.

Die Zeit war also reif für die erste Testreihe.

Der Versuchsaufbau bestand aus einer Kiste von zwei Metern Länge und einem Meter Breite. Die Kiste war durch eine massive entspiegelte Glasscheibe abgedeckt. An drei Randstellen konnte man durch runde Öffnungen hineingreifen. Johann platzierte dort vier normale Mäuse und eine Maus dessen Genmaterial er künstlich verändert hatte. Der gesamte Versuch konnte aus verschieden Perspektiven gefilmt werden. Begleitet wurde der Versuch von seinen zwei Assistenten.

Johann wollte beweisen, dass die Zeitgene das Verhaltensmuster von Mäusen veränderte.

An einem Ende der Kiste befanden sich in jeder Ecke, Ausgänge mit Röhren dahinter. Am Ende der Röhren war leckeres Futter platziert. Sollte wie zu erwarten, die Mäuse durch die Röhre kommen um sich das Futter zu holen, wurden sie gefangen und getötet. Ein weiteres viel größeres Schälchen mit Leckerbissen war hinter einem viel größeren Ausschnitt der Kiste. Hell erleuchtet und auf einem Podest. Dazu muss man wissen, dass Mäuse immer an einem schützenden Rand entlanglaufen. Niemals würden sie quer durch einen Raum laufen. Deshalb stellt man auch Mausefallen immer an der Wand auf. Mäuse laufen durch die Falle hindurch, nehmen das darin ausgelegte Futter auf und tragen es in ihren Bau. Mäuse sind ganz einfach zu durchschauen. Keine normale Maus würde sich das Futter von diesem exponiertem Platz holen.

Bei diesem Versuch waren die hungrigen Mäuse wie geplant, innerhalb weniger Minuten in den Röhren verschwunden. Nur Johanns manipulierte Maus zögerte. Sie beobachtete die anderen ohne sich selbst zu bewegen. Auch diese Maus hatte großen Hunger.

Dann machte sie sich urplötzlich auf den Weg zum erleuchteten Schälchen. Kurz davor zweigte sie ab und schnupperte in den Eingang einer der Röhren, die für sie den sicheren Tod bedeutet hätte und marschierte dann zielstrebig vorbei, zu dem, für Mäuse äußerst gefahrvollen Schälchen auf dem Podest. Sie zeigte keine Angst oder Fluchtreflexe. Das war eine Sensation.

Die Versuche gingen weiter. Johann und seine Assistenten probierten alles möglich aus um die Fluchtreflexe der Mäuse zu testen. Die genbehandelte Maus zeigte dabei völlig andere Reaktionen als ihre Artgenossen.

Mit einer Infrarotkamera wiesen die Wissenschaftler nach, dass die Maus über eine enorme Gehirntätigkeit verfügte. Gegenüber den unbehandelten Mäusen war dies an der Wärmeabstrahlung deutlich messbar.

Als sie die Versuche beenden wollten, trafen die drei Forscher allerdings auf unerwartete Probleme.

Die Maus musste das Vorhaben von Johann und seinen Assistenten erkannt haben. Als würde sie es vorher genau wissen, dass sie auf dem Seziertisch landen würde, liess sie sich nicht einfangen.

Ob das Tier so schlau war um den greifenden Händen auszuweichen, oder einfach nur Glück hatte, war die Frage welche die Assistenten noch lange nachher beschäftigte. Johann, der als Einziger wusste, welche Gene er bei der Maus freigeschaltet hatte, konnte sich vorstellen, dass die Maus einfach vorhergesehen hatte, wohin die Hand greifen würde. Sie bewegte sich für eine Maus dabei sehr langsam, aber unglaublich sicher.

Sie brauchten über zwei Stunden bis sie das Tier endlich erwischten. Zwei Stunden lang taktierte sie um jeden Quadratzentimeter. So etwas hatte noch keiner von ihnen bisher erlebt. Doch dann war es urplötzlich aus. Die Fluchtbewegungen des kleinen Tieres wurden immer langsamer, der Aktionsradius immer kleiner. Als einer der Assistenten sie endlich greifen konnte, zeigte sie keine Reaktion mehr. Sie war tot.

Bei der anschließenden Obduktion stellten sie als Todesursache multiples Organversagen fest. Das war mehr als ungewöhnlich. Das Gehirn der Maus war außerdem ausgesprochen stark und sauerstoffreich durchblutet. Das hatte zur Folge, dass der Körper der Maus und ihr Muskelapparat immer schwächer wurde. Sie hatte ihre ganze Kraft darauf verwendet, sich vor den Händen in Sicherheit zu bringen. Johann sah seine Theorien mehr als bestätigt.

Der Körper der Maus wurde durch die enorme Rechenleistung ihres Gehirns blockiert. Das Tier musste letztendlich erkannt haben, dass es keinen Ausweg mehr gab.

Würde man das Verhalten der Versuchsmaus auf den Menschen übertragen, so würde sich bei einem ununterbrochenen Blick in die Zukunft womöglich eine ähnliche Situation ergeben. Das Gehirn würde die gesamte Energie benötigen. Das stellte eine große Gefahr für den Organismus dar. Johann musste daher abklären, ob es eventuell Schutzfunktionen gab, die das Zukunftsgedächtnis bei einer drohenden Auszehrung der Kräfte und Ressourcen wieder deaktivierte. Die Maus war offensichtlich nicht mehr in der Lage gewesen, rational zu denken. Ihre natürlichen Reflexe waren nicht mehr vorhanden gewesen. Oder wurden durch den Blick in die Zukunft überlagert und unwirksam gemacht. Sie konnte ihr Zukunftsgedächtnis nicht steuern und nur bei Bedarf darauf zurückgreifen. Sie war in ihren Visionen gefangen. Es war offensichtlich so, dass das Zukunftsgedächtnis den kleinen Nager völlig beherrschte und obendrein sogar für ihren Tod sorgte. Hatte die Maus unter Umständen sogar bewusst Selbstmord begangen? Weil ihre Situation aussichtslos war ? Hatte Sie ihren Tod selbst herbeigeführt um der drohenden Sezierung zuvorzukommen? Das war natürlich auch denkbar. Johann musste den Versuch unbedingt mit einer größeren Anzahl an manipulierten Mäusen wiederholen. Das wird eine spannende Zeit werden. Johann freute sich schon darauf.

Er war auf einem sehr guten Weg. Schon jetzt geisterten in seinem Kopf die Ideen herum, bei weiterhin erfolgreichen Versuchen, einen Selbstversuch durchzuführen. In die Zukunft blicken zu können, war doch ein mehr als reizvoller Gedanke. Die Gefahren liessen sich bestimmt schnell in den Griff bekommen. Ein Mensch war ja schließlich niemals ein Beutetier. Wir Menschen benötigen zum Überleben keinen Fluchtreflex. Wir werden ja nicht mehr permanent gejagt und gefressen. Nicht umsonst stehen wir an der Spitze der Nahrungskette.

Johann war mehr als zufrieden. Seine Vermutungen hatten sich in diesem frühen Stadium der Forschungsarbeit bestätigt.

Die Zeitgene

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