Читать книгу Wir fanden einen Pfad - Christian Morgenstern - Страница 6
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O Nacht
O Nacht, du Sternenbronnen,
ich bade Leib und Geist
in deinen tausend Sonnen –
O Nacht, die mich umfleußt
mit Offenbarungswonnen,
ergib mir, was du weißt!
O Nacht, du tiefer Bronnen ...
Erblinden mag ich, sprach ich kühn
Erblinden mag ich, sprach ich kühn, –
mir bleibt nichts Neues mehr zu schauen! ...
Da wandelt sich der Erde Grün
zum odemraubend kühlen Grauen.
Ein Schleier fällt auf die so recht
geliebten Wesen und Gelände,
und zu der – Geister Lichtgeschlecht
erhebt – ein Blinder seine Hände ...
Nun wohne DU darin,
Nun wohne DU darin,
in diesem leeren Hause,
aus dem der Welt Gebrause
herausfloh und dahin.
Was ist nun noch mein Sinn, –
als daß auf eine Pause
ich einzig DEINE Klause,
mein Grund und Ursprung bin!
Die zur Wahrheit wandern
Die zur Wahrheit wandern,
wandern allein,
keiner kann dem andern
Wegbruder sein.
Eine Spanne gehn wir,
scheint es, im Chor ...
bis zuletzt sich, sehn wir,
jeder verlor.
Selbst der Liebste ringet
irgendwo fern;
doch wer's ganz vollbringet,
siegt sich zum Stern,
schafft, sein selbst Durchchrister,
Neugottesgrund –
und ihn grüßt Geschwister
Ewiger Bund.
Leis auf zarten Füßen naht es,
vor dem Schlafen wie ein Fächeln:
Horch, o Seele, meines Rates,
laß dir Glück und Tröstung lächeln –:
Die in Liebe dir verbunden,
werden immer um dich bleiben,
werden klein und große Runden
treugesellt mit dir beschreiben.
Und sie werden an dir bauen,
unverwandt, wie du an ihnen, –
und, erwacht zu Einem Schauen,
werdet ihr wetteifernd dienen!
Evolution
Kaum daß sich, was sich einst von Dir getrennt,
in seiner Sonderwesensart erkannt,
begehrt zurück es in sein Element.
Es fühlt sich selbst und doch zugleich verbannt
und sehnt sich heim in seines Ursprungs Schoß ...
Doch vor ihm steht noch ehern unverwandt
äonengroß sein menschheitliches Los!
Überwinde! Jede Stunde
Überwinde! Jede Stunde,
die du siegreich überwindest,
sei getrost, daß du im Pfunde
deines neuen Lebens findest.
Jede Schmach und jede Schande,
jeder Schmerz und jedes Leiden
wird bei richtigem Verstande
deinen Aufstieg mehr entscheiden.
Ohne Erbschuld wirst du funkeln,
abermals vor Enkeln rege,
ungezähltem Volk im Dunkeln
weist ein Sieger Sonnenwege
Geschöpf nicht mehr, Gebieter der Gedanken
Geschöpf nicht mehr, Gebieter der Gedanken,
des Willens Herr, nicht mehr in Willens Frone,
der flutenden Empfindung Maß und Meister,
zu tief, um an Verneinung zu erkranken,
zu frei, als daß Verstocktheit in ihm wohne:
So bindet sich ein Mensch ans Reich der Geister:
So findet er den Pfad zum Thron der Throne.