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Drei

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Don Quichotte und Sancho Pansa machten sich also auf den Weg, in die Richtung, in die sie der Zufall führte,

bereit und begierig, sich den Abenteuern zu stellen, die sich ihnen ereignen sollten. Jedenfalls war das so für Don Quichotte, den das Morgenbad ausserordentlich belebt hatte. Sancho Pansa hoffte eher darauf, auf etwas Essbares zu stossen.

Die Richtung, in die sie der Zufall führte, war die Strasse, und die führte ins Dorf. Auf der Strasse war um diese Zeit noch wenig Verkehr. Wenn ein Auto an ihnen vorbei fuhr, wurde das von Don Quichotte unauffällig, aber

scharfäugig beobachtet. Die meisten der vorbeifahrenden Gefährte aber waren, wie Don Quichotte erklärte,

gewöhnliche Autos und keine getarnte Cerberaner, was Sancho Pansa, der, obwohl Knappe und Assistent des Don Quichotte, kein Toboser, sondern ein gewöhnlicher Mensch war, nur schlecht beurteilen konnte, und es war

ihm eigentlich auch ganz egal. Was ihn an der grossen Sache interessierte, war der reiche Lohn, der ihm von seinem Herrn für treue Dienerschaft versprochen war. Er sollte nämlich, falls es ihnen gelingen würde, die Welt von der Herrschaft der Cerberaner zu befreien, als Statthalter Tobosos auf der Erde und infolgedessen als Ministerpräsident bzw. Staatschef über die ganze Welt eingesetzt werden. Solche Aussichten gefielen Sancho nicht übel. Er sah sich schon auf dem Balkon über dem Platz stehen, ordenbehangen, die Hand zum Gruss gereckt, während unten auf dem Platz die in die Hunderttausende gehende, huldigende Menge skandierte: San-cho, San-cho, San-cho.

Natürlich gehörte zu dieser Vorstellung auch die Idee eines hervorragenden Koches – oder besser: einer ganzen

Brigade hervorragender Köche –, erlesener Weine sowie eines ganzen Harems voller gern nicht allzu schlanker

Frauen.

Vorläufig schien die Verwirklichung solcher Träume aber noch weit entfernt. Inzwischen waren sie im Zentrum des Dorfes, zu dem die Anstalt gehörte, eingetroffen. Offenbar war die Nachricht ihres Verschwindens und Abhandengekommenseins noch nicht bis ins Dorf gedrungen, denn man schenkte ihnen, einem grossen hageren Mann in Shorts und Birkenstockschuhen und einer kleinen dicken Frau im geblümten Rock, keinerlei Beachtung. Aus einer Bäckerei duftete ihnen nun herrlich frisch gebackenes Brot in die Nasen.

Schliesslich konnte Sancho seinen Herrn davon überzeugen, dass es zumindest nicht unsinnig sei, hier etwas

Proviant für die weitere Reise einzukaufen. Glücklicherweise fand Don Quichotte in der Tasche seiner neuen

Shorts eine Geldbörse und in dieser nebst etwas Kleingeld auch einige Banknoten.

Während im Innern des Ladens Sancho Pansa Brötchen, Hörnchen, Wurstweggen und andere Köstlichkeiten bestellte und sich die Verkäuferin schon etwas wunderte über die tiefe Stimme und den männlichen Habitus der

südländischen Dame, die sie überdies noch nie gesehen hatte, überlegte Don Quichotte, der draussen auf seinen

Assistenten wartete, dass noch einige wichtige Utensilien fehlten, um aus ihm einen schlagkräftigen Kämpfer

Tobosos zu machen. Er wurde plötzlich sehr aufgeregt. Erstens fehlte ihm eine Waffe, vorzüglich eine Laserpistole. Zweitens und wichtiger ein eigenes Transportmittel, sprich Schlachtross, sprich Lufthund.

Als Sancho – bereits mit vollem Mund – mit der Verpflegung endlich antrabte, mochte sich Don Quichotte

kaum überwinden, wenigstens ein Hörnchen zu essen, so sehr war er erfüllt von seiner nächsten Aufgabe. Zufälligerweise – oder vielmehr überhaupt nicht zufälligerweise, denn die Gemeinde besass nicht nur ein Irrenhaus, sondern war auch eine kleine Garnisonsstadt – befand sich im Ort gerade eine nicht unerhebliche Menge Militär mit entsprechendem Zubehör. Soeben kamen ihnen einige Offiziere im Leutnants-, Oberleutnants- und Hauptmannsrang entgegen. Sie trugen Pistolen im Halfter, was Don Quichotte natürlich nicht entging. Und jetzt rollten einige Militärlastwagen an ihnen vorbei. «Das sind getarnte Cerberaner», flüsterte Don Quichotte ganz erregt. «Wenigstens die ersten beiden. Ich hoffe nur, dass sie mich nicht auch erkannt haben. – Aber zuerst brauchen wir die Laserkanonen.» In einiger Distanz folgten sie den Offizieren, die sich daran machten, die Treppenstufen zum Eingang des Hotels «Krone» hochzusteigen, wo sie bei

einem guten zweiten Frühstück oder vielmehr beim Apéro vor dem Mittagessen den morgigen Tagesbefehl

durchgehen wollten. Einer der Offiziere war sehr dick, dicker noch als Sancho Pansa, und mindestens doppelt so

gross. Don Quichotte und sein Knappe betraten die Gaststube mit unübertrefflicher Selbstverständlichkeit. Die

Offiziere hatten sich ihrer Uniformröcke und der Pistolengurte mit den Waffen bereits entledigt und sie

leichtsinnigerweise an die Garderobehaken gehängt. Man konnte jetzt die Schweissflecken im Hemd unter den Achselhöhlen des dicken Offiziers sehen.

Don Quichotte und Sancho Pansa setzten sich an einen Nebentisch. Der Toboser bestellte einen Kaffee, Herr Pansa, der bereits durstig war, ein Bier. Die Offiziere besprachen gerade den Verlauf einer umfassenden Gesamtverteidigungsübung mit Namen «Cerberus». Das ist für eine Gesamtverteidigungsübung natürlich sozusagen der ideale Name.

Unser langer, dürrer Freund spitzte die Ohren, bis ihm der Schnurrbart zu zittern begann. Er fühlte sich auf der

ganzen Linie in seinen Überzeugungen bestätigt. Diesen Cerberus werde ich mal kitzeln! dachte er kampfeslustig.

Er machte seinem Sancho ein Zeichen, sich mit dem Bier zu beeilen, denn die Handlung duldete jetzt keinen Aufschub mehr. Der legte beim Aufstehen automatisch Geld auf den Tisch, etwas, worauf Don Quichotte nicht gekommen wäre, da es für ihn als Toboser Wichtigeres zu tun gab, als einen Kaffee zu bezahlen, den er noch nicht einmal angerührt hatte. Dafür bemächtigte er sich beim Verlassen des Restaurants mit überraschender Behändigkeit eines der Pistolengurte samt Pistole (es war diejenige des dicken, unter den Achseln schwitzenden Oberleutnants, der ein notorischer Pechvogel war), ohne dass es jemand bemerkt hätte, von den Offizieren, die eifrig am Diskutieren waren, ganz zu schweigen.

So kam es, dass eine Pistole der Schweizer Armee in der Kommissionentasche von Frau Kummer verschwand, also dorthin, wo üblicherweise Fenchel, Karotten und Schokolade (Frau Kummer liebte Schokolade) zum

Transport zwischen Migros oder Coop und dem Einfamilienhaus der Kummers verstaut wurden.

Währenddessen wand sich Don Quichotte den Ordonanzgurt um den Bauch, denn die Sommershorts von Herrn Kummer, der zwar dünn, aber doch nicht so unglaublich mager wie unser tapferer Toboser war, hatten sich inzwischen doch als eine oder zwei Nummern zu gross erwiesen.

So gingen sie unangefochten durch den Ort, immer neuem Militär begegnend, Fusstruppen in Zweierkolonnen

mit geschultertem Gewehr, Nachrichtensoldaten auf Militärfahrrädern, Offizieren in protzigen Geländewagen.

Die Militärübung Cerberus hatte ja allerhand Leute auf die Beine gebracht. Hinter Sandsäcken lagen vor dem

Schulhaus getarnte Beobachtungsposten im Kampfanzug, das Maschinengewehr im Anschlag. Man übte Bürgerkrieg, Guerillataktik oder terroristische Bedrohungslagen.

Von weiter her knallte und detonierte es. Das alles war einigermassen furchterregend, obwohl hier der kriegerische Ernstfall ja nur geprobt wurde.

Don Quichotte fühlte sich unverzagt. Sancho hingegen fürchtete sich genug, um dicht hinter seinem Herrn zu

bleiben, die Handtasche an den Bauch gepresst. «Die meisten sind ja nur Menschen», beruhigte Don Quichotte

seinen Assistenten, «ich sehe lediglich eine beinahe verschwindende Anzahl von Cerberanern. Da drüben, das

unter dem feldgrünen Netz da, was sich verzweifelt anstrengt, wie ein Panzer auszusehen, ist jedoch ganz

bestimmt ein Feind, schau nur nicht so direkt hin!» Sancho fühlte vage eine eigentümliche Sehnsucht nach der kaum von den Selbstgesprächen der Verrückten gestörten Stille der Anstalt jenseits des Waldes in sich aufsteigen.

Sie kamen jetzt am Migros-Markt vorbei, wo trotz der militärischen Situation Hochbetrieb herrschte, denn es

war Samstag, und die Bewohner des Ortes wollten am Sonntag trotz des simulierten Kriegs und solchen Sachen

einen guten Braten essen.

Abrupt blieb Don Quichotte, der noch immer nach einem geeigneten Schlachtross Ausschau hielt, stehen.

«Siehst du jene beiden Lufthunde dort?» fragte er Sancho und zeigte auf zwei ganz gewöhnliche Fahrräder, die

einträchtig nebeneinander standen. Lufthunde, so hatte ihm Don Quichotte noch in der Klinik erklärt, seien die

üblichen Fahrzeuge für Toboser, die sich auf grosser Fahrt befänden, um ihre Bewährungsprobe zu bestehen;

Fahrzeuge, sehr praktisch zur Fortbewegung sowohl auf der Erde wie auch in der Luft und unter Wasser. Und

diese beiden Fahrräder, die so friedlich und einträchtig nebeneinander standen, sollten nun also Lufthunde sein!

Kaum zu glauben. Aber er wusste ja, dass sein Herr ein spezieller Mensch mit einer aussergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeit war. Also folgte er Don Quichotte, der schon im Begriff war, eines der Fahrräder, und zwar ein rot gestrichenes Damenrad schon älteren Jahrgangs der Marke Rosinante, zu besteigen. «Komm schon, setz dich auf den anderen Lufthund! Beeil dich, du ewiger Zögerer und Zauderer, der du bist, und hab keine Angst, diese Hunde beissen dich schon nicht. Der Kampf wartet auf uns!»

Gehorsam setzte sich Sancho auf das andere Rad, das ebenfalls ein Damenrad war (aber ein blaues), vorher aber

schnallte er vorsorglich Frau Kummers Einkaufstasche, jetzt an Inhalt mit einer Ordonanzpistole bestückt, auf den schon etwas angerosteten Gepäckträger.

Sie sassen beide fest im Sattel und waren eben im Begriff, ihren Lufthunden die Sporen zu geben, Don Quichotte

voller Enthusiasmus darüber, jetzt endlich vollständig ausgerüstet zu sein, Sancho noch ganz verwirrt vom schnellen Gang der Ereignisse, als sie hinter sich die wütende, rasch sich nähernde Stimme einer gewaltigen

Matrone vernahmen. «Haltet die Diebe!» rief sie, «haltet die Diebe!» Aber niemand vermochte die rasch auf ihren Lufthunden davonflitzenden Streiter aufzuhalten. Zu perplex waren die anderen Matronen und übrigen

Zuschauer über den dreisten Velodiebstahl mitten am helllichten Tag, mitten in einem supponierten Krieg. Velodiebstähle mochte es bei Nacht und im Ausland geben, etwa in Zürich oder Amsterdam oder New York,

wo die Besitzer ihre Fahrräder mit schweren Eisenketten sichern mussten, aber doch nicht hier, bei ihnen, mitten

im schwer bewachten Dorf!

So gewannen unsere beiden Helden denn schon bald einen komfortablen Sicherheitsabstand zu ihren Verfolgerinnen. Don Quichotte fühlte sich in seinem Element und fluchte in einem fort, während Sancho wieder einmal alle Heiligen des Himmels anzurufen hatte. «Lass uns um Gottes willen aus diesem vermaledeiten, zehnmal verfluchten Ort verschwinden!» flehte Sancho seinen Herrn und Gebieter an, während ihnen der Fahrwind um die Köpfe fuhr. «Niemals!» verkündete Don Quichotte darauf pathetisch, «nicht bevor ich mindestens einen Cerebraner zur Strecke gebracht habe! Meinst du, ich will ewig eine Halbkugel bleiben?»

Inzwischen hatten sie allerdings die letzten Häuser des Ortes, des Dorfes oder kleinen Städtchens längst hinter

sich gelassen. Die Strasse führte jetzt durch den angenehm kühlenden Schatten eines Waldes. Sancho, der müde war, dem der Schweiss vom Körper lief, dessen Beine schmerzten und was der Unbill noch mehr waren, redete von hinten gegen die strampelnden, stark mit grauen Haaren bewachsenen Waden seines Freundes an, versuchte ihn zu überzeugen, dass es doch das Klügste sei, vorerst einmal im Verborgenen zu bleiben und sich daselbst, etwa unter einer Tanne oder einer Buche, ein wenig auszuruhen. Im Schutz der Nacht liesse sich bestimmt viel besser operieren.

Solchen taktischen Überlegungen beugte sich Don Quichotte gern, da auch er sich, an exzessive sportliche

Betätigung nicht gewöhnt, ein wenig ermattet fühlte. Also bogen sie in einen Waldweg ein, der sie bald auf eine

ruhige und verborgene Lichtung führte, wo sich Sancho augenblicklich im Schatten eines Holunderbaumes

hinlegte und eine Sekunde später schon eingeschlafen war, um schnarchend von seinem ordengeschmückten Auftritt vor dem Volk, einer Menge dicker Frauen und anderen Köstlichkeiten des Lebens zu träumen. Don Quichotte aber wollte nicht einschlafen, er dachte an Toboso und seine bessere Hälfte, die darauf wartete, sich mit ihm zu einem vollkommenen Wesen zu vereinigen, auf dass sie immerdar im Zwischending aus Wasser und Luft herumschwimmen dürften. Und er seufzte tief und sehnsuchtsvoll.

Misericordia City Blues

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