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II. Asche
ОглавлениеEhlerts Flugzeug wird gleich in Flammen aufgehen und zu Asche verbrennen. Seltsamerweise denkt er gerade an Asche – an die Asche, auf der sein Heimatdorf Meiersberg gegründet ist, nachdem jahrhundertelang in Glashütten Holz verfeuert worden war. Dort würde er jetzt gern sein. Vier Jahre – so lange liegt sein letzter Besuch schon zurück. Er denkt an den Bruder, seinen Spielkameraden der jüngsten Jahre, an den strengen, aber liebenswerten Vater, der Militärmusiker war, und an die Mutter, die ihn und alle, die es hören wollten, immer vor den Nazis gewarnt hatte und der man dafür in ihrem Heimatort aus dem Wege ging. Ehlert denkt daran, wie es war, in jenem letzten Sommerurlaub in Meiersberg vor seinem Eintritt in die Wehrmacht.
Damals fuhr er nach Ferdinandshof, den nächsten größeren Ort bei Meiersberg, um Ahnenforschung zu betreiben. Den eigenen Vorfahren nachzustöbern, war im dunklen Reich eines Heinrich Himmler arg in Mode. Der Reichsführer-SS hatte sogar ein eigenes Amt aus der Taufe heben lassen, in dem sich hohe SS-Führer mit ihren Gehilfen die Zeit aus weltanschaulichen Gründen mit Rassenkunde und Ahnenforschung vertrieben. So war es nicht verwunderlich, dass im ganzen Nazi-Reich die Menschen begannen, sich für ihre Familiengeschichte zu interessieren. Deshalb stöberte auch der junge Gerhard in den Kirchenbüchern in Ferdinandshof herum, wozu man ihm zuvor von Amts wegen und aus der Pfarrei die Erlaubnis erteilt hatte. Da einige seiner Vorfahren zu den Meiersberger Gründerfamilien von 1749 gehörten, väterlicherseits bei den Bauern, mütterlicherseits bei den Glasmachern, fand Gerhard seitenweise Material über seine Vorfahren in den Kirchenbüchern von Ferdinandshof. Tagelang durchforstete er die Bücher und wurde trotz des wunderbaren Spätherbstes in der Uckermark blass vom vielen Stubenhocken. Hinterher aber wusste er, woher er stammte, und das gab ihm ein beruhigendes Gefühl.
Meiersberg. Breite Straßen führen durch das kleine Dorf, viel zu breite Straßen, die Fahrtrichtungen getrennt durch einen noch breiteren Streifen aus Grün, der von großen Bäumen unterbrochen wird – eine Art Mittelallee, wie man sie sonst nur in Prachtstraßen großer Städte findet. Wegen der breiten, leeren Straßen stehen die gegenüberliegenden Häuser weit auseinander. Denn Grund gibt es hier genug. Daran muss nicht gespart werden. Meiersberg liegt in Vorpommern am südlichen Rand des Waldgebiets der Ueckermünder Heide. Nachdem sich die Gletscher der Eiszeit vor 10 000 Jahren zurückgezogen hatten, hinterließen sie eine Landschaft, wie sie freizügiger kaum sein könnte: Seen, Findlinge, und vor allem große Sandflächen, zwar nicht überall, aber vorwiegend. Bevor sich dort Menschen niederließen, bestand die Gegend nur aus Urwald, durchsetzt mit Mooren, Sümpfen und vielen kleinen Wasserläufen.
Das Dorf selbst wurde erst im Jahr 1749 gegründet. Ursprünglich waren es zwei getrennte Siedlungen. Im Frühjahr 1749 nahm eine Glashütte ihren Betrieb auf, im Sommer darauf kamen Bauern, die gleich im Anschluss an der westlichen Grenze der Glasmachersiedlung ihre Gehöfte errichteten. Bereits vor der Gründung von Meiersberg gab es 1730 in der Nähe eine Kuhmelkerei mit dem merkwürdigen Namen Besserdran. Die zwei Häuser des Milchwirtschaftsbetriebes standen dort, wo der Flossgraben in die Zarow mündet. Die Einheimischen sagen dazu: »Wo de Flettgrobn int Beek schütt’t«. Bei der Einrichtung der Glashütten Ferdinandshof und Meiersberg waren Angehörige einer Familie namens Gundelach maßgeblich beteiligt, die Vorfahren von Albert Ehlert und seinen Söhnen Konrad und Gerhard.
Eines Abends machte der Krieg, der ein Jahr zuvor mit dem Überfall auf Polen begonnen hatte, mehr aus Zufall denn aus bösem Willen Halt in Meiersberg. Gerhard hatte sich ein paar Bücher zum Forschen ausleihen können, denn der Küster der Ferdinandshofer Pfarrei vertraute ihm mittlerweile, nachdem sich Gerhard und er bereits zu dem einen oder anderen Plausch verabredet hatten. Er hörte den Krieg als Erster und blickte mürrisch von seinem Kirchenbuch auf. Ein leises Brummen näherte sich vom Osten her und wurde immer lauter.
Zu dieser Zeit stand lange fest, dass er in die Luftwaffe eintreten würde, ein Entschluss, zu dem er von niemandem getrieben wurde und der sich hauptsächlich aus der Literatur speiste, die der junge Ehlert damals seitenweise verschlang. Er las Bücher wie »Ein Kampf um Rom«, nicht wie seine Freunde Abenteuerschmöker von Karl May. Dann waren es Bücher über den Ersten Weltkrieg, auch Fliegerbücher, die ihn am meisten beeindruckten. Doch das war zu dieser Zeit noch nichts weiter als jugendlicher Überschwang. Die echte Leidenschaft fürs Fliegen und Soldatsein wurde erst durch die euphorischen Wehrmachtsberichte in den ersten Kriegsmonaten in ihm geweckt. Die polnische Armee war durch die deutschen Stuka-Verbände »zermalmt« worden, die »Luftschlacht über England« war im vollen Gange und »praktisch nicht mehr zu verlieren«. Deutschland würde die englischen Städte eine nach der anderen »coventrieren«, versprach Propagandaminister Josef Goebbels, nachdem die deutsche Luftwaffe ein englisches Städtchen namens Coventry mit einem Bombenteppich eingedeckt und praktisch »ausradiert« hatte. Sieg über Sieg, errungen von den Fliegern!
Gerhard wollte Pilot werden. Kampfpilot. Niemals zuvor war er in einem Segelflugzeug geflogen wie viele seiner späteren Kameraden. Nur dann hätte man annehmen müssen, dass die Begeisterung fürs Fliegen ein folgerichtiger Schritt gewesen wäre. Bei Gerhard Ehlert war es die Sprache, die Wörter in den Büchern, die ihn zum Fliegen brachte. Er teilte seine Absicht, zur Luftwaffe zu gehen, seinen Eltern an einem Sonntagmorgen im Frühjahr 1940 beim Frühstück mit. Vater und Mutter hatten keinen Einwand. Das Thema war nach nur einer Minute durch, der Entschluss gefasst und bestätigt.
Da sich Gerhard also in den Folgemonaten viel mit der Fliegerei beschäftigt und sich dabei auch in der Nähe des einen oder anderen Fliegerhorstes herumgetrieben hatte, kannte er den Klang der deutschen Flugzeuge genau. Beim Brummen der Motoren über Meiersberg war er sich sofort sicher, dass es eine englische Maschine sein musste, wohl ein Bomber auf dem Heimflug. Ein Feindflugzeug war 1940 noch eine Rarität über Deutschland. Gerhard stürzte vor allen anderen Meiersbergern ins Freie. Und da rauschte schon entlang der breiten Dorfstraße ein riesiger Schatten über die Häuser hinweg. Ganz tief hing der Dinosaurier über dem Dorf. Er hatte offenbar Mühe, die Höhe zu halten. Obwohl die Meiersberger wussten, dass ihr Ort den Engländern keine einzige Bombe wert war und dass von diesem Ungeheuer, das sich da heimwärts schleppte, ohnehin keine Gefahr ausgehen konnte, bekamen sie alle ein komisches Gefühl in der Magengegend. Sie starrten in den abendblauen Himmel, der noch nicht so schwarz war, als dass sich die Konturen des englischen Bombers nicht abgezeichnet hätten, und sahen, wie er am Ende des Dorfes eine leichte Rechtskurve Richtung Ostsee zog. Als das Brummen beinahe ganz verstummt war, gab es am Horizont einen Blitz in weiter Ferne, so weit weg von Meiersberg, dass sich an diesem Abend niemand mehr aufmachte, der Ursache nachzuforschen. Man sprach ein paar Worte leise auf der Straße und wünschte sich eine gute Nacht. Erst am anderen Morgen beschlich alle ein erstes Gefühl der Hilflosigkeit, als der Postbote die Kunde ins Dorf trug, dass der englische Flieger auf einen Bauernhof nahe Gambin an der Osteeküste gestürzt sei und die Unglücksbesatzung, die offenbar ihre beschädigte Maschine nicht mehr beherrschen konnte, eine vierköpfige Bauernfamilie in den Tod mitgenommen hatte. Der Krieg war nun endgültig in Vorpommern angekommen.
Gerhard gönnte sich nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Er forschte und ließ sich auch durch einen »Unfall«, wie die Meiersberger den Absturz des Bombers nannten, nicht in seinem Vorhaben abbringen, alles über seine Vorfahren zu erkunden. Und so stieß er schnell wieder auf den Namen Gundelach. Die bemerkenswerte Familie Gundelach, dachte er bei sich und machte sich ans Lesen, ganz von Anfang an.
Das erste Kirchenbuch begann mit einer langatmigen Schilderung des Kirchenbaus und der Einweihung. Geschrieben hatte sie mit eigener Hand Johann Jürgen Gundelach, der den Bau dieser Kirche aus privaten Mitteln bezahlt hatte. Gerhard konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie er darauf gekommen war, dass es einen Familienverband der Gundlach, Gundelach und von Gundlach gab, dem seine Familie, die Ehlerts, irgendwann beigetreten waren. Die Gundelachs jedenfalls hatten ihren Sitz in Großalmerode, Nordhessen, genau 33 Kilometer südlich von Göttingen. Es wurden Familienblätter herausgegeben, die sich wohl noch heute im Besitz der Ehlerts befinden. Hierin wurden allerlei Beiträge gesammelt, mitunter unwichtige, aber auch die ganze Ferdinandshofer Chronik. Ein Artikel war hochinteressant, weil er detailliert vom Werdegang der Familie Gundelach berichtete.
Es begann in Bamberg. Die Familie nannte sich damals Gundloch. Die Gundlochs waren eine angesehene Patrizierfamlilie, die 1122 erstmalig urkundlich erwähnt wurde. 300 Jahre lang waren sie Domverweser und Ratsherren. In dem Dorf Oberhaid, acht Kilometer nordwestlich von Bamberg, besaßen sie mehrere Güter. Die dortige Kirche hatte kein Predigerrecht, sodass der Pfarrer Schack vom Nachbardorf Trunstatt in Oberhaid Gottesdienst hielt. Als Oberhaid das Predigerrecht erhielt, wollte Schack weiterhin seine Einkünfte beziehen, obwohl er nicht mehr predigte. Man verweigerte die Zahlung, es kam zu einem Rechtsstreit, in dem der Bamberger Bischof dem Pfarrer Schack Recht gab. Das erzürnte die Oberhaider. Besonders betroffen war Heinrich Gundloch, der größte Steuerzahler. Als sich Gundloch und Schack zufällig am 22. September 1409 auf dem Truhendinger Domherrenhof zu Bamberg trafen, kam es zu einer hitzigen Auseinandersetzung, bei der Gundloch so in Rage geriet, dass er Schack mit seinem Dolch erstach.
Der Täter stellte sich sogleich und zeigte Reue. Ein Gericht unter dem Vorsitz des Bamberger Bischofs tagte, und am 30. Mai 1410 wurde der Urteilsspruch gefällt. Dem Heinrich Gundloch wurde »der Frevel gnädiglich vergeben«. Die Familie Gundloch sollte aber zur Buße ewiglich jährlich 50 Pfund Wachs spenden und, sehr peinlich, Heinrich sollte jedes Jahr vor der Prozession barfüßig und barhäuptig mit einer Zweipfundkerze in der Hand um den Hof der Burg zu Bamberg gehen.
1413 wurden noch mehr Auflagen verlangt. Nachdem die Familie Gundloch auch noch eine Kapelle, die Katharinenkapelle in Bamberg, gebaut hatte, war das Maß voll. Die Gundlochs verließen Bamberg. Doch bis zu Albert Ehlert und seinen Söhnen war es noch ein weiter Weg.
Ab 1460 gab es in Bamberg keinen Gundloch mehr. Man wandte sich nach Hessen, nach Großalmerode. Dort erschienen Heinrich und Kurt Gundlach 1461 erstmals in den Quellen – dieselben, die das letzte Mal 1453 in Bamberg genannt worden waren. Es gab eine Änderung der Schreibweise des Namens: aus Gundloch wurde Gundlach, was aber keine Absicht gewesen sein muss, sondern auch auf die Nachlässigkeit eines Schreibers zurückzuführen sein könnte.
Großalmerode war das Zentrum der Glasmacher des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, wie das in zahlreiche Einzelherrschaften gegliederte Deutschland damals genannt wurde. Die Gundlachs mussten sich umstellen und erlernten das Glasmacherhandwerk. Aufgrund ihrer Führungsqualitäten stellten sie ab 1537 ununterbrochen für die nächsten 150 Jahre die Vorstandsmitglieder der Glasmacherzunft. Jeden Pfingstmontag mussten alle Zunftmeister des Reiches nach Großalmerode kommen. Am Vormittag wurde getagt und neue Zunftregeln wurden beschlossen. Schirmherr war der Landgraf von Hessen. Nachmittags briet man einen Ochsen, und es gab ein Volksfest.
Gerhard las tagelang in den Büchern und konnte sich nicht losreißen. Immer weiter vertiefte er sich in die Familiengeschichte und malte sich aus, wie seine Vorfahren ausgesehen hatten, wie sie gesprochen, wie sie sich vermehrt und über halb Deutschland ausgebreitet haben mochten.
Im achten Kirchenbuch stieß er auf das 16. Jahrhundert. An dessen Ende wurde eine neue Wirtschaftsform entwickelt, der Merkantilismus. Um die Wirtschaft zu stärken, sollten möglichst alle benötigten Waren im eigenen Land hergestellt werden. Die absolutistischen Herrscher sorgten mit dirigistischen Eingriffen in die Wirtschaft dafür, dass möglichst viel exportiert und möglichst wenig importiert wurde. Glas gehörte zu den kostspieligen Produkten, sodass sich jeder Herrscher Glashütten in seinem Herrschaftsgebiet wünschte. Die Glasmacher waren gefragte Leute, und viele Fürsten baten die Spezialisten aus Großalmerode, bei ihnen eine Glashütte zu errichten.
So folgten auch die Gundelachs dem Angebot eines Fürsten und zogen 1655 nach Preetz in Holstein. 1705 erhielten sie von der schwedischen Verwaltung in Stettin eine Einladung, im Bereich der Ueckermünder Heide eine Glashütte zu bauen. Dort wuchs auf dem sandigen Boden bestes Brennmaterial: Buchenwald, soweit das Auge reichte. Johann Jürgen Gundelach folgte dem Ruf. Er besaß in Mecklenburg mehrere Glashütten, war Glasmeister, ein Unternehmer großen Stils. Als Standort für sein Heim und seine Manufaktur wählte er den Scharmützel, eine kleine Erhebung, auf der heute die Ferndinandshofer Kirche steht. Zur Herstellung von Glas benötigte man Pottasche, und im Dorf befand sich bereits eine Pottaschebrennerei. Außerdem war Ueckermünde mit seinem Hafen nicht weit, um Glaswaren zu verschiffen.
Am 21. Dezember 1705 wurde in Stettin ein entsprechender Vertrag geschlossen, und 1707 konnte der Betrieb aufgenommen werden. Gundelach kam mit mehreren Verwandten, die ihn auch während seiner Abwesenheit vertraten, und Glashüttenarbeitern. In einer Glashütte wurden verschiedene Handwerker gebraucht: Aufbläser, Strecker, Hohlbläser, Schürer, Werker, Scheiterhauer, Aschefahrer, so hießen die Tätigkeiten. Gebraucht wurden zudem Fuhrleute und Kistenmacher.
Das Unternehmen wurde jedoch schon bald vom Unglück verfolgt: 1708 griff die in Polen wütende Pest auf Ostpreußen über und tötete ein Drittel der Bevölkerung. 1712 drangen russische Soldaten bei der Verfolgung schwedischer Truppen in Vorpommern ein und plünderten die Glashütte vollständig aus. Man flüchtete ins Ausland – drei Kilometer weit, ins benachbarte Mecklenburg. Drei Jahre lag der Betrieb still, bis das Land im Juni 1714 an Preußen fiel. Die Hütte wurde instand gesetzt und die Arbeit wieder aufgenommen. Sie blieb in Betrieb, bis sie 1743 geschlossen wurde.
Gundelach baute auf dem Scharmützel sein Haus, das erste in Ferdinandshof, und die Kirche. Von einer Reise nach Lübeck brachte er einen Taufengel mit. Gundelach starb 1737 in Ueckermünde und wurde in seiner Kirche beigesetzt. Neben ihm wurde Christoph Ludwig Henrici aus Ueckermünde begraben, Königlicher Amtsnotar, Wirklicher Kriegs- und Domänenrat, Amtmann von Königsholland, ein Verwaltungsbezirk, etwas kleiner als der spätere Kreis Ueckermünde.
Preußen beteiligte sich unter Führung König Friedrich Wilhelm I., des Soldatenkönigs, an der Seite Russlands, Dänemarks und Sachsens am Großen Nordischen Krieg gegen Karl XII. von Schweden und bekam 1715 als Kriegsbeute einen Teil Vorpommerns, von der Oder bis zur Peene. Der westliche Teil, »Schwedisch-Pommern«, blieb schwedisch und wurde erst 1815 preußisch. Preußen ging es vor allem um den Hafen Stettin. Gerhard Ehlerts Heimat wurde also preußisch – und bis Meiersberg war es nicht mehr lange hin.
Im Dezember 1747 tobte ein Orkan über Vorpommern, der in der Ueckermünder Heide großen Schaden anrichtete. Prinz Moritz von Dessau, höchster Beamter Pommerns, jüngster Sohn des »Alten Dessauers«, kam in Begleitung des Oberforstmeisters Meier, des höchsten Forstbeamten Vorpommerns mit Sitz in Torgelow. Nach der Besichtigung wurde beschlossen, am Waldrand mehrere Glashütten zu errichten, um die riesige Menge toten Holzes sinnvoll zu verarbeiten.
Ehlerts Heimatdorf verdankt seine Entstehung also einem Naturereignis. Als Gründungsjahr wird 1749 angegeben, weil es am 1. Februar 1749 zum ersten Mal mit dem Namen Meiersberg – zu Ehren des besagten Oberforstmeisters Meier – schriftlich erwähnt wurde. Sicher ist, dass bereits 1748 mit dem Bau der Glashütte begonnen wurde. Auf deren Grundstück eröffnete Gerhards Großtante Anna Koppermann, Ehefrau von Otto Koppermann, dem jüngsten Bruder seines Großvaters Albert Koppermann, um 1900 einen Gemischtwarenladen, damals auch Kolonialwarengeschäft genannt. Um die Waren für ihr Geschäft einzukaufen, fuhr sie regelmäßig nach Stettin.
Eine bemerkenswerte, tatkräftige Frau, dachte sich Gerhard beim Lesen der schwergewichtigen Lektüre. Denn Gerhards Großtante bewerkstelligte alles allein. Ihr Mann arbeitete mit vier anderen Koppermanns, darunter Gerhards Großvater, seit 1885 in Berlin als Maurer am Bau des Reichstagsgebäudes. Es war nicht das letzte Mal, dass die Familie Ehlert und ihre Vorläufer an epochalen deutschen Monumenten arbeiteten oder an epochalen Ereignissen teilhatten.
Ihren vier Kindern schärfte Großtante Anna ein, auf dem Hof nicht zu buddeln, weil sich dort noch Relikte der aufgelassenen Glashütte in Form scharfkantigen Glasflusses befinden könnten. Das erzählte später ihre jüngste Tochter Wally dem kleinen Gerhard während eines Besuchs in Göttingen.
Annas Geschäft ging irgendwann in andere Hände über, doch als Junge war Gerhard des Öfteren bei seiner Großtante zu Besuch. Und beim Lesen der Kirchenbücher erinnerte er sich wieder an all die verlockenden Gerüche, die ihm im Geschäft der Tante Anna in die Nase gestiegen waren. Er spürte den unverwechselbaren Geruch von Holzpantoffeln, Stoffen, Sauerkraut, Heringen, Peitschen für kleine Jungs und Kautabak, Priem genannt. Und eine Melancholie ergriff ihn, sodass er minutenlang innehielt.
Irgendwann schlug er die nächsten Seiten auf. Da las er von Glasarbeitern seiner Familie, die sich in dem Dorf ihre reetgedeckten Holzfachwerkhäuser errichteten. Das Reetdach war damals das Dach armer Leute, heute ist es die wohl teuerste Art der Eindeckung. Die Glasarbeiter hatten eine kleine Landwirtschaft von fünf Hektar Grund, auf dem sie Roggen und Kartoffeln anbauen konnten, eine Wiese, die das Heu für die Kühe lieferte, drei Schweine, zwei Kühe und Hühner. Die landwirtschafliche Arbeit besorgten die Frauen, die außerdem noch ihre vielen Kinder aufzogen. Manchmal half noch ein Großelternteil im Haus mit. Der arbeitsfreie Sonntag war für die Männer in der kleinen Landwirtschaft fast das ganze Jahr über ein voller Arbeitstag.
Das Holz des großen Orkans von 1747 war knapp zehn Jahre später bis auf wenige Reste verarbeitet, und die Glashütte wurde geschlossen. Die meisten Arbeiter blieben, denn sie lebten längst nicht mehr ausschließlich von ihrer Arbeit, sondern hatten eine kleine Landwirtschaft aufgebaut und waren Selbstversorger. Bei den meisten reichten deren Erträge freilich nicht zum Lebensunterhalt, und so mussten sie andere Berufe erlernen. Damit entwickelte sich aus dem Dorfteil Meiersberg eine Handwerkersiedlung. Die Herkunft der Glasarbeiter ist nicht genau bekannt, doch es ist anzunehmen, dass viele aus dem Südwesten Deutschlands kamen.
Der andere Teil des Ortes, ein Bauerndorf gleich im Anschluss am westlichen Rand des bereits bestehenden Glashüttendorfs, entstand im Sommer 1749. Die Ansiedlung ging auf eine Initiative des preußischen Königs Friedrich II. zurück, der bestrebt war, Siedler in sein menschenarmes Land zu locken, um die durch seine zahlreichen Kriege verursachten Menschenverluste auszugleichen. Die Bauern dieses Dorfteils kamen aus Mecklenburg und Schwedisch-Pommern. Deren Vorfahren waren zum größten Teil im Zuge der Ostkolonisation durch den Deutschen Orden um 1100 aus Schleswig-Holstein zugezogen. Daher erklärt sich das hiesige Plattdeutsch, das dem Holsteinischen ähnelt. Außerdem gibt es hier Familiennamen, die auch in Schleswig-Holstein gebräuchlich sind. Der Name der Familie Ehlert kommt dort häufig vor, mehr noch die Pluralform Ehlers.
In anderen Dörfern kamen viele Siedler aus Südwestdeutschland. Die Bauern bekamen Hofstellen mit einer Größe von 20 Hektar zugewiesen. Damit waren sie Vollerwerbslandwirte. Dieser Dorfteil wurde Schlabrendorff genannt. Denn es war üblich, neu entstandene Dörfer nach hohen preußischen Beamten der Kriegs- und Domänenkammern Stettin und Berlin zu benennen, obwohl sie schon Namen hatten. So nannte sich Aschersleben, das frühere Hühnersdorf, nach dem Kammerpräsident Georg Wilhelm von Aschersleben. Blumenthal, früher Schale Heide, wurde benannt nach dem Wirklichen Geheimen Etats-, Kriegs-, dirigierenden Minister, Exzellenz Adam Ludwig von Blumenthal zu Berlin, und das frühere Brandhorst erhielt den Namen des Geheimen Rats und Kammerdirektors Ernst Wilhelm von Schlabrendorff. Diese Praxis hatte sich schon unter König Friedrich Wilhelm I. eingebürgert, der anlässlich einer Inspektionsreise vier Dörfer nach seinen Söhnen umbenannt hatte: Ferdinandshof, Friedrichshagen, Wilhelmsburg und Heinrichswalde, früher Mückenhorst.
Da den plattdeutsch sprechenden Dorfbewohnern Schlabrendorff zu holperig klang, machten sie daraus Schlabberndorf. Das klang etwas abwertend, und so hat man sich wohl auch vom Klang her für Meiersberg entschieden. In kirchlichen Urkunden wurde aber noch in den 1930er-Jahren der traditionelle Name Schlabrendorff verwendet.
Die Handwerker aus der ursprünglichen Glasmachersiedlung arbeiteten später als Maurer, Zimmerleute und in Ziegeleien. Viele waren in einer Eisengießerei, in der »Guss«, tätig. Denn im Ueckermünder Kreis fand sich in geringer Tiefe Raseneisenstein in einer mitunter nur zwanzig Zentimeter dicken Schicht, die das Pumpenwasser bräunlich färbte. Plattdeutsch wurde dieser wertvolle Rohstoff als »De root Voss«, der rote Fuchs, bezeichnet. Der Abbau dieser stark eisenhaltigen Schicht führte zur Gründung mehrerer Eisengießereien. Alles, wirklich alles, was in und um Meiersberg in Vorpommern steht, das wusste Gerhard Ehlert nach dem zwölften und letzten Kirchenbuch, das er jetzt wehmütig aus der Hand legte, gründete also auf Asche – der Asche, für die der Orkan 1747 Futter geliefert hatte.
Ehlert will noch schnell das Bild von Riele in sich wachrütteln, doch es bleibt ihm keine Sekunde mehr, er muss sich ganz aufs Fliegen konzentrieren, kurvt mit der Maschine von links nach rechts und umgekehrt, um der Flak unten keine gerade Flugbahn zum Vorhalten zu bieten. Der Bleistift in der Glaskuppel springt wie wild von einer Seite auf die andere.
»Verdammt, wir müssen hier raus, Herr Leutnant«, krächzt Schlotter in sein Kehlkopfmikrofon. »Hart nach rechts, Herr Leutnant.«
An allen Ecken und Enden kracht es jetzt. Die weißen Wölkchen, die die Granaten der Flugabwehrgeschütze bei ihrer Explosion hinterlassen, kommen immer näher an die Maschine heran. Der Professor setzt noch einmal mit zitternder Stimme einen Funkspruch an ihr Flugfeld ab, gibt die letzte Position durch, obwohl er nicht genau weiß, wo sie wirklich sind. Als er den Beschuss meldet, bekommt er vom Boden »VG.VG.VG« zurück. Viel Glück, viel Glück, viel Glück! Dann bekommt das Seitenleitwerk den ersten Splitter ab, was Ehlert sofort in massive Schwierigkeiten bringt. Die Do 217 lässt sich kaum noch steuern. Der Flugzeugführer setzt seine ganze Kraft ein. Schweiß rinnt ihm von der Stirn in seine Fliegermaske. Und dann schaltet er instinktiv die automatische Steuerung ein. Die Maschine nimmt einen pfeilgeraden Kurs ein, was der Flak das Zielen erleichtert.
Die Nacht ist ausgesprochen hell, Vollmond, klarer Himmel. Es ist 1.15 Uhr, die Zeit, die später im Kriegstagebuch der 2. Luftflotte eingetragen wird. Daneben der Satz: Funkverkehr mit »K7 + FK« reißt ab. Die Flughöhe beträgt zu diesem Zeitpunkt nur mehr 80 Meter. Das ist gut, denkt sich Ehlert, je tiefer wir sind, desto schneller sind wir über die Flakstellungen weg. Doch da hat er die Rechnung ohne die Russen gemacht. Plötzlich bekommt die Do 217 Geschützfeuer von hinten. Da die russischen Soldaten zu viel Zeit brauchen, um die tieffliegende deutsche Maschine direkt ins Visier zu bekommen, schießen sie einfach hinter Ehlert und seinen Kameraden her – und treffen. Zuerst bekommt der rechte Motor einen Volltreffer ab und beginnt sofort zu brennen. Dann ist es, als werde das ganze Flugzeug von einer gewaltigen Schrotflinte durchsiebt. Überall splittert Glas, und scharfe Metallteile segeln durch die Luft. Überall, wo Benzin ist, in den Tragflächen, in Schläuchen und Leitungen, brennt es jetzt lichterloh. Die Do 217 von Leutnant Gerhard Ehlert sieht aus wie ein Komet mit Feuerschweif.
Die Männer sitzen im Flugzeug wie Münchhausen auf seiner Kanonenkugel, die irgendwann den Zenit ihrer Flugbahn überschritten haben muss und danach unbarmherzig auf der Erde einschlagen wird. Für die russischen Kanoniere am Boden ist das ein schöner Anblick, für die deutsche Besatzung ein verzweifelter Überlebenskampf. Und als ob der ganze Feuerzauber nicht schon genug wäre, fährt den Männern in ihrem brennenden Sarg jetzt ein Schrei in die Ohren, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren lässt. Der Professor ist getroffen. Ein Granatsplitter hat ihm das Gesicht aufgerissen, die Nickelbrille aus dem Gesicht geschlagen. Blutüberströmt ringt er nach Luft. Burr lässt sein Maschinengewehr sofort sinken und klettert zum Professor nach vorne. Der schreit immer noch um sein Leben. Mehr und mehr geht das Schreien in ein Röcheln über. Als Burr endlich bei Unteroffizier Williges eintrifft, sieht er sofort, dass dem Jungen nicht mehr zu helfen ist. Das scharfe Eisenteil der Granate hat die Halsschlagader verletzt. Der Professor blutet aus einer großen Wunde, kann nicht mehr sprechen, wimmert und röchelt und starrt seinen Kameraden, den Bordschützen Willi Burr, mit dem einen Auge, das unverletzt blieb, flehend an. Hilf mir, will es sagen, das heile Auge. Und dann sieht der Professor hinter einem Schleier aus Blut und Tränen das Gesicht von Burr, der sich über ihn beugt und ihm verzweifelt ein lächerlich kleines Verbandspäckchen auf die Schlagader presst. Im Gesicht seines Kameraden erkennt der Professor, dass er verloren ist, dass er sterben wird, hier und jetzt, über dieser gottverdammten Frontlinie in diesem gottverdammten Flieger, den es bald nicht mehr geben wird.
Burr kann sich nicht verstellen, kann dem tödlich getroffenen Kameraden keinen Mut zureden, ihm keinen Blick der Hoffnung schenken, selbst das kleinste Lächeln schmerzt ihn. Er will kein Lügner sein in Williges letzten Minuten. »Vater unser, der Du bist im Himmel.«
Burr betet ins Kehlkopfmikrofon hinein, und der Professor, dem die Granate die Kopfhörer und das Mikro abgerissen hat, muss es nicht hören, er kann es von Burrs Lippen ablesen. Dann hat der Sterbende so viel Blut verloren, dass er ohnmächtig wird. Er wird den Absturz nicht mehr miterleben. Und Williges Mutter wird sie wieder hören, die klare Fuge, wie beim Tod ihres Mannes. Jetzt hat sie auch noch ihren jüngsten Sohn verloren.
Burr weint verzweifelt, und die anderen beiden in der Maschine wissen, was passiert ist, ohne dass ihnen der Bordschütze Meldung machen muss. Der Bleistift in der Glaskuppel unter dem Sitz von Beobachter Hanns Schlotter hält eine Sekunde lang inne, als wolle er salutieren.
Wären ihm der gellende Todesschrei von Bordfunker Karl-Heinz Williges aus Gifhorn, genannt Professor, und das Weinen von Feldwebel Willi Burr nicht derartig in die Knochen gefahren, Ehlert hätte in aller Ruhe versucht, den Vogel aus der Schusslinie zu bringen. Aus der Sitzposition des Piloten, ganz vorne in der Do 217, sieht er nur den rechten Motor brennen. Nicht so schlimm, denkt er. Minutenlang weiß er nicht, in welch bedrohlicher Lage sich das ganze Flugzeug und seine Besatzung befinden. Solange wir fliegen, brauchen wir uns keine Sorgen machen, redet er sich ein. Doch dann huscht sein Blick über Höhen- und Geschwindigkeitsmesser. Schlagartig wird ihm klar, dass die Maschine kurz davor ist, auf dem Boden aufzuschlagen. Bestenfalls würde es eine unkontrollierte Bauchlandung geben. Die Überlebenschancen, das weiß der junge Pilot nur zu genau, wäre für alle in der Maschine bei Null. Für eine zweimotorige Maschine wie die ihre gibt es bei Nacht und an Land keine günstige Stelle für eine Bauchlandung. Kommt ein Acker, überschlägt sich das Flugzeug mit 300 Stundenkilometern. Da bleibt kein Teil am anderen heften, denkt sich Ehlert, der sich das noch schlimmere Szenario ausmalt, dann nämlich, wenn das Flugzeug mit 300 Sachen in einen Wald oder gegen ein Gebäude kracht. Beide Absturzvarianten wird keiner überleben, ahnt der Pilot, und Panik steigt in ihm auf. Wie lange wird es noch dauern? Zehn, dreißig oder gar noch hundert Sekunden? Jedenfalls nur Sekunden.
Gerhard beginnt, sein kurzes Leben zeitrafferartig an sich vorbeiziehen zu lassen, denkt an den Vater. Immer wieder der Vater. Ihm hat er es zu verdanken, dass er Soldat wurde. Ihm hat er es zu verdanken, dass er jetzt in dieser Todesmaschine sitzt. Der Vater, Albert Ehlert, geboren im August 1894, dessen Vorfahren ihr Leben lang einen Bauernhof bewirtschaftet hatten, war schlank und groß, hatte dunkle Haare und erlernte früh in Ueckermünde bei einem »Stadtpfeifer«, bei dem er auch wohnte, die Instrumente Geige und Tenorhorn. In dieser Zeit bereitete sich das alte Europa auf seinen ersten großen Krieg vor.
Wie Millionen andere wurde Albert Ehlert nach seiner Ausbildung 1913 in Stettin Soldat. Als Kriegsfreiwilliger nahm er am Weltkrieg gleich bei Kriegsbeginn teil. Kurzzeitig war er in Russland, sonst nur in Frankreich eingesetzt. Dort erlebte er das Grauen der Schlachten an der Somme, bei Verdun, am Winterberg und bei Reims. Seine Haare wurden grau. Das sahen Frau und Söhne bei seinem kurzen Fronturlaub 1916. Doch stellten sie keine Fragen. Albert gab sich verschlossen und schwieg. Außer über eine dramatische Begebenheit, einen Melderitt, bei dem sein Pferd durch neun Schüsse tödlich getroffen wurde, er aber unverletzt blieb, hatte er seinen Söhnen aus dem Krieg nichts zu erzählen. Auch blieb seine Anteilnahme am täglichen Geschehen auf ein Mindestmaß beschränkt. Es war, als habe er das zivile Leben verlernt. Trotzdem war der Urlaub schneller vorbei, als es den Söhnen lieb gewesen wäre.
Albert Ehlert wurde nie verwundet, zumindest erzählte er nie von einer Verwundung. Aber gerade sein Schweigen über den Krieg weckte die Neugier der Söhne. Das Schweigen, das eine ganze Generation von Weltkriegssoldaten befiel, würde der Keim sein für den nächsten, den schlimmsten Weltenbrand aller Zeiten. Die Söhne wussten es nicht besser, als sie von der Nazi-Propaganda in das nächste Schlachthaus getrieben werden sollten.
All das kommt dem jungen Piloten jetzt in den Sinn. Es ist, als habe er bereits stundenlang nachgedacht, als die Maschine für eine halbe Sekunde den Boden berührt, dann wieder leicht ansteigt. Gerhard verabschiedet sich ruhig von seiner Freundin Riele. Von ihr hat er einen Talisman, einen kleinen Elefanten aus Elfenbein, den er tagaus, tagein in der Uhrentasche seiner Hose mit sich führt. Er nimmt ihn in die rechte Hand, macht eine Faust um ihn herum, wie zum Schutz, stellt sich vor, wie die Russen Mühe haben werden, die tote Faust zu öffnen. Wenn er jetzt stirbt, will er etwas von Riele in den Händen halten, wenn er dann tot ist, will er es mit hinübernehmen.
Die drei noch lebenden Männer in der waidwunden Maschine warten auf den großen Knall, einen Zusammenprall mit einem Baum, einem Haus. Jeder klammert sich an seinen Sitz. Vorne der Pilot, Gerhard Ehlert, unter ihm in der Glaskuppel der Beobachter, Oberfeldwebel Hanns Schlotter aus Frankfurt am Main. Hinter ihnen der Bordschütze, Willi Burr aus Heidenheim. Der kann den Blick vom toten Professor, dessen Leiche wie ein seltsames rotes Knäuel aus Knochen, Haut und Fliegerkombi aussieht, nicht abwenden.
Nach dem Aufprall würde es sicher dunkel sein und still, unendlich still, denkt sich Ehlert. Dann hören sie ein lautes Schaben, Krachen und Klirren. Ein Ruck geht durch die Maschine, ein schrecklicher Ruck, der ihnen den Boden wegreißt. Nein, nicht den Boden, sondern die Glaskanzel unterhalb des Piloten – dort, wo der Bleistift das Tanzen einstellt und wo Schlotter in dieser Sekunde stirbt. Zuerst reißt es dem Oberfeldwebel beide Beine ab, dann zerquetscht der vordere Teil der Kanzel den Rest des leblosen Körpers und zieht ihn mit sich nach hinten. Der zerquetschte Schlotter und die zertrümmerte Do 217, sie gehören jetzt nicht mehr zusammen. Der lange Oberfeldwebel mit den scharfen Augen und der krummen Nase fällt bei Sarny auf einer grünen, vom Raureif feuchten Wiese. Hanni Schlotter mit ihren beiden Söhnen, Fritz, drei, und Max, erst ein knappes Jahr alt, werden den Mann, den Vater, nicht mehr wiedersehen. Nie mehr wiedersehen. Eine Glaskanzel ist sein Sarg geworden, und niemand kann je ein Kreuz an seinem Grab aufstellen, weil es keines geben wird.
Um ihr Leben kämpfen derweil noch zwei andere. Der Torso der zertrümmerten Maschine gibt ihnen Schutz. Das Flugzeug, oder das, was davon noch über ist, schlittert über eine Wiese wie bei einer Schlittenpartie im bayerischen Winter. Doch den Überlebenden werden die Sekunden des Gleitens zu einer Ewigkeit des Grauens.
Und dann? Dann geschieht nichts, einfach nichts. Stille stellt sich ein. Nur das leise Knistern der Feuer ringsum ist zu hören. Die große Glaskuppel ist nicht nur unter dem Pilotensitz abgebrochen, sondern auch direkt davor. Das rettet Ehlert das Leben. Wäre sie nicht abgerissen, hätte er das Flugzeug nicht verlassen können und wäre womöglich jämmerlich verbrannt. Der Pilot kann es nicht fassen, ist wie versteinert, als die Do 217 steht. Geistesgegenwärtig klettert er nach vorne aus der Maschine heraus. Er ist völlig unverletzt. Und irgendwie ist sein erster Gedanke ein wenig dumm: Gerhard, jetzt musst du zu Fuß nach Haus gehen. Der zweite Gedanke aber ist messerscharf: Weg von hier. Weg von den beinahe leeren Tanks mit dem hochexplosivem Gasgemisch und weg von den acht Blitzbomben, die sich noch an Bord befinden und die jeden Augenblick explodieren können. Ehlert rennt um sein Leben. Nach wenigen Sekunden trifft er auf Burr, der gerade seinen Fallschirm abschnallt. Dann laufen die beiden weg von der Absturzstelle. Nach zweihundert Metern schmeißen sie sich auf den Boden. Gleich wird das ganze Ding mit einem lauten Knall in die Luft gehen. Doch wieder passiert nichts. Still und leise brennt die Maschine vor sich hin. So wagen es die beiden, um das brennende Flugzeug herumzuschleichen. Sie suchen nach Schlotter, rufen leise den Namen des Toten, der sie nicht mehr hören kann. Schlotter ist verstreut über dreihundert Meter Absturzstelle. Gut, dass die beiden das nicht wissen. Ihr Mut hätte sie vielleicht verlassen. So aber verständigen sie sich mit kurzen, knappen Worten. Sie müssen weg hier, bevor die Russen kommen. Von der Do 217 bleibt nach ein paar Minuten nur mehr Asche.