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1. 3. 24 Edward Joseph Flanagan, Father Flanagan (1886–1948)

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Biografisches

E.J. (Eddie) Flanagan wurde am 13. Juli 1886 in Irland geboren. Er wuchs auf einem einsam gelegenen Bauernhof in der Grafschaft Roscommon als achtes von insgesamt elf Geschwistern auf. Er hat seine Familie als Arbeits- und Lebensgemeinschaft mit den traditionellen Rollen von Mann und Frau, von Vater und Mutter, von geschwisterlicher Solidarität und Vorbild als harmonische Heimat und weltanschaulichen Hintergrund für Mensch und Gesellschaft verstanden und lebenslang hochgehalten. Eddie war ein schwächliches und früh auch lebensbedrohtes Kind. Aber wie die Seinen annahmen, überstand er durch ihr Gebet immer wieder seine gesundheitlichen Krisen.

Seine höhere Schulausbildung absolviert er in Sligo (IR) in einer akademisch anerkannten, jedoch von ihm selbst als individual- und jugendfeindlich erlebten Internatsschule. Sein Theologiestudium fand im Zuge der familiären Immigration in die USA zunächst in New York (1906/ 07), dann in Rom (1907) und schließlich in Innsbruck (1909-12) statt. Die Wechsel der Studienorte und die Unterbrechung der Studienzeiten standen im Zusammenhang mit verschiedenen schwerwiegenden Krankheiten. 1912 wurde E.J. Flanagan zum Priester geweiht.

Schon in Sligo, dann in New York und Rom, schließlich in der Wahlheimat Omaha (USA) verfolgt der junge Flanagan mit aktivem Einsatz und angestrengter Nachdenklichkeit das Elend von Obdachlosigkeit, Alkoholabhängigkeit und Verwahrlosung. Als junger Priester gründet er in Omaha ein Hotel für obdachlose Landarbeiter und Arbeitslose. Seine persönliche Reflexion bringt ihn zu der Erkenntnis, dass er zur „Wiederaufrichtung“ verwahrloster Jungen berufen sei. – So wird aus dem Obdachlosenhotel die weltberühmte Einrichtung „Boys Town“.

Für das Gemeinwesen seiner Jungen und ausschließlich männlichen Jugendlichen erreichte Flanagan schließlich den Status einer sich selbst verwaltenden amerikanischen Gemeinde. Seit ihrer Gründung sind aus Boys Town“ tausende junge Männer hervorgegangen, die an der Wegkreuzung zu dieser Stadt ihre Devianz gegen ein bürgerlich angepasstes Leben aufgegeben haben.

Flanagan erhält als Gründer von Boys Town, als erfolgreicher Erzieher schwieriger Jungen und als Person hohe öffentliche Anerkennung. Als Repräsentant der USA, die sich nach dem 2. Weltkrieg selbst als Vorbild für Demokratie und demokratische Erziehung verstehen, wird er nach Japan, Korea, Österreich und Deutschland entsandt.

Am 15. Mai 1948 stirbt Flanagan in Berlin an einem Herzinfarkt.

Quellen und ihre Rezensionen

Der Bekanntheitsgrad Father Flanagans in den USA und Europa ist enorm groß. Die im engeren Sinne wissenschaftliche Quellenlage ist bis ins fünfte Jahrzehnt nach seinem Tod weniger ergiebig gewesen. Anders ausgedrückt: Die hohe Anerkennung, die der Gründer von Boys Town genießt, geht vor allem auf Quellen zurück, die relativ unkritisch den irisch-amerikanischen und katholischen Erzieher als Helden, möglicherweise sogar als Heiligen darstellen. Zu nennen sind hier die 1949 von den Brüdern Fulton und Will Oursler im Auftrag von Flanagan geschriebene Biografie sowie eine auch in Deutsch erschienene Sammlung von Aufsätzen über Erziehungsthemen, die aus dem PR-Zentrum von Flanagans Boys Town stammen und von Ford Mc Coy 1951 herausgegeben wurden. Hinzu tritt der preisgekrönte Hollywood Film „Boys Town“ mit Spencer Tracy in der Hauptrolle, in dem Leben und Werk Flanagans bereits zu seinen Lebzeiten (1938) heroisierend dargestellt werden.

Auf dieser Grundlage entstanden dann auch wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Theorie, Weltanschauung und Menschenbild sowie über Prinzipien und Methoden Flanagans. Damit wurden seine Konturen deutlicher, ohne dass die Einseitigkeit der zu Grunde liegenden „hagiografischen5 “ Quellenlage eine kritische Prägnanz des Beschriebenen ermöglicht hätte. Zu nennen sind hier z. B. als Autoren deutschsprachiger Beiträge Franz PÖGGELER (1954), Konrad ECKES (1959) und Willy HANE (1987). 1996/ 97 schließlich erstellt Urs Honauer mit seiner Dissertation „Father Flanagan – Amerikas berühmter Erzieher zwischen Mythos und Realität“ eine neue Quellenlage und durch sie eine Rezension des bisher Gesehenen und Gesichteten. Honauer, der zugleich auch Journalist ist, schreibt seine Arbeit in einem erfrischend lesbaren Stil. Dass sie Flanagans Wirken voll mit den historischen Fakten und diplomatischen Intrigen, z. B. von Vatikan, Hitler-Deutschland und US-Politik und -Wirtschaft abgleicht, macht die Dissertation zusätzlich spannend. Allerdings muss einschränkend gesagt werden, dass Father Flanagan wohl selbst viele der von Honauer recherchierten historischen Verwicklungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weder durchschaut noch überhaupt gekannt haben dürfte.

Wenn auch religiös, weltanschaulich und politisch vom Strom seiner Zeit mitgetrieben, hat Flanagan doch als herausragender Sozialpädagoge unzweifelhaft Tausenden von Jungen und jungen Männern dabei geholfen, nicht in diesem Strom zu ertrinken. Seine Grundannahmen sind es wert, als theoretische Konzeption reflektiert zu werden.

Menschenbild und Erziehungskonzept

Flanagans Grundannahmen verbinden traditionelle und moderne Auffassungen, die im Großen und Ganzen, nicht jedoch in allen Punkten widerspruchsfrei sind. Die Eckpfeiler seines theoretischen Entwurfs lassen sich benennen als: Individualität, Familie, (US-) Staat und Religion.

Individualität

Als für seine eigene Zeit und auch für die heutige westlich geprägten Gesellschaften modernes Prinzip vertritt Flanagan im Kontext der reformpädagogischen Strömung den Wert des Individuums. Nach Flanagan zielen Eigenart, Eigensinn und Eigenwert jedes jungen Menschen auf die Gewinnung eines persönlichen Profils. Diesen individuellen Impuls gilt es, erziehlich zu respektieren und zu unterstützen. Wenn in diesem Sinne das Engagement des Erziehers bedingungslos erbracht wird, erfolgt die Resonanz auf Seiten des Jungen mit großer Sicherheit. Es gibt nämlich, so Flanagans unverbrüchliche Behauptung, keine schlechten Jungs: „There are no bad boys“, ist sein immerwährendes Motto.

Familie

Für Flanagan ist die Familie der genuine Ort verantwortlicher Menschwerdung. Die Gestrandeten und Verlorenen, um die er sich kümmert, erhalten von ihm persönliche, väterliche und mütterliche Zuwendung. Die Wohn- und Lebensgemeinschaften, die er einrichtet, sind zahlenmäßig überschaubar, so dass ein familiärer Umgang möglicht ist. In dieser Atmosphäre der Sympathie und Liebe wird und darf, so Flanagans Anspruch, keiner verloren gehen. Über sein Engagement bei der Gewinnung eines seiner schwierigsten Jungen, mit Name oder Pseudonym „Eddie“ wie sein eigener Rufname, schreibt Flanagan: „I am going to try spoiling the little devil – with love“ (OURSLER, F. und W. 1949, S. 66), was so viel bedeutet wie „Ich werde versuchen, den kleinen Teufel zu verwöhnen – und zwar mit Liebe“ (Übers. d. Verf.). HANE (1987, S. 16), dem sich dieses Zitat verdankt, fügt ein weiteres hinzu, dass die mehr als professionelle, nämlich familiäre Einstellung Flanagans zu seinen verwahrlosten Jungen beleuchtet: „Wir müssen einen neuen Typ von Sozialarbeitern heranbilden, die mehr mitbringen als nur professionelle Schulung: die gewillt sind, sich ungeteilt der herzerhebenden Aufgabe zu widmen, die darin besteht, den kleinen Anliegen verwahrloster Kinder Zuneigung und Sorgfalt, Verständnis und mütterliche Teilnahme …, Anteilnahme auf der Stufe des Kindes entgegen zu bringen“ (OURSLER ebd., S. 5).

Staat

Flanagan, als Einwanderer in die USA gerade zwanzigjährig, ist ein überzeugter, wenn nicht zu sagen glühender Verehrer seines neuen „Vaterlandes“. Fast mutet es wie einen Rückfall in Wertmaßstäbe an, wie sie vor Thomas Morus Utopia üblich waren: Father Flanagan ist nahezu kritiklos im Konsens mit den USA, die er als Modell für Demokratie, Freiheit und Persönlichkeitsrechte betrachtet und für deren nationale Loyalität einschließlich des geforderten Kriegsdienstes er seine Jungen gewinnen will. Der wirtschaftliche Erfolg der USA nach der Einwanderung 1904 und des kriegerischen Erfolges im Ersten Weltkrieg mögen den frommen Einwanderer von der Gotterwähltheit dieses Staates überzeugt haben. Diese Überzeugung hat er nie abgelegt. So ist es kein Wunder, dass er sich nach dem Zweiten, ebenfalls für die USA erfolgreichen Weltkrieg als Botschafter der Demokratie und demokratischer Erziehung von hohen Militärs in die besiegten Länder Japan, Korea, Österreich und Deutschland entsenden ließ.

Es läst sich unterstellen, dass Flanagan mit politischer Naivität das wirtschaftliche und militärische Intrigenspiel der Mächte – auch der USA – nicht wahrgenommen hat, zumal ihm durch seinen eigenen öffentlichkeitswirksamen Erfolg im Staatswesen der Vereinigten Staaten eine gewisse „Betriebsblindheit“ für das gemeinsame Ganze zuwuchs. Trotzdem können wir nach Honauers Quellenrecherche seine Abstinenz in staatskritischer Hinsicht nicht unerwähnt lassen.

Religion und Kirche

Mehr noch als dem Staat der USA fühlt sich Flanagan der katholischen Kirche und ihrem Oberhaupt verpflichtet. Zwar war er konfessionell tolerant und kooperativ: Zum Vorstand von Boys Town gehörten neben Katholiken Protestanten und Juden; Boys Town und die Vorläufereinrichtung waren von Beginn an ökumenisch orientiert. – Das macht Flanagan zu einem modernen „Zeitgenossen“.

Trotzdem war er der damals – wie immer noch – traditionellen, d. h. monarchischen, hierarchischen und klerikalen Doktrin der katholischen Kirche unterworfen. Als Beichtvater, Vater (Father), Lehrer glaubte er zu wissen und fordern zu müssen, dass nur in einer konfessionellen, am besten der katholischen Rückbindung das menschliche Leben gelingen könne: – Hier geraten dann sogar in einer gewissen Ambivalenz die Prinzipien von Individualität und familiär bedingungsloser Zuwendung an die Grenzen ihres Primates: „Die Kindheit ist eine Zeit der ungebundenen Phantasie. Welch eine wunderbare Gelegenheit für die Eltern, auf diese Weise in dem Kind eine Vorstellung von der religiösen Bedeutung des Universums zu erwecken! Welch eine großartige Gelegenheit, die Phantasie des Jungen gefangen zu nehmen und auf das religiöse Leben zu richten“ (MC COY 1951, 194f; zitiert nach HONAUER 1997, S. 139f.).

Trotzdem: Father Flanagan ist ein hervorragender Sozialpädagoge wie auch Sozialarbeiter. Sein Ansatz lässt sich wie bei anderen großen Erziehern aus Geschichte und Gegenwart nicht auf einen Methodenkanon reduzieren, weil erfolgreiches Erziehen immer auch die existentiellen Tiefen von Erziehenden und Zu-Erziehenden verbindet.

Flanagans Grundsätze hat er zu großen Teilen in seine Handlungsmodalitäten übersetzt. Sie lassen sich etikettieren als: Liebe, Beziehung, Freiheit, Straffreiheit6, kleine familienähnliche Gruppenarbeit, demokratische und religiöse Meinungsfreiheit7, kommunale Mitverwaltung.

In Boys Town schuf er eine Atmosphäre, in der gute Laune und Frohsinn ihren Ausdruck in Musik, Sport, Theater und Zirkusspielen fand. Zugleich erkannte er, wie bedeutend Bildung, insbesondere Berufsbildung, für die Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftliche Integration sind. So schuf er auf dem Gelände von Boys Town erfolgreiche landwirtschaftliche Einheiten, innerhalb derer die Jungen auf eigene Rechnung Ackerbau und Viehzucht betreiben konnten. Aber es gab auch eine selbst betriebene Autowerkstatt, eine Konservenfabrik, einen Frisörladen und Ähnliches.

Bahnbrechend für die westliche Welt, wenn auch als Modell wenig nachgeahmt, war die nach mehreren vergeblichen Anstrengungen gelungene Einrichtung der demokratischen Selbstverwaltung von Boys Town. Hier steht Flanagan in der Nähe zu Makarenko (1. 3. 27) mit dem ihn Konrad ECKES (1959) in seiner Dissertation hermeneutisch verglich.

Als Summary von Flanagans Leben fasst das Denkmal auf dem Boden des auch heute fortbestehenden Boys Town zusammen:

„Father Flanagan – Founder of Boys Town

Lover of Christ and Man

July 13, 1986 – May 15, 1948“

Handbuch Sozialpädagogik

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