Читать книгу Reduktion - Der Mensch muss kleiner werden! - Christian Manhart - Страница 4

Der Kongress Etwa fünf Jahre vor diesem Nachmittag

Оглавление

Dr. Johann Baptist Schellberg, ein junger ehrgeiziger Biologe, arbeitete in einem Forschungsinstitut der Würzburger Universität.

Dr. Schellberg, groß gewachsen, sehr schlank, mit einer kräftigen markanten Nase und braunen wenig ausdrucksstarken Augen, war insgesamt nicht sonderlich beliebt. Er hatte unter den Doktoranden, den Studenten und seinen Assistenten, den Ruf eines arroganten, besserwisserischen Ekels. Schon seit seiner Kindheit war er ein Außenseiter, der sich nicht viel aus anderen Menschen machte. Die Bücher, die Wissenschaft war seine Welt. Sie faszinierte ihn wie nichts anderes auf dieser Welt.

Dr. Schellberg war jedoch auf seine Art ein Genie. Er war extrem wissbegierig und ausdauernd, was seine Forschungsarbeiten betraf. Einer der niemals aufgeben würde, bevor er nicht Erfolge vorweisen kann.

Seine Habilitation, seine Professur, stand unmittelbar bevor. Er genoss das Wohlwollen der Universität und dessen Dekan, Professor Robert Welger. Unter seiner Leitung erhoffte sich die Universität, durch die Förderung eines Talents wie das von Dr. Schellberg ein größeres internationales Renommee.

Welchen Umgang Schellberg wiederum mit seinen Mitarbeitern pflegte, war in diesem Fall von geringer Bedeutung.

Würde man ihn mit den Biologen des 19. Jahrhunderts vergleichen, würde er ohne Zweifel einen Spitzenplatz in der Wissenschaft einnehmen. Denn Schellberg hatte völlig neue Entschlüsselungstechniken entwickelt und angewandt, um hinter die Geheimnisse der Gene zu kommen. Er wollte es ganz genau wissen, welche Bedeutung die Bausteine der Zellen im Einzelnen besitzen.

Sein Spezialgebiet lag im Bereich der Molekularbiologie. Hier sah Schellberg die allergrößten Möglichkeiten. Moralische oder ethische Bedenken interessierten ihn nicht. Für ihn zählte nur die Machbarkeit. Das Wissen um die Konstruktion der Lebewesen hatte ihn schon früh fasziniert. Die in den letzten Jahren immer weiter fortschreitende Entschlüsselung von Gensequenzen der höher entwickelten Säugetiere und auch des Menschen lockte ihn. Sie trieb ihn voran. Er forschte um etwas zu entdecken. Aber nicht nur die reine Entdeckerfreude drängte ihn, nein auch das Gefühl Geheimnissen auf der Spur zu sein.

Die Geheimnisse des Lebens. Gepackt in DNA Stränge. Er konnte es gar nicht abwarten, in diese Strukturen wissentlich einzugreifen.

Den ihm unendlich erscheinenden Möglichkeiten etwas zu verändern, war er in seiner Forschungsarbeit schon sehr nahe gekommen. Insgeheim erhoffte er sich für seine Arbeiten, um seine wissenschaftliche Laufbahn einmal zu krönen, den Nobelpreis.

Denn niemand zuvor, außer ihm, hatte weite Teile des menschlichen Genoms so katalogisiert, so detailliert zugeordnet, wie das kleine erlesene Team um Dr. Schellberg.

Da er als besonderes Talent galt, wurde er von der Universität zusätzlich mit der Vertretung bei besonderen Kongressen betraut. Sein Dekan Professor Welger beauftragte ihn deshalb, auf einem ausgewählten speziellen Kongress die Universität zu vertreten.

Als Schellberg aus dem Flughafengebäude in die brütende Hitze Kaliforniens trat, wäre er am liebsten wieder umgedreht. Die Sonne stand bereits tief und trotzdem war es immer noch heiss und stickig. Johann war schon oft in Amerika, aber noch nie in Kalifornien.

San Francisco hatte er sich anders vorgestellt. Er hatte eine frische Brise vom Meer erwartet und nicht diese abgestandene Großstadtluft.

Er schleppte seinen riesigen Trolli zu einem der Abfahrtspunkte der Airportshuttles. Die blauen Kleinbusse wurden in der Regel mit Menschen und Gepäck vollgestopft. Ein ständig mit mehreren Handys telefonierender Fahrer, kutschierte die Passagiere unermüdlich zu ihren Hotels. Das war praktisch, bezahlbar, aber nicht besonders komfortabel. Der Sitz in seinem Shuttlebus war so durchgesessen, das Johann bei jeder Bodenwelle schmerzhaft mit den Stahlstreben Bekanntschaft schloss. Aber die Shuttles waren pünktlich und sehr zuverlässig.

Der Fahrer, ein Südamerikaner, der kaum verständliches Englisch sprach, setzte ihn vor seinem Hotel in der Down Town ab.

Das Delaware Hilton Palace. Johann Schellberg war überrascht. Für einen Wissenschaftskongress hatte man einen noblen Ort gewählt.

Die Universitäten in USA wurden traditionell von der privaten Industrie und Wirtschaft unterstützt. Sie konnten es sich leisten, etwas Besonderes zu bieten. Eine von diesen amerikanischen, renommierten Universitäten hatte zu diesem besonderen Kongress eingeladen.

Noch am selben Abend gab es einen kleinen Stehempfang, um den Teilnehmern Gelegenheit zu geben, sich kennen zu lernen. Die Organisatoren hatten weltweit die Eliten der jeweiligen Universitäten gesucht und eingeladen. Insgesamt tummelten sich aber nur weniger als Hundert Wissenschaftler in dem Kongresssaal. Es war eine bunte Gemeinde, die sich eingefunden hatte. Es waren Teilnehmer aus allen Fakultäten gekommen. Die Organisatoren wollten nicht nur einseitige Fachmeinungen diskutieren, sondern heikle Themen mit Juristen, Religionswissenschaftlern, Sozialwissenschaftlern, Ingenieuren, Philosophen, Kunstprofessoren, kurz mit der ganzen Bandbreite der Wissenschaft erörtern.

Das Thema über das konferiert werden sollte, wurde als äußerst heikel und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, bezeichnet. Um strenge Diskretion hatte man bereits bei der Einladung gebeten. Es ging, soviel hatte sich bereits herumgesprochen, um die Zukunft und um dementsprechend viel Geld.

Die Gerüchte kursierten, dass es sich um hohe Summen von Forschungsgeldern handelte, die bei dem Kongress ausgelobt werden sollten. Vor allem deshalb hatten viele Universitäten ihre besten Leute geschickt.

Professor Dr. Nicolas Messco, war der Leiter dieses doch recht ungewöhnlichen Kongresses. Messco stammte aus den USA, er war ein Stipendiat der Universität Harvard. Dr. Messco, 59 Jahre alt, eine gedrungene kräftige Gestalt, mit blauen, hellen, wachen Augen und einer Vollglatze. Er lehrte an der renommierten Universität von Harvard.

Das Stimmengewirr der Anwesenden wurde von den dicken Teppichböden in dem Raum stark gedämpft. Niemand bemerkte wie Messco das Rednerpult betrat. Als er unvermittelt in das Mikrofon sprach, war seine Stimme so laut und von überall her zu hören, dass die Gespräche augenblicklich verstummten. Die Gesprächsgruppen lösten sich rasch auf und diszipliniert nahmen alle ihre Plätze ein. Einige griffen zu den Kopfhörern, obwohl die internationale Sprache der Wissenschaft Englisch war und jeder der Teilnehmer diese Sprache fließend beherrschte. Messco wartete noch einige Momente bis nur noch vereinzeltes Hüsteln zu hören war, bevor er mit seiner Ansprache begann.

„Hallo, zusammen, es freut mich sie alle hier zu sehen. Ich hoffe sie hatten einen guten Flug und geniessen das schöne Wetter hier in Kalifornien. Mein Name ist Nicholas Messco von der Universität Harvard. Ich darf sie durch den Kongress begleiten und wünsche uns im Namen der Organisatoren viel Erfolg dabei.

Das Thema unserer Zusammenkunft wird vielen von ihnen nicht viel zu sagen haben. Es wurde ein sehr simpler Begriff gewählt:

,Terra‘

Das ist unser Motto. Es ist eine Kurzbezeichnung unseres Auftrages. Diesen Forschungsauftrag haben die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, viele westliche Länder, aber auch eine hohe Zahl an Staaten die nicht näher genannt werden wollen, ins Leben gerufen und mit ausreichend finanziellen Mitteln ausgestattet. Ein Teil der Mittel wurde auch aus der privaten Wirtschaft generiert. Unser Schirmherr und weiterer Geldgeber ist die UNO und die WHO.

Um was geht es konkret?

Die Welt, die Weltbevölkerung, wir alle, stecken in einem Dilemma. Dies haben nicht nur einige Regierungen schon lange erkannt, auch in unseren Kreisen ist diese Problematik hinreichend bekannt. Wie sollen wir unsere Probleme in Zukunft lösen? Wie werden wir der wachsenden Weltbevölkerung her? Welche Maßnahmen müssen wir ergreifen um unsere Ressourcen vor der gnadenlosen und restlosen Ausbeutung zu schützen? Wie schaffen wir es, dass in 20 bis 30 Jahren 15 oder gar 20 Milliarden Menschen in Wohlstand leben können und ausreichend ernährt werden können?

Diese und viele andere Fragen gilt es nun zu klären. Die UNO und unsere Auftraggeber, eine sehr große Anzahl von Staaten, erwartet von uns Antworten. Die Leute von der WHO machen sich große Sorgen, wie die Nahrungsmittelversorgung in einigen Jahrzehnten bewerkstelligt werden soll. Sie alle erwarten ein zukunftsfähiges Konzept. Einen gangbaren Weg, den die Welt beschreiten muss.

Wir werden, nachdem wir mit den Wortmeldungen durch sind, Arbeitsgruppen bilden. Ich möchte sie bitten, sich hierzu schon mal Gedanken zu machen. Es ist ferner angedacht, die Arbeitsgruppen im dreimonatigen Rhythmus zusammenkommen zu lassen, um die Ergebnisse zu analysieren und auszuwerten.

Ich darf sie noch darauf hinweisen, dass unser Projekt der allerstrengsten Geheimhaltung unterliegt. Das liegt daran, dass keine halbfertigen und unausgegorenen Konzepte oder Ideen an die Öffentlichkeit, namentlich unsere Freunde von der Presse gelangen. Eine strikte Geheimhaltung sichert uns allen ein weitgehend ungestörtes Arbeiten ohne Einflussnahme von Außen.

Ich möchte ihnen viel Spass bei unserem Kongress wünschen und bitte um zahlreiche Wortmeldungen.

Vielen Dank.“

Unter Applaus verliess er die Bühne, winkte ins Publikum und setzte sich in die erste Reihe auf einen freien Platz.

Es bedarf noch ein paar Aufforderungen von Dr. Messco, bis sich zögerlich die Ersten aufs Podium wagten. Es folgte ein Reigen an Rednern aus der ganzen Welt. Die Kommentare und kurzen Ansprachen waren größtenteils positiver Natur. Einige sahen sich aufgefordert die Federführung der USA zu kritisieren. Andere sahen wenige Möglichkeiten in den globalen Kreislauf einzugreifen, weil Weltwirtschaft und Weltbevölkerung einer nicht steuerbaren Dynamik unterlagen.

Dr. Schellberg hatte sich nicht zu Wort gemeldet. Er fühlte sich ein wenig fehl am Platz. Er hatte keine Lust, sich um das Wohl und Weh des Planeten Erde und seiner Bewohner zu kümmern. So recht wusste er nicht, warum ihn seine Universität, namentlich Robert Welger, hierher geschickt hatte.

Am späten Abend formierten sich trotz des verhaltenen Beginns, erste Arbeitsgruppen. Dr. Messco und seine Leute waren unablässig unterwegs, um die anwesenden Wissenschaftler einzustimmen und ihnen Details zu erläutern. Dr. Schellberg kannte einige Teilnehmer flüchtig von anderen Kongressen. Aber die meisten sah er zum ersten Mal in seinem Leben.

Messco trat zu ihnen, begrüßte jeden einzelnen mit Handschlag und bat sie zu einer kurzen Unterredung.

„Nun, liebe Kollegen, es geht uns hier nicht um den Stein der Weisen zu finden. Man betrachtet uns als Elite. Als die Besten der Besten. Wir sind hier eine illustre Gesellschaft, aber eine die für sehr viel Potenzial steht. Die Politiker sind der Meinung, dass nur durch die Konzentration von soviel Wissen, Intelligenz und Kreativität, wie wir sie hier im Saal versammelt sehen, gangbare Lösungsvorschläge erzielen lassen.

Die Zukunftsprobleme der nächsten Generationen alleine der Macht der Wirtschaft zu überlassen, halten inzwischen viele für gescheitert. Zu einseitig die Ausrichtung.

Sie sehen hier nicht nur Kapazitäten aus ihren einzelnen Fachgebieten. Nein, wir haben auch sehr viele kreative Köpfe eingeladen, sich zu beteiligen. Darf ich fragen, in welchen Bereichen ihre Tätigkeiten liegen?“

Schellberg antwortete als Erster:

„Schellberg, Molekularbiologie und Bioinformatik, Genforschung. Universität Würzburg, Germany.“

Zu seinem Erstaunen kannte ihn Messco. Das hatte er so nicht erwartet.

„Johann Baptist Schellberg. Sie sind also der geniale deutsche Biologe. Das ist sehr schön sie hier zu sehen. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Ich habe sie schon gesucht. Sie sollten ein Team leiten. Freut mich sehr sie hier zu haben.“

„Vielen Dank. Ganz meinerseits, Dr. Messco.“

Schellberg lächelte etwas unsicher. Woher kannte Messco ihn?

Es wurde spät in der Nacht, als die Arbeitsgruppen endlich gebildet waren.

Schellberg wurde zum Leiter einer Gruppe von sieben Biologen bestimmt. Sie waren allesamt ein gutes Stück älter als er selbst. Trotzdem war die Anerkennung, der Respekt voreinander groß. Sie akzeptierten ihn einstimmig als ihren Teamchef. Insgeheim hatte Schellberg das Gefühl, seine Gruppenmitglieder waren ganz froh, dass sich jemand gefunden hatte, der diesen Job ausführte.

Am nächsten Tag wurde das weitere Prozedere besprochen. Messco wollte die Leiter der insgesamt zwölf Teams aus den verschiedenen Fachrichtungen nach Möglichkeit alle drei Monate zusammenkommen lassen, um die Fortschritte zu diskutieren. Bei diesen Meetings sollten dann die Erkenntnisse und Entwürfe aufeinander abgestimmt und die weitere Vorgehensweise der Forschungsarbeit besprochen werden.

Das Projekt, Terra‘ war auf eine Zeitdauer von vierundzwanzig Monaten ausgelegt. Messco schwor alle Teilnehmer nochmals darauf ein, in alle Richtungen zu denken. Die Forscher sollten sich auch nicht durch eventuelle Tabus oder moralische Bedenken ablenken lassen. Es ginge vordergründig um Studien. Tatsächliche Verwirklichungen ihrer Forschungsarbeiten seien natürlich von den einzelnen Staaten und ihren Regierungen abhängig. Dieses Ziel sei noch sehr weit weg.

Schellberg, der hagere junge Deutsche mit dem beginnenden schütteren hellbraunen Haaren, der so gar nicht aussah, wie ein renommierter Wissenschaftler, hatte nach wie vor keine Lust an diesem, seiner Meinung nach bescheuerten Projekt mit zu arbeiten. Andererseits war die Arbeit mit erheblichen finanziellen Mitteln ausgestattet. Mit soviel Geld konnte man wirklich intensive Forschungsarbeit betreiben. Die ewige Suche nach Sponsoren, und Drittmitteln, die Bettelei bei der Universität hätte für die nächsten zwei Jahre ein Ende. Man musste ganz pragmatisch abwägen. So flog er mit üppigen Mitteln ausgestattet wieder nach Deutschland zurück.

Eine Idee, was das ganze für Ergebnisse bringen soll, kam ihm nicht in den Sinn. Seine sieben Gruppenmitglieder hatten ebenfalls keine Ahnung welche Vorschläge sie machen sollten. Schellberg wunderte sich, denn auch die Biologen waren ein bunt zusammen gewürfelter Haufen. Es waren ausschließlich Spezialisten aus den verschiedensten Fachbereichen. Er war der Einzige der sich mit Molekularbiologie und Informatik beschäftigte. Es war natürlich nicht so, dass die anderen keine Ahnung von dieser Materie hatten. Aber Gensequenzen zu entschlüsseln war nicht jedermanns Sache. Manche der Biologen waren sogar der Meinung, die reine Erforschung der Gene hätte mit Biologie wenig zu tun. Da irrten sie sich aber gewaltig. So die Einstellung von Schellberg.

Zuhause erstattete Johann seinem Dekan Professor Welger Bericht über den merkwürdigen Kongress. Er informierte in umfassend über die Ergebnisse des Kongresses und die Höhe der zu erwartenden Finanzmittel. Der Dekan Professor Robert Welger war begeistert. Er lobte seinen Schützling und sagte ihm jede Unterstützung zu. Johann Baptist Schellberg war zufrieden. Welger zeigte sich ansonsten unbeeindruckt. Er riet Schellberg keine Nachdenklichkeit zu zeigen und sich um seine Forschung zu kümmern. Johann hatte den Eindruck, dem Dekan ginge es nur um die finanziellen Mittel. Er ermutigte ihn, etwaige Fortschritte seiner Entschlüsselungen bei dem Projekt einzubringen. Schellberg irritierten die eindeutigen wirtschaftlichen Interessen von Professor Welger. Er hatte ihn als Mann der Universität eingestuft. Aber Johann kümmerte sich nach ein paar Tagen nicht weiter um die Aussagen von Welger.

Er beauftragte einen der Universitätsmitarbeiter mit der Organisation und Verwaltung der Forschungsgelder. Johann stellte noch zwei Leute ein und beschaffte sich Analysegeräte mit dem Geld aus dem Topf von ,Terra‘.

Er informierte sein Würzburger Team vorerst nicht über seine leitende Tätigkeit bei dem Projekt Terra. Um die Führung seiner internationalen Gruppenmitglieder wollte Schellberg sich alleine kümmern. Er vertrat die Meinung, das Thema ginge seine Mitarbeiter bei der Universität nichts an.

Johann wollte seine Ruhe haben und sich intensiv mit seiner Forschung beschäftigen. Dass er mit dieser Meinung nicht alleine war, hatten die anderen Mitglieder der Biologengruppe bereits in Amerika erkennen lassen.

Drei Monate sind eine sehr kurze Zeitspanne. Die Einladung und das Ticket für das erste der dreimonatigen Treffen lagen schon auf dem Schreibtisch von Schellberg. Er hatte seine Gruppe total vergessen in den letzten Wochen. Rasch bat er alle um die Mails mit ihren Ergebnissen. Wie nicht anders zu erwarten, hatten die anderen auch nichts Brauchbares zu bieten. Man stand zwar im losen Email-Kontakt aber keiner der Biologen seines Teams, beschäftigte sich ernsthaft mit einem Plan zur Rettung der Menschheit. Dazu waren die anderen ungeklärten Probleme viel zu real um sich mit absurden Theorien zu beschäftigen. Natürlich verwendeten alle die angebotenen Gelder. Geld stinkt bekanntlich nicht, und wo es herkam hinterfragte keiner der Beteiligten.

So vergingen die folgenden Treffen ohne greifbare Erfolge. Die Lösungsvorschläge, die während der Meetings präsentiert wurden, beinhalteten allesamt nichts sonderlich Neues. Mal wollte einer die restlichen großen Waldgebiete und Regenwälder für den Menschen sperren. Andere hatten die Idee, jeder Haushalt sollte seinen eigenen Strom erzeugen, mittels Solarmodulen, kleinen Blockkraftwerken und Windrädern. Damit würde die Infrastruktur entlastet und zum großen Teil überflüssig werden. Der Nahrungsmittelanbau und die Nahrungsmittelverwertung sollten weltweit koordiniert werden und jedem Erdenbürger eine stabile Grundernährung garantieren, beinhaltete das Konzept einer Gruppe von Lebensmitteltechnikern und Agrarspezialisten. Im Grunde genommen alles Ideen und Konzepte die schon lange bekannt waren und nur neu eingepackt wurden. Den anderen Forschern ging es vermutlich wie Schellberg. Sie kassierten die üppigen Gelder und kümmerten sich um ihre eigenen Arbeitsgebiete.

Messco und seine Leute von der UNO und der US-Regierung waren einigermaßen enttäuscht, nichts wirklich Brauchbares vorweisen zu können.

Auch die folgenden Monate vergingen wie im Flug. Drei Treffen standen nur noch bevor. Dann endete der Auftrag und auch der Fluss der Gelder würde damit versiegen. Irgendwie musste man sich doch etwas einfallen lassen um Anschlussfinanzierungen zu ergattern.

Professor Welger bat ihn vor dem anstehenden Meeting noch ein Mal zu sich.

„Einen schönen guten Tag Dr. Schellberg. Wie fühlen Sie sich? Gibt es etwas Neues für das Projekt ,Terra‘? Kürzlich sprach ich mit meinem alten Freund Nick Messco. Wir haben auch über Sie gesprochen. Er ist schwer beeindruckt von Ihnen und Ihren Leistungen. Er erhofft sich viel von Ihnen. Möchten Sie einen Kaffee oder einen Cognac mit mir trinken?“

Johann spürte, dass Welger etwas von ihm wollte. Aber Johann war gut erzogen und wusste mit der offensichtlichen Anheimelei sehr gut umzugehen. Artig lehnte er den Cognac ab und entschied sich für den Kaffee. So sassen sie gemütlich bei einer Tasse guten Kaffees zusammen und Welger redete und redete.

„Wissen Sie, ich halte sehr große Stücke auf Sie. Ich möchte sagen, Sie sind mir und den anderen Professoren schon lange ebenbürtig. Ich erwarte in Bälde Ihre Arbeiten zur Habilitation. Ja, und ich möchte Ihnen auch sagen, ich würde mich freuen wenn wir uns Duzen könnten. Ich heisse Robert.“

Welger hielt ihm die Hand hin. Johann stand auf und nickte mit dem Kopf.

„Das nehme ich gerne an, ähh Robert. Johann. Johann Baptist.“

„Johann Baptist. Bestehst Du auf den vollen Namen? Muss ich aber nicht immer im Ganzen aussprechen, oder?“

Robert lachte und liess seine Hand gar nicht mehr los.

„Nein, nein, Johann genügt schon.“

Ein schöner Nachmittag. Johann wusste immer noch nicht so recht, was Robert mit dem angebotenen ,Du‘ und dem Gespräch eigentlich von ihm wollte. So ein wenig redete Robert um den heissen Brei herum. Natürlich wollte Johann die Professur machen. Er war bereits voll dabei. Insgeheim hoffte er natürlich als ordentlicher Professor bei der Uni angestellt zu werden. Er wollte keinesfalls als Privatdozent arbeiten.

Am nächsten Morgen fuhr Johann mit dem Zug nach Frankfurt. Er war schon oft in Frankfurt. Doch Johann war kein Freund von lärmenden Großstädten. Er fand die Hochhäuser würden nicht zu dieser altehrwürdigen Stadt passen. Deshalb zog er es vor direkt zum Flughafen zu fahren um dort die Zeit bis zum Abflug zu verbringen. Mit dem Laptop auf dem Schoss versuchte er zu arbeiten. Fast hätte er dann noch den Flug verpasst, so versunken war er in seine Arbeit.

Im Flugzeug räkelte sich Schellberg, müde, ausgelaugt in seinem Sitz und versuchte zu schlafen. Er flog in der Touristenklasse. Sicher er hätte auch Business nehmen können. Doch sein Hang zur Sparsamkeit hemmte ihn, diese teure Variante zu wählen.

„Das muss nun wirklich nicht sein“, sagte er zu sich selber.

Im Flugzeug war es wieder mal sehr eng und laut. Die Fluggesellschaften quetschten soviel Leute wie nur irgend möglich in ihre Flugzeuge. Ob man sich dabei die Glieder verrenkte war denen kein besonderes Anliegen. An Schlaf war jedenfalls in dieser Stellung nicht zu denken. Vor und hinter ihm, hatten groß gewachsene Passagiere ihre Sitze so verstellt, dass Schellberg sich richtig eingequetscht vorkam. Es war wirklich so unbequem, wie lange nicht. Trotzdem übermannte ihn nach ein paar Stunden der Schlaf.

Dabei begann er zu träumen. Johann Schellberg träumte insgesamt sehr wenig. Wenn überhaupt dann meist von Aminosäuren, DNA-Strängen und Algorithmen. Lauter abstrakte Dinge eben. Aber in diesem Traum stellte er sich kurzerhand vor, sehr viel kleiner zu sein und somit bedeutend mehr Platz zu haben. So klein wie ein Kind.

Ahh, sich so richtig ausstrecken zu können. Es war ein angenehmer, ein schöner Traum.

Aber jeder noch so schöne Traum ist einmal zu Ende und Schellbergs Traum endete mit einem kräftigen Stoss seines Hintermannes gegen die Rückenlehne.

So unsanft geweckt, wachte auf und verspürte Kreuzschmerzen. Er wollte sich umdrehen und sich beschweren, doch er war so eingezwängt, dass er sich nicht einmal umdrehen konnte. Zudem waren ihm die Füße eingeschlafen. Er überlegte kurz, erinnerte sich an seinen Traum und da hatte er diese Idee. Plötzlich war sie da. Wie ein Geistesblitz war sie über ihn gekommen. Er musste lachen. So komisch war seine Idee. Wäre sie machbar? Ja nicht sofort, aber theoretisch...Das Wissen über das Leben, über die Natur und ihre Konstruktion wurde immer mehr. Doch es gab bestimmt einen Weg. Ungewöhnlich, vielleicht. Aber warum nicht ungewöhnliche Wege gehen?

Immerhin, Johann wusste unglaublich viel über den Bereich Größenwachstum und wie es gesteuert wurde.

Diese verrückte Idee, aus einem Traum und der Enge geboren, ließ ihn nicht mehr los. So lächerlich und blöd sie ihm in den ersten Momenten auch vorkam.

Er nahm sich vor, zu Hause ein paar Versuche zu unternehmen. Vor seinem geistigen Auge hatte er bereits ein Gebilde von DNA Strängen vor sich. Er stellte sich vor wie er verschiedene mRNA codieren sollte. Kurz, sein wissenschaftlicher Verstand begann trotz der Unruhe im Flugzeug auf Hochtouren zu arbeiten.

Das Treffen in Kalifornien verlief wie zu erwarten genauso Ergebnis- und ereignislos wie alle anderen zuvor. Johann hatte nichts von seiner Idee erzählt. Zuerst musste er die schiere Möglichkeit austesten und sich dann an eine Präsentation machen.

Endlich wieder Zuhause und gestresst von Flug und Zugfahrt fuhr er mit dem Taxi sofort in sein Labor. Er ignorierte die Müdigkeit. Plötzlich war er besessen von der Idee. Von seiner Idee. Der Idee den Menschen zu verkleinern. Das war es. Das war die Lösung. Und er war immer mehr davon überzeugt, dass sie machbar wäre. Wie viele Wachstumsgene würde es wohl beim Menschen geben? Soweit ihm bekannt, hatten sie bisher ungefähr Hundert Gensequenzen entziffert, die für das Größenwachstum des Menschen verantwortlich sind. Zumindest waren nur diese Abfolgen bisher entschlüsselt. Es musste noch mehr geben. Unter Umständen sehr viel mehr.

Schellberg musste einen umfassend neuen Menschen konstruieren. Das war es. Das war seine Aufgabe. Das fesselte ihn. Er machte sich mit Hochdruck daran seine Rahmenbedingungen festzulegen, wie er sich die Forschungsarbeit vorstellte.

Einige Tage später, Schellberg hatte nicht viel geschlafen seit seiner Rückkehr, war sein Arbeitskonzept bereits fertig. Nun ging es daran die Aufgaben an seine Leute zu verteilen. Sie sollten ihm zuarbeiten ohne genau zu wissen was er vorhatte. Er kontaktierte seine Gruppenmitglieder in den verschieden Ländern und bat sie um die Ausarbeitung von Daten und Informationen, die sich auf die biologischen Auswirkungen von gentechnisch veränderten Lebewesen bezogen.

Könnte man noch die selben Nahrungsmittel zu sich nehmen, wenn sich das Größenwachstum veränderte? Würde der kleinere Mensch tatsächlich die Nahrung vertragen? Wie verhielt er sich zu Pflanzen und anderen Tieren? Würden manche Krankheiten etwa ungefährlich werden? Bakterien, Pilze und Viren, blieben ihre Angriffsstrategien dieselben, oder musste man sich auf eine Verschlechterung einstellen?

Gab es dadurch neue Gefahren? Etwa durch Umweltgifte oder ähnlichem?

Wie würde es mit der Leistungsfähigkeit stehen?

Die Experten die ihm zugeteilt waren, erwiesen sich als genau die Richtigen. Denn es gab viel zu tun. Keinesfalls wollte Dr. Schellberg aber seine Kollegen mit seiner Idee konfrontieren, bevor er nicht ausreichend Basisinformationen gesammelt hatte.

Aber war es ungerecht seiner Gruppe gegenüber, sie nicht umfassend zu unterrichten, was er im Sinn hatte?

Nein, das war es nicht, beantwortete er sich die Frage gleich selber. Beim nächsten Treffen, wenn sich die Idee besser untermauern lässt, würde noch genug Zeit sein, sich mit der Gruppe zu besprechen.

Wieder trafen sie sich in dem selben Hotel. Wie die letzten Male auch, nicht in dem riesigen Kongresssaal, sondern in einem kleineren gemütlichen Raum, der von einem großen glänzenden Tisch dominiert wurde. Die Stimmung war bedrückt. Es war schon bei den Vorgesprächen auf den Gängen zu spüren, dass niemand weitergekommen war.

Schellberg hielt sich zurück und sagte gar nichts. Aber hatte seine Biologen gebeten sich mit ihm vorab zu besprechen. Er erörterte mit ihnen die zusammengetragenen Daten. Er bat sie um Zurückhaltung als er ihnen den wahren Grund für ihre Expertenmeinungen erklärte.

Genetisch veränderte Menschen, da verzogen fast alle das Gesicht. Allen war leidlich bewusst, welche Widerstände es in Teilen der Bevölkerung und bei Umwelt- und Naturschützern gab. Die Menschen hatten schlichtweg Angst. Doch Johann liess sich nicht verunsichern. Mit trockener Stimme erklärte er ihnen was er später den anderen Teilnehmern präsentieren wollte. Ungläubiges Staunen und Heiterkeit war die Folge.

Schellberg hatte nichts anderes erwartet. Er bat um Ruhe und beschwor die Gruppe bis zum Auftritt von Johann, Stillschweigen zu bewahren.

Professor Messco begrüßte alle und forderte die Teilnehmer umgehend auf, ihre Ergebnisse zu präsentieren. Ein Beamer warf ein scharfes Bild auf ein Leinwand in der Ecke.

Nachdem sieben Vorgänger ihre dürftigen verworrenen oder langweiligen Konzepte vorgestellt hatten, war die Stimmung bei den Teilnehmern so weit gesunken, dass fast jeder bereits an die Abreise dachte. Nur Schellberg nicht. Einzig seine Biologengruppe war in einer nahezu ausgelassenen Stimmung. Sie waren alle gespannt auf die Reaktion im Saal, wenn Johann seine Idee allen Ernstes vorstellte.

Vier Leiter der Teams hatten übrigens nichts vorzuweisen. Man merkte es Dr. Messco an. Er verlor zunehmend seine Lockerheit. Aus seiner Stimme klang Verärgerung und Enttäuschung.

Endlich stand Dr. Schellberg auf.

„Hallo zusammen, Dr. Messco.“

Er nickte Messco freundlich zu und drehte sich zu allen einmal herum.

„Mein Name ist Johann Baptist Schellberg, aus Germany, von der Universität Würzburg. Ich beschäftige mich fast ausschließlich mit der Erforschung von Erbgut. Vorzugsweise des Menschen. Mein Team besteht aus Biologen, Molekularbiologen und Bioinformatikern.“

Er wartete und sah in die Runde. Johann klappte seinen Laptop auf und bat jemanden das Kabel an den Beamer an zu stöpseln. Das Bild auf der Leinwand zeigte die Erde aus dem Weltall.

„Die Zukunft der Menschheit sollen wir sichern. So lautete der Forschungsauftrag. Der Begriff ,Terra‘, unser Motiv, unser Symbol. Unser aller Fortbestand muss auf der Erde gewährleistet werden. Auf einem immer kleiner und enger werdenden Planeten. Wie sie auf dem Bild sehen und logischer Weise auch wissen, besteht der Großteil der Erde aus Wasser. Die Landflächen sind vergleichsweise klein. Das Bild wechselte und zeigte die Kontinente. Von diesen Landflächen ist aber nur ein kleiner Teil bewohnbar und nutzbar. Die anderen Flächen sind zu heiss oder zu kalt. Oder für unsere Ansprüche zu unwirtlich. In der Natur und mit der steigenden Weltbevölkerung, sowie ihres wachsenden Wohlstandes, wird es auf den zu besiedelnden Flächen immer enger. Was also tun? Tatenlos zusehen, wie wir in immer enger werdenden Siedlungen fast aufeinander sitzen und uns gegenseitig das Leben schwer machen?“

Schellberg machte eine Pause und trank einen Schluck Wasser. Im Publikum war ein Murmeln und Flüstern zu hören. Johann fühlte sich wie ein Politiker und so hörte er sich vermutlich auch an. Aber Johann war erst bei der Einleitung seines Vortrages. Er drückte auf einen Knopf und das Bild zeigte einen Saurier.

„Solche Lebewesen gab es auch einmal in großer Zahl und Arten auf der Erde. Sie besiedelten sogar für einen uns unvorstellbar langen Zeitraum die Welt. Noch heute rätseln wir darüber, wie viele es wirklich davon gleichzeitig gegeben hatte. Niemand weiss, ob es vielleicht nur wenige Tausende Exemplare, oder gar Millionen von ihnen gab. Aber wir können uns bei ihrer Körpergröße sehr gut vorstellen, welche Unmengen an Nahrung diese Tiere verzehrt haben müssen um ihren Energiebedarf zu decken. Welche ungeheure Mengen an Methan sie dabei produziert haben müssen.

Nach heutigen, weitgehend gesicherten Erkenntnissen, machte ein Einschlag eines großen Meteoriten diesen Populationen schlagartig ein Ende. Übrig geblieben sind nur die kleineren Arten. Sie waren wesentlich flexibler, anpassungsfähiger und weniger anspruchsvoll.

Erstaunlicherweise haben die Katastrophe nahe zu alle Insektenarten und Kleintiere überlebt.“

Schellberg drückte wieder auf sein Laptop und ein Bild des Menschen erschien.

„Das ist der Homo Sapiens. Das sind wir. Eine hoch entwickelte Spezies. Die Krönung der Schöpfung. Wir sind es, die diesen Planeten beherrschen. Wir bestimmen über alle anderen Planzen und Tiere. Mit einer einzigen Ausnahme: Nur die enormen Kräfte der Naturgewalten, können wir nicht selber steuern.

Aber wo genau liegen die Nachteile des Menschen? Warum müssen wir uns Gedanken über unsere Zukunft machen? Welche Schwachpunkte sind es, die uns bedrohen? Ist es unsere Gier nach immer mehr? Oder weil uns in der Natur keine Feinde gegenüberstehen und wir uns deshalb ungehindert vermehren können? Oder liegt der Fall anders und der Homo Sapiens an sich ist das Problem?“

Schellberg wartete und trank noch einmal einen Schluck. Jetzt war sein Augenblick gekommen.

„Meiner Ansicht nach leidet der modern gewordene Mensch zusehends unter dem selben Problem wie die vor 65 Millionen Jahren ausgestorbenen Saurierarten.

Der Homo Sapiens ist schlicht und einfach zu groß geworden! Alles was wir tun, was wir wollen und in der Neuzeit unternahmen, stets lautete die Erfolgsformel: Größer, Schneller, Weiter. Das wird uns langfristig in eine Sackgasse führen. Deshalb lautet mein Vorschlag zum dauerhaften Fortbestand der Menschheit :

,Der Mensch muss kleiner werden‘.“

Diesen Satz, diesen Slogan hatte Schellberg sehr laut und sehr deutlich in den Raum gerufen. Dann drückte er auf das Laptop und es erschien auf der Leinwand ein Bild das zwei Homo Sapiens zeigte. Nur dass der zweite lediglich die Größe von rund einem Viertel des anderen besass.

Es war totenstill im Raum. Nur das leise Rauschen des Beamers war zu hören.

Plötzlich begann einer zu lachen. Sie sahen sich an. Andere kicherten. Minuten später lachten alle. Sie schüttelten sich richtig vor lachen. Auch Messco hatte Tränen in den Augen. Die zu Anfangs so bedrückte Stimmung war einer ausgelassenen, fröhlichen, ansteckenden Heiterkeit gewichen. Das Eis war gebrochen.

Nur Dr. Schellberg lachte nicht. Er hatte sich zwar auf Gelächter eingestellt, aber nicht mit diesen ausgiebigen Lachsalven gerechnet. Ungläubiges Staunen der Teilnehmer wäre im bei weitem lieber gewesen. So blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten. Er bleib einfach ruhig stehen, konzentrierte sich, schaute ihn die Runde und wartete bis das Lachen verstummte. Doch irgendwann reichte es ihm mit dem nicht enden wollenden Lachen. Schließlich war er kein Komödiant. Er klopfte kräftig ans Mikrophon und begann mit fester Stimme weiter zu referieren.

„Genug amüsiert. Weiter im Text. Wie ich Eingangs erwähnte, beschäftige ich mich Genforschung. Wie viele von ihnen wissen und sich vorstellen können, schreitet die komplette Entschlüsselung des Bauplanes des Menschen, und natürlich nicht nur des Menschen, mit Riesenschritten voran. Eingeengt lediglich durch viele gesetzliche Bestimmungen. Mancherorts verbieten moralische und ethische Eingrenzungen bis dato die Versuche an und mit Menschen. Aber mit Tieren und Pflanzen darf man unter bestimmten Bedingungen und Auflagen, Versuche unternehmen.

Wir sind in diesen Dingen schon sehr, sehr weit fortgeschritten. Aber zugegeben, die Öffentlichkeit hat weiterhin große Angst davor. Versuchsfelder werden regelmäßig verwüstet. Labors von militanten Naturschützern zerstört. Wer in diesem sensiblen Bereich etwas Brauchbares vorweisen will, braucht einen langen Atem und starke Nerven.

Vor knapp zwei Jahren waren erst ca. 35-50 verschiedene Gene bekannt, die für das Größenwachstum des Menschen verantwortlich sind. Nach meiner intensiven Forschung sind es wieder etwas mehr geworden. Aus dem Gesamtkomplex von ca. 24000 Genen haben wir ca. 100 direkt aktive Gene herausgefiltert und etwas mehr als 300, die indirekt damit zu tun haben. Das Basiswissen existiert bereits und wird mit jedem Tag mehr. Es sollte keine Herkulesaufgabe darstellen nachhaltig und dauerhaft das Größenwachstum zu beeinflussen.“

Johann begann nun mit seinem Fachvortrag über sein Lieblingsthema. Da sich nur sehr wenige Biologen im Raum befanden, hatte er einen Crashkurs in Genetik vorbereitet. Auf der Leinwand erschien die Abbildung eines Chromosoms.

„Meine Ausführungen sollen ihnen einen kurzen und oberflächlichen Aufriss über den sehr komplexen Aufbau unseres Lebens geben. Dann werden sie erkennen, dass unser Wissen über die Entstehung des Lebens schon sehr weit fortgeschritten ist. Dieses Wissen können und sollten wir nutzen. Beginnen wir bei dem Baumaterial der Säuger, zu denen wir auch gehören.

Die Zellen. Jede Zelle besteht aus einem Zellkern. Der Zellkern, welcher bei Säugern typischerweise einen Durchmesser von 5 bis 16 μm hat, ist das im Mikroskop am leichtesten zu erkennende Organell der Zelle. Er wird durch die Kernhülle, bestehend aus zwei biologischen Membranen, der inneren und äußeren Kernmembran, begrenzt, welche die sogenannte perinukleäre Zisterne, deren Breite 10-15 nm entspricht, gefestigt und von Mikrofilamenten, hier mit einer Dicke von 2 bis 3 nm, umschlossen. Die Gesamtdicke der Kernhülle beträgt etwa 35 nm. Das im Zellkern vorhandene Erbgut der Zelle befindet sich in den Chromosomen, in mehrere zu Chromatin verpackten DNA-Fäden.

Im Zellkern liegt die DNA geschützt, dort findet die Replikation statt. Im Zellkern wird die Chromatinstruktur und die Transkription organisiert. Sie sehen hier eins der Chromosomen. Die Anzahl der Chromosomen variiert bei den unterschiedlichen Spezies. Die Menge der Chromosomen einer Spezies pro Körperzelle ist aber stets identisch. Der Mensch besitzt 23 Chromosomenpaare bzw. 46 einzelne Chromosomen.

Die X-ähnliche Form der Chromosomen, die in den meisten Darstellungen vorherrscht, tritt nur in einem kurzen Abschnitt während der Zellkernteilung auf, nämlich in der sogenannten Metaphase. Im einfachsten Fall enthält ein Chromosom einen durchgehenden DNA-Faden. Der DNA-Faden wird oft als DNA-Molekül bezeichnet, obwohl es sich bei der vorliegenden DNA-Doppelhelix um zwei Einzelstrang-Moleküle handelt. Eindeutige Bezeichnungen sind DNA-Doppelstrang oder DNA-Doppelhelix.

Wenn eine Zelle wächst um sich später zu teilen, dann muss in einem bestimmten Abschnitt des Zellzyklus die DNA verdoppelt werden. Dies ist erforderlich, damit später beide Tochterkerne das ganze Erbgut, also Kopien aller Chromosomen, erhalten können. Nach der DNA-Verdopplung hat jedes Chromosom zwei identische DNA-Doppelstränge.

Soviel zum Aufbau der Zellen. Und nun wird es aber wirklich spannend.

Das menschliche Genom, also die Gesamtlänge der DNA, umfasst etwa 3,2 Milliarden von Basenpaaren, mit bisher gefundenen, definierten 23700 Genen. Menschen haben zwei Kopien des Genoms, eine von der Mutter und eine vom Vater, die in jedem Zellkern vorliegen. Aus dem Molekularmodell der DNA ergibt sich für 10 Basenpaare in der Doppelhelix eine Länge von 3,4 Milliardstel Metern. Daraus lässt sich hochrechnen, dass die Gesamtlänge der DNA in jeder menschlichen Zelle über 2 Meter beträgt. Diese sind beim Menschen auf 2n = 46 Chromosomen verteilt, so dass ein Chromosom durchschnittlich etwa 140 Megabasenpaare oder Millionen Basenpaare und damit einen DNA-Faden von knapp 5 cm Länge mit etwas über 1000 Genen enthält. Das Chromosom 1, als größtes menschliches Chromosom bekannt, hat 247 Mbp, das kürzeste Chromosom 21, hat weniger als ein Fünftel davon, nämlich 47 Mbp. Die Gene sind außerdem zwischen den Chromosomen ungleichmäßig verteilt. Das im Verhältnis relativ genreichste Chromosom 19, enthält auf 64 Mbp über 3000 Gene, die ungefähr 2- 2,5 % der gesamten DNA einer menschlichen Zelle entsprechen. Während das genarme Chromosom 18 auf 76 Mbp nur etwa 600 Gene enthält.

Womit wir auch schon beim Thema Gene angelangt sind.

Der Ort auf einem Chromosom, an dem sich das Gen befindet, wird allgemein als Genort bezeichnet. Gene sind nicht gleichmäßig auf den Chromosomen verteilt, sondern kommen zum Teil in so genannten Clustern vor. Gencluster können dabei aus zufällig in räumlicher Nähe zueinander liegenden Genen bestehen, oder es handelt sich um Gruppen von Genen, die für Proteine kodieren, die in einem funktionellen Zusammenhang stehen. Gene, deren Proteine ähnliche Funktion haben, können aber auch auf verschiedenen Chromosomen liegen. Die Gene welche in den verschiedenen Chromosomen enthalten sind, wurden noch nicht alle entschlüsselt und zugeordnet. Das größte menschliche Gen hat die Bezeichnung DMD. Es besteht aus 2,5 Millionen Basenpaaren. Die Transkiption, also die Vervielfältigung des Gens, dauert alleine bei diesem Gen 16 Stunden.

Es gibt ein entscheidendes Gen für das Größenwachstum beim Menschen. Es heisst HMGA2 und besteht aus 4000 Basenpaaren. Wenn man nur ein Einziges dieser Basenpaare verändert, beeinflusst man bereits das Größenwachstum.

Ich bin nun am Ende meiner Ausführungen und hoffe ich habe ihnen einen kleinen Einblick geben können, wie breit und tief unser Wissen über den Menschen bereits ist. Die daraus resultierenden Einflussnahmen, die sich aus dem Wissen ergeben sollten wir nutzen. Wir können sie zu unserem Vorteil nutzen.

In der Praxis lässt sich nämlich mit diesem Wissen schon einiges anfangen. Ich überspringe jedoch an dieser Stelle den aufwändigen und komplizierten Prozess der bewussten Manipulierung von Gensequenzen. Ich zeige ihnen vielmehr konkrete Ergebnisse.“

Schellberg lächelte den Teilnehmern zu. Er war sich bewusst, dass viele von ihnen mit diesem Thema ihre Probleme hatten. Deshalb hatte er mit seinem Würzburger Team einen Videoclip vorbereitet.

Johann drückte auf das Laptop und wechselte zum nächsten Bild. Er spielte den Film ab.

Das Video zeigte eine Laborantin die in einem Tierlabor mit weissen Mäusen beschäftigt war. Diese rannten in einem Glasterrarium umher. Alles sah nach normaler Tierhaltung aus. Mehrere dieser Glasterrarien waren nebeneinander angeordnet. Die Kamera beobachte eine Weile das muntere Treiben der Tiere und schwenkte sodann auf das danebenliegende Becken. Auch darin befanden sich weisse Mäuse. Nur diese Mäuse waren unglaublich klein. So hatten diese Mäuse nur die etwaige Größe einer menschlichen Fingerkuppe. Die Laborantin stellte sich daneben und versuchte eine der quirligen Tiere einzufangen. Mit einem Plastikbecher fing sie mit geübtem Handgriff eine davon ein und stellte sie in dem kleinen Gefäss zu den großen, den normalen Mäusen. Der Unterschied war gewaltig. Johann beobachtete das Staunen im Publikum und lächelte. Sein Vortrag war auf dem Höhepunkt angelangt.

„Wie sie sehen, habe ich schon mal ein bisschen Vorarbeit geleistet. Das wesentlich kleinere Exemplar dieser genetisch veränderten Maus erscheint sehr zierlich und verletzlich. Doch dem ist in der Realität nicht so. Sie ist ausgesprochen agil, äußerst widerstandsfähig und kerngesund.“

Das Video lief weiter und die Laborantin ging zu einem weiteren Becken. Darin befanden sich zwei fette Mäuse von der Größe einer Ratte.

„Was sich verkleinern lässt, lässt sich logischerweise auch vergrößern. Wenn der Schlüssel einmal bekannt ist, kann man diese Prozesse ohne Weiteres beherrschen. Diese beiden großen Mäuse leiden allerdings unter Problemen, die diese winzigen Tierchen nicht kennen. Die großen Mäuse neigen zur Fettleibigkeit. Sie sind träge und behäbig. Ihre Lebenserwartung ist zwar aller Voraussicht nach, den normalen und den verkleinerten Versuchstieren etwas überlegen. Aber dafür erkranken sie meist schon sehr früh. Ihre Herzen und der Kreislauf müssen erheblich mehr leisten als bei den kleineren Tieren. Theoretisch werden sie ungefähr ein Drittel älter. Doch das letzte Drittel besteht meist aus Trägheit, Krankheit und Siechtum.

Die Lebenszyklus der normalen Maus hingegen verläuft im Allgemeinen bis auf die bereits bekannten Anfälligkeit von Kleinsäugern immer im selben Rhythmus.

Bei unseren Mini-Versuchstieren konnten wir eine bis zum Tod ausgeprägte Agilität feststellen. Ihre Krankheitsanfälligkeit war bei weitem geringer als bei den anderen. Das liegt unter anderem daran, dass sich Viren und andere Krankheitserreger, die den Mäusen bisher gefährlich werden konnten, sich nun schwerer tun, in die winzigen veränderten Zellen einzudringen. Die kleine Maus ist besser geschützt. Das wird natürlich nicht lange so bleiben, weil Viren und Bakterien extrem anpassungsfähig sind. Womöglich werden andere bisher ungefährliche Krankheiten für die neuen kleineren Tiere interessant. Hier fehlen logischerweise Erfahrungswerte.

Wie würde sich solch ein Szenario beim Menschen verhalten?

Hierzu möchte ich ihnen eine Simulation vorführen.“

Es folgte ein kleiner computeranimierter Film der die Vorteile und Lebensumstände von verkleinerten Menschen darstellte.

Nach Beendigung des Filmclips, stand Professor Messco auf und ging zu ihm aufs Podium. Er stellte sich neben ihn und sprach ebenfalls ins Mikrophon, damit ihn alle hören konnten.

„Mr. Schellberg. Bei allem Respekt. Meinen sie das im Ernst oder wollten sie uns nur ein wenig aufheitern? Das ist Ihnen aber in jedem Fall gelungen.“

Messco begann zu klatschen und alle stimmten mit ein. Dann klopften alle mit den Fingerknöcheln auf den Tisch.

„Professor Messco, verehrte Zuhörer, liebe Kollegen. Ich weiss, es klingt abstrakt und wie aus einem Science Fiktion Film. Bedenken Sie aber bitte die Möglichkeiten es zu tun, sind latent vorhanden. Der Auftrag lautete in alle Richtungen zu denken, ohne Tabus. In welche Richtung soll ein Molekularbiologe denken? Sie haben uns eindringlich gebeten, über den Tellerrand zu blicken. Das habe ich getan.

Bedenken sie die schieren Fakten. Wenn der Mensch tatsächlich nur noch ein Viertel seiner jetzigen Größe besitzen würde, bietet die Erde Platz für mindesten das vier- bis fünffache an Menschen. Wir würden Platz in Hülle und Fülle zur Verfügung haben.

Die offiziellen Zahlen besagen, dass momentan weltweit pro Tag ca. 250 000 Menschen geboren werden. Sterben müssen hingegen täglich etwa 115 000 Menschen. Das heißt, wenn ab morgen nur noch kleinwüchsige Menschen geboren werden würden, wären nach nur einem Jahr bereits 45 Millionen kleine Menschen unter der Weltbevölkerung. Die Großen, jetzt noch, ‚Normalen‘, hätten durch die Sterberate um 20 Millionen abgenommen. Damit wäre bereits nach zehn Jahren, der Anteil der Kleinen auf etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung angewachsen. Das ist enorm, bedenken sie das bitte.

Wenn man so ein Programm anwerfen würde, gäbe es in spätestens 120 Jahren überhaupt keinen, ‚Großen‘ Homo Sapiens mehr. Das ist ein Zeitrahmen, der in Anbetracht der Menschheitsgeschichte und dem Erdalter völlig unbedeutend ist. Nach diesem Zeitraum, würde man es sich gar nicht mehr vorstellen können, dass der Mensch einmal ein Längenmaß von zwei Metern erreichte. Wir können es uns doch auch nicht vorstellen, dass in grauer Vorzeit durch unsere Welt Tiere mit 35 Tonnen Lebendgewicht gestapft sind.

Ich betone nochmals: Mir ist es Ernst und es soll kein Witz sein.“

Messco beugte sich zum Mikrophon.

„Ich schlage vor, wir machen eine kleine Pause.“

Einige begannen zu klatschen und schnell entwickelte sich ein richtiger Applaus für Johann, den Vordenker. Messco breitete lächelnd die Hände aus. Er packte Schellberg freundschaftlich am Arm und sie verliessen das Podium.

Dieser wurde bereits umringt von vielen anderen, die auch sofort aufgesprungen waren.

Die bereits bei seinen ersten Ausführungen begonnene ausgelassene Heiterkeit war keine Momentstimmung gewesen. Sie war immer noch vorhanden und hatte alle Anwesenden erfasst. Die Fragen prasselten auf Schellberg nur so herein.

„Meinst du das wirklich ernst, Jo?“

„Ist das ein Fake mit den Mäusen?“

„Wie stellst du dir denn das vor mit deinen Minimenschen? Die werden doch ausgelacht, du Spassvogel.“

„Aber die Idee, an und fürs sich ist doch reizvoll, oder?“

„Aber das klappt doch nie: groß und klein zusammen!“

„Sag mal, habt ihr da vielleicht schon ein bisschen mit den Menschen herumexperimentiert?“

Und so weiter und sofort. Messco hatte sich inzwischen zu seinen Begleitern, die er stets als Vertreter der UNO und der Auftraggeber vorgestellt hatte, gestellt und angeregt mit ihnen diskutiert. Sie beobachteten die Szenerie, die sich um Schellberg gebildet hatte. Messco ging wieder zurück und bahnte sich einen Weg durch den Pulk. Er zupfte Schellberg am Ärmel.

„Jo, kommen Sie doch mal ein bisschen zur Seite. Entschuldigt Leute, ich möchte mal ein paar Worte mit Jo sprechen, alleine.“

Alle nannten ihn von nun an Jo. An seinem Institut wurde er unter den Angestellten nur mit Schelli bezeichnet.

Messco hielt ihn immer noch am Ärmel und schritt mit ihm vom Tisch weg zur dunkleren Wandregion. Die zwei Vertreter der UNO und der Regierungen standen abseits, unterhielten sich und sahen immer wieder zu ihnen herüber.

Sie nickten ihnen freundlich zu. Niemals während der vergangen Treffen, hatten sie sich geäußert oder mit einem der Kongressteilnehmer geredet. Ihr einziger Gesprächspartner war Dr. Messco.

„Nun, Jo, ich darf Sie doch Jo nennen?“

Schellberg nickte unsicher.

„Sagen Sie ruhig Nick zu mir. Nun Jo, im ersten Moment dachte ich ehrlich gesagt, an einen Scherz. Doch dann haben sie mich an meine eigenen Worte erinnert. Kreativität. Grenzenlosem Denken. Tabus über Bord werfen.

Ihre Idee klingt, verzeihen sie mir den Ausdruck, verrückt. Doch in den wenigen Minuten die dieser Entwurf auf mich einwirkte, hatte er Spuren hinterlassen. Ich weiss, vorauf sie hinaus wollen. Glauben sie denn tatsächlich an die Möglichkeit, an einer Verwirklichung ihrer Forschung? Haben sie tatsächlich so kleine Mäuse gezüchtet? Es ist so einfach, wie es aussieht?“

Jo Schellberg wurde das Gespräch doch unangenehm. Er blieb stehen und sah Messco in die Augen.

“Äh, Nick, nicht alle auftretenden Probleme sind bereits gelöst. Das wäre zu vermessen, so etwas zu behaupten. Die Mäuse sind existent. Aber Mäuse sind keine Menschen. Mit ihrer Hilfe und ihren finanziellen Mitteln konnte ich einen der größten Computerrechner der Welt für kurze Zeit benutzen. Bei den Mäusen reichte das vorerst. Für das menschliche Genom und seine unzähligen Verbindungen und Abhängigkeiten bräuchte ich mehrere Computer um die Stränge durchzuarbeiten. Das wird viel Zeit in Anspruch nehmen und es dürfen absolut keine Fehler dabei unterlaufen.

Aber ich halte es für möglich. Ob es international durchführbar ist, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“

„Yeah, Jo, darüber machen sie sich keine Gedanken. Das ist die Aufgabe ganz anderer Herren. Wir sollen denen nur Konzepte liefern.

Ich denke, nach dem Mittagessen sollten wir ihren Vorschlag in der Runde ausgiebig diskutieren.“

Jo Schellberg faltete die Hände und lächelte.

„Ok. Nick, bis später.“

Messco ging zurück zu den beiden UNO und Regierungsvertretern und verschwand mit ihnen aus dem Raum.

Plötzlich wollte jeder mit Schellberg zu Mittagessen. Man traf sich im Speisesaal des Hotels, in dem bereits die Tische gedeckt waren und das Personal auf die Kongressteilnehmer wartete. Jo war unsicher zu wem er sich setzen sollte.

Doch er sich versah, hatten die Leute die Tische zusammen gestellt und er wurde mit Fragen geradezu überschüttet. Das hatte er nicht erwartet. Die Gespräche waren sehr locker und von einer ausgelassenen Art.

Die trockene Stimmung, die die ganzen Treffen über geherrscht hatte, war wie weggeblasen. Es war diese Aufbruchstimmung die nun alle genossen und inspirierten. Nun war das Eis endlich gebrochen. Nun hatte man ein Ziel an das man hinarbeiten konnte. Ein Lichtblick auf den man so lange gewartet hatte..

Johann Baptist Schellberg hatte die Gruppe angestossen. Er hatte einen Impuls erzeugt unter den Teilnehmern, den Niemand mehr für möglich gehalten hatte. Zugegebenermaßen hatten ein Großteil der Forscher bereits mit dem Thema abgeschlossen. Man trauerte allgemein dem versiegenden Geldstrom hinterher. Obwohl diese Leute, die hier versammelt waren, zumeist keine eigenen wirtschaftlichen Interessen an den Projekten hatten. Vielen genügten ihre bescheidenen Bezüge. Keiner der Anwesenden lebte auf großem Fuss oder im übertriebenen Luxus.

Solche Lebensumstände gehörten nicht in die Welt der Wissenschaft.

Schellberg beantwortete brav alle Fragen, sofern er sie in verständlichen Worten erklären konnte. Denn die Molekularbiologie war ein hochkomplizierter und komplexer Themenbereich. Ins Detail zu gehen war für Laien oder Fachfremde sinnlos, da ihnen das nötige Fachwissen fehlte, um ihm folgen zu können. Für viele der Fachausdrücke und Bezeichnungen fehlte auch eine erklärliche Umschreibung.

Trotzdem war das Interesse riesengroß. Genetischer Fingerabdruck, Vergleiche mittels Speichelprobe, geklonte Tiere, Pränataldiagnostik, all diese in den Medien bekannte Begriffe, waren allen geläufig. Welche unvorstellbare Technik eigentlich dahinter steckte, den wenigsten. Aber Jo war geduldig und erklärte und erklärte.

Es gab auch ausgewiesene Gegner der Materie. Sie äußerten Angst und Bedenken in das Erbmaterial von Lebewesen einzugreifen. Sie hielten es für keine gute Idee, die von der Natur vorgegebenen Gene des Menschen und anderer Lebewesen zu manipulieren. Zu groß die Gefahr, die Wechselwirkungen zu unterschätzen. Insgeheim gab Johann ihnen recht. Doch ohne es zu versuchen, würde man auch keine Erfolge erzielen können. Jo, hielt ihnen entgegen, dass sich die Gene auch ohne das Zutun des Menschen veränderten. Sie reagierten auf Umwelteinflüsse, Fressfeinde und alle diese Dinge. Solche Veränderungen fanden natürlich nicht schlagartig statt, aber waren doch bei vielen Tieren und Pflanzen nach einigen Populationen zu beobachten. Auch war es seit Jahrhunderten üblich, von der Natur zufällig entstandene neue Arten oder für den Menschen gefällige, positive Eigenschaften von Nutztieren und Pflanzen weiter zu züchten.

Johann gelang es mit seiner Argumentation nicht, diese grundsätzliche Abwehrhaltung zu beruhigen. Doch auch die Gegner der Gentechnik, hielten die Idee das Größenwachstum zu begrenzen, für durchaus positiv.

Am Nachmittag wurde mit großer Mehrheit beschlossen, die Idee von Jo, wie ihn nun alle nannten, weiter zu entwickeln.

Dr. Messco appellierte weiter an die Forschungsteams, auch noch andere Ideen zu präsentieren. Zwei Treffen standen schließlich noch aus. Er sprach Jo nochmals Dank aus, für seine hervorragende Arbeit, den Denkanstoss und für die gelungene Präsentierung seiner ungewöhnlichen Ideen.

Mit gemischten Gefühlen flog Schellberg wieder nach Deutschland. Nun hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Während des zwölf Stunden langen Fluges gab es wenig Ablenkung. Er dachte an den Kongress und die Diskussionen.

War das wirklich eine gute Idee, die er da vorgestellt hatte? Aber die Begeisterung war echt. Klar, jeder lacht zuerst. Wer möchte schon ernsthaft wieder so klein sein wie ein Kleinkind? Zurück zu den Anfängen? Eine Rückentwicklung?

Dr. Schellberg war immerhin fast Einmeterneunzig groß. Konnte er sich vorstellen, nur winzige fünfundvierzig Zentimeter groß zu sein? Nein, wirklich nicht. Er musste unwillkürlich an die kleinwüchsigen Menschen denken. An ihre Probleme mit den Knochen und Gelenken, den oft unpassenden Proportionen. Großer Kopf und kleiner Körper. Kurze Arme und Beine. Die meisten sahen irgendwie komisch aus.

Doch mit der angewandten Gentechnik musste alles anders werden. Die Proportionen mussten passen. Anders wäre die Verkleinerung nicht zu vermitteln.

Dazu kamen noch die Bedenken, ein kleineres Gehirn wäre nicht so leistungsfähig wie unser großes Gehirn.

Aber die schiere Größe und Gehirnmasse hatte laut Hirnforschern, nachweislich nichts mit der Intelligenz zu tun. Aber was wenn doch? Wenn die Geistesleistung des verkleinerten Mensch dementsprechend niedrig anzusetzen sein wird? Wer soll das schon wollen?

Das durchschnittliche Gehirn eines Menschen betrug ca.1500 Gramm. Es gab sogar Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Wenn man davon ausginge, dass ein verkleinerter Mensch proportional nur noch 350 Gramm Gehirnmasse hatte...

Nun das hatte er natürlich noch nicht bedacht bei seinen Studien. Er wusste als Biologe natürlich, dass es einen Zusammenhang zwischen Körpergröße und der dazu benötigten Gehirnmasse gab. Aber ob die Leistung eines Gehirns von nur 350 Gramm ausreichen würde, damit der neue Mensch die gleiche Geistesleistung wie ein normaler Homo Sapiens erbringen kann, das war nur in einer Versuchsreihe nachzuweisen. Und das konnte dauern. Mehrere Generationen lang. Bis ein Mensch erwachsen wurde, man seinen IQ feststellen konnte, das erforderte einen Forschungszeitraum von Jahrzehnten.

Gott sei Dank, befand sich in seiner Gruppe ein namhafter Hirnforscher. Der sollte sich mit diesem Problem auseinandersetzen und einige Studien über das Thema verfassen.

Ein anderes viel schwieriger zu lösendes Problem war die Tatsache, dass man nicht einfach mit dem menschlichen Genom nach Belieben manipulieren konnte. Die rechtlichen Bestimmungen waren sehr eindeutig.

Wie sollte er es also schaffen, einen kleinen Menschen herzustellen?

Sollten sie ihn auch nur bei einem Versuch ertappen, mit menschlichen Genen zu ‘spielen‘, wäre das das Ende seiner wissenschaftlichen Karriere. Und nicht nur das: Die strafrechtlichen Konsequenzen mochte er sich gar nicht ausmalen. Genauso wenig rosig die Situation, wie die internationale Presse über ihn herfallen würde. Wenn Nick Messco und diese mysteriösen UNO und US-Vertreter hier nicht ihre schützende Hand darüber hielten, war dieses Projekt nicht durchführbar.

Obwohl, diese beiden Herren hatten sich auch nach der anregenden Diskussionen rund um das Thema Verkleinerung abseits gehalten. Sie saßen zwar mit an den Tischen, machten sich aber allenfalls Notizen.

Sie wurden auch von Dr. Messco nicht namentlich vorgestellt. Niemand kannte ihre Namen, Titel und ihre Funktion. Das war schon ein sehr sonderbares Projekt.

Das Projekt mit dem nichts sagenden Titel ,Terra‘.

Sollte das Gremium seine Idee tatsächlich weiterverfolgen, wäre die Arbeit von Johann auf Jahre hinaus gesichert. Er würde die besten und neuesten Technologien nutzen können. Forschungsgeld würde in unerschöpflichen Mengen zur Verfügung gestellt.

Er stellte sich vor, wie er alleine den Baukasten des Menschen beherrschen konnte. Johann Baptist Schellberg wusste sehr wohl wie weit seine Kenntnisse bereits gediehen waren. Das Genmaterial von Säugetieren so zu manipulieren um das Größenwachstum beeinflussen, das war sein alleiniges Werk.

Natürlich wusste Schellberg, dass das Größenwachstum der Menschen von einem Wachstumshormon der Hirnanhangdrüse produziert wird. Doch dieses Hormon war nur für das Gesamtlängenwachstum eines Säugers mitverantwortlich. Schellberg hatte nicht vor in diesen Hormonhaushalt einzugreifen. Seine Stellschrauben waren die Gene. Johann war fest davon überzeugt, dass sich dort der wahre, der einzige Schlüssel befand.

Bei dem Film mit den Mäusen hatten er und seine Leute schon getrickst. Die Mäuse waren natürlich in dieser Form wie sie in dem Film zu sehen waren, tatsächlich eine Fälschung. Wenn es so einfach wäre, Lebewesen nach Belieben zu verkleinern oder zu vergrößern, dann würden sich seine Forschungen erübrigen. Er hatte der Einfachheit halber, mit extrem kleinen Zwergmäusen experimentiert.

Die Mäuse aus den anderen Terrarien waren völlig andere, viel größere Arten. Aber einen Erfolg konnte er trotzdem verbuchen:

Die manipulierten, befruchteten Eizellen der Mäuse hatten messbar kleinere Mäuse hervorgebracht. Sie waren deutlich verändert zur Welt gekommen. Seine DNS Behandlung war nicht umsonst. Die Tiere waren kleiner, aber nicht sehr viel kleiner. Leider erreichten ihre Nachkommen wieder ihre ursprüngliche Größe. Von den anderen Anomalien gar nicht zu reden. Die ungleichmäßige Ausbildung von Exkrementen und Organen, um einige zu nennen. Es gab also noch irrsinnig viel zu tun.

Davon hatte Schellberg natürlich nichts erzählt. Mit der heutigen Videotechnik hatte man solche Schönheitsfehler im Nu wegkorrigiert. Niemand hatte etwas bemerkt.

Schellberg räkelte sich im Sitz und hoffte, dass der Flug bald zu Ende sein wird. Das Fliegen empfand er immer noch als die anstrengendste und endlos langweiligste Art seine Zeit zu verbringen. Sinnlos vergeudete Zeit. Immerhin gelang es ihm im Flugzeug über manches nachzudenken.

Zum letzten Treffen flog Schellberg Businessclass. Nick hatte ihm das Ticket geschickt, mit dem Hinweis, er könne sich gut vorstellen, wie anstrengend das Fliegen für einen Menschen seiner Größe sein kann. Johann hatte inzwischen kein schlechtes Gewissen dabei. Den Finanziers des Projektes kam es offenbar nicht auf jeden einzelnen ausgegebenen Dollar an. Außerdem rechnete sich Johann gute Chancen aus, einen üppig dotierten Nachfolgeauftrag zu bekommen.

Als er am nächsten Morgen den Konferenzraum betrat, empfingen sie ihn mit lautem minutenlangen Applaus. Schellberg glaubte im ersten Moment auf der falschen Veranstaltung zu sein. Waren das wirklich alles Wissenschaftler? Diese Form von Enthusiasmus war ihm in diesen Kreisen bisher eher fremd gewesen. Waren einige vielleicht nur froh darüber, dass Johann und nicht einer von ihnen für seine Idee, Rede und Antwort stehen musste?

Professor Messco kam auf ihn zu und umarmte ihn herzlich. Jo Schellberg war das mehr als unangenehm. Im Grunde hasste er alle Berührungen und allzu große menschliche Nähe. Ohne es sich ehrlich eingestehen zu wollen, hasste er die Menschen.

Er ekelte sich vor ihrem Geruch, ihren Ausdünstungen. Vor ihrer klebrigen oder feuchten, verschwitzten Haut. Vor laschen oder zu festen Händedrücken. Vor diesen zu intimen Umarmungen und Streicheleinheiten. Vor unangenehmen Mundgerüchen. Vor starren, zu tiefen und intensiven Blickkontakten, kurz alles was sich die Menschen an körperlicher Vertrautheit entgegenbringen.

Vielleicht lag der Grund in seiner Kindheit. In seinem Elternhaus wurde nicht gekuschelt. Es gab keine Gefühlsduselei und Händchenhalten, oder Küsschen hier und da. Bei ihnen Zuhause, da wurde eisern auf Disziplin und gute Noten geachtet. Niemals hatte er beobachtet, dass sich seine Eltern geküsst, umarmt oder liebkost hatten.

Das wurde in seinem Elternhaus unausgesprochen als unschicklich angesehen. Seine Mutter wurde zuweilen richtig böse, wenn er als Kind ihre Nähe gesucht hatte. Sie drückte ihn ohne viel Federlesens, kurzerhand weg. Wenn es ihr zuviel wurde, oder Johann aufdringlich wurde, gab es durchaus mal einen Klaps. Wenn er sich recht erinnerte, hatte ihm seine Mutter jemals einen Kuss gegeben?

Seine Eltern waren richtige Arbeitstiere. Die Mutter, wesentlich jünger als sein Vater, verbrachte ihr halbes Leben damit, irgendwelche trockenen Analysen zu verfassen. Ihr Spezialgebiet war die höhere Mathematik. Sie arbeitete für eine große Versicherung um deren Risiken zu berechnen.

Sein Vater lehrte zuletzt an der Universitär Tübingen. Sein Lehrstuhl für Biologie und die Arbeit im angeschlossenen Institut forderten ihn oft bis spät in die Nacht. Doch als er mit 65 Jahren zwangspensioniert wurde, änderte sich sein Wesen. Die Uni bot ihm zwar noch einen Beratervertrag für den Zeitraum von zwei Jahren an, doch er lehnte tief beleidigt ab. Kurze Zeit darauf, begann seine Krankheit. Zu dieser Zeit studierte Johann bereits. Wie sein Vater Biologie und Bioinformatik. Aber sein Vater wurde verschlossener. Während seiner Gymnasialzeit musste er Abend für Abend, Wochenende für Wochenende von seinen Leistungen in der Schule berichten. Damit war es plötzlich vorbei. Mitten in der Nacht begann sein Vater spazieren zu gehen. Er redete sehr wenig, und wenn, dann einen unglaublichen Unsinn. Inzwischen hatte ihn seine Mutter in einem feudalen Pflegeheim untergebracht. Dort verbrachte er seitdem, mehr oder weniger dahinvegetierend seine Tage.

Johann hatte seinen alten Herrn Zeit seines Lebens niemals berührt. Zumindest soweit seine eigene Erinnerung reichte. Deshalb hatte er auch kein großes Bedürfnis seinen kranken Vater oft zu besuchen. Die Situation war ihm ganz Recht.

Nein, einen negativen Rückblick auf seine Kindheit und Jugend möchte Johann dann doch nicht werfen. Seine Eltern hatten ihn schon richtig geformt. Ihn mit ungeheurem Wissen ausgestattet. Ihn gefördert und gefordert wo es nur ging. Von klein auf.

Sein Interesse an Biologie, an der Natur und später auch für den Menschen steigerte sich um so mehr, als er erwachsen wurde und sich selber als unnahbares Individuum begriff. Als einen singulären Homo Sapiens. Einer der neben den anderen seiner Art steht. Einer der besser ist als die anderen. Ein elitärer Homo Sapiens.

In seiner Jugend beobachtete Johann die Natur eingehend. Das Erwachsenwerden war genauso interessant, wie die Natur um ihn herum. Ameisen wie sie sich mit ihren Fühlern und Vorderbeinen eifrig betasteten. Hunde die sich ausgiebig beschnüffelten und beleckten. Im Zoo konnte er die Primaten bei ihren gegenseitigen Tätigkeiten der Fellpflege studieren. Das nannte man soziales Verhalten. Aber warum so fragte sich der Junge Johann Baptist? Immer wieder zog er Parallelen zu seinem eigenen Umfeld. Er fühlte sich auch so wohl. Ohne befingert, abgeleckt oder gelaust zu werden.

Für ihn stand eindeutig fest, der Mensch nahm in der Evolution einen absoluten Spitzenplatz ein. Doch diesen Spitzenplatz musste der Mensch verteidigen. Das fortschreitende Größenwachstum der Menschen würde langfristig seinen Untergang bedeuten. Größenwachstum war zwar beeindruckend, kraftvoll und imposant. Doch aus biologischer Sicht mit Sicherheit eine Fehlentwicklung. Alle großen Lebewesen der Erde kämpfen schon sehr lange ums Überleben. Nicht wenige sind vom Aussterben ihrer Art bedroht.

In zahlreichen Versuchen wurde bereits nachgewiesen, dass vor allem der Sauerstoffgehalt der Atemluft, sowie die Ernährung, einen bedeutenden Einfluss auf das Größenwachstum haben. Die Menschen wurden dadurch immer größer. Immer länger ihre Arme und Beine. Schellberg selber fühlte sich schon zu groß. Fast zwei Meter! Wozu?

Die Durchschnittsgröße der Menschen in Europa und den hoch entwickelten Ländern stieg von Generation zu Generation. Einige erstaunliche Veränderungen hatte dieses Längenwachstum mit sich gebracht: Die Schädel wurden länger und schmäler. So hatten die Zähne keinen Platz mehr im Kiefer. Genauso wie die Augen. Die Augäpfel wurden auch schmäler, weil die Augenhöhlen im Schädel sich verändert haben. Dadurch veränderte sich die Möglichkeit, der Fokussierungen der Augen.

Heutzutage gibt es in Europa und Amerika kaum mehr Kinder und Jugendliche, die keine Zahnspange und Brille benötigen. Im neunzehnten Jahrhundert wurden Sehhilfen erst mit zunehmenden Alter notwendig. Zahnspangen waren noch vor 150 Jahren völlig unbekannt und nicht unbedingt notwendig.

Wenn das Längenwachstum so weitergehen sollte, würde es den Menschen in seinem Äußeren ein ganz anderes Erscheinungsbild geben, als wir das heute gewohnt sind.

Diese Szenerien waren nach Meinung von Schellberg keine guten Aussichten. Vielleicht gelang es ihm, dagegen zu steuern. So wie er hier empfangen wurde, deutete alles darauf hin. Eine radikale Kursänderung stand bevor.

Jo Schellberg setzte daher alles daran, sich so schnell wie möglich aus der Umklammerung von Dr. Messco zu befreien. Er erwiderte aber weiterhin freundlich die Begrüßung. Er wusste schließlich, dass die Amerikaner oftmals eine aufgesetzte Freundlichkeit bei Konversationen bevorzugen. Missmutige oder gar abweisende Floskeln waren verpönt und wurden als unhöflich angesehen. Leider machten sich nach Messco auch die anderen daran, über ihn in ähnlicher Weise herzufallen. Ängstlich blickte Schellberg umher, auf der Suche nach einem Ausweg. Es gab keinen. Er musste notgedrungen die Berührungen und die körperliche Nähe der anderen Kongressteilnehmer ertragen. Er spürte wie ihm der Mund trocken wurde. Es wurde ihm definitiv zu viel. Er fing an mit den Armen zu wedeln und drängte zu seinem Platz.

Messco hatte ihn beobachtet und erkannt, dass bei dem jungen Deutschen mehr im Spiel war, als nur Schüchternheit. Messco klatschte ihn die Hände und forderte lautstark alle auf, doch bitte ihre Plätze einzunehmen.

Jo atmete erleichtert auf. Messco nickte ihm freundlich zu. Verstohlen und mit einem schwachen Lächeln bedankte sich Jo bei ihm. Dr. Messco betrat langsam das Podium und er hatte ein freudiges Lächeln aufgesetzt, das nicht den Anschein erweckte, es sei gespielt.

Er wartete gar nicht erst bis die Gespräche verstummten, sondern fing unverzüglich mit seiner Begrüßungsrede an:

„Meine lieben Freunde. Inzwischen sind wir ja so etwas wie Freunde geworden. Die 24 Monate sind um. Die Zeit ist leider schneller vergangen als uns lieb ist.

Unser letztes Treffen dient nun dazu, unseren Auftraggebern Ergebnisse zu präsentieren. Sie alle haben in den vergangenen zwei Jahren viel gearbeitet. Einige gute Ideen haben wir diskutiert.“

Messco machte eine Pause. Er lächelte breit. Es war inzwischen mucksmäuschenstill im Raum.

„Eine Idee, hat uns allerdings alle, doch ich glaube, es ist die richtige Bezeichnung dafür, wenn ich sage: Sie hat uns fasziniert. Diese Idee hat uns gefesselt. Sie hat uns angetrieben, weil es eine gute Idee ist.

Zugegeben, sie klingt Anfangs verrückt. Als hätte sich jemand einen Scherz erlaubt.

Doch wie ihre, unser aller Begeisterung gezeigt hat, können wir es schaffen. Diese Idee könnte nicht nur, sie ist der Schlüssel für den Fortbestand unserer Spezies.

Nicht Gott alleine wird uns helfen.“

Messco hob beschwörend den rechten Zeigefinger und mit einem Satz rechtfertigte er die Forschung von Johann Baptist Schellberg.

„Aber Gott hat uns die Instrumente gegeben, um sein Werk nicht untergehen zu lassen.“

Er liess den Satz wirken, ihn im Raum stehen, bevor er weitersprach.

„Denn wir werden diese Erde ratzekahl fressen, wir werden alles verwüsten und verbrennen, wenn wir nicht rechtzeitig und mit aller Macht gegensteuern.

Ich denke, ich spanne euch nicht länger auf die Folter, wenn ich sage: Jo, ja, Jo Schellberg, du hattest die richtige Eingebung. Du hast uns alle inspiriert.

Aber, da wir Demokraten sind, werden wir erst diskutieren und dann eine gemeinsame Resolution ausarbeiten und unseren Auftraggebern vorlegen.

Und nun bitte ich, dass sie sich alle ausführlich äußern. Ich danke euch.“

Messco verliess das Podium mit schnellen Schritten und nahm wieder Platz.

Ein südamerikanischer Kollege, der ein Fachteam von Naturforschern, und Geologen leitete, machte sich als Erster auf den Weg zum Rednerpult. Er machte sich nicht die Mühe sich mit seinem Namen vorzustellen.

„Ich stamme aus Bolivien. Auch unsere Gruppe hat sich mit dem Thema beschäftigt. In meinem Teil der Welt spielt die absolute Größe des Menschen keine besondere Rolle. Unsere Bewohner erreichen durch die Bedingungen der Umwelt nicht die europäischen und nordamerikanischen Maße. Zudem ist unser Land arm. Wir hinken in der wirtschaftlichen Entwicklung der internationalen Gemeinschaft hinterher. Aber unser Land ist auch reich. Nämlich an begehrten Bodenschätzen. Aber was, wenn sie eines Tages erschöpft sind? Wenn sich die Ausbeutung nicht mehr lohnt?

Wir sehen den rapiden Abbau der Bodenschätze mit großer Sorge. Sie werden nicht nachwachsen. Eine Reduzierung des Abbaus ist in jedem Fall wünschenswert. Die früher so zahlreichen und flächendeckenden Regenwälder müssen den Menschen Platz machen. Auch hier sehen wir uns nicht in der Lage sie zu schützen.

Wir sehen außerdem die wachsende Dichte, der Städte von Mexico City, São Paulo oder Buenos Aires. Das wird in einigen Jahrzehnten massive Probleme geben.

Trotzdem ist es von großer Wichtigkeit, dass wir die Belange der zahlreichen Naturvölker respektieren. Sie werden sich nicht gewaltsam verkleinern lassen.

Aber ich gebe ihnen recht Dr. Schellberg. Ihre Ansätze sind prinzipiell richtig. Deshalb befürwortet meine Gruppe die Erforschung ihrer Ideen.“

Es folgten alle elf Fachteamleiter, jeder der Redner stellte in seinem Abschlussbericht die Resultate seiner Forschungsgruppe vor. Natürlich machten viele von sich aus, schon mal auf die mehr als ungewöhnliche Idee von Jo Schellberg aufmerksam. Den Homo Sapiens langfristig zu verkleinern, sein Größenwachstum zu bremsen und so den begrenzten Platz auf der Erde besser ausnutzen zu können, fanden die einzelnen Fachteams einen interessanten Lösungsansatz.

Einige Projektgruppen hatten sich mit dieser Theorie schon mal intensiv auseinander gesetzt.

Natürlich gab es auch noch jede Menge andere beachtenswerte Ansätze. Denn die wachsende Weltbevölkerung mit ausreichend Nahrung zu versorgen, dürfte in wenigen Jahrzehnten mit enormen Aufwand verbunden sein. Deshalb schlug hier ein Team die Herstellung von synthetischen Lebensmitteln vor. Das sollte die Überproduktion von landwirtschaftlichen Produkten verhindern. Es wurde weltweit zuviel frische Ware in großem Umfang weggeworfen.

Aber immer wieder kehrten die Redner auf die theoretische Möglichkeit zurück, die Probleme einfach durch verhindertes Größenwachstum in den Griff zu bekommen.

Ein Redner aus der Riege von Ingenieuren, hatte sich mit den praktischen Auswirkungen beschäftigt.

„Dass es sich durchaus lohnen kann, mal in kleineren Dimensionen zu denken, zeigen uns die Kollegenbeiträge. Unser Team hat sich mit den Auswirkungen auf unsere Städte und das Gemeinwesen befasst. Unsere vorhandenen Verkehrssysteme wären auch während einer Umstellungsphase in der Lage, ohne in ihre reguläre Bausubstanz einzugreifen, ungeheure Mengen an Transporten, an Fahrzeugen aufzunehmen. Die Infrastruktur ist ja maßlos überdimensioniert. In die vorhandenen U-Bahntunnel könnten wir drei oder sogar vier Züge gleichzeitig fahren lassen. Die Querschnitte lassen uns immense Freiheiten in der Gestaltung.

Aber es wird auch enorme Nachteile geben. Viele Gebäude, Anlagen, Stadien, Konzertsäle und Museen werden uns als zu gewaltig erscheinen. Die Baudenkmäler dieser Welt werden wir nicht mehr nutzen können. Denken sie an Kirchen oder mittelalterliche Rathäuser. Niemand wird die Stufen erklimmen können.

Aus unserer Sicht wird es aber die größten Konflikte im Zusammenleben von groß und klein geben. Eine Trennung von beiden Menschenarten wird aus unserer Sicht unerlässlich sein.“

Der letzte Redner zog es vor, langsamen, gemessenen Schrittes auf das Podium zu steigen. Er war rein äußerlich der älteste Teilnehmer des Kongresses. Er vertrat die Gruppe der Religionswissenschaften und der Philosophen. Sein Gesicht, das einen besorgten Eindruck machte, liess ihn noch älter erscheinen.

„Meine lieben Teilnehmer. Mein lieber Freund Nicolas. Herr Dr. Schellberg.

Ja, zugegeben ihre Idee klingt lustig. Menschen so klein wie Kinder. Vielleicht ist sie sogar sinnvoll, wenn man nur die reinen Fakten betrachtet. Womöglich wird es ihnen sogar gelingen, das Erbgut nach ihren Vorstellungen zu verändern. Aber was würde das bedeuten? Sie würden sich über Gott stellen. Sie würden sein Werk in Frage stellen. Die Allmächtigkeit und Einzigartigkeit unseres Gottes anzweifeln.

Wir sind ein von Gott geschaffenes Wesen. Wir sind uns als einziger Organismus auf dieser Welt, unseres Daseins bewusst. Kein anderes Lebewesen kann so etwas von sich behaupten. Wir sind einzigartig und nicht nur ich möchte, dass das so bleibt. Wir denken das sich das Bevölkerungswachstum von alleine reguliert. Ich sehe die Notwendigkeiten nicht, in diese elementaren Vorgaben der Natur einzugreifen.

In unserer Gruppe haben wir sehr lange über diese Aspekte diskutiert. Wir sind uns bis zum Ende nicht einig gewesen.

Aber die kritischen Stimmen haben dennoch überwogen. Ihr Tenor lautet: Hände weg vom Erbgut des Menschen.

Andererseits: Mehr zu wissen schadet nicht. Einer kompletten Erforschung des menschlichen Erbgutes stünde aus unserer Sicht, nichts im Wege.

Deshalb wünsche ich ihnen dabei alles Gute, Dr. Schellberg.“

Am Ende trat Jo Schellberg ans Pult. Er hatte viel Unterstützung erfahren, aber Johann hatte auch die kritischen Untertöne wahrgenommen. Doch die Grundstimmung signalisierte ihm, dass er im Recht war. Die Situation der Weltbevölkerung würde sich langfristig verbessern. Denn was weltweit in den Punkten Energie und Nahrungsmittelproduktion getan wurde, reichte bei weitem nicht aus um allen ein Überleben im Wohlstand zu garantieren.

Die ethischen Bedenken, in den genetischen Prozess der Menschwerdung einzugreifen musste man dafür in Kauf nehmen. Hier galt es die Ängste zu zerstreuen. Ihm und anderen Forschern durften bei derartig elementaren Veränderungen keine, nicht mal die kleinsten Fehler unterlaufen. Johann war nur wichtig, dass die Richtung stimmte. Er wollte sich nur in einem kurzen Statement äußern. Es würde ihm völlig genügen, dass seine Idee im Schlussreport als gangbarer Weg beschrieben wurde. Sollten sich Forschungsaufträge daraus ergeben wäre er mehr als zufrieden.

„Ich bedanke mich bei allen Teilnehmern für die breite Unterstützung. Sie alle haben sich ausführlich mit allen Aspekten und Verknüpfungen in einer Welt beschäftigt, die von wesentlich kleinwüchsigeren Menschen bevölkert sein könnte. Von statistischen Erhebungen, wie der Unterschied von reiner Körpermasse, von etwa zehn Milliarden Homo Sapiens, bis zu den Einflüssen der Weltreligionen wurde von ihnen alles durchleuchtet und diverse Szenerien durchgespielt. Das war alles hochinteressant.

Mein Vorschlag, meine Idee, sollte einen Denkanstoss für unsere Auftraggeber liefern.

Sie alle haben dazu bei getragen, fundierte wissenschaftliche Begründungen dafür zu liefern. Aber es liegt noch ein langer, weiter Weg vor uns.

Nicht dass sie denken, der Stand der Forschung sei bereits so weit gediehen, dass es reicht, man müsste nur eine Pille einnehmen um kleinere Nachkommen zu zeugen. Würde man das Ziel weiterverfolgen, um unsere Spezies zu verkleinern, würde eine jahrelang andauernde Forschungsreihe notwendig sein. Bei diesen Forschungsarbeiten wird es auch Rückschläge geben. Denn mir ist sehr wohl bewusst, welche Gefahren bei der Veränderung von Genen lauern. Doch ich bin überzeugt von der Machbarkeit.

In einigen Jahren werden wir alle mit den Funktionen der Gene so vertraut sein, es wird eine Selbstverständlichkeit für uns werden, den Baukasten der Natur zu benutzen. Unser Wissen und unser Können haben sich auch in diesen molekularen Bereich der Zellen ausgebreitet. Es wird so selbstverständlich und natürlich sein, es zu nutzen wie es heute die DNA Vergleiche sind. Auch das war vor Jahren noch undenkbar.

Ich gebe den Bedenkenträgern unter ihnen in vollem Umfang Recht. Das Erbgut dauerhaft zu verändern ist ein tief greifender Eingriff. Aber er wird notwendig werden. Wenn auch die Welt noch nicht bereit dafür ist. Die Zeit, der Bevölkerungszuwachs wird uns in einigen Jahrzehnten dazu zwingen. Davon bin ich überzeugt.

Die Wissenschaft muss bis zu diesem Zeitpunkt bereit dafür sein. Daran sollten wir immer denken.

Ich danke ihnen nochmals für ihre Aufmerksamkeit.“

Applaus begleitete Johann zu seinem Platz am Konferenztisch. Die Beratungen über das Schlusskommunique begannen.

Die Tagung dauerte bis in den späten Nachmittag. Unter Professor Messcos Leitung verfassten die hochkarätigen Wissenschaftler einen Schlussbericht für den Auftraggeber des Forschungsprojekts ,Terra‘.

Damit endete formell das Projekt ,Terra‘. Im Hotel war für den späten noch ein Abschlussbankett geplant, danach trennten sich die Wege der Teilnehmer.

Reduktion - Der Mensch muss kleiner werden!

Подняться наверх