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Neuschnee

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Es schneite aus einem steingrauen Himmel und es war, als schneite es Stille. Natalie schlenderte durch den Lindenpark. Der Park war früher ein Friedhof gewesen. Nach einer Ruhefrist war er entwidmet und umgestaltet worden.

Einige Grabsteine standen noch. Moos wuchs auf den verwitterten Steinen. Waren die Gebeine derer, deren Namen man nur mühsam lesen konnte, noch unter den Steinen begraben? Begraben an diesem Ort vergangener Trauer? Begraben an diesem Ort des Verschwindens?

Sie setzte die Kapuze ihres Lammfellmantels auf. Einige Schneeflocken schmolzen dennoch auf ihrem Gesicht, sie mochte das. »Snow is falling, snow is falling on the ground, in the forest, in the forest, there’s no sound; a shallow grave is where we lie«, sang sie leise im Gehen. Der Schnee knirschte, wenn die derben Sohlen ihrer Stiefel den Schnee stempelten. Sie erinnerte sich an das Schneehaus ihrer Kindheit. Ihr Vater hatte es mit ihr gebaut, damals im Schneekatastrophenwinter 1979. Das Haus war fortgetaut, und der Vater war fortgegangen, vor dreißig Jahren schon. Der Vater, der immer zu viel von dem würzig herben Aftershave benutzt hatte, das seine Westtante geschickt hatte.

Als der Vater fort war und mit ihm der würzig herbe Geruch, hatte ihre Mutter seinen Küchenstuhl genommen und in den Keller hinunter getragen. Als sie wieder gekommen war, hatte sie nur gesagt: »Jetzt sind wir nicht mehr drei Stühle, jetzt sind wir nur noch zwei Stühle.«

Ihr war, als stiege der Geruch wieder in die Nase, der Geruch von Tabac Original.

Ein vermummter Läufer trabte an ihr vorbei.

Ein schwarzer Vogel flatterte zwischen den dunklen Bäumen dahin, die Bäume sahen aus wie gemalt.

Vor einem riesigen Grabstein blieb sie stehen. In den Stein war die Skulptur einer Frau mit fließendem Gewand eingelassen, so als lehnte sie sich seitlich mit traurig geneigtem Kopf an den Stein. Sie hatte nur noch Armstümpfe, die Stümpfe sahen aus, als hätte jemand die Hände mit dem Schwert abgetrennt. Natalie holte das Skizzenbuch und einen Bleistift aus der Umhängetasche und zeichnete die Frau ohne Hände. Schrieben andere Menschen Tagebuch, so versuchte sie, die Welt malend zu verstehen. Schneeflocken fielen auf das Papier. Auf einmal hörte sie eine Stimme. Der Klang war tief, klagend. Sie legte den Stift in das Buch und ging, das Buch vor der Brust haltend, der Stimme nach.

Verborgen hinter dicht stehenden Eiben sah sie einen bärtigen Mann mit geschlossenen Augen auf einem gefallenen Baumstamm sitzen. Er war in einen grauen Lodenmantel gehüllt und trug eine graue Pelzmütze. Am Stamm lehnte ein grauer Lederrucksack. Seine Mütze und seine Schultern waren mit Schnee bedeckt, der Baumstamm und der Rucksack auch. »Ele ... wir sehen uns in der JoJo-Bar!« Seine Stimme klang warm.

Natalie näherte sich dem Mann. Die Schneekristalle brachen laut unter den Sohlen.

Erschrocken öffnete der Mann die Augen. Durch die Bewegung fiel Schnee von ihm herab. Er sagte nichts, sah sie nur traurig an.

Sie musterte ihn. Er war älter als sie, wie alt, das war schwer zu sagen.

»Was wollen Sie?« Seine Stimme war dunkel, rauchig.

Gern hätte sie ihn nach dieser Bar gefragt. Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Nichts will ich.« Mit dem Buch in der Hand hielt er sie womöglich für eine städtische Beamtin. Deshalb verschränkte sie die Hände hinterm Rücken.

»Warum gehen Sie nicht, wenn Sie nichts wollen?«

Natalie sah das dunkel umrandete, ausgefranste Loch in dem Mantel, über der Brust. »Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht stören.« Sie ging, bog an der nächsten Wegkreuzung ab. Als sie sich weit genug entfernt wähnte, blieb sie stehen. Sie zeichnete neben die Frau ohne Hände einen bärtigen Mann mit Mütze und durchlöchertem Mantel auf einem Baumstamm sitzend, einen Rucksack, Eiben im Hintergrund. Unter die Zeichnung schrieb sie: Wir sehen uns in der JoJo-Bar. Flocken fielen auf die Frau ohne Hände und den Mann auf dem Baumstamm.

Ein Hund bellte.

Sie drehte sich um. Angesichts der Dogge vergaß ihr Herz zu schlagen.

Die Dogge bellte abermals.

»Elvis tut nix, sonst wäre er ja angeleint«, hörte sie eine Frauenstimme rufen.

Wie sie das hasste!

Die Frau schlurfte heran mit einer Kippe im Mundwinkel. Ihr schwarzer Mantel war mit Silberketten und Sicherheitsnadeln dekoriert. Darunter trug sie einen wallenden schwarzen Rock, der bis zu den klobigen schwarzen Schuhen reichte. Die Augen und der Mund waren schwarz geschminkt. Schwarz! Das Schweigen vor dem Tod!

Die Schwarze sog an der Kippe und blies Natalie grinsend den Rauch ins Gesicht. »Komm Elvis!« Sie schlurfte weiter, und Elvis-tut-nix trottete ihr hinterher. Sie war die perfekte Bewerberin für einen Job in der Geisterbahn.

Natalies Herz schlug weiter. Sie zeichnete die Schwarze und Elvis-tut-nix ins Skizzenbuch. Ob die Schwarze wusste, wer Elvis gewesen war? Sie packte das Buch und den Stift ein. Dann blickte sie auf die Armbanduhr. Falls Walther direkt von der Praxis nach Hause gefahren war, wartete er schon auf sie. Falls! Sie hatte es dennoch nicht eilig. Außerdem musste sie noch Brot kaufen, Äpfel auch.

»Love me tender, love me sweet, never let me go«, sang sie leise.

Es hörte auf zu schneien.

Die Frau im Eismantel

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