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Kapitel 1

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Die Stadt der Sieben Flüsse«, seufzte Jasper und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war ein ungewöhnlich warmer Frühlingstag, und es bot sich ihnen kaum Schatten. Dunkle Schweißflecken waren auf seinem blau-silbernen Wappenrock zu sehen. »Was für ein poetischer Name.«

»Wohl eher die Stadt der Sieben Kloaken«, meinte Brea. »Wenn der Dichter, der sich das ausgedacht hat, einmal die Nase über den Großen Kanal hält, wird er sich auch einen passenderen Namen einfallen lassen.«

Aber das war nicht, was Brea wirklich dachte. Sie mochte den Dienst als Gardistin auf dem Marktplatz. Am Markttag reihte sich hier Stand an Stand, Bude an Bude, und die Erzeugnisse der Bauern und Viehhirten vor der Stadt und aus den Küstendörfern trafen auf exotische Gewürze, Tee und noch ungewöhnlichere Dinge. Ein Stand bot sogar gepökeltes Fleisch von Meerdrachen an, dazu Drachenöl, das heller und viel länger brannte als gewöhnliches Lampenöl, sowie andere Erzeugnisse, die bei der Jagd auf die Riesen der Meere gewonnen wurden. Zwischen den Ständen drängten sich die Menschen und auch einige Feen. Brea sah zwei große, blauäugige Waldfrauen mit hüftlangem blondem Haar, die sich neugierig zwischen den Ständen bewegten und nebenbei mit einer Handspindel Flachs spannen. Blumen sprossen zwischen den Pflastersteinen, wo immer sie einen Fuß hinsetzten. Winzige, kaum kniehohe Wegkundige huschten umher, zeigten Ortsfremden den kürzesten Weg hierhin und dorthin. Sogar eine ziegenfüßige, gehörnte Diale aus dem fernen Gebirge sah sich auf dem Markt um. Brea fragte sich, warum sie die weite Reise wohl auf sich genommen hatte.

Als Brea und Jasper an einem Stand mit Honig und Bienenwachskerzen vorbeikamen, merkte Brea, dass etwas nicht stimmte. Irgendwo am Rand, in einem normalerweise ruhigeren Eckchen des großen Marktplatzes, hatte sich eine Menschentraube gebildet. Sie blieb stehen.

»Muss das sein? Unsere Schicht ist fast zu Ende«, sagte Jasper und gähnte. Er war kaum größer als sie, aber doppelt so breit in den Schultern. Sein schulterlanges, blondes Haar erinnerte Brea stets an eine Löwenmähne. »Ich bin müde und will gleich noch was essen.«

»Du kannst schon vorgehen«, antwortete Brea. »Ich schaffe das.«

»Wenn ich dich allein auf die Bevölkerung loslasse, zieht mir der Hauptmann das Fell über die Ohren«, gab Jasper zurück und seufzte. »Na, von mir aus. Schauen wir uns an, was da los ist.«

Zwei Männer in blitzender Rüstung und mit unter den Arm geklemmten Helmen hatten sich schützend vor eine junge Frau in bäuerlicher Kleidung gestellt, die vom Weinen ganz rote Augen hatte. Einer der Männer trug das Wappen des Sonnenordens auf dem teuren, burgunderroten Wappenrock, der andere wirkte jünger, ein Knappe vielleicht. Ihnen gegenüber standen drei Moosweiblein in der Gestalt unbeschreiblich hässlicher alter Frauen. Es fiel schwer, angesichts ihrer blutunterlaufenen Augen, der braunen, abgebrochenen Zähne und der fleckigen, von Warzen gezeichneten Gesichter nicht den Blick abzuwenden. Obwohl die Feen Brea nur bis zum Ellbogen reichten, hielten die Umstehenden respektvollen Abstand.

»Platz für die Stadtgarde«, sagte Jasper laut. »Was geht hier vor?«

»Ritter Allister vom Orden der Sonne.« Der Mann war sehr groß, sehr dürr und hatte ein langes, knochiges Gesicht. Sein dünnes Haar war schlohweiß, obwohl er keine vierzig Sommer alt sein konnte. Seine heruntergezogenen Mundwinkel drückten Geringschätzung aus. »Was für eine Erleichterung, die Stadtgarde ist da. Nun, wir haben hier alles im Griff. Ihr könnt wieder gehen.«

»Das entscheiden wir«, eröffnete Jasper ihm, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Erzählt mir, was hier passiert ist.«

»Diese Feen haben der jungen Frau gedroht und ihr Angst eingejagt«, warf der Knappe des Ritters ein und wies auf die drei Moosweiblein. »Also sind wir eingeschritten. Der Orden duldet es nicht, wenn Feen ihr Unwesen treiben und unschuldige Menschen belästigen.«

Brea musterte die beiden Männer mit leichter Abneigung. Der Orden war gut zwei Jahre zuvor zum ersten Mal in Garnisath in Erscheinung getreten, aber das Haupthaus stand in Raveno, der einzigen Stadt, in der es kaum Feen gab.

Sie trat einen Schritt vor. »Ich möchte Euch daran erinnern, Ritter Allister, dass es in Garnisath Gesetze gibt, die das Zusammenleben zwischen Feen und Menschen regeln. Mischt Euch also nicht in Angelegenheiten ein, die Euch nichts angehen.«

Ritter Allister beachtete Brea nicht, so als wäre sie Luft. Er wandte sich an Jasper. »Ihr seht es selbst. Das Mädchen hat Angst. Sie würde es nicht wagen, diesen Vorfall bei der Stadtgarde zu melden. Ich habe einen Eid abgelegt, die Schwachen und Hilfsbedürftigen zu beschützen, ganz besonders vor den Umtrieben von Feen. Leider scheinen mir die Gesetze in dieser Stadt eher gemacht, um die Taten der Feen zu rechtfertigen – nicht, um den Menschen zu helfen, die ihrer Magie ausgeliefert sind.«

Brea spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, vor allem, weil Allisters Worte bei den Zuschauern zustimmendes Gemurmel hervorriefen. Aber ehe sie etwas sagen konnte, fasste Jasper sie sanft am Arm. »Ich kläre das mit dem Ritter«, sagte er leise. »Rede du mit den Feen und dem Mädchen und finde eine Lösung, bevor es noch schlimmer wird.«

Sie schluckte ihren Zorn hinunter und ging zu den drei Moosweiblein. »Ich bin Brea von der Stadtgarde. Ich bitte euch, sagt mir, was geschehen ist. Weshalb gibt es Streit?«

»Alaria war immer freundlich zu uns«, sagte die älteste und hässlichste der Feen und wies mit einer knorrigen Hand auf das Mädchen. »Wir haben ihr ab und zu bei der Arbeit geholfen, bei der Wäsche vor allem. Und sie hat sich immer bei uns bedankt, hat uns Weißbrot und Milch gebracht. Als wir erfahren haben, dass sie heiraten wird, haben wir ihr ein Brautgewand genäht. Aber nun will sie unser Geschenk nicht annehmen.«

»Ich glaube, ich verstehe.« Brea nickte höflich und wandte sich an Alaria. »Möchtest du mir erzählen, wie sich alles zugetragen hat?«

Das Mädchen öffnete den Mund, aber der Ritter war schneller. »Was tut das zur Sache? Das Mädchen hat das Kleidungsstück abgelehnt, das ist ihr gutes Recht. Und wir werden verhindern, dass diese Feen sie dafür bestrafen. Ich habe erlebt, was mit Menschen geschieht, die sich dem Willen einer Fee widersetzen, sei es bewusst oder aus Versehen. Das ist unerträglich!« Allister hatte so laut gesprochen, dass ihn die Umstehenden gut hören konnten.

»Lasst Alaria antworten«, sagte Jasper und verschränkte die Arme.

»Ist es wahr, was die Fee gesagt hat?«, wandte sich Brea an Alaria.

»Ja«, sagte die junge Frau und wischte sich die Tränen ab.

»Aber warum? Du scheinst die Feen früher aufrichtig gemocht zu haben, und sie haben dir geholfen. Und nun haben sie sich die Mühe gemacht, ein Hochzeitskleid für dich zu nähen. Ich kenne die Arbeit von Feen und bin sicher, es ist wunderschön geworden.«

Alaria sah kurz zu den Feen, dann flüsterte sie. »Es ist wegen meiner Mutter. Sie hat mir verboten, es anzunehmen. Sie sagt, ein Feenkleid würde mir meine ganze Ehe lang Unglück bringen, und ich würde keine Kinder haben. Ich will unbedingt welche.«

»Deine Mutter hat Unrecht«, sagte Brea, nahm Alarias Hand und drückte sie sanft. »Ganz sicher würden diese Feen dir kein Kleid nähen, dass dir Unglück bringt. Du kennst sie doch gut! Glaubst du wirklich, sie würden dir so etwas antun?«

»Natürlich nicht«, schluchzte Alaria. »Aber was soll ich nur tun? Meine Mutter hat mir bereits ein Kleid genäht. Wochenlang hat sie daran gearbeitet. Ich kann doch nicht zwei Kleider gleichzeitig tragen! Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Ich werde mir etwas einfallen lassen«, sagte Brea leise und sah Alaria in die Augen. »Versprochen.«

»Was gibt es da noch zu reden?«, fragte Allister. Brea konnte den Ordensritter immer weniger leiden. »Die Feen sollen dahin verschwinden, wo sie hergekommen sind. Am besten zurück in die Feenwälder.«

»Die Feen leben hier schon viel länger als wir«, warnte Jasper.

»Die Zeiten werden sich ändern.« Allister betrachtete die Menge. »Es wird Veränderungen geben in Garnisath. Der Stadtrat wird Gesetze beschließen, die die Menschen vor den Feen schützen. Dies ist unsere Stadt.«

»Diese Stadt gehört den Feen und den Menschen zusammen«, mischte sich Brea ein. »Zieht Euch zurück, Ritter Allister, ich bitte Euch. Der Orden der Sonne hat hier keine Befugnisse.«

»Noch nicht«, sagte der Ritter mit einem falschen Lächeln und musterte sie hochmütig. »Was habt ihr nun vor?«

Brea ging zu den Moosweiblein und ließ sich auf ein Knie sinken, um leise und auf Augenhöhe mit ihnen sprechen zu können. »Euer Zorn ist verständlich. Aber es ist nicht Alarias Entscheidung, sie folgt nur den Wünschen ihrer Mutter. Ist es da wirklich gerecht, sie zu bestrafen, obwohl sie euch doch über Jahre hinweg eine so gute Freundin war?«

»Deine Worte sind höflich gewählt«, sagte die jüngste der alten Weiber. »Trotzdem sind wir es nicht gewohnt, dass Menschen unsere Geschenke ablehnen.«

»So etwas hat es noch niemals gegeben«, stimmte die Älteste zu. »Wir mögen Alaria, aber sie hat uns sehr verärgert.«

Brea holte tief Luft, um sich Mut zu machen. Feen waren sehr leicht beleidigt, und es war am einfachsten, sie wie rohe Eier zu behandeln. »Alarias Mutter hat ein zweites Brautkleid genäht, und ihr wollt, dass Alaria eures anzieht. Ich sehe nur eine Möglichkeit. Ihr müsstet euer Brautkleid ändern, damit es genauso wie das von Alarias Mutter aussieht. Dann wird sie es nicht bemerken, wenn ihr heimlich die Brautkleider austauscht, und Alaria bei der Hochzeit euer Kleid trägt. Wenn es für euch in Ordnung ist, werde ich sie fragen, ob sie damit einverstanden ist.«

Brea sah die Feen an und fragte sich, ob sie nicht zu weit gegangen war. Die alten Weiber steckten die Köpfe zusammen. »Alaria, komm bitte zu uns«, sagte Brea. Die junge Frau trat zögerlich heran. Allister runzelte bedrohlich die Stirn, schritt jedoch nicht ein. Brea berichtete Alaria von ihrem Vorschlag. Diese riss die Augen auf. »Eine schöne Idee, aber es wird nicht gelingen. Die Hochzeit ist schon morgen!«

»Eine Mutter an der Nase herumzuführen, die kein Vertrauen zu Feen hat ­ und dann in so kurzer Zeit ein neues Kleid zu nähen.« Brea lächelte die drei Moosweiblein an. »Das klingt mir nach einer echten Herausforderung!«

Die jüngste der alten Frauen lachte heiser. »Na, Mädels, dann mal an die Arbeit.«

Alaria brach vor Erleichterung in Tränen aus und bedankte sich überschwänglich. Die drei alten Feen gingen durch die respektvoll vor ihnen zurückweichende Menge davon.

»Das war sehr riskant«, ließ sich Ritter Allister vernehmen, der auf einmal unangenehm dicht neben Brea stand. »Sieh dich vor. Dieses Mal ist es gut ausgegangen, doch was ist beim nächsten Mal? Und es wird ein nächstes Mal geben.« Er wandte sich an die Menschen. »Wir in Raveno sind unsere eigenen Herren und müssen nicht kriechen, wenn einer Fee etwas nicht gefällt. Fragt doch eure Fischer! Verbietet ihnen nicht die Fee, aufs Meer hinauszufahren und zu fischen, wann sie wollen? Schreibt sie ihnen nicht vor, an welchen Tagen sie fischen dürfen und an welchen nicht? Ja, manchmal sogar, welche Fische überhaupt gefangen werden dürfen, und welche zurück ins Meer zu werfen sind? Stellt ihn euch vor, den Fischer, der hart arbeitet und seine Kinder sattbekommen muss. Wie soll er das schaffen, wenn er den Hering nicht behalten darf, weil es angeblich zu wenig Heringe in diesem Bereich der Küste gibt? Und wie fühlt er sich wohl, wenn er sich an den verbotenen Tagen als billiger Tagelöhner verdingen muss, will er nicht Däumchen drehen und seinen Kindern beim Verhungern zusehen?«

Einige der Umstehenden murrten oder tuschelten leise.

»Ihr solltet nun gehen, Ritter Allister«, warnte Jasper. »Das wäre das Beste.«

»Hier ist alles gesagt.« Allister lächelte dünn in Richtung der sich schon zerstreuenden Menge und schritt gefolgt von seinem Knappen davon.

»Was weißt du über diesen Orden der Sonne?« fragte Brea Jasper, als sie sich auf den Weg zur Garnison machten. »Dieser Ritter führt sich auf, als gehöre die Stadt ihm.«

»Für einen Dritt- oder Viertgeborenen aus einer adeligen Familie bietet der Orden der Sonne durchaus Karrieremöglichkeiten und Verbindungen«, sagte Jasper. »Aber sie nehmen auch reiche Bürger auf, sagt man. Der Preis für die Aufnahme soll ziemlich hoch sein. Und was sie von Feen halten, hast du gesehen. Sie bedrängen den Stadtrat, und sie sorgen dafür, dass jeder noch so kleine Zwischenfall mit Feen mächtig aufgebauscht wird.« Jasper zuckte die Schultern und gähnte. »Wir machen die Musik nicht, Brea, wir spielen sie nur. Nun gut. Wir sollten uns jetzt auf heute Abend vorbereiten.«

»Das wird eine große Sache«, sagte Brea mit wachsender Aufregung.

»Du wirst das schon schaffen«, meinte Jasper aufmunternd. »Wenn du willst, kannst du gerne nach Hause gehen und dich ausruhen. Ich erledige den Papierkram mit Nicholas. Wir sehen uns dann später.«

***

Als Brea in die kleine Gasse einbog, in der ihr Haus lag, beschäftigte sie der Streit der Feen und das Auftreten des Ritters noch immer. Ihr erster Einfall war, sich einfach bis zum Abend in ihrem Zimmer zu verkriechen, doch vor ihrer Treppe zögerte sie. Brea nannte es ihr Haus, obwohl sie nur das obere Stockwerk über der Werkstatt eines Töpfers bewohnte. Ihr Refugium besaß allerdings eine eigene, schmale Außentreppe aus Holz, die ihr gestattete, zu kommen und zu gehen, wie es ihr beliebte. Brea hatte schon den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, entschied sich dann aber doch dagegen. Direkt neben dem Haus standen zwei Bäume. Der eine war unglaublich alt, eine knorrige Linde, die schon an dieser Stelle gestanden haben mochte, bevor Garnisath erbaut worden war. Der »Älteste«, wie der Baum respektvoll genannt wurde, war längst nicht mehr imstande, das Gewicht der weit ausladenden Äste selbst zu tragen. Ein hölzernes Gerüst war errichtet worden, um sie zu stützen und zu verhindern, dass sie abbrachen. Brea hatte als Kind selbst geholfen, es zu bauen.

Der zweite Baum war ein wesentlich jüngerer Kirschbaum, der trotz der Jahreszeit bereits in voller Blüte stand. Sie legte sanft ihre Hand auf die geringelte Borke des Stammes. »Kelda, bist du wach?«

Es dauerte einige Augenblicke, dann begann der Kirschbaum zu schrumpfen und verwandelte sich in eine kaum hüfthohe Gestalt mit tiefgrünem Haar.

»Hallo Brea«, sagte Kelda. Ihre großen Augen glänzten wie feuchtes Moos. »Schön, dich zu sehen. Möchtest du eine Kirsche?«

Wie hingezaubert erschien eine Kirsche in Keldas Hand.

»Danke«, sagte Brea, nahm die Frucht und biss hinein. »Die schmeckt ziemlich lecker.«

»Nett von dir«, sagte Kelda. Das Gesicht der Fee war wie eine hölzerne Maske, ohne jede Regung, doch Brea hatte gelernt, das Aufleuchten in Keldas Augen zu deuten. »Ich hoffe, du hattest einen schönen Tag? Für die Bäume war es eine gute Woche. Sonne und Regen in einem angenehmen Verhältnis, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass noch einmal Frost kommt.«

»Ach Kelda«, seufzte Brea und musste lachen. »Ich wünschte, bei mir wäre auch alles so einfach.«

»Wenn es dich beruhigt, ich habe es auch nicht immer leicht«, gab Kelda ernst zurück. »Aber warum setzt du dich nicht? Ich will dir gerne zuhören.«

Brea setzte sich, gab sich einen Ruck und erzählte ihrer Freundin alles.

»Ich frage mich, was geschehen wäre, wenn Jasper und ich nicht dazugekommen wären. Dieser Orden der Sonne ist in Wirklichkeit nur ein Teil des Problems. Ich fürchte, es gibt immer mehr Menschen in Garnisath, die sich von den Feen und ihren Privilegien herausgefordert fühlen. Von den Vorschriften, die man ihnen macht, und die manchen unsinnig erscheinen.«

»Die Gesetze sind so alt wie die Stadt«, sagte Kelda. »Die Vereinbarungen wurden von euren Vorfahren gemeinsam mit den Feen getroffen.«

»Vielleicht liegt darin das Problem.« Brea sah ihre Freundin nachdenklich an. »Diese Zeiten sind unendlich lange her, für uns zumindest. Einige der Feen, die damals diese Gesetze ausgehandelt haben, wandeln noch in den Feenwäldern. Aber bei uns sind inzwischen viele Generationen vergangen, Kelda. Es gibt kaum alte Überlieferungen aus der früheren Zeit, also ist es schwierig für uns, sich daran zu erinnern. Einige finden die Gesetze, so wie sie nun sind, ungerecht. Es gibt nun einmal viel mehr Menschen als Feen in Garnisath.«

»Die Vereinbarungen bevorteilen doch nicht nur die Feen«, meinte Kelda.

»Natürlich nicht«, sagte Brea traurig. »Meine Mutter hat mir einmal erzählt, wie in ihrer Kindheit im Schmiedeviertel ein Feuer ausbrach. Die Stadt hat gebrannt wie eine Zunderschachtel, und wenn die Nixen und die Feen der Küste nicht eingegriffen und den Brand gelöscht hätten, wäre es zu einer furchtbaren Katastrophe gekommen.«

Kelda zitterte bei der Erwähnung eines Feuers, und sofort fühlte Brea sich schuldig. Sie beugte sich vor und umarmte Kelda. »Es tut mir leid, ich hätte nicht darüber sprechen sollen. Ich mache mir einfach Sorgen, wie es in der Stadt weitergeht. Wenn Menschen und Feen einander immer fremder werden, kann das nicht gut sein, und Gemeinschaften wie der Orden der Sonne stacheln das alles noch weiter an!«

»Du hast recht«, meinte Kelda, die sich langsam wieder beruhigte. »Aber was willst du dagegen machen?«

»Wenn ich das nur wüsste«, sagte Brea unglücklich und seufzte. »Was bewegt dich denn im Moment?«

»Ich kann es kaum erwarten, dass wieder Kirschenzeit ist«, erklärte Kelda sehnsüchtig, und ihre Augen leuchteten vor Freude. »Ich hoffe nur, ich kann wieder genug Kirschen für alle machen. Letztes Mal war die Schlange ziemlich lang.«

»Ziemlich lang?«, fragte Brea und musste lachen. »Die Warteschlange reichte bis vorne an die Kreuzung. Hinten haben die Menschen gedrängelt und geschubst, aus Angst, sie würden leer ausgehen. Zwei Bäcker haben sogar angefangen, sich zu prügeln.«

»Mir hat die dicke, alte Frau gefallen, die geweint hat, als ich ihr erlaubt habe, noch einen zweiten Korb zu pflücken.«

Brea lächelte und fühlte sich augenblicklich besser. Sie musste die kleine Baumfee einfach noch einmal drücken. »Danke, Kelda. Wirklich. Jetzt gehe ich besser nach oben und ziehe mir etwas Unauffälligeres an. Ich habe heute Abend noch einen Einsatz bei der Stadtgarde.«

***

»Bist du sicher, dass du das schaffst?« fragte Alesandro und zog die buschigen, weißen Augenbrauen zusammen. Trotz seines Alters war er mit seiner muskulösen Gestalt, der wettergegerbten Haut und dem zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar eine beeindruckende Erscheinung.

»Nun, dich können wir nicht hineinschicken«, meinte Brea und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. Bei der Arbeit als Gardistin band sie sich die Haare lieber zurück, aber für den heutigen Abend hatte sie entschieden, sie offen zu tragen. »Du bist seit fast vierzig Jahren im Dienst, dich kennt jeder kleine Taschendieb im Hafen.«

»Wenn unser Zuträger recht hat, ist Adalard heute persönlich da, und seine ganze Führungsmannschaft auch«, meinte Alesandro missmutig. »Das ist keine Schmugglerbande und kein Haufen Einbrecher, die der Hauptmann heute hochnehmen möchte. Adalard ist der gerissenste Verbrecher der Stadt und hat den Handel mit Traumpulver in der Hand. Die werden misstrauisch sein und bis an die Zähne bewaffnet.«

»Hauptmann Edorian hat die ganze Truppe zusammengetrommelt«, hielt Brea dagegen. »Wenn jemand zu fliehen versucht, werden mehr als genug von uns da sein.«

»Passt mir trotzdem nicht, ein Küken wie dich da reinzuschicken.«

»Im Vergleich zu dir ist jeder bei der Stadtgarde ein Küken«, gab Brea zurück. »Ich bin vielleicht die Einzige, die Adalards Bande noch nicht kennt. Oder machst du dir Sorgen, weil ich eine Frau bin?«

»So habe ich das doch nicht gemeint, Brea.« Alesandro seufzte. »Aber pass auf dich auf. Mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen.«

»Keine Sorge«, sagte Brea, obwohl ihr vor Aufregung das Herz bis zum Hals schlug. Sie zog gegen den leichten Nieselregen ihre Kapuze auf und machte sich auf den Weg zum ›Leuchtturm‹.

Ihrem Namen zum Trotz befand sich die Rauschkrauthöhle im Keller eines niedrigen Gebäudes und war über eine schmale Treppe zu erreichen. Vor der Tür standen zwei breitschultrige Männer. Der größere trug ein Kopftuch und überragte Brea um Haupteslänge.

»Neu hier, wie?« Er kaute ein Stück Süßholz.

»Ja«, sagte Brea und hörte selbst, wie spröde ihre Stimme klang. »Ich suche meinen Bruder. Er ist hier Stammgast. Darf ich rein?«

»Bruder?«, fragte der Kleinere, der immer noch massig genug war. Sein Gesicht war sonnenverbrannt wie bei einem Seefahrer. »Wie heißt er denn, dein Bruder?«

»Gero«, sagte Brea, fast ein wenig erleichtert. Mit der Frage hatte sie gerechnet. »Bitte, es ist wirklich wichtig. Ich muss ihn sprechen.«

»Den Namen habe ich noch nie gehört«, meinte der kleinere Türsteher. »Aber he, ich habe gerade ein wenig Zeit. Was sagst du, Kleine? Wir suchen uns ein gemütliches Plätzchen. Wenn du mich reinlässt, dann lasse ich dich auch rein und du kannst deinen Bruder suchen, solange du willst.«

Brea schluckte und wich einen Schritt zurück. Der Mann wollte sie am Arm packen, aber der Größere stieß ihn zurück. »Genug Spaß für heute. Lass die Kleine einfach rein.« Er riss die Tür auf, und der Gestank nach Rauch, Bier und Schweiß traf Brea wie ein Schlag ins Gesicht. Mit zwei schnellen Schritten war sie drinnen.

Die niedrige Decke des großen Raumes hing direkt über Breas Kopf. Unzählige, hinter bepflanzten Zwischenwänden verborgene Sitzgruppen verhinderten, dass sie sich einen guten Überblick verschaffen konnte, und der Tabakrauch tat ein Übriges, brachte ihre Augen zum Tränen. Dazu kam der süßliche Duft des Traumpulvers, der sie schwindelig machte. Obwohl zahlreiche Öllichter und Kerzen brannten, spielte sich fast alles im Halbdunkeln ab. Sie spürte die Gegenwart vieler Männer und Frauen, die herumsaßen, tranken, rauchten und sich unterhielten, aber es wirkte alles seltsam gedämpft. Brea schritt ein paar Stufen hinab und versuchte, so selbstbewusst zwischen den Sitzgruppen hindurchzugehen, als gehörte sie hierher.

»Entschuldigung«, sagte sie, als sie gegen ein Stuhlbein stieß. Der Tisch daneben war klein, und daran saß nur ein übertrieben geschminktes Mädchen in aufreizender Kleidung. Brea wurde klar, dass sie nicht ewig herumlaufen konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.

»Kann ich mich zu dir setzen?«

Das Mädchen sah auf. Sie hatte schwarze, schulterlange Haare und war hübsch, das musste Brea zugeben. Doch sie sah müde aus. »Aber nur, wenn du nichts von mir willst. Ich habe Feierabend.«

Brea spürte, wie sie errötete, und setzte sich. Wie hingezaubert erschien eine Kellnerin. »Ein Bier, Pulver oder Tabak?«, fragte sie.

»Ein Bier, das wäre alles, danke«, sagte Brea.

»Du bist zum ersten Mal hier?«, fragte das Mädchen und lächelte mit nur oberflächlichem Interesse. Ihre Pupillen waren geweitet, und vor ihr auf dem Tisch lagen eine Pfeife und ein offenes, ziemlich abgestoßenes Holzkistchen mit Traumpulver. Brea musste sich zwingen, nicht verächtlich den Mund zu verziehen. »Ich warte auf jemanden«, antwortete sie ausweichend, und das Mädchen nickte, ohne richtig zuzuhören. Plötzlich erschien ein Mann aus dem Halbdunkeln. Er war hager, hatte einen stoppeligen Bart und eine unordentliche, schwarze Mähne. »He Süße«, meinte er, setzte sich zu dem Mädchen und gab ihr einen Kuss. Dann sah er zu Brea. »Wer ist denn deine neue Freundin?«

»Keine Ahnung«, meinte das Mädchen achselzuckend. »Ich habe da etwas für dich.« Sie legte ein Briefchen auf den Tisch, das mit dunkler Tinte beschrieben war. Brea kniff die Augen ein wenig zusammen, und ehe der Mann den Zettel an sich nahm, konnte sie ihn lesen. Lieferung Mitternacht. A. will dabei sein. Breas Gedanken arbeiteten. Es war offensichtlich, dass es um Traumpulver ging. Und Adalard würde dabei sein. Sie überlegte fieberhaft, ob es sinnvoll wäre, die Durchsuchung zu verschieben. Sie hatte Adalard bisher nicht in dem Raum ausmachen können, doch das musste nichts heißen. Vielleicht würde er auch erst später kommen, wenn die Lieferung eintraf. Adalard zusammen mit einer großen Menge Traumpulver zu ergreifen erschien vielversprechend.

»Sieh nur, wie sie nachdenkt«, schnurrte das Mädchen und schmiegte sich an den Mann. »Ich wette, sie hat den Zettel gelesen. Und sie fällt hier auf wie ein Schaf in einem Wolfsrudel. Du hättest sehen sollen, wie sie meine Pfeife angestarrt hat. Ich wette einen roten Heller gegen einen Adelspalast, sie arbeitet für die Stadtgarde.«

Brea fühlte sich, als habe man einen Eimer kaltes Wasser über ihr geleert. Sie rang nach Worten, fand aber keine.

»Die kommen selten allein«, sagte der Mann und stand langsam auf.

»Was machen wir mit ihr?«, fragte das Mädchen. Sie klang plötzlich stocknüchtern. »Rufen wir die Jungs?«

»Nein«, sagte der Mann und musterte Brea eingehend. »Wir verschwinden. Sofort.« Er griff nach Breas Bierkrug und warf ihn mit so viel Wucht gegen die Wand, dass er zerschellte. Das schien ein Signal zu sein, denn plötzlich sprangen Männer und Frauen in den vielen Nischen auf, und im Handumdrehen entstand ein Gedränge. Brea erhob sich, aber sie hatte keine Ahnung, was sie machen sollte. Am Eingang erschien Jasper, doch er wurde von den Gästen, die davon strömten, förmlich wieder hinausgespült.

»Bis zum nächsten Mal, Kleine«, sagte der Mann und lief davon, das Mädchen sprang ebenfalls auf und tauchte in der Menge unter. Brea versuchte ihr zu folgen, verlor sie aber bald aus den Augen.

»Verdammt«, fluchte sie.

***

»Wo ist sie?«, fragte Hauptmann Edorian. Durch die geschlossene Tür klang seine Stimme wie das Brüllen eines wütenden Stiers. Brea saß bei Nicholas im Archiv, um den Blicken und Spötteleien ihrer Kameraden aus dem Weg zu gehen. Das Reich von Nicholas war dafür hervorragend geeignet. Jeder Fingerbreit Wand in dem fensterlosen Raum war von Regalen bedeckt, in denen sich Bücher und Schriftrollen stapelten, alles wohlgeordnet und mit weißen Schildchen in Nicholas’ gut lesbarer Handschrift versehen. Stets roch es hier nach altem Papier und ein wenig muffig nach Staub, und bei jedem Besuch fühlte sich Brea wie ein Eindringling in eine fremde Welt. Sie nahm an, allen anderen Gardisten ging es genauso.

»Er hätte dich da nicht allein reinschicken dürfen«, meinte Nicholas und sah mitfühlend auf. Er war einige Jahre älter als sie, klein und etwas dicklich. Sein dünnes braunes Haar klebte wie Spinnweben an seinem Kopf, und wie üblich saß seine Uniform völlig schief. »Es war sein Fehler, nicht deiner. Du bist noch neu.«

»Ich bin sechs Monde dabei«, sagte Brea unglücklich. »Wenn er sich jetzt nicht auf mich verlassen kann, wann dann?«

Die Tür wurde heftig aufgerissen. Hätte sich in diesem Augenblick ein Loch im Boden aufgetan, wäre Brea mit Freuden hineingekrochen.

»Da bist du ja!« Hauptmann Edorian stand in der Tür. Obwohl er bereits weit über fünfzig Sommer zählte, hatte er noch immer die schlanke, aber kräftige Gestalt eines zwanzig Jahre jüngeren Mannes. Während auf seinem Schädel das eisengraue Haar bereits zurückwich, mischten sich in seinem Bart schwarz und grau. Sein Gesicht dampfte förmlich vor Zorn. Er sah zu Nicholas. »Raus hier!«

Nicholas zog sich zurück, wenn auch nicht übertrieben eilig.

»Weißt du eigentlich, wie viel Arbeit ich in die Vorbereitung des heutigen Einsatzes gesteckt habe?« Der Hauptmann knallte hinter Nicholas die Tür zu. »Es hat ewig gedauert, bis uns einer von Adalards Laufburschen endlich verraten hat, wo wir suchen müssen. Ich habe das Gebäude zwei Wochen lang beobachten lassen, um sicherzugehen, dass die Geschichte stimmte und wirklich Adalard selbst da sein würde. Er flutet unsere Straßen mit Traumpulver, es gelingt uns einfach nicht, ihn zu fassen – und jetzt haben wir ihn gewarnt! In Zukunft wird Adalard um den ›Leuchtturm‹ einen Bogen machen. Also können wir wieder von vorn anfangen! Ganz von vorn!«

Brea spürte, wie ihre Augen feucht wurden und schluckte. Sie hoffte nur, er erwartete keine Antwort von ihr, sonst würde sie vermutlich einfach in Tränen ausbrechen. Hauptmann Edorian musste es bemerkt haben, denn er brach mitten in seiner Tirade ab, ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf Nicholas’ Stuhl. Kurz musterte er die ordentliche Schreibarbeit. »Wenn ich daran denke, welche Hoffnungen ich in dich gesetzt habe, Brea«, sagte Edorian nun deutlich ruhiger, die Worte schmerzten dennoch wie Peitschenhiebe. »Als du dich letztes Jahr beworben hast, dachte ich mir zuerst: Du musst sie wieder wegschicken. Wir hatten und haben zwar schon Frauen in der Stadtgarde, doch es ist immer noch eine Seltenheit. Aber die Zeiten ändern sich.« Er klopfte auf Nicholas’ Schreibtisch. »Es wird eine Zeit kommen, da wird die Stadtgarde Denker ebenso benötigen wie starke Muskeln. Und du bist klug, Brea, deshalb habe ich dir eine Chance gegeben. Aber eines Tages könnte das Leben eines deiner Kameraden davon abhängen, wie du dich verhältst. So einen Vorfall wie heute möchte ich nicht noch einmal erleben. Ich stecke gerade in einer Zwickmühle.« Edorian stand auf und ging im Archiv auf und ab. »Ich werde dich nicht rausschmeißen. Ich entbinde dich vorübergehend vom Dienst. Die nächsten zwei Tage will ich dich hier nicht sehen.«

Brea kämpfte erneut mit den Tränen. Sie nahm Haltung an, ging aus dem Archiv und verließ so schnell wie möglich die Garnison. Daheim angekommen zog sie sich die Decke über den Kopf.

***

Brea fuhr aus dem Schlaf auf und benötigte etwas Zeit, um sich zurechtzufinden. Ein Geräusch hatte sie geweckt, aber nun war alles still. Sie gähnte und entzündete eine Kerze auf ihrem Nachttisch. Das Klopfen an der Scheibe wurde ungeduldiger. Brea fluchte, zog ihr Nachthemd zurecht und tappte barfuß zum Fenster. Im Schein ihrer Kerze sah sie durch die Butzenscheibe eine Elster auf der Fensterbank sitzen. Sie öffnete das Fenster und fröstelte, als die kalte Nachtluft zu ihr hereindrang.

»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, fragte Brea und musste erneut gähnen. Die Elster legte den Kopf schief und krächzte heiser. »Na, komm rein, Melodei. Nicht, dass du dich erkältest. Können sich Vögel überhaupt erkälten?« Brea war zu müde, um darüber nachzudenken. Melodei huschte herein und verschwand mit wenigen Flügelschlägen hinter dem Raumteiler, über dem, wie Brea ärgerlich feststellte, in einem wilden Durcheinander ihre eigene Kleidung vom Vorabend hing.

Während Melodei ihre menschliche Gestalt annahm, stellte Brea fest, dass auch dem Rest ihres Zimmers ein wenig Aufräumen nicht schaden würde. Einen Moment später trat ihre Freundin, in einen einfachen grauen Überwurf gehüllt, hinter dem Raumteiler hervor.

»Danke für die nette Begrüßung«, sagte Melodei lächelnd. Brea liebte ihre helle, warme Stimme. Wann immer Melodei in einem Gasthaus als Sängerin auftrat, versuchte Brea dabei zu sein. Ihre Geliebte hatte dunkle Augen, die im Kerzenschein glänzten, und pechschwarzes, von frechen, weißen Strähnchen durchsetztes Haar. Sie reichte Brea kaum bis zur Schulter, und so musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um Brea zu küssen. Brea umarmte Melodei, schloss die Augen und erwiderte den Kuss.

Danach nahm sie sich Zeit, Melodei noch einmal anzuschauen. »Du siehst furchtbar erschöpft aus. Ist alles in Ordnung?«

»Keine Sorge«, sagte Melodei und richtete sich ein wenig auf, doch ihre Augen blieben müde. »Ich fliege im Moment ziemlich viel, weißt du. Und die echten Elstern kommen langsam in die Balz. Man kann kaum über ein Stadtviertel fliegen, ohne von einem Männchen umworben zu werden. Den Unterschied zwischen Fee und Vogel erkennen sie nicht. Und da glaubt ihr Menschen, diese Vögel wären besonders gerissen.«

»Deine Probleme möchte ich haben«, sagte Brea und lachte. »Muss ich eifersüchtig werden?«

»Das musst du schon selbst wissen«, sagte Melodei mit einem Augenzwinkern. Sie küssten sich erneut, und Melodei biss sie verspielt in die Unterlippe. »Fühlt sich das an, als müsstest du eifersüchtig werden?«

»Nein«, sagte Brea leise und zupfte an Melodeis Überwurf. »Bleibst du heute Nacht bei mir?«

»Sehr gern«, sagte Melodei. »Aber ich bin leider nicht bloß wegen dir hier. Ich habe eine Nachricht, und sie wird dir nicht gefallen. Erst wollte ich zur Garnison fliegen, doch zu dir ist es viel näher. Es hat einen Todesfall am Hafen gegeben. Ein Nachtwächter schickt mich. Er hat den Toten gefunden.«

»Einen Todesfall?« Breas Herz schlug schneller. »Ich ziehe mich an und kümmere mich darum.«

»Der Nachtwächter wartet bei den Lagerhäusern auf euch. Eines davon ist mit einer gelben Muschel bemalt, das daneben mit einem blauen Anker. Er steht beim Eingang der kleinen Gasse zwischen diesen beiden«, sagte Melodei und sah sie an. »Brea, ich komme mit. Ich kann dich doch nicht allein am Hafen herumlaufen lassen.«

»Nein«, sagte Brea. »Ich wecke Kelda und bitte sie mich zu begleiten. Du musst für mich zur Garnison fliegen und den anderen sagen, was geschehen ist und wo sie mich finden. Schaffst du das, oder bist du zu erschöpft?«

»Keine Sorge«, sagte Melodei, obwohl ihre Augen das Gegenteil nahelegten. »Sobald du mir das Fenster aufmachst, fliege ich los.«

***

Einige Stunden vor Sonnenaufgang war Garnisath eine schlafende Stadt, in der sich kaum etwas regte. Da es nur auf den großen Kreuzungen und Plätzen Laternen gab, hatte Brea eine Lampe angezündet, doch das Licht erhellte die Umgebung kaum. Eine wachsende Unruhe ergriff von ihr Besitz. Wenigstens war sie nicht allein. Die Gegenwart von Kelda, die sich sofort bereit erklärt hatte, sie zu begleiten, hatte etwas Tröstliches.

Selbst in den Gasthäusern und Bordellen des Hafenviertels war diese Nacht bereits zu Ende, und die letzten Zecher hatten sich auf den Heimweg gemacht. Wie ein Wald ragten im Hafenbecken die Masten der Schiffe auf. Das Meer hatte die Farbe von Tinte und roch nach Salz und faulenden Algen.

»Ich war noch nie in diesem Viertel «, gab Kelda zu. »Schiffe und Handel. Ich verstehe nicht, wozu ihr Menschen das braucht.«

»Wir handeln Waren mit den anderen der Sieben Städte, um Dinge zu bekommen, die wir nicht selbst herstellen können«, erklärte Brea, froh, an etwas anderes als an die vor ihr liegende Aufgabe denken zu können. »Das Drachenöl für die Laternen zum Beispiel, die unsere Wege erleuchten, kommt von Braland. Denn nur dort ziehen die Meerdrachen auf ihren Wanderungen überhaupt nahe genug an unsere Gewässer heran, dass man Jagd auf sie machen zu kann. Dafür verkaufen wir aus Garnisath Waren, die wir besser herstellen können. Am Ende nutzt es allen und bringt Wohlstand. Auch für dich könnte Handel von Vorteil sein. Wenn du einmal mehr Kirschen tragen solltest, als die Menschen hier essen möchten, könntest du sie in eine der anderen Städte verschiffen.«

Kelda blieb einen Moment stehen, um darüber nachzudenken. »Ich glaube nicht, dass dieser Tag kommen wird.«

»Ja, weil du der einzige Kirschbaum innerhalb der Stadtmauern bist.«

Kelda wirkte ungerührt. »Die Vorstellung, dass auch die Menschen in den anderen Städten meine Kirschen essen, gefällt mir schon.«

»Weil du eitel bist«, neckte Brea. »Ich kenne zumindest sonst keinen Kirschbaum, der das ganze Jahr blüht, nur weil es schöner aussieht.«

Sie erreichten den eigentlichen Mittelpunkt und das heimliche Herz des Hafens. Hinter den Kais und Werften und dem Viertel, in dem sich die Matrosen und Schauerleute vergnügten, erhoben sich Lagerhäuser, soweit das Auge reichte. Hier gab es keine Straßenlaternen, und es war still wie auf einem Gräberfeld.

»Wir suchen ein Lagerhaus mit einer aufgemalten gelben Muschel.« Brea hob ihre Lampe. »Oder einem blauen Anker.«

»Das hier hat eine weiße Rose«, meinte Kelda und deutete auf das erste Haus. »Weißt du, warum die Lagerhäuser so blumige Namen tragen?«

»Wenn hundert Lastenträger und unzählige Tagelöhner, die alle nicht lesen können, für dich arbeiten würden … würdest du nicht auch wollen, dass die Waren in das richtige Lager kommen?«

Da erspähte Brea schon den Nachtwächter, der aus einem Hauseingang hervortrat und seine Laterne hob. Als er die Kapuze seines dunklen Umhangs zurückschlug, sah sie sein bärtiges Gesicht. Seine Hand mit der Laterne zitterte ein wenig.

»Brea von der Stadtgarde«, stellte sie sich vor. »Ihr habt eine Botin zu uns geschickt. Wie ist Euer Name?«

»Brigon«, sagte der Nachtwächter. »Da in der Gasse habe ich eine Leiche gefunden.«

Brea schnupperte, um festzustellen, ob der Nachtwächter womöglich schon etwas getrunken hatte. Sie hatte recht, der Geruch nach Fusel hüllte den Mann ein wie eine feine Wolke.

Der Nachtwächter beäugte sie seinerseits. »Verzeiht, aber Ihr seht mir noch sehr jung aus. Seid Ihr tatsächlich Gardistin, oder seid Ihr noch in Ausbildung?«

»Meine Ausbildung ist schon vor einigen Monden zu Ende gegangen«, sagte Brea und errötete. Sie hob das Kinn. »Was könnt Ihr mir über die Leiche erzählen? Wann habt Ihr sie gefunden? Ist es ein Mann oder eine Frau?«

Brigon räusperte sich und zog ein lederumwickeltes Fläschchen aus dem Umhang. »Es ist ein Mann, denke ich. Ich habe ihn vor etwa einer halben Stunde gefunden, dort hinten in der Gasse. Dann habe ich sofort einen Boten gerufen.«

»Gut. Ihr könnt jetzt gehen, aber kommt morgen noch einmal in der Garnison vorbei. Falls wir noch Fragen an Euch haben.«

Der Nachtwächter nickte, trank einen tiefen Schluck und stapfte davon.

»Wartest du, bis Verstärkung da ist?«, fragte Kelda.

»Nein«, sagte Brea. »Ich muss es mir ansehen.«

Die Gasse war so schmal, dass wohl selbst zur Mittagsstunde kein Sonnenstrahl den Boden erreichen würde. Jetzt lag sie in völliger Dunkelheit. Brea versank bis zu den Knöcheln in Matsch. Fast am Ende der Gasse, als wäre es Abfall, lag ein regloser Körper. Sie trat näher und hob die Laterne. Der Tote war eindeutig ein Seefahrer gewesen, das konnte sie an seiner Kleidung erkennen. Ein sehniger Mann mit rötlichem Bart, dessen Hals und Wange zur Hälfte ein Feuermal bedeckte. Vorn auf seinem ausgewaschenen Wams erblickte sie einen großen Blutfleck.

»Ein junger Mann«, sagte Brea und schluckte. »Er starb an einem Stich in den Bauch, vermutlich mit einem Schwert.«

»Brea«, sagte Kelda plötzlich und fasste sie am Arm. »Da liegt noch jemand!«

Der zweite Tote war kein Mensch. Nicht weit von dem Seemann entfernt lag eine Nixe, die mit offenen Augen in den Himmel starrte. Brea konnte einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken und wich unwillkürlich zurück.

»Nein«, flüsterte Kelda und schlug die Hände vors Gesicht.

Die Nixe lag auf dem Rücken. Ihr dunkel glänzender, fein geschuppter Unterleib endete in einer filigranen, wie bei einer Meerbarbe geteilten Flosse. Ein roter Striemen hatte sich tief in ihren Hals gegraben, und ihre geschwollene Zunge hing aus dem Mund wie eine Wurst.

»Man hat sie erdrosselt.« Brea spürte, wie sie erbebte. »Wer würde nur so etwas Furchtbares tun?«

Kelda berührte ihre Hand, und Brea drückte sie fest. Einen Moment schloss sie die Augen, und sie musste sich zwingen, sie wieder zu öffnen.

»Was ist hier nur geschehen?«, fragte Kelda voller Entsetzen.

»Bitte, Kelda, willst du nicht vorn auf der Straße warten?«, sagte Brea. »Es tut mir leid, dass du das sehen musstest.«

»Danke«, sagte Kelda leise. Sie war schon einen Schritt gegangen, drehte sich aber noch einmal um. »Was machst du jetzt?«

»Mich sehr genau umsehen.« Brea atmete durch und ging in die Knie, um den toten Seemann eingehender zu untersuchen. Am Gürtel trug er eine Tasche, die leer war. Brea kannte diese kleinen Ledertaschen, in denen die Matrosen oft ihren Tabak, manchmal auch Traumpulver aufbewahrten. Tatsächlich sah sie über ein Dutzend Beutelchen verstreut im Matsch liegen. Brea hob eines auf und blickte hinein. Im Schein der Laterne sah sie ein grobes Pulver von heller Farbe. Sie feuchtete einen Finger an und probierte ein wenig. Der süßliche, entfernt an Zucker erinnernde Geschmack war typisch für Traumpulver. Brea untersuchte noch einige Beutel und fand in allen das gleiche. Im Kopf überschlug sie die Menge, die der tote Seemann bei sich gehabt hatte. Es war mehr, als sie bei jemandem, der ab und zu etwas davon rauchte, vermutet hätte.

Es kostete sie große Überwindung, auch die tote Fee näher zu untersuchen. Sie konnte sich nicht erinnern, je eine Nixe aus solcher Nähe gesehen zu haben. Als Kind hatte sie oft vom Strand aus den singenden Nixen vor der Küste zugehört und sich gefragt, wie ihre Welt unter den Wellen aussehen mochte. Die Haut der Nixe hatte einen leichten Blaustich und ihr hüftlanges Haar war von einem wunderschönen Mitternachtsblau. Der Anblick ihrer aufgerissenen, gebrochenen Augen versetzte Brea einen Stich ins Herz. Bebend streckte sie eine Hand aus und schloss der toten Nixe die Augen.

Da erschien plötzlich Licht hinter ihr.

»Brea? Bist du das?« Sie war froh, Nicholas’ Stimme zu hören.

»Ich bin hier!« Brea stand auf und drehte sich um. Nicholas und Jasper kamen mit hellen Sturmlaternen in die Gasse.

»Was ist hier geschehen?«, fragte Jasper und gähnte. Er hatte offensichtlich bis vor kurzem geschlafen, aber als er die Toten sah, riss er die Augen auf. »Verdammt nochmal, ich dachte die Botin nimmt uns auf den Arm!«

»Nein«, sagte Nicholas bestimmt. »Mit so etwas würde sich niemand einen Scherz erlauben. Was wissen wir bisher, Brea?«

»Jemand hat sie erdrosselt«, sagte Brea und räusperte sich. »Vermutlich mit einer Würgeschnur oder etwas Vergleichbarem. Ihn hat man erstochen, nehme ich an, aber die Verletzung müssten wir uns noch einmal bei besserem Licht ansehen. Lange kann es nicht her sein. Bei dem Toten liegt überall Traumpulver herum. Wenn es ein Überfall gewesen wäre, warum ist das Zeug noch hier?«

»Ich denke, du hast recht«, meinte Nicholas. »Die hätten das Traumpulver auch mitgenommen.«

Er untersuchte den toten Seemann, bewegte vorsichtig dessen Glieder. »Ich denke, Brea hat recht. Er dürfte erst vor ein paar Stunden ermordet worden sein.«

Brea schloss die Augen, als Nicholas das blutige Hemd hochzog, um die Stichwunde zu untersuchen. »Ich frage mich vor allem, was die Nixe an diesem Ort zu suchen hatte«, warf sie ein. »Nixen sieht man selten an Land, selbst wenn das Hafenbecken nicht weit ist. Jemand muss sie hierhergetragen haben.«

»Sicher lässt sich herausfinden, wer dieser Seemann ist«, überlegte Jasper. »Damit sollten wir morgen früh anfangen. Leicht wird das nicht, aber er dürfte von einem der Schiffe stammen, die hier im Hafen liegen. Früher oder später wird man ihn vermissen.«

»Ja«, stimmte Nicholas zu und kratzte sich am Kopf. Er sah sich die beiden Toten noch einmal eingehender an, zuckte aber mit den Schultern. »Ich denke, es ist an der Zeit, die Leichenkarren zu holen.«

»Was machen wir mit der Fee?«, fragte Jasper. »Es kommt mir nicht richtig vor, sie auf unserem Friedhof zu bestatten. Und was für diesen Seemann gilt, gilt auch für sie. Wir sollten versuchen, so viel wie möglich über sie herauszufinden.«

»Jemand muss den Nixen berichten, dass eine von ihnen gestorben ist.« Nicholas seufzte. »Das wird keine angenehme Aufgabe.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte Brea schweren Herzens. »Ich nehme an, es wäre am besten, ihren Leichnam zu den anderen Nixen ans Meer zu bringen. Oder müssen wir ihn zur Garnison mitnehmen?«

»Nein, das geht in Ordnung«, sagte Nicholas.

»Gut.« Jasper sah noch einmal zu den Toten hinüber. »Dann verschwinde ich mal und hole ein paar Karrenschieber aus dem warmen Bett.«

»Wo ist eigentlich Kelda?«, fragte Brea und sah sich um.

»Deine Baumfee?«, meinte Jasper. »Vorn auf der Straße steht ein hübscher Kirschbaum.«

»Gut«, sagte Brea erleichtert. »Wir sollten uns hier noch ein wenig umsehen, bis die Leichenkarren kommen.«

»Einverstanden.« Nicholas hob seine Laterne.

Sie suchten die Gasse ab, vor allem die Gegend um die beiden Ermordeten.

»Ich glaube, es waren mindestens zwei Mörder, nicht nur einer«, sagte Brea schließlich.

»Wahrscheinlich hast du recht«, gab Nicholas zurück. »Zwei verschiedene Arten zu töten. Ob beide Opfer auch hier gestorben sind, und zur gleichen Zeit?«

»Warte mal.« Brea fiel noch ein Lederbeutelchen auf. Es war etwas größer als die anderen, lag abseits im Dreck und sah aus, als wäre jemand darauf getreten. In dem Beutelchen waren einige unregelmäßig geformte braune Bröckchen. Brea roch daran, aber sie konnte nichts Besonderes feststellen.

»Was ist das?«, fragte Nicholas und sah sich den Fund im Schein der Laterne an.

»Jedenfalls kein Traumpulver. So etwas habe ich noch nie gesehen. Aber ich glaube, ich kenne jemanden, der uns weiterhelfen kann«, sagte Brea und ging wieder zum Eingang der Gasse. Kelda hatte tatsächlich vor einem Lagerhaus Wurzeln geschlagen, und einen Augenblick lang wünschte sie sich, ihre Freundin einfach in Ruhe lassen zu können. Sie berührte sanft den Stamm. »Kelda, darf ich dich etwas fragen?«

Kelda verwandelte sich langsam in ihre menschenähnliche Gestalt zurück und reckte sich. »Was gibt es denn?«

Brea reichte ihr das Beutelchen. »Das haben wir in der Gasse gefunden.«

Kelda nahm ein Bröckchen in die Hand, betrachtete es von allen Seiten. »Ich glaube, es ist ein Harz, oder etwas, das zum Teil aus Harz besteht. Doch es ist von keinem Baum, den ich kenne. Das Zeug gefällt mir nicht, ich habe kein gutes Gefühl dabei. Wo hast du das her?«

»Ich vermute, der tote Seemann hatte es bei sich«, meinte Brea. »Danke, Kelda. Wir nehmen das mit. Leider muss ich dich jetzt um einen noch größeren Gefallen bitten.«

***

Brea und Kelda folgten mit dem Karren der Küstenstraße etwa eine Meile nach Süden und überquerten eine hölzerne Brücke über den südlichsten Arm des Grünen Stroms. Der nicht sehr tiefe Fluss ergoss sich malerisch bei einer steil abfallenden Felsenküste ins Meer, über dem die aufgehende Sonne hing wie ein blassgelber Ball. Das gleichmäßige Anbranden der Wellen gegen die Küste kam Brea vor wie die ruhigen Atemzüge eines Riesen. Sie schwitzte trotz der morgendlichen Kälte und musste den Karren abstellen.

»Ist es noch weit?«, fragte Kelda. »Wenn du erschöpft bist, sollten wir eine Pause machen.«

»Nein«, sagte Brea und deutete hinüber zur Brandung. »Da unten, wo der Fluss ins Meer mündet.«

Glücklicherweise hatte der Karrenschieber ihnen eine grobe Decke geliehen, die sie über die Nixe gebreitet hatten. Brea wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. »Es wird Zeit, dass wir sie zurückbringen.«

Sie schoben den Karren an den Straßenrand und folgten einem halb zugewucherten Uferweg. Brea blieb stehen und hob die Hand, um die Sonne abzuschirmen. Sie glaubte, auf einem Felsen in der Flussmündung eine Bewegung gesehen zu haben. Ein Wispern drang an ihr Ohr, und als sie genauer hinhörte, erkannte sie es als Gesang.

»Wir sind richtig, Kelda«, sagte Brea. »Ich wünschte nur, wir wären aus einem anderen Grund hier.«

Mit dem Karren kamen sie nicht weiter, also trug Brea die tote Nixe und folgte Kelda, die trittsicher hinunterkletterte. Unten, mitten in der Brandung, saß eine Nixe auf einem der Felsen. Sie hatte langes, weißblondes Haar und hellblaue Haut und badete im Licht der ersten Sonnenstrahlen. Abrupt unterbrach die Nixe ihren Gesang, verschwand mit einer eleganten Rolle in den Fluten, nur um kurz darauf wieder aufzutauchen.

»Was fällt euch ein, mich bei meinem Gesang zu stören?«, zeterte die Nixe. Brea spürte, wie sie eine Spur blasser wurde, und legte das Bündel so sanft wie möglich auf den felsigen Strand.

»Wir hatten nicht vor, dich zu unterbrechen«, versicherte sie und hob entschuldigend die Hände. Sie hatte mit Nixen keine Erfahrung, aber es hieß, dass sie ebenso kleinlich und leicht erzürnt waren wie die meisten anderen Feen, vor allem, wenn man sie störte.

»Ich bin Kelda«, sagte Kelda. »Das hier ist Brea aus der Stadt. Wir haben etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.«

»Das glaube ich, kleine Kirsche«, sagte die Nixe schnippisch. »Denn sonst solltest du irgendwo auf einer Wiese stehen und mit deinen Blättern das Sonnenlicht einfangen. Na, was ist es dieses Mal? Wieder ein Seemann verschwunden, oder diesmal ein Bauernjunge? Ganz egal, wer bei euch Menschen fehlt, wir wissen nichts darüber und haben auch nichts damit zu tun!«

»Nein«, sagte Brea und räusperte sich. »Das ist es nicht. Im Gegenteil, leider wird eine der euren nicht zu euch zurückkehren.« Ihr fiel nichts Besseres ein, als die Decke langsam zur Seite zu ziehen und der Nixe den furchtbaren Anblick zuzumuten. Diese stieß ein schrilles, fast nicht mehr hörbares Kreischen aus und schlug entsetzt mit beiden Händen aufs Wasser.

»Kintara«, schrie die Nixe so laut, dass es in den Ohren schmerzte. Brea hob vorsichtig die Tote an und ging ins Wasser, bis ihr das kalte Meer fast bis zur Hüfte reichte. Sie bettete Kintaras Leichnam auf einen flachen Felsen. Die Nixe berührte das Haar der Toten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ohne dass sie ein Wort gesprochen hätte, tauchten nach und nach weitere Nixen aus dem Wasser auf.

»Was ist mit ihr geschehen?«, rief die erste Nixe unter Tränen. Die anderen schrien einander Worte in einer Sprache zu, die Brea nicht verstand.

»Bitte«, sagte sie und spürte, wie ihr ein Kloß im Hals saß. »Lasst mich sprechen!«

»Wozu sollten wir deine Worte brauchen?«, zischte eine dunkelhaarige Nixe und wies auf die Tote. »Kintara ist tot! Wer hat es getan, dein Mann? Dein Bruder, oder etwa dein Vater? Oder hast du sie selbst ermordet, weil sie deinen Mann verführt hat?«

Der Vorwurf rief weitere heftige Worte hervor. Das eben noch so ruhige Meer begann sich aufzuwühlen. Eine erste Welle klatschte gegen die Felsen und bespritzte alles mit Gischt. Brea zog sich so schnell sie konnte wieder an Land zurück.

»Wir haben mit ihrem Tod nichts zu tun!«, schrie sie. »Gefunden haben wir sie, das ist alles. Wenn ihr mir nicht glauben möchtet, dann fragt Kelda. Es tut mir leid, dass eine von euch ermordet wurde. Und ich will herausfinden, wer ihr das angetan hat, bitte glaubt mir das. Es ist falsch, euren Zorn auf uns zu richten!«

Das Meer wogte noch immer bedrohlich, aber es schien nicht mehr den ganzen Strand überspülen zu wollen. Brea hielt sich trotzdem an Kelda fest. Auch wenn sie klein war, war sie ein Baum. Die Nixen beruhigten sich ein wenig. Auch die anderen schwammen jetzt näher heran, berührten die Tote, flüsterten und weinten. Brea schluckte und wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte.

Schließlich kam die erste Nixe zu Brea geschwommen und setzte sich vor ihnen auf einen Felsen. »Ich bin Laira. Du musst mir die ganze Geschichte erzählen, von Anfang an«, sagte sie mit rauer Stimme. »Die arme Kintara! Wir werden sie nie wieder singen hören. Es bricht mir das Herz. Bitte berichte mir alles.«

Brea ließ nichts aus. Als sie geendet hatte, herrschte Schweigen. Einige der Nixen hielten sich an den Händen oder hatten sich in den Arm genommen.

»Das ist furchtbar«, sagte Laira schließlich unter Tränen. »Wer auch immer Kintara das angetan hat, darf nicht ungestraft davonkommen! Auch wenn es sie nicht zurückbringt.«

Brea richtete sich auf. »Ich bin bei der Stadtgarde. Wenn in Garnisath ein Verbrechen geschieht, gleichgültig ob eine Fee oder ein Mensch das Opfer ist, sind wir dafür zuständig. Ich will tun was ich kann, damit Kintaras Mörder seine gerechte Strafe erhält.«

»Wir helfen dir, wenn wir können!«, sagte Laira entschieden. »Kintara war meine Freundin.«

»Ich danke dir.« Brea räusperte sich. »Ich weiß, es erscheint dir vielleicht gerade unpassend. Darf ich dir noch ein paar Fragen stellen? Es tut mir wirklich leid, aber das wäre wichtig für mich. Um Kintaras Mörder zu fassen.«

»Frag«, sagte Laira und wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Wann hast du Kintara zum letzten Mal gesehen?«

»Das muss vor vier oder fünf Sonnenaufgängen gewesen sein«, sagte Laira nach kurzem Nachdenken. »Wir haben uns nicht jeden Tag gesehen, weißt du. Es gibt verschiedene Stellen an der Küste, die zum Singen wirklich schön sind. Meist haben wir uns hier getroffen, und ich fand es seltsam, sie einige Tage nicht zu sehen.«

»Hast du sie einmal zusammen mit einem Menschen gesehen?« Brea errötete. »Oder … mit einem Mann …«

»Ich kenne die Legenden und Erzählungen der Menschen«, half ihr Laira und lächelte traurig. »Sie enthalten selten mehr als ein Körnchen Wahrheit. Menschen sind seltsame, schwer zu verstehende Wesen. Ich habe schon einiges an Neid und Eifersucht erlebt. Meistens sind die Frauen schlimmer als ihre Männer. Eine hat vor Jahren mal versucht, mich zu vergiften.«

»Und Kintara? Hatte sie Feinde?«

Laira zuckte mit den Schultern. »Wir reden nicht viel über so etwas. Falls Kintara gerade einen menschlichen Geliebten hatte, habe ich nichts davon erfahren.«

»Gibt es noch weitere Nixen, die verschwunden sind, oder die du längere Zeit nicht mehr gesehen hast?«

»Nein«, sagte Laira. »Ich verstehe, was du meinst. Ich will sehen, dass wir in Zukunft ein wenig besser aufeinander achtgeben.«

»Danke«, sagte Brea. »Ich glaube, im Augenblick habe ich keine weiteren Fragen.«

»Wenn du welche haben solltest, besuche mich wieder«, sagte Laira. »Wir müssen wissen, wer Kintara das angetan hat, und weshalb.«

»Ich werde es nicht vergessen, Laira«, sagte Brea und verneigte sich vor der Nixe. »Danke für deine freundlichen Worte.«

Die anderen Nixen stimmten unterdessen ein Lied an. Es war ein wortloser Gesang, so schön, dass Brea kurz die Augen schloss, um sich der Melodie vollkommen hinzugeben. Der Zauber des Gesangs berührte ihr Herz, und sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden.

»Was werdet ihr mit Kintara machen?«, fragte sie leise.

»Das ist ihr Lied«, sagte Laira. »Wir nehmen sie mit uns, fort von der Welt der Menschen. Mehr braucht ihr nicht zu wissen. Ich bin euch dankbar, dass ihr sie uns gebracht habt. Bitte geht jetzt. Dieser Abschied ist nicht für eure Augen und Ohren bestimmt.«

***

»Du hast Mumm, das gestehe ich dir zu«, sagte Hauptmann Edorian, als Brea sein Dienstzimmer betrat. »Ich schicke dich in die Wüste, und nicht einmal einen Tag später stehst du wieder bei mir auf der Matte.«

Es war noch früh. Durch das geöffnete Fenster fiel Sonnenlicht auf den Tisch, an dem der Hauptmann vor kurzem sein Frühstück eingenommen hatte.

Brea stand in strammer Haltung neben der Tür. »Ich wäre nicht gekommen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.«

»Ich habe die Nachricht bereits gehört«, meinte Edorian. »Es gab einen Doppelmord am Hafen. Ein Mensch, und dann auch noch eine Fee. Das könnte schlimm für die Stadt werden. Der Stadtrat wird mich dazu befragen, sobald es sich herumgesprochen hat. Deshalb brauche ich Einzelheiten.«

Brea fasste ihre Beobachtungen zusammen. Sie berichtete auch, wie sie die arme Kintara den Nixen übergeben hatte. »Der tote Seemann hatte Traumpulver bei sich. Er könnte ein Kunde von Adalard gewesen sein, oder einer seiner Schmuggler. Ich fürchte, der Mord an der Nixe wird für Beunruhigung sorgen, bei den Feen und auch bei den Menschen.«

»Das stimmt«, sagte der Hauptmann und strich sich über den sorgsam gestutzten Bart. »Es wäre gut für uns, wenn wir den oder die Mörder rasch finden.«

»Da wäre noch etwas.« Sie zog das Beutelchen mit den braunen Bröckchen hervor und legte es vor Edorian auf den Tisch. »In der Nähe der Leichen habe ich das hier gefunden.«

Der Hauptmann runzelte die Stirn. »Was ist das?«

»Ich weiß es auch nicht, aber offenbar hatte einer der Toten es bei sich. Der Seemann wahrscheinlich.«

Edorian öffnete eine Schublade seines Schreibtischs, zog eine Lupe hervor und betrachtete die Harzbröckchen. »Es sieht für mich ein bisschen aus wie winzige Kristalle, aber dafür ist es zu weich.«

»Es ist etwas Pflanzliches, eine Art Harz.« Brea kaute auf ihrer Unterlippe. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.«

»Bleiben wir erst einmal bei dem, was wir wissen.« Edorian legte das Glas zur Seite und musterte Brea prüfend. »Wie würdest du vorgehen?«

»Diese Harzbröckchen sollten untersucht werden«, sagte Brea. »Ich müsste außerdem herauszufinden, wer der tote Seemann war.«

»Was ist mit der Nixe?«

»Kintara war bereits einige Tage verschwunden. Ich würde mich erkundigen, ob es unter den Feen vielleicht noch andere Vermisste gibt. Außerdem müssen wir klären, wie Kintara in diese dunkle Gasse gekommen ist.«

Hauptmann Edorian stand auf und trat ans Fenster, die Hände auf den Rücken gelegt. »In erster Linie sind wir für die Menschen dieser Stadt verantwortlich, nicht für die Feen.«

»Aber die Feen leben doch auch in Garnisath«, wagte Brea zu sagen. »Sie sind anders als wir, aber auch sie haben Gefühle. Man kann sie verletzen und leider sogar töten. Sie haben unsere Unterstützung nicht weniger verdient als die Menschen.«

»Eine hübsche Rede«, sagte Edorian und wandte sich um. »Ehrlich gesagt ist es mir lieber, wenn zwischen Menschen und Feen ein gutes Einvernehmen herrscht. Aber es gibt einige, die das anders sehen. Es war richtig, den Nixen den Leichnam zu bringen und ich hoffe sehr, sie werden die Stadt von Vergeltungsmaßnahmen verschonen. Du hast offensichtlich ein gutes Händchen für Feen. Woher kommt das?«

Brea errötete. »Meine Mutter. Sie hat manchmal Feen bei sich aufgenommen, wenn sie Hilfe brauchten. Ein gebrochener Flügel bei den Elsterfeen zum Beispiel, solche Sachen.«

»Eine kluge Frau«, meinte der Hauptmann.

»Das stimmt«, sagte Brea zögernd. »Sie hat … Dinge gesehen. Sie nannte es ihr zweites Gesicht. Eines Tages ist sie einfach fortgegangen und hat ein Schiff nach Cimbras genommen. Ich habe schon lange nichts mehr von ihr gehört.«

Edorian nickte und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. »Ich nehme an, du erwartest von mir nun, dass ich deine Beurlaubung aufhebe und dir diesen Fall überlasse?«

Brea holte tief Luft. »Ich möchte mich gerne um den Fall kümmern, wenn Ihr erlaubt.«

»Das ist eine große Sache, Brea.« Edorian lehnte sich zurück. »Und wenn du recht hast und sie hängt irgendwie mit Traumpulver und Adalards Bande zusammen, wird es noch schwieriger. Du hattest noch nie mit einem Mord zu tun.«

Brea hob das Kinn. »Die Entscheidung liegt bei Euch. Aber ich verspreche, Euch nicht zu enttäuschen.«

»Ich gebe dir den Fall«, sagte Edorian und hob die Hand. »Zusammen mit Nicholas. Betrachte es als deine letzte Chance. Ich brauche Ergebnisse, und das bald. Der Stadtrat wird mir, wie ich schon sagte, sehr genau auf die Finger schauen. Du erstattest mir Bericht, und wenn es Schwierigkeiten gibt, wendest du dich an mich, ohne zu zögern. Verstanden?«

»Verstanden«, sagte Brea. »Danke, Hauptmann.«

»Danke mir nicht«, sagte Edorian. »Ich will diese Entscheidung nicht bereuen müssen. Hast du noch Fragen? Nein? Weggetreten.«

***

»Du bekommst den Mordfall mit der toten Fee?« Nicholas hob die Brauen und sah Brea über seinen Schreibtisch hinweg an. »Du warst also beurlaubt. Dann tauchst du trotzdem hier auf, und der Hauptmann versetzt dir nicht nur keinen saftigen Tritt in den Hintern, er überlässt dir sogar einen Fall?«

»Einen schwierigen«, meinte Brea. »Aber er ist sehr wichtig, Nicholas. Es kommt nicht oft vor, dass eine Fee stirbt, und schon gar nicht durch Mord. Ich kann mich ehrlich gesagt an keinen einzigen Fall erinnern.«

»Ich auch nicht«, sagte Nicholas und sah sie an. »Wie fangen wir an?«

»Wenn wir herausfinden wollen, was geschehen ist, müssen wir Leute befragen und mehr über diesen Seemann erfahren«, erklärte Brea, schob einen Stapel Schriftrollen von einem Stuhl und nahm Platz. »Er wird im Hafen ein Schiff haben, und vielleicht vermisst ihn sein Bootsmann oder ein anderer aus seiner Mannschaft bereits. Falls er von hier ist, wird er Freunde haben oder möglicherweise Familie, Menschen, die ihn kannten.«

»Ein verschwundener Matrose im Hafenviertel?«, fragte Nicholas zweifelnd. »Das klingt mir nach der Nadel im Heuhaufen.«

»Eher nach einer Nadel in einem Haufen von Nadeln«, sagte Brea.

»Richtig«, sagte Nicholas und verzog das Gesicht. »Eine Nadel in einem Heuhaufen würde auffallen. Noch etwas – falls sein Schiff bereits wieder ausgelaufen ist, finden wir vermutlich nie heraus, wer er war.«

»Dennoch müssen wir es versuchen«, meinte Brea und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe.

»Ich würde in der Hafenmeisterei beginnen«, fuhr Nicholas fort. »Dort werden alle ein- und auslaufenden Schiffe verzeichnet, dazu die Fracht und die Herkunft des Schiffes. Manchmal werden dort auch Streitereien, Diebstähle oder Vermisste gemeldet. Aber danach müssten wir von Schiff zu Schiff gehen, fürchte ich.«

»Du hast Recht.« Brea sah sich in Nicholas’ Raum um. »Meinst du, dieser große Berg Pergament hier kann uns irgendwie weiterhelfen?«

Nicholas hob erneut die Brauen. »Falls du vom Archiv der Garnison sprichst, lautet die Antwort eindeutig ja. Auch ich kann mich an keinen Mord an einer Fee erinnern, aber ich werde später anfangen in den Unterlagen zu graben. Übrigens, vielleicht haben wir mit einem anderen Ansatz mehr Glück. Sollte es sich um einen misslungenen Raub handeln, gibt es vielleicht ähnliche Fälle. Eine solche Würgeschlinge kommt bestimmt auch nicht häufig zum Einsatz. Sofern ein derartiger Mord in Garnisath schon einmal passiert ist, müsste es dazu Aufzeichnungen geben.«

»Wenn ich dir helfen soll, sag mir Bescheid. Ich weiß allerdings nicht, ob ich dir hier drin eine große Hilfe sein kann«, sagte Brea. »Ich denke, einen offenen Punkt hätten wir noch. Wir werden auch mit Feen sprechen müssen. Sie sind manchmal ziemlich verschlossen. Die Feen werden bestimmt zugänglicher, wenn sie von ihresgleichen befragt werden. Ich kenne einige Feen sehr gut und vertraue ihnen. Was sagst du dazu?«

»Ich gestehe, ich habe normalerweise nicht viel mit Feen zu tun«, sagte Nicholas nach kurzem Überlegen. »Bist du dir sicher, dass es richtig wäre, sie einzubeziehen? Der Tod dieser Nixe könnte sie aufwühlen.«

»Du hast vielleicht recht«, gab Brea zu. »Aber ich befürchte, wenn wir diese Morde aufklären wollen, haben wir keine Wahl, und ich vertraue meinen Freunden. Ich werde sie zusammentrommeln, damit wir alles besprechen können.«

»Hier?«, fragte Nicholas und riss die Augen auf. »In meinem Archiv?«

»Nein.« Brea stand auf. »Ich habe einen guten Freund, den wir nur unter sehr großen Schwierigkeiten hier hereinbringen. Bist du schon mal einem Zentauren begegnet?«

Selbst Feen können sterben

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