Читать книгу Ein Koffer voller Tränen - Christiane Schünemann - Страница 3

Rostock-München-Meer

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Sie war spät dran. Zu spät? Mit Stau auf der Autobahn von Rostock nach Warnemünde hatte sie nicht gerechnet, aber es waren immer noch Urlauber da.

In zehn Minuten würde die Motoryacht Rugard am Neuen Strom ablegen.

Sie hatte überlegt, ob sie überhaupt an dieser Fahrt teilnehmen sollte.

Sie hatte den letzten von zwölf Plätzen bekommen. Ihre Söhne Hannes und Jost wären sowieso nicht mitgefahren, auch wenn es noch freie Plätze gegeben hätte.

Ihre Wimpern hatte sie heute nicht getuscht, obgleich sie glaubte, nicht weinen zu müssen.

Auf dem Parkplatz neben dem Bahnhof fand sie einen freien Platz. Sie raffte den schwarzen Mantel und die Handtasche aus dem Auto und rannte durch den Bahnhofstunnel zum Neuen Strom.

Die Rugard war noch fest, aber ein Matrose war schon dabei, die Gangway an Land zu ziehen. Er hielt inne, als er sie kommen sah, und half ihr an Bord.

Die drei Reihen auf dem Deck waren besetzt.

Sie nickte den Fremden zu, die alle schwarz gekleidet waren.

Es gab nur noch einen freien Platz: mittschiffs, mit der Stuhllehne zur Reling. Sie sank keuchend auf den Stuhl, es stach in ihren Seiten.

Ihr gegenüber saß eine junge Frau, die sie unverhohlen musterte.

Das war sie also: die Witwe! Gut sah sie aus! Ihr langes blondes Haar hatte sie locker hochgesteckt. Die Witwe und sie taxierten einander wie Boxerinnen vor dem Kampf.

Der Kapitän in blauer Uniform trat aus der Kajüte und begrüßte die Anwesenden mit gesenkter Stimme. Er erklärte den Ablauf der Fahrt und der Zeremonie. Ungefähr fünfundzwanzig Minuten würde es dauern, bis die Rugard die Position erreicht hätte. Es war Windstärke vier, in Böen fünf. Der Steuermann würde versuchen, das Schiff trotz Wellengangs auf der Position zu halten. Wem es während der Fahrt zu kalt oder zu nass sei, könne in die Kajüte hinter ihm gehen. Darin waren zwei Lederbänke und ein Tisch. An einem Rahmen hing ein kleiner Holzkasten, darin steckten Kotztüten.

Es war kühl, obwohl es erst Mitte September war.

Die Sonne schien, aber erste Wolken zogen auf.

Sie zog ihren Mantel an. Den Mantel hatte sie längst in die Kleidersammlung geben wollen, aber sie war in einem Alter, in dem man immer öfter einen schwarzen Mantel brauchte.

Die Rugard legte ab und fuhr durch den Neuen Strom.

Von Land aus betrachtet sahen die zwölf schwarzen Gestalten an Bord vermutlich aus, als sei eine Schar Krähen auf das Deck geknallt.

Erst jetzt bemerkte sie die blaue Urne neben der Kajüte, die in einem dunklen Holzkasten verankert war. Sie war mit roten Rosen geschmückt. Ein kleines Licht in einer Petroleumlampe flackerte daneben, auch die Lampe war in dem Kasten verankert. Über der Urne hing ein Foto von Gregor, mit einem Trauerflor.

Gregor! Vor zehn Jahren hatte sie ihn das letzte Mal gesehen, dennoch war er ihr seltsam vertraut. Seine graublauen Augen, die an der Kamera vorbei in die Ferne blickten. Der Dreitagebart. Die schmale Oberlippe. Die Falten auf der Stirn und um die Augen herum. Die krumme Nase. In seiner Kindheit hatte ein Spielkamerad ihm mit einer Schaufel die Nase gebrochen, die dann krumm zusammengewachsen war. Mit dieser Nase hatte er verwegen ausgesehen. Die buschigen Augenbrauen und das kurz geschnittene Haar mussten braun gefärbt sein, in seinem Alter hätte auch er längst grau meliert gewesen sein müssen.

Sie fühlte sich beobachtet und blickte zur Witwe. Die sah sie mit spöttischen Augen an. Wie hatte Gregor nur eine so junge Frau erobern können?

Sie verschränkte die Arme schützend vor ihrem Bauch und sah zu den anderen Krähen.

In der ersten Reihe schmiegte sich ein kleines Mädchen mit langen blonden Haaren an eine Frau ihres Alters. Wohl die Mutter der Witwe. Neben ihr saß ein Junge, der sich an einen älteren Mann klammerte. Wohl der Vater der Witwe. Der Junge hatte graublaue Augen und eine schmale Oberlippe. Auch die beiden Kinder trugen schwarze Mäntel.

Als sie über die Molenköpfe hinaus gefahren waren, wurde die See rauer, sodass sich die Krähenschar an den auf Deck angeschraubten Metallstühlen festhalten musste. Die Gischt spritzte über die Reling, jemand kreischte. Und spätestens jetzt wäre Gregor seekrank geworden! Warum nur hatte sich die Witwe für eine Seebestattung entschieden? Das Wasser war nie sein Element gewesen. Beim Baden war er mit Hannes und Jost immer nur ins flache Wasser gegangen. Gregor hatte Panikattacken bekommen, wenn er den Grund nicht mehr sehen konnte.

Die Rugard fuhr langsamer. In der Ferne konnte sie den Strand von Markgrafenheide erkennen. Möwen schrien. Über die Lautsprecher wurde Musik von Karat eingespielt. Herbert Dreilich – auch schon im Himmel – sang: »Wenn ein Schwan stirbt, schweigen die Tiere.«

Als die Musik verklungen war, verneigte sich der Kapitän vor der Urne. Er trug nun weiße Handschuhe und stand breitbeinig auf dem wankenden Deck. Er blätterte in einer schwarzen Mappe und begann zu reden, doch seine Worte drangen nur wie durch Nebel zu ihr. »Vier Kinder aus zwei Ehen ... Möge jeder nachdenken, was ihm der Tote bedeutet hatte ... Der Tod gleicht dem Horizont. Wir können nur erahnen, was sich hinter dem Horizont verbirgt.«

Der Kapitän klappte die Mappe zu und bat die Trauergemeinde, auf die Steuerbordseite zu gehen.

Niemand erhob sich.

»Auf die rechte Seite bitte!«

Sie ließ die anderen vor, ging dann zum Bug, etwas abseits, und hielt sich an der Reling fest.

Die Witwe und der Kapitän mit der Urne kamen zuletzt und stellten sich mittschiffs.

In der Sonne leuchtete das Meer smaragdgrün. Blau war es nur, wenn man das Meer von weitem betrachtete. Über Kühlungsborn hing ein dunkelgrauer Schleier, dort regnete es bereits.

Die Reling presste sich im Rhythmus der Wellen an ihren Bauch, das Wasser klatschte gegen die Bordwand.

Der Kapitän ließ die Urne an einem Tampen ins Meer gleiten. Die Urne versank sofort, es musste noch etwas Schwereres als seine Asche darin sein.

Die Witwe schluchzte laut, die anderen weinten. Sie ließen Blumen und Blütenblätter auf das Meer fallen, die auf den Wellen davontrieben.

Sie ließ keine Blumen und Blütenblätter fallen, und sie weinte auch nicht. Sie hatte geweint, als Gregor, der lange arbeitslos gewesen war, endlich einen Job bei BMW in München bekommen hatte. Er war an den Wochenenden immer seltener nach Hause gekommen. Bis er eines Tages angerufen hatte, dass er gar nicht mehr käme, denn er hätte die Liebe seines Lebens gefunden. Ob sie ihm je vergeben könne, dass er sie mit Hannes und Jost allein gelassen hatte?

Sie öffnete die Handtasche, zog den Ehering heraus und ließ ihn ins Wasser fallen. Es war ihr egal, ob es jemand bemerkte.

Die Schiffsglocke schlug acht Glasen.

Die Rugard fuhr eine langsame Ehrenrunde um die Stelle, an der die Urne versunken war. Louis Armstrong sang »What a wonderful world«.

Sie spürte die Gänsehaut an den Armen und Beinen. Das war ihr Lied gewesen! Dazu tanzend hatten sie sich das erste Mal geküsst. Die Tränen liefen über ihre Wangen, obwohl sie sich heftig gegen die Tränen wehrte.

Das Schiffshorn tönte dreimal.

Dann fuhr die Rugard zügig nach Warnemünde zurück.

Sie schwankte wie die anderen auch zu ihrem Platz zurück.

Die Witwe ließ sich erschöpft auf den Stuhl fallen. Der Wind hatte ihre Frisur zerzaust, ihre roten Augen starrten in ein Nichts. Niemand sprach.

Die Mutter der Witwe hielt das Mädchen im Arm, und der Vater der Witwe den Jungen. Die Kinder haben den Vater in einem Alter verloren, in dem auch Hannes und Jost ihn verloren hatten.

Das Schweigen dauerte. Dann hörte sie leise Stimmen, die lauter wurden, vorwiegend in bayrischem Dialekt.

Jemand lachte.

Blaue Wolken drängten sich vor die Sonne. Dunkelblaue Wolken! »Die dunkelblauen Wolken, die tun dir nichts«, hatte ihr Großvater, der alte Fischer, gesagt als sie noch ein Kind gewesen war. »Aber bei grauen Wolken sieh zu, dass du ein Dach über dem Kopf hast!«

Nachdem die Rugard am Neuen Strom festgemacht hatte, legte ein Matrose die Gangway aus.

Sie ging als Erste von Bord. Der Kapitän half ihr dabei und verabschiedete sie. Sie wusste nicht, ob sie noch warten oder gehen sollte. Worauf denn sollte sie warten?

»So eine Seebestattung ist ja ergreifend. War Gregor denn irgendwie mit der See verbunden gewesen?«, fragte ein Mann.

»Aber ja doch! Gregor hat mir oft von seiner Zeit als Kampfschwimmer bei der Nationalen Volksarmee erzählt und wie ihm bei einem Einsatz die Nase gebrochen worden war«, sagte die Witwe.

Ihr war, als würde eine Krähe das Herz aus ihrer Brust rupfen.

»Er war doch Kampfschwimmer bei der NVA?« Die Witwe und die anderen sahen sie erwartungsvoll an.

Sie schwieg.

Da war er also, dieser Moment, auf den sie immer gewartet hatte. Der Moment, um für alle Kränkungen entschädigt zu werden. In ihrer Vorstellung war dieser Moment immer größer gewesen.

»Aber er war doch Kampfschwimmer bei der NVA!« Die Stimme der Witwe überschlug sich.

»Ja«, sagte sie leise. »Er war Kampfschwimmer bei der NVA.« Dann drehte sie sich um und ging eilig zum Bahnhofstunnel.

Der Himmel war schon schiefergrau. Ob sie es noch schaffen würde, trocken bis zum Auto zu kommen?

Ein Koffer voller Tränen

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