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Zweites Kapitel
Der Besuch in Wien

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So nahm denn am 11. August die eigentliche Belagerung der Stadt ihren Anfang, und weil ich in der Vorstadt an der Oberstadt wohnte, so mußte ich meine Wohnung gleich den Feinden überlassen, und mich auf die andere Seite in die Wasserstadt flüchten, wo ich in dem Hause meiner Freundin Guly freundliche Aufnahme fand. Das war eine Zeit großer Angst und Furcht, in welcher eine Schreckensbotschaft die andere ablöste, die Tage ohne Ruhe und die Nächte ohne Schlaf dahingiengen, und jeder Lebende nur Einen Nachbar hatte, nämlich den Tod. O hätte ich damals recht beten können, wie viel leichter wäre mir das Alles zu tragen gewesen! In den sechs und zwanzig Tagen der Belagerung wuchs die Noth und Beängstigung von Tag zu Tage mehr. Alle Nachrichten von den täglichen Fortschritten der Feinde überzeugten uns, daß nichts Anderes als die Einnahme der Stadt zu erwarten sei. Endlich am 6. September wurde, ungeachtet der verzweifelten Gegenwehr von türkischer Seite, durch die unglaubliche Tapferkeit der Christen die Stadt und Festung mit stürmender Hand erobert, und in der ersten Hitze Alles niedergemacht. Da die Wasserstadt, wo wir wohnten, am weitesten von dem Anlauf entfernt war, so mußten wir auch länger in der Todesangst schweben. Immer näher wälzte sich das brüllende Geschrei der Sieger und das jammernde Wehklagen der Mißhandelten und Sterbenden; ich hatte mich darauf gefaßt gemacht zu sterben, und es war noch mein einziger Wunsch, nur nicht den Barbaren als Sklavin in die Hände zu fallen. Aber was ich auf’s Aeußerste fürchtete, gerade das widerfuhr mir. Ein vornehmer Offizier nahm mich gefangen, ergriff mich bei der Hand, und riß mich in größter Eile mit sich fort. So gieng’s denn durch das Gedränge von Menschen und Pferden, über Todte und Verwundete hinüber, durch Bäche von Blut, unter herzzerreißendem Geschrei von allen Seiten, der Sklaverei zu, vor der mir’s tausendmal mehr schauderte, als vor dem Tode. Welche Bestürzung, welches Entsetzen mich damals ergriffen hatte, kann man sich denken. Etlichemal suchte ich, wenn wir in’s Gedränge kamen, mich loszureißen, und wollte lieber von den Pferden zertreten werden, als eine Gefangene der Christen sein. Aber ich wurde fest bei der Hand gehalten, und mußte folgen, wohin ich nicht wollte, bis ich, von fremdem Blut fast ganz überzogen, endlich mit großer Mühe in’s feindliche Lager gebracht war.

So mußte ich denn Sklavin sein unter einem Volke, das ich aufs Aeußerste verabscheute, nicht blos, weil mir von Kindheit an ein Haß gegen die christliche Religion eingepflanzt war, sondern auch, weil ich sehen, hören und erfahren mußte, wie diejenigen, die sich rühmten, Christen zu sein, eben so arg und noch ärger als die Türken lebten, und sich mit den gräulichsten Lastern befleckten. Das konnte dann freilich bei mir und andern Türken keinen andern Eindruck machen, als daß ihre Religion ganz falsch, und sie ferne sein müssen von der Furcht des wahren Gottes. Nachher erst lernte ich auch Christen von einer besseren Beschaffenheit kennen, die mich anders denken lehrten.

Indessen war bei mir keine Wahl; ich mußte folgen, wohin mich der, den mir Gott zum Herrn und Gebieter gegeben hatte, haben wollte. Als nun der Kurfürst von Baiern nach der Eroberung Belgrads so schnell zurückeilte, daß er schon den 4. Oktober in seiner Residenz zu München ankam, so mußten ihm auch seine christlichen Truppen schleunigst folgen, und so wurde auch ich noch denselben Herbst von meinem Gebieter, dem bairischen Obristlieutenant Burget, durch Ungarn und Oestreich nach Baiern geführt, und in die Stadt Landshut gebracht. Unterwegs machte mein Herr einen Besuch bei seinem Bruder in Wien, der östreichischen Hauptstadt, welche die Türken Beks nennen. Dieser war ein kaiserlicher Hofrath und wohnte in der Annagasse, nicht weit vom Kärnthner Thor. Mein Herr durfte nur drei Tage in Wien bleiben, was ihm sehr ärgerlich war, und mir wo möglich noch mehr. Denn hier lernte ich zum ersten Mal einen Christen kennen, der diesen Namen verdiente. Es war ein alter Legationsrath, der im Hause des Hofraths wohnte, und schon mehrfach als Gesandtschafts-Sekretär gedient hatte. Er kam jedesmal zum Essen, und ich verstand so viel Deutsch, um aus seinen Erzählungen zu merken, daß in ihm ein frommes Gemüth sei, das für alle Erfahrungen, die er in seinem Leben gemacht, Gott die Ehre gab, und Ihm für Seine Güte dankte. Das war mir etwas ganz Neues und Seltsames, und ich war sehr aufmerksam, um kein Wort zu verlieren, das dieser gute alte Mann sagte. Einmal bei Gelegenheit einer Nachricht, daß an mehreren Orten auf der türkischen Grenze die Pest ausgebrochen sei, theilte er seine eigenen Erfahrungen mit, die in uns Allen einen tiefen Eindruck von der schrecklichen Gewalt dieser Krankheit zurückließen. Ich will es mit seinen Worten wieder erzählen:

„Als ich,“ sagte er, „vor drei und zwanzig Jahren Gesandschafts-Sekretär in London war, brach dort die große Pest aus, die vielen tausend Menschen das Leben kostete. Diese Krankheit machte nicht viele Umstände: in der kürzesten Zeit raffte sie die vorher gesundesten Menschen hinweg. Manchmal fiel ein Mann oder eine Frau mitten auf dem Marktplatz todt darnieder: denn viele Leute, welche die Pest hatten, wußten nichts davon, bis ihre Lebensgeister angegriffen wurden und sie in wenig Augenblicken starben. Häufig fielen Leute auf diese Weise auf den Straßen ohne irgend ein Vorzeichen plötzlich um, und waren auf der Stelle todt. Andere hatten etwa noch Zeit, bis zur nächsten Bude oder Thorhalle zu gehen, und setzten sich nieder und starben. Diese Vorfälle waren auf den Straßen so häufig, daß man kaum Jemand wandeln sah, wohl aber hie und da einen Leichnam auf dem Boden liegen. Im Anfang standen die Vorübergehenden still, wenn sie so einen Todten antrafen, und riefen den Nachbarsleuten zu, sie sollten herbeikommen; aber nachher, als die Fälle so häufig wurden, und die Angst eines Jeden für sein eigenes Leben immer größer, nahm man gar keine Notiz mehr davon. Fand Jemand unterwegs einen Leichnam liegen, so gieng er quer über den Weg, um ihm auszuweichen; und war es in einer engen Gasse, so kehrte er um und machte einen andern Weg. Da blieben denn die Leichname so liegen, bis die Polizei Nachricht hatte und sie wegschaffen ließ, oder bis in die Nacht, wo sie der Todtenkarren, der durch die ganze Stadt fuhr, auflud.“

„Auf meinen Wanderungen mußte ich manchen traurigen Auftritt mit ansehen von Leuten, welche in den Straßen todt niederfielen, oder das furchtbare Angstgeschrei der Frauen anhören, welche im Todeskampf noch die Fenster öffneten, und auf eine erschreckliche Weise herausschrieen. Eines Tages, als ich durch Tokenhouse Yard gieng, wurde plötzlich gerade über mir ein Fensterflügel heftig aufgerissen, und eine Frau stieß drei furchtbare Schreie aus, und rief: O Tod! Tod! Tod! in einem schreckenerregenden Tone, der mir das Blut gerinnen machte. Es war Niemand auf der Straße zu sehen, öffnete auch Niemand ein Fenster: denn die Leute hatten alle Neugierde verloren. In Whitechapel kannte ich eine Familie von zehn Personen: sie waren alle anscheinend wohl am Montag; am Samstag Nachmittag waren alle todt, und das Haus stand leer.“

„Ein sonderbarer Vorfall begegnete nur eines Abends, als ich über City Road gieng. Es war schon halb Abenddämmerung, und ein dichter Nebel, der kaum zehn Schritte weit sehen ließ. Ich hatte mich verspätet, und eilte, um noch bei Tage meine Wohnung zu erreichen, ohne Jemand zu berühren. Niemand begegnete mir. Niemand zeigte sich auf der Straße. Auf einmal sah ich vor mir eine Gestalt, die sich bewegte, und blieb stehen. Bei genauerer Betrachtung fand ich, daß es ein Mensch war, der sich bemühte, einen andern zu Boden gefallenen, und also wahrscheinlich todten Menschen aufzurichten. Ich rief ihm zu: „„Freund! bedenket Ihr auch, was Ihr thut? Ihr rühret einen Menschen an, der ohne Zweifel an der Pest gestorben ist, und müßt doch wissen, daß eine solche Berührung das Leben kostet!““ – Der Mann richtete sich langsam auf, und entgegnete mit einer hohlen Stimme: „„Kamerad! für mich darfst du keine Sorge haben; ich bin schon einmal an der Pest gestorben, mir thut sie nichts mehr; aber den da hat sie scharf gepackt.““ – Die Stimme klang so tief herauf, ihr Inhalt war so sonderbar, Alles umher so still, alle Umstände waren so aufregend, und die Gestalt stand im Nebel so feierlich da, daß es mir zu verzeihen gewesen wäre, wenn ich wirklich geglaubt hätte, einen Geist aus der andern Welt zu hören; aber indem ich überlegte, was ich aus der Sache machen sollte, fiel die lange Gestalt mit einem Schrei zu Boden, und war auch todt. Nachher hörte ich, daß es ein Wahnsinniger gewesen, der durch die Abwesenheit seines Wächters, welcher etwas holen wollte, Gelegenheit gefunden hatte, sich los zu machen und auf die Straße zu gehen. Da traf er denn seinen Wächter an, den die Pest unterwegs ergriffen und getödtet.“

Setma, das türkische Mädchen

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