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Karten sind Partituren der Landschaft, hat er mal geschrieben, zigmal hat er das geschrieben, in Briefen an Freunde und Feinde und Unbekannte. Auch auf Zeitungsschnipsel, die dann per Windpost auf Reise gingen. Einer davon flog um die Welt und kam ihm in Kassel, auf der Frankfurter Straße, wieder entgegen. Karten sind Partituren der Landschaft, der Satz macht ihn nicht nur stolz, er verfolgt und nötigt ihn auch: Mach Ernst, verwandle die Landschaft, die Kartographie in Musik!

Aber vom Komponieren muss er die Finger lassen, hat schon mehr als genug zu tun. Die Gedichte von Imru’ al-Qais wollen fertig übertragen werden, genauso die Hymnen auf Ptah und die Weisheiten der Ewe und Sotho. Und wenn er bedenkt, wie viel noch in seinen Mappen schlummert, wie viel hier in nächster Nähe und Ferne entdeckt werden will, da läuft ihm das Wasser im Munde, im Hirne zusammen.

Heddy hat recht, er ist ein Vielfraß. Allerdings keiner dieser Wiederkäuer! Nichts ist schlimmer als so eine träge, dröge Kuh, die selbstzufrieden ihren Wissenseuter schwenkt und allenthalben einen korrekten Fladen fallen lässt.

Mit einem Knall flattern die Tauben auf.

Eine bleibt zuckend am Boden zurück, eine andere trudelt nach einem weiteren Knall gegen die Hauswand. Ein Rollstuhlfahrer kommt um die Ecke mit umgehängtem Gewehr, es pendelt am kurzen Riemen vor seiner Brust. Er fährt über die eine Taube drüber und auf die andere zu, die sich vor der Wand abquält. Erst sieht es so aus, als wollte er ihr den Gnadenschuss geben, doch dann stößt er mit dem Kolben des Gewehrs auf sie ein. Das Geräusch ist verblüffend leise, gedämpft. Die erste Taube liegt da, eklig und doch auch lustig verdreht, und streift mit einem Flügel übers Pflaster, kehrt ein wenig Staub.

Der Rollstuhlfahrer muss sich sehr strecken, um seine Beute aufzusammeln. Er schaut überrascht, als er Wense in der Seitengasse bemerkt.

»Ich will sie nicht essen, ich schieß sie nur ab.«

»Lassen Sie ein paar übrig.«

»Wozu? Die bringen Krankheiten!«

»Sie fliegen aus, wenn eine Katastrophe bevorsteht. Vor dem Erdrutsch in Lyon war es so und auch vor dem großen Beben von San Francisco. Die Luftratten verlassen das Schiff immer ein paar Tage bevor es sinkt.«

»Weise, weise. Aber ich sag Ihnen was.« Der Rollstuhlfahrer hält neben ihm und hebt den Zeigefinger. »Ich hab schon so viele von denen aufm Gewissen, die würden bleiben und sich opfern, nur damit ich draufgeh.«

Die kurze, heftige Lache lässt die Waffe auf seiner Brust hüpfen.

»Sind Sie Vertreter?«, fragt er mit Blick auf Wenses Aktentasche.

»Nur auf Besuch.«

»Dann alles Gute. Heil Hitler!«

Mit dem überstehenden Gewehrlauf wirkt er wie ein davonrollender Panzer.

Die ganzen Krüppel ignorierend eilt Wense durch die Lazarettstadt, durch die von Palmen gesäumten Straßen und Parks und schließlich am letzten Haus vorbei, wo ihm noch ein Hund hinterherbellt ins offene Tal. Das Gekläffe fliegt mit ihm auf den Schellberg zu, der dunkel aufragt, nebelverschleiert.

Mit Anlauf schlüpft er zwischen die Fichten, das ist sein Kosmos, er schwebt empor! Und was ein Empfang, als er oben rauskommt, zwischen den Ruinen der Schellburg spuken kleine Gestalten.

Eine Mädchenschulklasse. Sie kauern im ehemaligen Verlies, die Lehrerin als Folterknecht erklärt: »Schell bedeutet Scala, also Stufen.«

»Unsinn«, ruft Wense. »Schreit mal ganz laut Hallo!«

Die Mädchen tun es, und aus der Schlucht schallt ein sechsfaches Echo.

»Na bitte, bewiesen!«

Er weicht der Lehrerin aus und begutachtet die Mauerreste.

Möglich, dass es schon eine Ruine vor der Ruine gab, dass der Sohn des Sachsenkönigs schon dreihundert Jahre vor dem Mainzer Erzbischof hier eine Burg hat errichten lassen.

Nur fehlt der Beweis.

Er reibt feuchten Sand zwischen seinen Fingern: Sachsenkrümel? Wenn mans doch schmecken könnte! Mit archäologischer Zunge am Gemäuer entlang wie an einem alten Gebiss, mit der Spitze suchend in den Lücken, ob zwischen den christlichen Zähnen nicht doch irgendwo ein süßer heidnischer Krümel steckt.

Er denkt an sein Butterbrot, aber dafür ist es noch viel zu früh.

Schnaubend beißt er in den Griff der Aktentasche, zieht seine Kappe tief ins Gesicht und taucht unter im grüngelben Laub, hangelt sich von Baum zu Baum, durch rauschende Buchen steil hinab, in die Senke, den Kessel, den Trichter, das Loch und bis über den Rand hinaus ins Freie.

Da stehen Leute.

Ein Arbeitskommando aus rund zehn jungen Kerlen, sie grinsen ihn an. Er nimmt die Tasche aus dem Mund und klopft sich den Mantel ab. Ihre beiden Wachmänner beäugen ihn, wollen die ihn etwa kontrollieren?

Er holt sein Notizheft heraus, als wäre er der Kontrolleur. »Ist dort Aerzen? – Ob dort Aerzen sei, habe ich gefragt!«

»Ja«, antworten sie brav.

Er dankt und folgt dem Feldweg ins Dorf.

Hier fließt der Griesebach, da fließt die Humme und da verläuft die Reichsstraße von der Maas bis an die Memel. Hier der Metzger Horte, da der Perückenmeister Krause, schön und gut, nur interessiert ihn das? Nein. Er denkt an die Maulwurfsjäger, die einst durch diesen Flecken zogen. Und dann kommt, was immer kommt, wenn er reist: der Moment, in dem er sich selbst unheimlich wird. Er geht durch einen fremden Ort und weiß – alles. Aber auch alles! Die ersten Urkunden, die Flurnamen, die Wüstungen, die Häusergeschichten … Und hier ist die Domänenburg, die wiedererbaute, für die Stacius von Münchhausen der Schädel eingeschlagen wurde. Jetzt dient sie als Gefangenenlager. Die meisten arbeiten wohl in der Maschinenfabrik. Ein Hannoveraner Bänker, ein Jude, hat sie 1864 gegründet. Damals war Aerzen noch Synagogengemeinde, nun gibt es nicht mal mehr den jüdischen Friedhof, und so wird alles Teil des Sagenschatzes: unter den Füßen, im Straßenpflaster, die zerhauenen Grabsteine und dort drüben, hinterm Ahornberg, die alten Grenzsteine, die Fürst und König nach langem Streit mithilfe eines Esels setzen ließen. Immer dort, wo er zum Grasen stehen blieb, kam ein Stein zwischen Lippe und Hannover. Grenzziehung als Eselei!

Er macht sich eine Notiz und überquert die Humme, bricht ein ins Gehölz, drängt hoch bis auf die verwunschene Lichtung, wo die Geister mit goldenen Kugeln kegeln. Sie glauben, er wolle sie bestehlen, und werfen ihn über ihre Bahn, talwärts nach Schwöbber, vors Wasserschloss der Münchhausens.

Rollwerk-, Kugeldekor, er sieht doppelt und dreifach, zwei dreiachsige Erker, drei dreigeschossige Flügel, zwei achtseitige, viergeschossige Treppentürme mit geschweiften Helmen – das Wasserschloss schwappt über!

Dreihundert Jahre lang war es das Meisterstück der Weserrenaissance, vollendet vom Stiefvater einer seiner Urahninnen, und wer hats versaut? Ein eklektizistischer Schweinezüchter in den 20ern! Hat das Relief des Jüngsten Gerichts vom Portal gerissen und dieses abgeschmackte Prinzengärtchen in den Hof gesetzt, wie hingespuckt vor die Füße von Otto von Münchhausen, der nach Westen den ersten Englischen Garten des europäischen Festlands geschaffen hat.

Gurkenmagnolien, Ajanfichten, Nikkotannen, Riesenthujen!

Sie waren noch klein, als Zar Peter zur Besichtigung kam.

Wense durchstreift und verlässt den Garten, sucht weiter nördlich nach dem Sophienhof, der ihm aus einem zoologischen Aufsatz bekannt ist. Darin heißt es, dass sich beidseits der Humme, bis hinter Groß-Berkel, das Revier der weißen Maulwürfe erstrecke.

Er schaut zu Boden, in jeden Erdhügel.

Vor hundert Jahren wäre er vielleicht noch Zoologe geworden, und vor dreißig Mineraloge, hätte ihn die Musik nicht so begeistert. Und wären nicht die uralten Sprachen und Mythen, hätte er längst die neue Disziplin der Geoästhetik begründet! Doch wie soll er je was fertigkriegen, wenn seine Lieblingsbibliotheken einfach weggebombt, die wichtigsten Bestände einfach weggeschlossen werden? »Wilderer!«

Keine zehn Schritte entfernt stehen zwei runzlige Alte in schwarzen Mänteln. »Scheren Sie sich fort«, ruft die Dame. »Dies ist privater Grund!« Sie erinnert ihn an seine immer schwarz gekleideten, immerstrengen Tanten, bei denen er aufwuchs, und er will sofort gehorchen.

»Oh, bitte verzeihen Sie, Hans Jürgen von der Wense mein Name.« Schnell spricht er von genealogischen Forschungen und von seinen Verbindungen in die Familie derer von Münchhausen. »Ich fragte mich, was aus dem Jungfernsitz geworden sei, und muss vom Weg abgekommen sein.«

Ihre Runzeln lockern sich. »Ach, der Park ist in einem so beschämenden Zustand. Sie befinden sich auf dem richtigen Weg, Herr von der Wense, aber leider verkommt alles, seit wir den Hof verpachten mussten. Wir leben hier nur noch geduldet, als Nutznießer, es ist eine Schande.«

Ihr Mann, der dem Jenseits bisher näher schien als allem anderen, legt zittrig seine Hand auf ihre Schulter. Sie berührt seine Finger.

»Dies ist mein Bruder, Staats von Wacquant-Geozelles. Ich bin Anne von Münchhausen.«

Wense verneigt sich.

»Sie kommen gerade noch rechtzeitig. Dürften die beiden letzten Jungfern Sie zum Tee laden?«

Die junge Frau, die ihnen öffnet, guckt erschrocken, ist überfordert, weiß nicht, wem sie zuerst aus dem Mantel helfen soll.

»Unsere Magd wurde uns genommen, und sie hier kann noch kaum Deutsch.«

Anne von Münchhausen entschuldigt sich und bittet Wense, ihrem Bruder zu folgen, der bereits durchs Foyer schlurft, ohne auf irgendwen zu warten. Er trägt einen mauvefarbenen Gehrock mit weiten Schößen. Je näher Wense kommt, desto verschlissener wirken sie.

Im Salon Kristallleuchter, Brokattapeten, fein intarsiertes Mobiliar, winzig dazwischen das mauvefarbige Männlein auf dem weiten Weg zur Sitzgarnitur.

Muss man ihm hochhelfen?

Er schafft es allein.

Und erschlafft auf dem achtbeinigen Diwan zu einer leblosen Puppe.

Über ihm an der Wand ein Geweih mit merkwürdig ineinander verschlungenen Zapfen.

Wense wartet nicht länger auf eine Aufforderung und nimmt im Lehnstuhl Platz.

»Weiße Maulwürfe. Ich kann an nichts anderes denken, seit ich hier bin. Ihr Aufsatz ist mir noch so präsent, ein vorzüglicher Text, persönlich und sachlich zugleich.«

Staats von Wacquant-Geozelles hat sich aufgerichtet. »Sind Sie Zoologe?«

»Nur ein begeisterungsfähiger Mensch. Bereits durch den etymologischen Exkurs zu Anfang hatten Sie mich gewonnen: ein Maulwurfsforscher in Multhöpen!«

Und schon ist das Eis gebrochen und sie lachen und sprechen von Multhucken, von Mul und Mol, Müll und Möll, Mülm und Mulm.

»Wussten Sie, dass der Feuersalamander beim Volke auch als Mulle bekannt ist?«

»Seit Ihrem Aufsatz weiß ich es!«

»Wo haben Sie ihn gelesen?«

»In Kassel auf der Bibliothek. Sie schrieben ihn hier, nicht wahr?«

»Es war einer meiner ersten.«

»Haben Sie die Maulwurfsjagd selbst miterlebt?«

»Als Kind freilich, aber in kleinem Stil, der Pfotenrausch war längst vorbei. Davon weiß ich nur aus Berichten.«

»Entlohnt wurde also pro Pfote.«

»Selbstverständlich. Sie kamen mit tausend Ruten und Schlingen und stellten ihre Fallen an jedem noch so kleinen Hügelchen auf. Bald baumelten die Tiere überall. Allein auf den Ländereien der Domäne waren es laut meinem Vater Hunderte, und darunter immer auch zwei bis acht Albinos. So verdanken wir diesen Massenhängungen zumindest einige valide Zahlen. Wie war noch Ihr Name?«

»Wense.«

Anne von Münchhausen setzt sich hinzu, sichtlich entzückt von der Redseligkeit ihres Bruders.

»Sagen Sie, Herr Mense, haben Sie denn schon jemals einen reinweißen Maulwurf vor Augen gehabt?«

»Mein Dackel brachte mal einen.«

»Ja«, sagt er lächelnd. »Mein Mops fing jährlich mindestens zwanzig.«

»Weiße?«

»Nein! Doch deren Vorkommen ist in dieser Gegend schon äußerst erstaunlich. Für die Bewohner sind sie gar nichts Ungewöhnliches mehr. Wenn einmal ein solches Tier gefunden wird, beim Mähen oder Heumachen oder eben durch einen passionierten Fixköter, macht niemand großes Aufsehen darum. Andernorts werden sie mitgenommen und als Wunder bestaunt bis zur totalen Verwesung oder Mumifizierung. Hier sagt man nur: Ach, einer von dieser Art! Und lässt ihn liegen.«

Die Magd kommt mit der Kanne, wartet auf eine Gelegenheit, wirkt immer verzweifelter. Anne von Münchhausen gibt ihr einen Wink und noch einen.

Endlich stellt sie ab und sich selbst an die Wand.

»Als sich herumgesprochen hatte, dass ich die Albinos erforsche, wurden mir aus allen Himmelsrichtungen welche zugetragen.«

»Das war furchtbar«, sagt sie. »Die gammeligen Kadaver vom Prinzen Löwenstein-Wertheim!«

»Sie waren aufgedunsen«, präzisiert er. »Aus den Moorwiesen bei Selxen. Die meisten werden eben dort, im Rahl-Bruch, entdeckt. Meine Mutter, zu deren elterlicher Besitzung Rahl-Bruch gehörte, erzählte, dass der Maulwurfsfänger jährlich fünf bis acht reinweiße unter seinen Opfern hatte und sie im Schlosse vorzeigte. Zu meines Vaters Beobachtungszeit, also vor 1820, war die Liere die bekannteste Fundstelle.«

Er berichtet noch von den Kirchturmeulen, in deren Gewöllen er Reste von weißen Maulwürfen gefunden habe, und kommt darüber zum Albinismus in der Aerzener Vogelwelt, schwärmt von isabellfarbenen Haubenlerchen mit roten Beinen.

»Über Jahre hatten es alle Jäger auf einen weißen Bussard abgesehen. Er konnte sich lange entziehen, endete aber im Gasthof als Schauergestell, ausgestopft von irgendeiner unkundigen Hand, die selbst zum Füllen eines Bratens zu grob gewesen wäre.«

Wense schenkt sich nach, froh, dass niemand darauf achtet, wie gierig er trinkt.

»Das Außergewöhnliche wird stets mit Vorliebe bejagt, ich als Forscher und Sammler nehme mich von dieser Untugend nicht aus, treffe meine Wahl doch aber zumindest nach dem wissenschaftlichen Nutzen. Andere schießen aus frevelhafter Distanz nach einem weißen Rebhuhn, nur um dann mit den zwei verbleibenden Federn zu prahlen.«

Er spricht von Schönheit und Achtung und spannt den Bogen vom weißen Kaninchen, dem angeblichen Liebling der Dorfkinder, hin zum heiligen weißen Elefanten von Siam und dann zu einer Aerzenerin mit prachtvollen Kornblumenaugen.

»Das war unsere Magd«, sagt Anne von Münchhausen. »Alle nannten sie Schneewittchen.«

»Genaugenommen kein Vollalbino«, sagt er. »Sie soll uns bitte meinen Feuersalamander bringen.«

»Sie ist doch gar nicht mehr hier, Staats. Und der Feuersalamander im Übrigen auch nicht.«

»Er hatte fünf Beine«, sagt er.

Und plötzlich ist das Gespräch vorbei, die Kanne leer.

Zum Abschied will er Wense noch sein Buch Die Hüttenjagd schenken.

Sofortige Angststarre der jungen Frau, als sie aufgefordert wird, es zu holen.

»Nicht nötig, ich besitze bereits ein Exemplar.«

Sie begreift, was er gesagt hat, und schaut ihn dankbar an.

Dabei ist es einfach nur die Wahrheit.

Gegen den Wind mit flatterndem Mantel, raus aus Multhöpen und ins Gebirge, durch klamme Gänge und Spalten, vorbei an Kohlenmeilern, an Schmelzhütten, Waldweiden – alles nicht mehr vorhanden, aber gerade deshalb gegenwärtig.

Am gegenwärtigsten ist das Kanonenrohr auf der Kuppe.

Ein Flakgeschütz.

Er dreht sofort ab und flüchtet.

Nach einigen Schlenkern landet er in einem verwilderten Steinbruch, direkt vorm Wandgemälde der Germanischen Trias. Seine Finger streifen über die aufgekratzten Farben, die freigelegten Schichten der Jahrmillionen. Was interessiert ihn der Schmuck der Weserrenaissance? Hier sieht er die Juwelen des Sandsteins glimmern, Turmaline, Zirkone, silbrige Muskoviten!

Unten jedoch, am tiefsten Punkt der Grube, hat sich ein Tümpel gebildet, kraus umwuchert, mückenumschwirrt, der Schambereich des Steinbruchs.

Er wünschte, er hätte seinen Fotoapparat dabei.

Er verzeichnet den Ort in seiner Karte und steigt weiter auf, bald auch wieder ab, rutscht im Laub von den Hängen, auf den Hintern und bleibt kurz sitzen.

Nur um zu sitzen.

Oder um etwas zu notieren.

Oder um seinem forteilenden Geist hinterherzusehen.

So viele stolze und wehrhafte mittelalterliche Burgen wurden in der frühen Neuzeit von reichen Bürgern befallen und zu harmlosen Lustschlösschen mit Lustgärtchen und idyllischen Wassergräblein gemacht. Zum Glück konnte die Natur ein paar übersehene oder unbeliebte Exemplare retten, indem sie klammheimlich ihre Hand um sie schloss. Allerdings versteht die sogenannte Natur rein gar nichts von Instandhaltung. Die Tiere ziehen ein und verrichten ihre Notdurft, wo es ihnen beliebt, obwohl im späten Mittelalter doch endlich Aborte eingebaut wurden. Moose und Flechten keimen und inkrustieren sich, Pilzsporen landen und sprießen in den kleinsten Ritzen und Fugen. Das Nichtmenschliche breitet sich bis in den letzten Winkel aus, steckt überall seine Schnauze, seine Fühler, seine Wurzeln hinein, als suchte es irgendwas Bestimmtes. Es findet aber nichts. In den Geheimgängen legt sich der Staub nieder wie totes Plankton am Meeresgrund.

Vor seinen Füßen rennt ein Igel aus dem besprenkelten Busch. Eigentlich kein Busch, sondern ein Baum, der immer wieder geschlagen und zugerichtet wurde, bis er diese geduckte, gedrungene Form angenommen hat, eine durchaus harmonische, schöne Form.

Na ja.

Er knöpft seine Hose zu und schwingt sich auf den Fuchsberg, zur alten Grenze, und dann an ihr entlang nach Südosten, Grenzstein für Grenzstein, und wie ein Erdrutsch auf die Passstraße.

Ein Auto weicht ihm aus, poltert in die Nadeln.

Er geht weiter.

An der Stundensäule vorbei und den Gastnacken hoch und schließlich auf den Papenberg, den angeblichen. Die neuen Karten sind falsch, der richtige Papenberg steht dort drüben!

Voller Wohlwollen schaut er zu ihm, er gibt sich wirklich Mühe.

Nix zu machen.

Zu offen, zu harmonisch, selbst die fernen Regenschleier ohne Geheimnis. Er will nicht mal mehr bis an den Rand seines Messtischblatts wandern.

Also lässt ers bleiben und kehrt zurück in die Stadt, zum Bahnhof, schmeißt das Geld hin, schnappt sich den Fahrschein, springt in den stehenden Zug.

Aber was ist das denn?

Ein vollgestopfter, stinkender Schlafwaggon, Männer stöhnend in den Betten, je drei übereinander, sogar Soldaten auf dem Boden, einer mit blutigem Kopfverband, ein anderer völlig mumifiziert, jemand zieht ihm am Mantel: »Herr Doktor …«

Er ist in einem Lazarettzug gelandet.

»Doktor, bitte …«

»Platz da!«, schreit ein Sanitäter.

Wense stolpert hinaus.

Und wo fährt nun sein Zug? Fährt er überhaupt noch?

»Wenn ausgeladen wurde«, sagt ihm eine Alte.

Er setzt sich zu ihr auf die Bank und stemmt wie sie die Ellenbogen auf die Knie.

Die Verletzten werden auf Bahren vorbeigetragen, in Rollstühlen geschoben, Huckepack genommen, manche können allein gehen oder humpeln.

»Die Toten kommen zuletzt«, sagt sie.

Er nickt und zählt die Waggons, fünfzehn insgesamt, zwei Fenster zersplittert, wie konnte er das übersehen?

»Sind Sie schon fertig kuriert?«

Er weiß erst nicht, was sie meint. »Nein, nur auf Besuch.«

»Auf Besuch?«

»Ja.«

Sie mustert ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Vielleicht warn Sie in dem Zug doch ganz richtig.«

In Karlshafen raus, mit vorgestreckter Aktentasche, zwei Damen hüpfen beiseite, als wärs ein Messer.

Es riecht modrig, viele Kellerfenster stehen offen, untenrum ist das Städtchen noch feucht von der Überschwemmung im Mai. Die Bombardierung der Talsperre hat allerdings auch was Gutes gebracht: Das historische Hafenbecken ist endlich wieder voll.

Wense lupft seine Kappe im Vorübergehen.

Vor elf Jahren ist er hier nur zufällig vorbeigekommen, zufällig zu weit gefahren, aus Langeweile herumgeschlendert, dann aber vom Schicksal im Nacken gepackt und draufgestoßen worden: Dieser trockengelegte, vergraste Hafen, diese Bauwerke in dieser Landschaft – merkst du was?

Du weißt nichts.

Keine Ahnung von Vorgeschichte, Geologie, Heimatkunde. Messtischblatt? Ein Fremdwort. Auch was eine Wüstung ist, musste er erst mal nachschlagen.

Jetzt schickt er sein Wissen als Spürhund voraus und sein Wissen zerrt ihn hinter sich her. Auf die Hochebene. Zur Burg von Segestes, der vermutlichen. Tausendneunhundertvierzig Jahre weit muss er zurückwandern, wenn er sie erreichen will. Und die Sonne steht schon tief überm Reinhardswald. Mit jedem Höhenmeter wird es dunkler. Mit jedem Höhenmeter sinkt die Wahrscheinlichkeit.

Der Horizont ist nicht immer eine Linie oder ein Streifen, auch im dichtesten Wald gibt es einen Horizont, er ist das Fernste, was sich auftut, das fernste Licht, niemals nur ein Stamm, an dem der Blick endet, sondern die erahnbare Distanz dahinter, die Tiefe der Schneise, in die man eben noch geschaut hat. Für die Dauer eines Schritts war da ein Korridor sichtbar, ein Luftweg überm Dickicht, ein Geheimgang der Vögel, dem man scheinbar auch am Boden folgen könnte.

Wense fällt es schwer, zu widerstehen.

Ihm ist, als würde er an einer offenen Tür vorbeigehen, hinter der ein vorbestimmter Pfad auf ihn wartet. In Wahrheit führen all diese Türen, wie er weiß, nur ins Casino, ins Wettbüro des Unterholzes, wo er schon oft genug seine Orientierung verspielt hat.

Heute stehen wirklich unverschämt viele Türen offen, unverschämt viele Äste wanken in den Eingängen und winken herein.

Er guckt bloß, hält bloß an, um zu gucken. Er will gar nicht reingehen.

Wird auch nicht reingehen.

Höchstens bis zu diesem Blättervorhang.

Der Sage nach ist der Reinhardswald ja durch ein Würfelspiel entstanden, nämlich aus der Asche der Dörfer und Äcker, die Graf Reinhard einst verzockte und dann niederbrennen und mit Baumsamen bestreuen ließ. Deshalb die guten Fundquoten hier. Des Grafen Pech, des Wenses Glück!

Er lüftet den Vorhang.

Nichts. Zumindest nichts auf Anhieb, er kniet nieder und beginnt im Laub zu wühlen, schmeißt Zweige und Erde hinter sich, legt frei, was darunter ist.

Eine Niete.

Enttäuscht geht er zurück.

Mit einem klitzekleinen Umweg zu diesem Hügelchen. Das wirkt irgendwie verdächtig. Er schleicht um es herum. Definitiv keine Ackerwölbung aus dem Mittelalter. Er stellt sich drauf und scharrt und stampft. Kein Stein. Könnte es ein vorchristliches Hügelgrab sein?

Das Grab raschelt ängstlich unter den Blättern. Es weiß genau, was er im Schilde, in der Tasche führt. Er hat es entdeckt, aber mit welchem Recht darf ers verraten?

Zurzeit werden so viele Karten wie nie hergestellt, so viele Gebiete wie nie werden erschlossen und verzeichnet, nur um dem Feind zu schaden. Es geht um Nutzflächen und Befahrbarkeit, um Hindernisse und Deckung, ums Einkesseln und Abriegeln. Orientierung ist mal wieder zur soldatischen Pflicht geworden, die Windrose zum Verdienstorden für kriegerische Landvermesser und maßstabsgetreue Generäle. Ihre Richtungszeiger sind Speerspitzen. Ach, wie schön sie funkeln an der Brust!

Er packt die Karte aus.

Hauchdünn, durchscheinend, fast unsichtbar verzeichnet er das Grab.

Aber dann schlägt seine Scheu um, und er zeichnet dick und kräftig nach. Auch diesen Anblick kann er nicht lange ertragen. Mit spitzen Fingern greift er zum Radiergummi und schleift das Monument, trägt es vorsichtig wieder ab, pustet die Reste vom Papier. Die zurückbleibende Druckstelle betrachtet er aus verschiedenen Winkeln, befühlt sie aus verschiedenen Richtungen und von beiden Seiten. Was, wenn man allem, das aus der Welt radiert wurde, so nachspüren könnte, wenn alles so einen doppelten Eindruck hinterließe? Das Verschwundene bliebe wahrnehmbar, selbst wenn die Vertiefungen aufgeschüttet würden, von unten bliebe es wahrnehmbar als negative Erhebung.

Es dämmert, es verfinstert sich, er treibt aufwärts in die Nacht, sein Ziel der höchste Punkt, höher als jeder Gipfel, höher noch als der Mond!

Dessen Kuppen hat er vor ein paar Wochen durchs Fernrohr gesehen, die aus schwarzen Schatten herausragenden riesigen Mondkuppen, an denen das wachsende Licht allmählich niederglitt.

Diese Nacht ist sternenlos, der Himmel hält sich bedeckt, doch die Galaxien dahinter sind nur umso deutlicher zu spüren, die Drehungen und Wirbel ihrer gewaltigen Massen, der Tanz der Materie im Rhythmus der Physik, die Welt wurde geworfen aus dem Hüftschwung des Alls!

Wense fällt hin.

Stöhnend umklammert er sein Schienbein.

Ihm ist schon klar, worüber er gestolpert ist, über den Ring der Sieburg, der Burg von Segestes, der vermutlichen, der verfluchten!

Er tastet nach seiner Tasche. Es ist nichts rausgerutscht. Er tastet nach seiner Kappe. Sie sitzt noch auf dem Kopf. Er krabbelt ein Stück und legt sich in die Mitte des Rings, krümmt sich zusammen, kugelt sich zu einem Satelliten.

Langsam beginnt er, im Orbit zu kreisen.

Im Orbit der Römer und Cherusker, Hermunduren, Angrivarier, immer schneller, bis es ihn aus der Bahn wirft. Haltlos driftet er durch den Völkerkosmos, gerät ins Sonnensystem der Maya, wo sich alles um den Gott Tonatiuh dreht, der ihn aber gleich wieder freigibt und an die Nabatäer weiterreicht, mit denen er Duschara umtanzt. Nach zwei Runden zieht es ihn zu Garamant, dem Wüstenplaneten, der grün ist dank unterirdischer Bewässerung. Dann zu Nazca, dem Planet der Langschädeligen, auf dessen Oberfläche übergroße Figuren eingeritzt sind, die berühmten Geoglyphen! Er erkennt ein Trapez, einen Affen, ein Irgendwas, und schließlich sieht ers ganz dick kommen: Der Rote Riese Han will ihn als nächstes an sich reißen, halb Asien ist schon in seinem Reigen! Doch der Weiße Zwerg Xiongnu schiebt sich dazwischen und rammt ihn so heftig, dass es ihn wieder zur Erde schleudert.

In langem Bogen stürzt er über dem Reinhardswald ab und schlägt unten, an der Weser, auf einer Seilfähre ein.

Der Fährmann kommt aus dem Häuschen, blendet ihn mit einer Taschenlampe.

»Bitte schnell, ich will zur Bahn.«

»Welche Bahn?«, fragt der Fährmann mit weiblicher Stimme. Eine Fährfrau.

»Ist da drüben nicht Bodenfelde?«

»Doch, natürlich.«

»Na also. Ich will nach Göttingen.«

Die Fährfrau schweigt und blendet ihn weiter.

»Wurde bombardiert?«, fragt er ängstlich.

»Nicht dass ich wüsste.«

Plötzlich begreift er und kramt im Portemonnaie, streckt ihr sein restliches Geld hin.

Sie nimmt es wortlos und bequemt sich an die Seilkurbel.

Die Fähre legt ab, aber ewig langsam, dümpelt dahin, es wäre ja schneller zu schwimmen!

»Darf man beim Kurbeln helfen?«

»Nein.«

Er atmet tief durch und würgt den Griff seiner Tasche.

Am gegenüberliegenden Ufer funzeln ein paar Luftschutzglühbirnen, die erahnen lassen, wie weit es noch ist. Sie erinnern ihn an das Glühen von Kassel, das er vor drei Tagen aus der Ferne beobachtet hat, die glühenden Schwaden am Horizont, schön wie Polarlichter. Aurora bellica. Er muss seine alte Stadt besuchen, muss sehen, was von ihr übrig ist.

Auf einmal rumpelt es und er verliert das Gleichgewicht, wirft fast die Tasche über Bord.

»Sie können«, sagt die Fährfrau.

Er reckt den Hals, versucht den Boden zu erkennen.

»Ich dachte, Sie hättens eilig.« Sie leuchtet ihm mit der Taschenlampe.

»Danke«, sagt er und springt an Land.

In der Bahn beginnt er einen Brief an Heddy, bemüht sich um versöhnliche Worte. Dass er einfach zu krank gewesen sei während ihres Besuchs. Dass sie sich nicht gestritten hätten, wären sie wandern gewesen. Unter der schummrigen Beleuchtung ist seine Schrift kaum lesbar.

Er kneift die Augen zu, eine Träne kullert, er spürt sie auf der Wange, ihre kühle Spur, sitzt da und spürt, wie sie langsam verdunstet. In seinem Kopf aber ist sie noch, noch zieht sich die Spur durch sein Hirn, ein kleiner, kühler Strich.

Langsam verdunstet auch der.

Shan xing wu zhe ji. Ein guter Wanderer lässt keine Spur zurück, sagt Laozi in der Fassung von Richard Wilhelm. Schon der erste deutsche Übersetzer, Victor von Strauss, hat es so verstanden, allerdings schrieb er nicht Spur, sondern Fußspurmäler, denn es sollte sich reimen: Fußspurmäler auf Rechenzähler!

Wense muss lachen.

Der Waggon schwankt, wiegt ihn hin und her, lullt ihn ein mit Grollen und Quietschen.

In ihm erklingt ein Beduinengedicht, eine Kasside des großen Imru’ al-Qais, die im Rhythmus der Kamele durch die Wüste galoppiert, mit den Stammesbrüdern in die Schlacht, wo die Köpfe fliegen, die abgesäbelten Köpfe, genauso rhythmisch.

Er murmelt die Strophen, stellt sich die arabischen Schriften vor, sucht nach einer passenden Übersetzung.

Als er in Göttingen aussteigt, grübelt er immer noch, auch als er die Haustür aufschließt und in sein Zimmer schleicht. Er setzt sich an den Schreibtisch, wo zwischen den Nachschlagewerken und den Übersetzungen verschiedener Arabisten seine eigene Nachdichtung der Kassiden liegt.

Stundenlang doktert er daran mit Bleistift herum.

Seine Schulter beginnt mal wieder zu stechen. Zur Erholung blättert er in seinen Afrikamappen, erfreut sich an den Sprichwörtern der Ewe, Sotho, Ashanti, Masai. Trotzdem zieht der Schmerz in seinen Arm, bis in die Finger. Gern würde er auf der Schreibmaschine tippen, aber das könnte die Vitzthums wecken. Wie spät ists überhaupt?

Auf dem Nachtschränkchen tickt der Wecker mit verschwommenem Ziffernblatt.

Er blinzelt und hält sich die Taschenuhr vor die Augen.

Halb fünf.

Ja wirklich.

Um sechs fährt der erste Zug nach Kassel.

Unentschlossen lässt er die Schultern kreisen.

Wense

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