Читать книгу Stufen - Christian Morgenstern - Страница 11
ОглавлениеEtwas für uns junge Künstler, Dichter usw. Die jungen Pythagoräer mußten fünf Jahre schweigen als Diener einer rechten Philosophie.
Diese Leute, welche meinen, vom Primaner zum Übermenschen avancieren zu sollen.
Denn nicht darauf kommt es an, daß diese jungen Poeten ihren Alltag in Verse bringen, sondern ob – mit Nietzsche zu reden – die Zucht zweier Jahrtausende nicht erfolglos an ihnen vorübergegangen.
Wir Lyriker müssen des ewigen Posierens müde werden. Da wird alles drapiert und auf den größten Effekt hin gesagt. Man sehe nur das ewige Schwelgen in Farben, Düften, Klängen, als ob wir je so überschwenglich empfänden.
Weniger Lüge, mehr Herbe, Strenge, Zucht, Knappheit, Innerlichkeit.
Nach der »Wildente«: Ibsen wäre »ungriechisch«? Aber was taten die alten Griechengötter andres, als (scheinbar) kalt und spöttisch das Treiben der Sterblichen betrachten, im Bewußtsein der Notwendigkeit aller Dinge.
So steht Ibsen vor seinen Mitmenschen. Der herbe Duft einer gewissen Lächerlichkeit, welche das Kennzeichen jeder Tragik ist, schwebt um seine Werke.
Ibsen hat einmal gesagt, ein Lyriker sei in ihm ertötet worden. Man lese, wie am Schluß des Peer Gynt seine Lyrik hervorbricht, und man wird diesen Schluß überhaupt anders verstehen. Dieser große Satiriker war sein ganzes Leben lang ein noch größerer Lyriker – wie er uns selbst in »Wenn wir Toten erwachen« noch einmal bekannt hat.
Die feigen Menschen sind es, die Ibsen durch alle seine Stücke hindurch verfolgt, die Kompromißler, die Halben. Fast jede seiner Hauptpersonen sagt einmal von sich selbst: Ja, wenn ich nur nicht so schrecklich feige wäre! Bernick, Nora, Frau Alving, Greger Werle, Hedda, Solneß, Ellida, Rosmer.
Auch wer Ibsens Werk nicht beistimmt, muß doch wie von dem Brausen eines großen Stromes ergriffen werden, wie von einer Naturkraft, die dich im Innersten aufwühlt, wobei es wenig verschlägt, ob sich dieser an seinem Ufer ansiedeln will und jener nicht.
Denn schon das bloße Dasein des Genies hat etwas mächtig Erregendes, Steigerndes, Erhöhendes. –
Die Griechen gestalteten ihre Sagen; die Renaissance lebte in diesen Sagen und in den Erzählungen der Bibel; die neue Zeit, in der Breite ihrer Völker jenen Sagen wie diesen Berichten ferner und ferner rückend, muß die ganze bisherige Geschichte zum Stoff ihrer Kunstwerke nehmen. Unsere Sage sind die großen Epochen der Geschichte geworden, unser Göttermythos der Mythos vom großen Menschen in allen Zeiten. Dies ist recht eigentlich die uns zugeborene Sage: die Menschheits-Sage. In ihr liegen jene heidnischen und christlichen Stoffe mit inbegriffen, aber sie selbst ist noch unausmeßlich weiter und tiefer, ihr Reich geht noch hinter alle Sagenkreise zurück und unter sie hinab, bis auf die Menschen, ja bis auf die Völker, die diese Kreise ersannen. Ein erster ungeheurer Überblick über dreitausend Jahre geistige Erde ward möglich. Menschen dieses Überblicks werden die neue Tragödie schreiben, die einzige, welche der griechischen ebenbürtig sein wird, ja, welche sie überfliegen wird wie der Adler den Falken.
Strindberg
Es entsteht jedesmal ein bedeutendes Schütteln des Kopfes, wenn ein absonderlicher Mensch durch das Mittel einer großen künstlerischen Begabung in die Welt hinausgreift. Begabung sollte eigentlich immer mit Bravheit gepaart sein, meint man, da man gern in aller Ruhe lernen und bewundern will; so kommt man weiter in der Bravheit, und damit, meint man, in der Kultur. Ein Mensch, der einen nötigt, mit ihm zu laufen, dann jäh wieder umzukehren, dann plötzlich ins Wasser zu springen, darauf vielleicht donquichotisch auf ein eingebildetes Amazonenheer loszurücken, schließlich mit einem Male in einem Kloster zu verschwinden, um mit einer Maske in der Linken und einer Geißel in der Rechten wieder hervorzukommen, ein solcher Irrstern und Wirbelsturm wird nicht gern einregistriert und als voll genommen. Ein genialer Verrücktling, sagt man und geht wieder zur Ordnung über. Daß aber hier ein Mensch wie ein gehetztes Wild durch die Felder und Wälder, Schluchten und Flüsse des Lebens stürzt, gehetzt – ja wovon? – von irgendeinem Verfolgungswahn: als flöge die Finsternis hinter ihm her, aus der er entsprungen, und er müßte das ewige Licht finden, bevor sie ihn wieder packte, – oder von irgendeinem Sehnsuchtswahn – wonach? – : nach dem grünen Wiesental eines unbewölkten Friedens oder nach dem Gipfelfelsen über den Nebeln, von dem aus er hinüberfliegen könnte ans Ufer eines anderen Sterns, einer höheren Welt. – Daß aber hier ein Mensch durch die Welt geht, allen Jammer des Menschlichen vor sich her tragend in Jubel und Hohn und Haß und jedem Gefühl vom niedrigsten bis zum höchsten, das wird als nichts empfunden, das bleibt tot und unfruchtbar für den ganzen Bann der Geordneten.
So ein Toter aber, solch ein den meisten nur selten und unvollkommen lebendig Werdender ist August Strindberg, ein gehetztes Wild, eine laufende Flammensäule, ein Mensch, alles in allem, vor dem die Sehnsucht nach jenem »Blitz aus der Wolke, der da heißt Über-Mensch« aufschreit, wenn irgendwo: denn dieser Untergehende ist ein Hinübergehender.
Was liegt an »Werken« (im letzten Grunde), was an Korrektheit, Bravheit, Nützlichkeit, Tradition, Gemüt, Liebe – kurz was an all dem Vordergrundswesen, außer, daß da ein Mensch seinen Sinn sucht – ein Mensch. »Respektiert den Menschen«; er kommt so selten zum Vorschein. Die Menschen – was sind sie wert. Der Mensch ist immer ein Phänomen. Er sieht nicht schön aus: Irgendwie heißt sein Name und Ruhlos sein Schuh, sein Rock heißt Elend, seine Zunge Eitelkeit, sein Eingeweide Wollust, sein Herz Flamme, sein Auge Sonnenheimweh, sein Wanderstab Nirgendsheim und seine bittere Nahrung Er selbst. In den Höfen und Gärten des Menschlichen gibt es viel Nützliches und Tüchtiges zu tun. Da gebe es nur den Schurz und die Schaufel. Da wird das Handwerk getan. Aber in der Gespensterstunde von zwölf bis eins, da horcht hinaus auf die wilde Jagd der vom Genius Gezeichneten, da laßt den Menschen zu euch hinein und legt den Finger in seine Wunden und fühlt: es gibt noch etwas, wovor Kunst und Wissen und all das versinkt wie ein Rauch.
Und da wird euch Strindberg nicht mehr nur ein genialer Sonderling dünken.
Jedem, der seine Gedanken niederlegt, blickt schon im Augenblick des Schreibens ein Größerer über die Schulter, sei es ein Vergangener, Lebendiger, oder noch Ungeborener. Wohl dem, der diesen Blick fühlt: er wird sich nie wichtiger nehmen, als ein geistiger Mensch sich nehmen darf.
Der eine lebt, der andere schreibt sich aus. Das erste Dokument der Kultur war – ein Tagebuch.
Warum ist Balzac größer als Flaubert? Weil er eine unendliche Fülle ist, aus der Großes und Geringes, aber immer Lebendiges hervorsprudelt. Balzac ist eine blühende Wiese, wo Flaubert vielleicht ein kunstvoller Garten. Keine Bewunderung hilft ihm gegenüber, man muß ihn lieben. Er hat dieses tief alles durchblutende Mitgefühl, jene wahre Liebe: die Sympathie, die ihn das Leben nicht vergolden, aber mit jenen zarten Händen anfassen läßt, womit dieses feine und des schärfsten Beurteilers immer noch spottende Gewebe allein angefaßt werden darf.
Der Sonderling:
Seit Friedrich Schillers hundertstem Todestag habe ich diesen Dichter für mich Max Zottuk getauft; so sehr haben mir Presse und Publikum jeden Buchstaben des einst teuren Namens verleidet.
Die Sitte des In-den-April-Schickens ist bei uns lange nicht genug verbreitet und geübt. Der erste April müßte ein wahrer Festtag für die Nation werden, ein Dies Saturnalius – in jedem Falle ein liebenswürdigerer Feiertag als mancher offizielle.
Ich habe nie einsehen mögen, warum mittelmäßige Menschen deshalb aufhören sollten, mittelmäßig zu sein, weil sie schreiben können.
Denke dir immer jemanden, auf den deine Sätze durchaus nicht so Eindruck machen, wie sie’s dir selber bisweilen tun, der sie vielmehr trocken und gleichgültig prüft, ja beinahe feindselig, wie ein Mensch, den jede neue Behauptung zunächst – ärgert.
Es wird eine Zeit kommen, da wird man Geschichten »von außen her« schreiben, ich meine Geschichten, in denen wohl ähnliches erzählt wird wie heute, aber deren eigentlicher Reiz darin besteht, daß die geschilderten Menschen durchsichtig gemacht sind – gegen das Mysterium hin. Sie werden charakterisiert werden mit allem Glauben an ihre Wirklichkeit und doch zugleich wie Halluzinationen wirken, sie werden uns fesseln wie irgendwelche Gegenstände der bisherigen Poesie, aber der Schauder dessen, für den die alte Welt zusammengebrochen ist, wird auch ihrem Bilde mitgeteilt sein, so daß sie im selben ergötzen und ein tiefes unheimliches Wundern erregen.
Etwas vom Übersetzen
Nehmen wir Ibsen. Ibsen arbeitete an jedem seiner Stücke durchschnittlich zwei Jahre. Wenn nun ein Ausländer hergeht und eines jener Dramen in vier Wochen in seine Sprache übersetzt, so wird er schwerlich jede der redenden Personen so in sich lebendig fühlen können, wie der Dichter, der sie zuletzt gleichsam als seine beständige Gesellschaft empfand.
Es gibt eine Art, ich möchte sie die rationalistische Methode zu übersetzen nennen. Der Übersetzer möchte das Original womöglich noch verdeutlichen. Ohne auch nur einen Schatten jener wirklichen Ehrfurcht, wie sie nur die Dichter selbst dem Dichter entgegenbringen.
Zu Dostojewski
Aus seinen Büchern findet man schwer wieder nach Westeuropa zurück.
Wenn ich Dostojewski lese, so ist es mir, als sähe ich einem Feuer zu – einem Steppenbrand –, das über die Ebene wandert. Und jetzt frißt und wühlt es sich schleichend durchs knisternde Gras – und jetzt fährt ein Sturmwind daher und erhebt es bis zu den Wolken, und jetzt kriecht und glimmt es wieder dahin und nur dicke Rauchmassen bezeichnen seinen Weg; – und jetzt steigt es bei einem neuen plötzlichen Stoß gleich einer Säule zum Himmel und übergießt Himmel und Erde mit übergewaltigem, erschütterndem Glanz.
Mauthner tut Nietzsche unrecht, auch da, wo er gegen ihn Recht hat. Ein Menschenleben gräbt sich sein Strombett und damit muß man zufrieden sein. Nietzsche ist gewiß nicht aus Eitelkeit den Weg zur Sprachkritik nicht weitergegangen. Mauthner unterschätzt das Dynamische im Genie.
Alles Große macht sterben und auferstehn. Wer an Nietzsche und Lagarde nicht immer wieder stirbt, um an ihnen auch immer wieder aufzuerstehen, dem sind sie nie geboren worden.
Wer Lagarde erträgt, ist entweder ein Hundsfott, ein Kind oder ein Riese.
Was wäre Lagarde mit all seinen Forderungen, seiner Strenge und Höhe, wenn nicht eine so große Natur und eine so tiefe, fast unvergleichliche Bildung in jedem Verstande sein Besitz, sein Erwerb gewesen wäre. Er gleicht einem Marmorbild, auf dessen Sockel ewige Gebote eingegraben sind, aber dessen Erscheinung für sich allein noch gebietender wirkt als sie.
Ich denke nach, welchen Dichter man einem Adler vergleichen könnte. Ibsen war die Eule in Person, Goethe war vielleicht ein Adler. War Shakespeare einer? Ich glaube, die Adler unter den Dichtern werden erst kommen: Geister, die alles Dasein zugleich mit Falkenblick erkennen und über ihm in schier unerreichbarer Höhe kreisen. Geister mit einer »Freiheit« auch von sich selbst – …
(Der Evangelist und Apokalyptiker Johannes war ein Adler.)
Wenn du Schriftsteller bist, so schreibe jeden Tag etwas nieder, und wenn du auch nur den zehnten Teil davon aufbewahrst. Kommt dann deine produktive Periode, so wirst du, was du zu sagen hast, mit doppelter Leichtigkeit und Anmut sagen, du wirst dann wie der Klavierspieler sein, der eines Tages zu phantasieren beginnt und merkt, daß es auf den Tasten fortan kein Hindernis mehr für ihn gibt.
Gespräch ist gegenseitige distanzierte Berührung. Ein Buch ist chiffriertes Tasten. Lies es, taste daran, und du wirst wiederbetastet werden, es wird sich die Erscheinung seines Verfassers auf und in die deine dechiffrieren, als telegraphierte er dir mit unsichtbaren Fingern durch die Stirn.
Je besser ein Stil wird, desto mehr nimmt er alles in sich hinein: die überflüssigen Interpunktionen, die allzuhäufigen Absätze, den Sperrdruck.
Ein Buch ist nicht etwas, was ein Mensch geschrieben hat, sondern dieses Menschenmysterium selbst, ebenso wie das Musikstück, das ich heut abend von dem Nachbarhause herüberklingen hörte, kein Musikstück von Beethoven war, sondern das Mysterium Beethoven selbst.
Tolstoi war ein Protest des höheren Menschen wider den Menschen, wie er gemeinhin heute noch ist. Tolstoi wollte nur ganz einfache, simple Dinge. Dinge, die sich eigentlich von selbst verstehen – für jeden anständigen Menschen.
Das von selbst Verständliche wird gemeinhin am gründlichsten vergessen und am seltensten getan.
Man fordert von Tolstoi Märtyrertum. Man sagt: Lebe wie Franziskus, stirb wie Christus. Nun, er hat sich im Jahre 1907 den Henkern seines Staates dargeboten: – »nehmt mich und führt mich hin wie jene armen Opfer, legt den eingeseiften Strick um meinen alten Hals …«
Der große Schriftsteller hat Stil, der kleine Manier, was nicht ausschließt, daß der große auch einmal klein und der kleine groß, d. h. ein Stilist sein kann.
In diesen Erzählungen von Liebe sehe ich immer nur eines: die Liebe als Selbstpreis. Selten oder nie, daß diese Menschen durch ihre Liebe zueinander wachsen wollen, daß sie sich über sich hinaus lieben. Daher denn auch die Übersättigung, ja der Ekel, der einen nach und vor derlei erfaßt, ein Verlangen, es möchte doch auch hier endlich eine neue Optik Platz greifen, eine tiefere, religiösere Betrachtung des Liebeslebens.
Nichts kann mich mehr aufbringen, als wie allezeit hier und dort über den Eckermann geredet wird. Immer ist ein halb mitleidiges Lächeln dabei, gleich als handle es sich um eine durchaus subalterne Natur, der es jeder seiner gönnerhaften Bespötter unvergleichlich zuvorgetan haben würde. Man hängt sich an die Einfalt mancher seiner Fragen und bedenkt nicht, daß er oft nur frug, um Goethen zu locken und anzureizen; man wirft ihm eigene Unbedeutendheit vor und übersieht die Fülle feiner Beobachtungen und Bemerkungen, die anmutigen Berichte über seine Liebhabereien, den langen Brief aus Genf und überall den Sinn und Takt fürs Wesentliche, der uns niemals mit Tagesgeschwätz langweilt, sondern ihn fortwährend bei der Würde seiner einzigartigen Aufgabe festhält.
Laß sie sich immer überheben, würde Goethe selbst sagen, soviel ist gewiß, daß ihrer keiner mich vermocht hätte, mein inneres Leben so munter und lebendig vor ihm zu entwickeln, wie dieser liebe Junge, der wohl nicht groß war im Sinne schöpferischer Kraft, aber in seinen Maßen ein ganzer Kerl, ein Vorbild, allen denen zu empfehlen, denen es um ihre Bildung wahrhaft ernst ist, und die, da ihnen Gott die zeugende Kraft nur unvollkommen gewährt hat, im produktiven Empfangen seiner Höhe zustreben müssen und ihm damit wohl ebenso nahe kommen mögen, wie unsereins mit seinen stärkeren Mitteln und glücklicheren Voraussetzungen.
Manchem Menschen würden Weihnachtskataloge, Zeitungsannoncen, und zu Mundwassern, Seife, Thermosflaschen, Petroleumöfen usw. beigepackte Erklärungen und Referate für lebenslängliche Lektüre völlig genügen.
Wenn ein Schriftsteller sich jederzeit der Macht bewußt wäre, die in seine Hand gegeben ist, würde ein ungeheures Verantwortlichkeitsgefühl ihn eher lähmen als beflügeln. Auch das Bescheidenste, was er veröffentlicht, ist Same, den er streut und der in anderen Seelen aufgeht, je nach seiner Art.
Voltaire: »Si Dieu n’existait pas, il faudrait l’inventer.« »Wenn der Gedanke an Gott die Titus, Trajane, die Antonius, die Marc Aurele hervorgebracht hat, so sind diese Beispiele zur Verteidigung meiner Sache vollkommen ausreichend und meine Sache ist die Sache der ganzen Menschheit.« Oh, ihr Wahrheits-Sucher!
Wer so wie Goethe alles Irdische überschaut, dem kann man es kaum verargen, wenn er über dem Blick auf das Ganze die Scholle, die er gerade bewohnt, manchmal vergißt, wenn ihm das Treiben der Epoche, in der er gerade lebt, gegenüber der unabsehbaren Entwickelung des Menschengeschlechts ein Eintagstreiben, ein Kinderspiel erscheint.
Wieviel wird um Brot und wie wenig als Brot geschrieben.
Beim Lesen einer Biographie Matkowskys.
Ich hoffte vergebens etwas vom Menschen Matkowsky und seiner innersten Stellung zur Welt zu finden.
Glaubt man wirklich, daß von einem Menschen irgend etwas gegeben sei, wenn nur Außenseite gezeigt wird? Oder hätte es keinen Sinn bei Persönlichkeiten wie Kainz, Mittwanger, Matkowsky und anderen nachzuforschen und aufzuspüren, wie sie zu allen ewigen Dingen standen? Wie ist es in einem biographisierenden Buche möglich, über diese Hauptsache auch nicht ein Sterbenswörtchen zu verlieren?
Der Bekämpfung der Schundliteratur sollte die von fratzenhaften Reklamebildern zur Seite treten. Nur die große Trägheit in solchen Dingen nimmt hin, was hier täglich auf Plakaten und in der Presse vor Augen zu rücken gewagt wird, und achtet nicht der unausbleiblichen, schädlichen Wirkung solcher Zerrbilder auf jede, besonders aber auf jede jugendliche Seele.
Man weiß, wie wichtig es ist, Schwangeren harmonische Verhältnisse zu schaffen. Sollte es anders sein mit der Menschheit, die sich fortwährend im Zustande der Mutterschaft befindet?
Wir sollten gewisse Bücher mehrmals lesen, ehe wir darüber sprechen. Etwa einmal im Winter, einmal im Sommer – und manche noch in ganz anderen Intervallen. Was wir dann über sie zu sagen hätten, würde vermutlich ebensovielmal besser sein … Und uns selbst würde solche Selbstzucht nicht nur zu besseren Lesern, sondern zugleich zu besseren Menschen machen.
Über jedem guten Buche muß das Gesicht des Lesers von Zeit zu Zeit hell werden. Die Sonne innerer Heiterkeit muß sich zuweilen von Seele zu Seele grüßen, dann ist auch im schwierigsten Falle vieles in Ordnung.
Gewiß, es gibt Züge, die ich Nietzsche, dem Menschen, verarge – aus Liebe. Nur kleine Züge, aber ich verstehe sie nicht an ihm – oder vielmehr: ich würdige nicht genug die Tiefe des Leids, in welche dieser Geist getaucht wurde, als er unter der Last seiner Gedanken, seiner Einsamkeit und seiner Krankheit zugleich, ein ebenso furchtbares wie großes Menschenopfer, zusammenbrach.
»Also sprach Zarathustra« – Nietzsche selbst hätte diesen Titel und diesen Refrain in früheren Jahren streng abgelehnt. Es ist die Tragik dieses Buches, manchmal nicht mehr gefaßt und katonisch genug zu sein.
Es wird mir immer gewisser, daß Nietzsche überall da versagt, wo er sich bewußt oder unbewußt der Eitelkeit seines Geistes hingegeben hat. Hätte er diesen polnisch-romanischen Zug nicht gehabt, er stände oft noch viel größer da. Es gibt keinen schlimmeren Fluch für einen Denker, als sich seinem Volk gegenüber als Schriftsteller verpflichtet zu fühlen. Wenn einer Denker geworden ist, d. h. ein Mensch, dem das Nachdenken über menschliche Probleme zur inneren Leidenschaft und Lebensaufgabe geworden ist, so ist er auch ganz von selbst genug Schriftsteller, seine Gedanken mitzuteilen.
Aber freilich, Nietzsche war vor allem ein Kämpfer. Er war ein Weiser aus der Kriegerkaste, nicht aus der der Priester.
Vielleicht hätte er im zweiten Teile seines Lebens auch noch die Milde der Weisheit ausgeströmt, nach ihren Blitzen auch ihre Wärme.
Der Zarathustra ist bei allen Einzelheiten unbestreitbarer Größe eines der schlechtesten Bücher, die es gibt. Er ist weder ein Volksbuch noch ein Buch für Verwöhnte und Einsame, es ist ein Mischmasch von Grandiosem und Banalem, inhaltlich wie im Vortrag. Ein Vordrängen, ein Aufdrängen persönlicher Stimmungen, ein kategorisches Erledigen von Dingen, deren »kategorische Erledigung« immer nur eine »niaiserie« bleibt, ein Spiel mit dichterischen Bildern und Gleichnissen, das oft groß und tragisch, öfter noch fast unbeherrscht und geschwätzig wirkt. Ein Buch, das nur durch Reduktion seiner Reden auf etwa 12–20 zu dem klassischen zu machen wäre, was es zu sein wünscht. Unglückselige kleine Zeit, du hast auch auf ihm, deinem Größten, gelastet.
Ich kann damit nichts anfangen, – Nietzsche sei vor allem ein großer Künstler, ein großer Stilist, Artist gewesen. Was heißt das, vor allem. Was macht denn den großen Stil, wenn nicht der Mensch von überragendem Rang, der geborene Führer und Schöpfer? Und wo Nietzsche das nicht war – und er vergaß manchmal seinen Rang und führte weder noch schuf – da taugte auch sein Stil nichts, da war er auch nur ein Manierist seiner selbst.
Nietzsche, die große Antithese seiner Zeit.
Beim Vorlesen einiger Nietzschescher Aphorismen: – Geistige Austern.
Nietzsche konnte mit den bisherigen fünfsinnlichen Erkenntnismitteln den Menschen nicht verstehen. Drum erfand er sich seinen Über-Menschen. Er ward damit der letzte große deutsche Philosoph – ante Christum natum. Er war, um in seiner Manier zu reden, der letzte – Ante-Christ.
Nietzsches Schicksal war, über den Trümmern des komischen Bildungsphilisters als tragischer zu sterben.
Daß Künstlerschaft und Könnerschaft untrennbar sind, das versteht sich von selbst. Aber das, worauf es heute, wie immer, ankommt, ist, wer da spricht und was – nicht nur wie – gesprochen wird. Ist Nietzsche nicht einer unserer ersten Stilisten? Und dennoch blieb er in höherem Sinne unfruchtbar.
Ich wäge meine Worte, denn wenn je einer, habe ich Nietzsche erlebt. Und nicht in mir war er unfruchtbar. Aber ich weiß auch, worin er lange Zeit mein Höchstes war: in seiner Größe als Mensch; nicht in der, ach nur allzu zeitgemäßen, Art seiner Philosophie. Die war Abendröte, nicht Morgenröte und wer von ihr aus weiterschreitet, der wandelt in die – Nacht.