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I
ОглавлениеChristian Rechsteiner
Die Befreiung
Erzählung
I
Herb Rentschow saß hinter dem Steuerrad seines 82er Ford Pick-ups und fuhr auf der Landstraße mitten in den Sonnenuntergang hinein. Aus den Lautsprechern dröhnte ein Saxofonsolo von Charlie Parker, das sich wie Taubenschlag in seinem Gehörgang anfühlte und Herb ziemlich nervös machte.
Frank Zapowski, ein fast sechzigjähriger Alt-Hippie mit grauem Pferdeschwanz und getönter John-Lennon-Brille, den alle nur Zap nannten, wegen seines Nachnamens und weil er seinerzeit einen Abend lang mit Frank Zappa durchgesoffen und danach alle damit gelangweilt hatte, dass Zappas Beine wirklich fast zehn Zentimeter unterschiedlich lang waren, hatte Herb, auf dem Parkplatz, bevor sie losfuhren, eine Kassette in die Hand gedrückt und verschwörerisch gesagt: „Schieb die mal rein, Kollege, hab da nen kleinen Mix zusammengestellt, der uns so richtig in Fahrt bringt.“
So richtig auf Touren wollte Herb aber trotzdem nicht kommen, allerdings lag das nicht nur an Zaps Mixtape. Schon als er frisch geduscht und rausgeputzt auf dem Weg zum ausgemachten Treffpunkt im Industriegebiet war, hätte er beinahe umgedreht, aber Cindy zuliebe wollte er es durchziehen. Ihre Liebe stand schließlich auf dem Spiel. Wenigstens dachte er das.
Herb hatte sich dann doch pünktlich um 18.00 Uhr auf einem Parkplatz im Industriegebiet eingefunden. Die Augustsonne brannte unerbittlich auf den flirrenden Asphalt. Es war immer noch dreißig Grad und die Luftfeuchtigkeit eine Katastrophe. Das Duschen hätte ich mir sparen können, dachte Herb schwitzend, als er an die Kühlerhaube gelehnt wartete. Viel hätte nicht gefehlt und er hätte sich aus dem Staub gemacht, aber nach fünf Minuten trudelte Zap pfeifend ein, und weitere fünf Minuten später Siegfriede Melnik mit diesem Kevin, dem Jungen mit der Tasche, im Schlepptau. Die gute Frau ist ja hochschwanger, dachte Herb, als sie sich vorstellte und keine Zeit verlieren wollte. Vor lauter Ärger war ihm das beim ersten Mal, als er sie gesehen hatte, gar nicht aufgefallen. Sie wirkte entschlossen, abgeklärt und zu allem bereit. Ohne weitere Worte kletterte sie in die Mitte des Ford und setzte eine strenge Miene auf.
Und dann war da ja noch Kevin. Der Junge mit der Tasche. Nenn Kev auf keinen Fall ‚mein Sohn‘, erinnerte er sich an Cindys Worte. Das war eigentlich auch nicht das, was er zu Kevin sagen wollte, eher so etwas wie, wenn du meine Kleine anrührst, breche ich dir alle Knochen im Leib, Bürschchen. Aber dieser Kevin starrte ihn irgendwie bewundernd an und streckte ihm die Hand entgegen. So wie er Cindy kannte, würde es ihn nicht erstaunen, wenn sie ihm von seiner Vergangenheit erzählt hatte, um ein bisschen anzugeben. Herb gab ihm widerwillig die Hand, drückte aber ordentlich zu. Kevin ging in die Knie, ließ sich aber sonst nichts anmerken.
„Du siehst ein bisschen bleich aus, mein Sohn“, sagte Herb, „kommt wohl vom Essen.“
Kevin rieb sich die Hand und hüpfte auf die Ladefläche des Pick-ups.
Dann legte Herb das Tape ein und sie fuhren los.
Und nun saß Zap am Fenster und trommelte rhythmisch, allerdings nicht im Takt, auf das Armaturenbrett. Als Herb genauer hinsah, bemerkte er, dass Zap gar nicht trommelte, sondern dass sich seine Finger verselbstständigt hatten und so stark zitterten, dass es sich wie ein Klopfen anhörte.
„Charlie Parker und Albert Einstein“, fragte Zap in die Schlusskadenz des aufgeregten Solos hinein, „was haben die zwei gemeinsam?“
Eigentlich hatte ihm Cindy ja alles eingebrockt.
„Sag ihr einfach nicht, dass du früher in Pornos gemacht hast, Herb“, sagte Cindy, die sich mit den Ellbogen auf die Ablagefläche der L-förmigen Kochinsel stützte und ihren Eistee schlürfte. Dann zirkelte sie mit Zeige- und Mittelfinger einen Eiswürfel aus dem Glas und schob ihn in den Mund. „Sie reagiert ziemlich allergisch auf diesen patriarchalischen Machoscheiß. Wenn sie dich fragt, sag einfach, dass du auf dem Bau arbeitest, ja?“
Herb fragte sich, wann seine Tochter so erwachsen geworden war. Seit einiger Zeit nannte sie ihn Herb, obwohl er es lieber gesehen hätte, wenn sie ihn Paps oder wenigstens Dad nennen würde. Aber die USA standen gerade nicht sehr hoch im Kurs bei ihr, deswegen fiel Dad schon mal weg, viel zu imperialistisch, und Paps, na ja, sie hatte ihn vielleicht zwölf Jahre lang so genannt und er hatte sich daran gewöhnt, aber sie gab ihm unmissverständlich zu verstehen, dass die Zeiten vorüber waren, da sie das patriarchalische Abhängigkeitsverhältnis zwischen Vater und Tochter einfach so hinnehmen würde. Und der erste Schritt dazu war, dass sie ihn ständig Herb nannte. Aber es hätte auch schlimmer kommen können, wenn sie ihn beispielsweise Herbert genannt hätte.
Im Supermarkt wurde er deswegen manchmal mit verächtlichen Blicken der Kassiererinnen gestraft. Herb sah ihnen an, was sie dachten. Wieder so ein alter Sack, der sich ein junges Küken zum Zeitvertreib zugelegt hat. Und Cindy machte es auch nicht besser, wenn sie so etwas von sich gab wie: „Was meinst du, Herb, sollen wir nachher noch ein paar schöne Dessous für mich kaufen?“
Natürlich machte sie das absichtlich. Natürlich wollte sie, dass er rot anlief. Natürlich wollte sie, dass er sich in Grund und Boden schämte. Aber wie oft hatte sie sich in ihrem Leben für ihn schämen müssen?
Die einzige Hoffnung, die Herb blieb, war, dass es sich um eine vorübergehende Marotte handelte, die sich mit der Zeit auswachsen würde. Was gäbe er dafür, wenn es tatsächlich so wäre. Weit beunruhigender, als dass sie ihn beim Vornamen nannte, war aber der Hang zu radikalen Tendenzen, den sie seit ein paar Wochen zeigte. Angefangen hatte es damit, dass sie sich die Haare grün färbte und kein Fleisch mehr essen wollte. Dann entließ sie ihren Goldfisch Hans-Peter in die Freiheit, weil sie es nicht mehr mit ansehen konnte, wie er im Glas vor sich hinvegetierte. Dass er im Fluss nur geringe Überlebenschancen hatte, war nebensächlich, Hauptsache er war frei und konnte selbst über sein Leben bestimmen.
Und am letzten Wochenende hatte sie ihn sogar eine Faschistensau genannt, weil er sich zum Frühstück Honig auf das Brot geschmiert hatte. Als er sie ungläubig mit offenem Mund, an dem noch Honigbrotreste klebten, anstarrte, erklärte sie ihm widerwillig, dass die Bienen den Honig ja schließlich nicht für ihn machten und wie er wohl reagieren würde, wenn man ihm einfach seinen Pick-up klauen würde.
„Das ist Kotze, Herb“, sagte sie.
„Was?“
„Das, was dir da an den Zähnen klebt, das ist Bienenkotze.“
„Mensch, Cindy.“
„Ist aber so. Und sowieso, Imker sind Massenmörder.“
„Jetzt ist aber gut, Fräulein.“
Dann korrigierte sie sich und sagte: „Du bist keine Faschistensau“, und als Herb den Bissen, der ihm im Hals steckte, erleichtert herunterschluckte, fuhr sie fort, „du bist eine ignorante Faschistensau.“
Herb überlegte kurz, ob er ausrasten sollte. Aber bevor er sich entschieden hatte, legte Cindy eine Schippe nach.
„Und dein Aftershave benutzt du auch immer noch.“
„Ist das jetzt etwa ein Verbrechen?“
„Ich habs dir doch erklärt. Die ganze Parfumscheiße ist mit Bibergeil versetzt.“
Er konnte sich nicht daran erinnern, etwas Derartiges schon einmal gehört zu haben.
„Bibergeil?“, fragte er und sah sie ungläubig an.
„Das ist ...“
„Ich kann mir ungefähr denken, was das ist“, fuhr er ihr ins Wort, „so genau will ich das gar nicht wissen.“
„Und deine Plattensammlung“, sagte sie mit hochrotem Kopf, „deine Plattensammlung ist auch eine Schweinerei.“
„Wieso das jetzt?“, sagte er gereizt.
„Weil Schellack aus den Ausscheidungen von Lackschildläusen hergestellt wird.“
„Ich hab doch keine Schellackplatten, Cindy, die sind aus Vinyl. VINYL, verstehst du? Geht das in Ordnung? Oder musste dafür ein Pudel sterben?“
Er schaute sie an.
„Darfst du überhaupt so fluchen?“, sagte er.
„Was meinst du?“
„Na, ich meine Schweinerei, Sau und so weiter. So wie ich das verstanden habe, sehen es die Schweine nicht gerne, wenn du sie mit mir vergleichst.
„Du“, sagte Cindy schnaubend, aber sie machte den Satz nicht fertig, stattdessen verdrehte sie wütend die Augen und verzog sich in ihr Zimmer.
Aber er konnte ihr nicht wirklich böse sein, vor allem weil sie sich noch am selben Nachmittag entschuldigte, als er sich eine alte Wiederholung von Lassie ansah, indem sie ihre weichen Mädchenarme von hinten um seinen Hals schlang, ihm einen Kuss auf die rechte Wange drückte und sagte: „Tut mir leid, Paps, du bist keine Faschistensau. Hitler war schlimmer als du.“
Sie ist noch ein Kind, dachte er, als sie verträumt ihren Eistee schlürfte, und eine Mutter würde ihr guttun, aber vermutlich liegt sie richtig damit, wenn ich Siegfriede nichts von meiner Vergangenheit erzähle.
Obschon es natürlich stimmte und er sich dafür auch nicht zu schämen brauchte, dass er früher Pornodarsteller gewesen war, mit allem, was dazu gehörte, mit einem satten, schwarzen Schnäuzer und einem sehenswerten Schwengel, den sogar seine Arbeitskollegen am Set anerkennend bestaunten, aber das war schon eine Weile her, das war in den Achtzigern, als die Geschäfte erst so richtig anzogen und es noch Pornokinos gab, in die man sich heimlich und inkognito stahl.
Sein Künstlername war Hans Meier, auch wenn ihm die Produzenten immer wieder nahe legten, sich einen branchenüblichen Namen zuzulegen, wie Frank Stecher oder Karl Popper oder wenigstens P. Immel. Aber Herb ließ sich gar nicht auf solche Diskussionen ein, da konnten die Pornobosse toben und schreien, bis sie blau anliefen. Diese dümmlichen, zweideutigen Wortspielereien, die sich im Pornogeschäft etabliert hatten, waren einfach nicht sein Ding. Dick Banger, Pene Traitor, Cunt Focker oder wie sie alle hießen. Mit der Zeit hatte sich Herb alias Hans Meier eine beträchtliche Fangemeinde ervögelt, unter anderem mit dem Kassenschlager ‚Schwanzwaldklinik‘, der sein größter Erfolg war. Und sein Künstlername, den viele für seinen richtigen Namen hielten, wurde zur Marke, die man nicht einfach so mir nichts, dir nichts austauschen konnte.
Dabei trainierte er seinen Körper nicht wie diese Weicheier von heute, die täglich ins Fitnessstudio hüpfen, um ihre Muckis zu stählen, und ohne Viagra keinen hochkriegen. Herb arbeitete in der drehfreien Zeit als Maurer auf dem Bau. Das reichte. Kein Hantelstemmen, kein Joggen, keine Liegestütze, nur ehrliche Arbeit, die er aber auch dringend brauchte, um über die Runden zu kommen. Von den paar Kröten, die das Drehen abwarf, konnte er unmöglich leben.
In dem ganzen Geschäft konnte er nur einen wirklich ernst nehmen und das war Rocco. Der große Rocco. Das war richtiges Handwerk, gut gemachter Porno, ganz großes Kino, es war eine Freude, ihm bei der Arbeit zuzuschauen. Wenn er vögelte, dann war das wie eine Offenbarung. Es war Kunst. So wie es auch Kunst ist, wenn eine Kellnerin ihren Job liebt und weiß, was sie macht. Oder wenn ein geübter Maurer eine Mauer baut, dann ist es ja auch eindrücklich, ihm bei der Arbeit zuzusehen.
Rocco war die große Nummer schlechthin. An ihm führte kein Weg vorbei, an ihm musste man sich messen. Damals gab es ja noch kein Internet und keine dieser Amateurpornodarsteller, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Diese ganze interaktive Schiene war Herb völlig fremd. Er fand es lächerlich, wie die Pornodarstellerinnen von heute die Filme mit ihren Fans drehten, indem sie sie zu sich nach Hause einluden und mit einer billigen Handycam irgendeinen zweitklassigen Amateurbums filmten.
Aber die Zeit ging auch an Herb nicht spurlos vorbei und trotz der harten Arbeit auf dem Bau setzte er in der Bauchgegend das eine oder andere Pfund an, und die Summe dieser Pfunde hatten sich mittlerweile zu einem anständigen Bierbauch zusammengefunden. Außerdem fiel es ihm damals immer schwerer sich beim Drehen zu konzentrieren und so kam es immer öfter vor, dass er keine Erektion bekam, wie sehr sich seine Mitdarstellerinnen auch bemühten, und das war das Zweitschlimmste, was man sich in seinem Geschäft vorstellen konnte.
Als dann Susi Mösenlechner, die eigentlich Renate hieß und immer mit dunklem Wienerakzent stöhnte, ihn nach einem Drehschluss zur Seite nahm und ihm mitteilte, dass sie von ihm schwanger sei, was damals noch möglich war, da sie immer ungeschützt drehten, und sie das Kind auf keinen Fall behalten wolle, war der Entschluss für Herb gefasst.
Er zweifelte keine Sekunde daran, dass er der Vater war. Er wusste, dass Renates Geschäfte im Moment nicht so gut liefen und dass sie in den letzten drei Monaten eigentlich nur mit ihm gedreht hatte. Und wer den ganzen Tag vögelt, hat am Abend dann auch keine Lust mehr. Das ist in anderen Berufen auch nicht anders. Ein Koch geht ja auch nicht nach Hause und zaubert sich einfach so zum Spaß ein Fünf-Gang-Menu.
Nur musste er Renate umstimmen, die ihn gerade anschrie und von ihm wissen wollte, wie er sich das denn vorstelle, eine schwangere Pornodarstellerin. Das war schon ein Punkt. Aber darüber konnte man ja diskutieren, wie zwei Erwachsene. Nur, Renate schrie immer noch. Bald kamen Tränen dazu. Herb war sich aber seiner Sache sicher. Er bot Renate an, ihr seine Filmgagen während der Schwangerschaft zu überlassen.
Er redete so lange auf sie ein, bis sie schließlich nachgab und sie übereinkamen. Renate musste das Kind nur austragen, sie würde nichts mit ihm zu tun haben, das war ihr ausdrücklicher Wunsch, und Herb durfte ihren Namen nie verraten. Das war der Deal.
Kurze Zeit später kam die kleine Cindy zur Welt und Herb setzte sich als Hans Meier zur Ruhe.
Das war jetzt fünfzehn Jahre her.
Damals kaufte er sich auch den Pick-up, weil er dachte, er brauche eine Familienkarosse, jetzt da er Vater war und die Kleine rumkutschieren musste. Gleichzeitig war die Karre geeignet für die Arbeit auf dem Bau, auch wenn der Spritverbrauch ihn noch ins Armenhaus bringen würde.
Und in diesem 82er Ford saß er nun mit Siegfriede Melnik, Frank Zapowski und Kevin, dem Jungen mit der Tasche, hinten auf der Ladefläche und wusste nicht genau, worauf er sich eigentlich eingelassen hatte. Er wusste nur, dass er Cindy irgendwie beweisen musste, dass er kein Schlappschwanz war und das Herz auf dem rechten Flecken hatte. Und wenn er dafür lediglich ein paar arme Hühner retten musste, war ihm das noch so recht. So schwierig konnte das ja wohl nicht sein.