Читать книгу TRAANBECKS AUSNAHMEZUSTAND - Christian Schwetz - Страница 9

Kapitel 6

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Miriam keuchte die Stiegen hinauf. Vielleicht hätte sie doch lieber auf den Aufzug warten sollen. Sie wollte nicht verschwitzt und außer Atem vor Henks Tür stehen. Aber sie wollte vor Fjodor ankommen, wenn möglich. Oder zumindest nicht lange nach ihm. Es war sowieso eine unmögliche Konstellation, wie sie fand. Sie gegen zwei Männer, die obendrein noch Schulfreunde waren. Henk war nicht das Problem. Gegen den konnte sie sich durchsetzten, den konnte sie, wenn es notwendig war, von ihrer Sicht der Dinge überzeugen. Das war in letzter Zeit im Büro immer öfter so gewesen, und auch gestern, hier in seiner Wohnung. Obwohl es ein Heimspiel für Henk hätte sein müssen, hatte sie das Gefühl gehabt, die Oberhand zu gewinnen. Spiel, Satz und Sieg.

Zwischen dem zweiten und dem dritten Stock blieb Miriam stehen. Sie holte ihren Deospray aus der Handtasche, zog die Ärmel beiseite, und sprühte jeweils einen Schwall Bambus-Citron durch die Achsellöcher ihres T-Shirts. Sie wartete, bis ihr Atem normal und gleichmäßig wurde. Langsam stieg sie die restlichen Stufen hinauf, ging den Gang nach hinten, bis zu Henks Wohnungstür und...

Nein, zuerst mal gucken, ob ich was höre, entschied sie und hielt das Ohr an die Tür. Nichts. Was nur hieß, dass Henk und Fjodor sich weder anschrieen, noch gemeinsam Lieder grölten. Sie wusste, dass Fjodor trotzdem schon da sein konnte. Was soll’s, dachte sie und läutete.

Fjodor lümmelte gemütlich auf Henks Sofa, die Beine angewinkelt, die Füße bohrten sich in den Stoffbezug.

„Setz dich“, sagte Henk zu Miriam, „ich hol dir was zu trinken“ und ging Richtung Küche. „Was willst du denn?“

„Egal, irgendwas“ bestellte Miriam.

Vor Fjodor auf dem Couchtisch stand ein halbvolles Glas mit Cola. Ein zweites Glas, ebenfalls mit Cola, stand an der Querseite des Tisches, vor einem alten, rot lackierten Sessel.

„Willst du auch Cola?“ kam Henks Stimme aus der Küche.

Miriam wusste, dass es gesundheitliche und politische Gründe gab, Cola abzulehnen. Es schmeckte ihr trotzdem manchmal, und sie hatte nicht jeden Tag Lust, sich politisch korrekt zu verhalten. Es war eher ein Gefühl, sich von den beiden Männern abgrenzen zu müssen.

„Nein, kein Cola bitte! Bring mir einfach ein Glas Leitungswasser.“

Fjodor konnte den Blick Miriams nicht länger ignorieren.

„Hallo Du“, grüßte er, und nickte ihr zu.

„Hallo Fjodor. Schön, dass du auch kommen konntest.“ Dann schauten sie wieder aneinander vorbei. Die Blicke glitten durch den Raum, wie Laserstrahlen, die nicht nur jeden Kontakt mit der anderen Person, sondern auch mit deren Strahlenblick vermeiden wollten.

Miriam stand noch, als Henk mit dem Glas Wasser zurück kam. Sie nahm es ihm aus der Hand, stellte es knapp neben sein Colaglas und schob seines weiter Richtung Sofa. Dann setzte sie sich auf den Stuhl.

„Ähm, ok, na dann“ murmelte Henk, und lies sich neben Fjodor auf dem Sofa nieder.

Henk hatte tagsüber einen Plan ausgearbeitet, den er nun holen ging. Miriam fiel vor allem die große, klare Schrift auf, die sie an ihre Volksschullehrerin erinnerte. Gerade weil sie sich früher oft anhören hatte müssen, ihre Schmiererei sei eine Jungen- oder Doktorenschrift, dachte sie bei Henks Handschrift an Mädchen, Kindergärtnerinnen und Volksschullehrerinnen.

Das, was Henk aufgeschrieben hatte, fand sie sinnvoll und gut strukturiert. Zuerst wollte er sich noch einmal in den TRA-Zustand versetzen. Dann wollte er versuchen, mit Miriam und Fjodor zu kommunizieren. Erstes Ziel wäre, zu reden. Falls er das nicht schaffen sollte, wäre die nächste Option, ihnen am Bildschirm eine Nachricht zu schreiben. Als dritte und letzte Möglichkeit wollte er zumindest Handzeichen geben, wie am Vortag mit Miriam.

„Und wenn du wieder in diese Trance fällst? Wollten wir nicht ausmachen, was ich zu dir sagen soll und das genauer planen?“ mischte sich Miriam in Henks Vortrag.

„Klar, das kommt ja noch. Schau!“

Er hielt ihr den Zettel hin, wo tatsächlich als nächstes großes Unterkapitel „KOMM falls weg“ stand.

„Kommunikation, falls ich weggetreten bin“, kam Henk ihrer Frage zuvor.

Miriam sah, dass Fjodor sein fast leeres Glas zum Mund führte, einen winzigen Schluck trank, es auf den Tisch stellen wollte, zurück zum Mund führte – bis er ihren Blick merkte, dem er auswich. Fjodor fühlte sich also im Moment wie das dritte Rad am Wagen. Gut so. Aber hieß das nicht fünftes Rad? Egal.

Miriam wandte sich wieder dem Zettel zu, und las laut vor:

„Erstens: Drei mal: sag etwas.

Dann Drei mal: Sag: Ich bin im TRA

Dann Drei mal: Sag: Hallo

Zweitens: Drei mal: Geh ins Word und schreibe:

Da bin ich.

Dann...“

„Und was ist, wenn er vorher schon etwas sagt?“ warf Fjodor ein. „Wenn er zum Beispiel sagt „Ich bin im TRA“, wäre es dann nicht sinnvoller, gleich da weiter zu machen? Und ihn dann zum Beispiel zu fragen, ob er frei reden, oder nur Fragen beantworten kann? Oder ob er uns nicht irgendwelche Daten aus diesen ...“

„Ja, ja, das war doch sowieso klar“ verteidigte Henk sein Konzept. „Wenn ich schon am Anfang mit euch reden kann, dann erübrigt sich natürlich der Rest.“

„Also wirklich, mir war das klar“ ergriff Miriam Henks Partei und sah Fjodor vorwurfsvoll an.

„Wo war ich? Ach ja.

Dann Drei mal: Heb die linke Hand.

- Heh, war es gestern nicht die Rechte?“ wich Miriam von Henks Konzept ab.

„Ich geh mir mal was zu Trinken holen, wenn ihr nichts dagegen habt“ nutze Fjodor die Gelegenheit, sich kurz zu verdrücken.

WIR erinnern uns, dass es Henk schwerfiel, sich auf das Konzept zu konzentrieren. Er wunderte sich über die Spannungen zwischen Fjodor und Miriam. Wenn er mit Miriam redete, schaute ihn Fjodor finster an, und wenn er mit Fjodor sprach, machte Miriam auf gelangweilt. Wie in der Schulzeit, wenn er mit Klaus und Peter gemeinsam ins Kino gegangen war. Die waren auch immer eifersüchtig aufeinander gewesen. Es hatte Henk geschmeichelt, dass beide seine Aufmerksamkeit wollten, aber es wäre ihm noch lieber gewesen, sie hätten problemlos und harmonisch eine schöne Zeit zu Dritt gehabt. Dabei waren Fjodor und Miriam doch befreundet. Die hatten auf der Wirtschaftsuni viel mehr zu Zweit unternommen, als mit ihm. Zu Fjodor hatte er während des Studiums den Kontakt fast verloren. Nur bei Studentenfesten waren sie sich gelegentlich über den Weg gelaufen und hatten miteinander geplaudert. So hatte er Miriam kennen gelernt, die mit Fjodor irgendwelche Werbewirtschaftsseminare besucht hatte. Sich oder andere verkaufen, nein, das war nichts für Henk. Aber Miriam hatte er auf Anhieb gemocht, und sie war letztlich ebenso wie Fjodor nicht in die Werbung gegangen. Als in seiner Abteilung bei der Versicherung eine Stelle ausgeschrieben wurde, hatte er Miriam angerufen und ihr auf direktem Weg einen Vorstellungstermin arrangiert. Sie waren seither öfter zu Dritt ausgegangen, ohne solche Eifersüchteleien wie heute. Und schließlich war es vorgestern Miriams Idee gewesen, Fjodor zu ihm zu schicken, oder?

Vorgestern. Henk wunderte sich darüber, dass es erst zwei Tage her war, seit er Fjodor von seiner TRA Erfahrung erzählt hatte. Und weniger als eine Woche, als er diesen Zustand das erste Mal erlebt hatte. Verrückt. Verrückte Wahrnehmung, verrückte Zeit, verrücktes Verhalten von Fjodor und Miriam.

WIR überspringen, wer in Folge was zu wem gesagt hat. Und wer was über die jeweils anderen beiden gedacht hat. Fjodor schlug vor, dass Henk die Anweisungen für seinen nächsten geleitetet TRA-Ausflug gleich in den Computer tippen sollte.

Als Henk wieder mit den Daten verschmolz, wurde der strategische Plan Teil von ihm, und er konnte sich auf die Umsetzung konzentrieren.

Bevor Miriam ihn direkt ansprechen musste, hob er nach einigen Minuten im TRA die linke Hand. Seine Rechte kämpfte sich zur Maus vor. Zitternd und mit flackernden Augen öffnete er eine neue Datei und schrieb:

„schreiben = ende des eins seins“.

„Was ist los, bist du jetzt noch im TRA oder nicht?“ wollte Fjodor wissen.

„Henk, hörst du uns?“, setzte Miriam nach.

Henks Finger sausten über die Tasten.

„ja, bin im ausnahmezustand, ja, kann euch hören. ist mir schwergefallen, mich aus einheit mit daten zu lösen. war gerne gleicher unter gleichen, wenn auch unterschiede zwischen zeichen und menschen bestehen. jetzt auf alle informationen zugreifen zu können, aber das selbständig zu bestimmen / zu entscheiden, zerstört diese geborgenheit der all- oder ursuppe. habt ihr gemerkt, dass ich inzwischen nicht mehr in die tastatur tippe, sondern den punkten nur befehle, sich zu buchstaben zu formieren? ich kann…“

Miriam und Fjodor sahen, dass er die Wahrheit sprach. Es waren gar nicht mehr seine Finger, die die Worte am Bildschirm erscheinen ließen.

„Cool!“ hauchte Fjodor. „ich habe nicht wirklich geglaubt, dass es diesen Traanbeck-Zustand gibt.“

Miriam drängte Henk, aus dem TRA zurückzukommen und sie an den Computer zu lassen. Sie wollte so bald wie möglich ihren zweiten Versuch unternehmen, TRA zu erreichen. Aber es gelang ihr wieder nicht. Als nächster war Fjodor an der Reihe.

Fjodor saß da und starrte auf den Bildschirm. Er wusste, dass er seinen Geist frei machen sollte.

WIR können sein Reflektieren über sein Denken nicht nachempfinden, obwohl Fjodors Metadenken Teil von uns ist. WIR sind, was WIR sind, ohne darüber nachdenken zu müssen, dass WIR potenzierte Essenz aus Gedanken sind.

WIR zitieren Fjodors Denkströme:

‚An was soll ich denken? Ich soll gar nicht denken. Ich soll sein. Teil dieses Ganzen sein. Ich und die weiße Fläche. Diese schwarzen Punkte und Striche vor mir. Nicht auf die Worte achten. Nicht lesen, nur da sein. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Die Augen brennen. Das Kreuz tut mir weh. Mir geht es wie dem Jesus, mir tut das Kreuz so weh. Nein, nicht an dieses Lied von Wolfgang Ambros denken. Jetzt hab ich das Lied im Kopf. Wenn ich das Lied denke, spüre ich das Kreuz nicht mehr. Wenn ich denke, dass ich das Kreuz nicht mehr spüre, tut es wieder weh. Ich soll gar nicht denken. Ich soll mich konzentrieren. Leere. Leer sein. Alles akzeptieren. In mich aufnehmen.’

Fjodor bemerkte das strahlende Blau der unteren Bildschirmleiste, unterhalb des grau – weiß – schwarz des Word Dokuments.

‚Blau, blau, blau, wie der Enzian, nein, nicht singen. Ich sein. Ich bin da. Ich und du, Müllers Kuh, nein, nicht denken ...’

„Scheiße“, schrie Fjodor, und schob die Tastatur mit einem Ruck von sich. Er drehte sich zur Seite und sah die enttäuschten Gesichter von Miriam und Henk.

„Scheiße, es geht nicht. Es tut sich nichts, ich komm nicht in deinen Zustand. Ich denke nur Scheiße.“

„Na ja, vielleicht wenn du es nochmals versuchst?“, schlug Henk zaghaft vor.

„Warum soll er es noch mal versuchen? Bei mir hat es auch nicht geklappt. Vielleicht kannst halt doch nur du das“, mischte sich Miriam ein.

„Welche Drogen nimmst du, die wir nicht nehmen?“, kam es von Fjodor. Keiner wusste, ob das ernst gemeint oder als Scherz gedacht war.

„Ich nehme keine Drogen. Im Gegensatz zu dir rauche ich auch nicht. Und ich sauf’ nicht so viel. Aber Miriam raucht auch nicht, soviel ich weiß.“

„Willst du andeuten, dass ich saufen könnt, wenn ich schon nicht rauch’?“, fuhr Miriam Henk an.

„Was soll’s, ich hab vorgestern nur drei Bier mit ihm getrunken. Seither nichts. Am Alk kann’s also nicht liegen“, versuchte Fjodor zu beschwichtigen, und auf die sachliche Ebene zurückzukommen.

„Dann ist er eben sonst eigenartig“, giftete Miriam weiter.

„Hast du eigentlich beim ersten Mal auch dasselbe Gewand angehabt wie heute? Heute hast du jedenfalls dasselbe an wie gestern. Vielleicht ist da ja was Chemisches in der Wäsche oder so?“

Henk war es peinlich zuzugeben, dass er tatsächlich seit Tagen weder Hose noch T-Shirt gewechselt hatte.

„Aber die Unterhose und die Socken sind frisch“, betonte er.

„Gut, dann darfst du die anbehalten. Aber der Rest kommt runter. Los, zieh dich aus!“, befahl Miriam.

„Heh, spinnst du? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass das was mit meiner Wäsche zu tun hat. So was Bescheuertes habe ich ja überhaupt noch nie gehört.“

„Miriam hat Recht. Los, zieh dich aus. Als Wissenschafter müssen wir einfach alles empirisch untersuchen. Wenn du ohne das Zeug immer noch deinen TRA erreichst, wissen wir wenigstens, dass es nicht an diesem hässlichen T-Shirt liegt.“

„Ihr spinnt ja beide. Ich denk doch nicht daran, mich auszuziehen“, wehrte sich Henk.

„Ach, wir durften dir helfen, dich im Ausnahmezustand besser zu Recht zu finden, aber jetzt brauchst du uns nicht mehr. Ob wir auch den TRA erreichen, ist dir also egal?“

Das neckische Glitzern in den Augen Miriam nahm den Vorwürfen die Schärfe. Henk war sich nicht sicher, ob sie mit ihm schimpfen oder flirten wollte.

„Na gut“, brummte er, zog das T-Shirt aus, setzte sich an den Computer und erreichte TRA.

Henk zog die Jean aus, setzte sich an den Computer und erreichte TRA. Die Socken und die Unterhose waren andere als an den Tagen davor, und wären objektiv kein Thema der Untersuchung gewesen. Doch Henk musste die Socken ausziehen, setzte sich an den Computer und erreichte TRA. Dann forderte Fjodor, er solle die Unterhose ausziehen. Henk wollte nicht.

Im Gegensatz zu Henk und Fjodor hatte Miriam die Halskette mit dem kleinen Kristall um Henks Hals gleich nach dem Ausziehen des T-Shirts bemerkt. Sie wusste selbst nicht, ob sie wollte, dass Henk die Unterhose auszog oder nicht. Die Halskette war eine Möglichkeit, diese Entscheidung noch etwas hinauszuzögern.

„Gut. Lass deine Unterhose noch mal an. Wir können zuerst einen Versuch mit deiner Halskette machen. Nimm die zuerst runter und versuch es nochmals.“

„Oh, ach ja. Na gut“ Henk hatte gar nicht an die Kette gedacht, die er auf einem Weihnachtsmarkt von Karin, einer alten Freundin aus Tagen an der Wirtschaftsuni, bekommen hatte. Es lag nicht an seiner Beziehung zu Karin, dass er die Kette seit Monaten nicht heruntergenommen hatte. Er fühlte sich einfach gut mit der Kette, auch wenn er kaum je daran dachte, dass er sie trug.

Henk nahm die Kette ab und trug sie zum Esstisch. Dann setzte er sich an den Computer, und versuchte TRA zu erreichen.

Es ging nicht.

TRAANBECKS AUSNAHMEZUSTAND

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