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John Irving. Und wie er schreibt

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Vertraute Themen

Eine Regel beim Schreiben lautet: »Schreib über das, was du kennst!« Das ist womöglich der Grund dafür, dass Schriftsteller Figuren erschaffen, die Schriftsteller sind. Sie spiegeln in diesen Figuren ihre eigene Arbeitsweise. Auch John Irving hat eine solche Figur geschaffen. In seinem Roman Letzte Nacht in Twisted River ist die Hauptfigur Daniel Baciagalupo ein Schriftsteller, der unter dem Pseudonym Danny Angel veröffentlicht, und der auch manchmal nur der Schriftsteller genannt wird. Danny Angel scheint mir ein Selbstporträt Irvings zu sein, denn er ähnelt ihm allein schon äußerlich: ein Meter siebzig, sechsundsechzig Kilo, schlank.

John Irving alias Danny Angel lässt uns ein in sein Schreibzimmer. Er offenbart uns seine Themen, seine Arbeitsweise und seine Verarbeitung politischer Ereignisse. Er beantwortet die allgegenwärtige Frage nach Fiktion und Wirklichkeit. Und er berichtet über seine Schwierigkeiten, den rechten ersten und letzten Satz zu finden.

Jeder Schriftsteller hat bestimmte Themen, die er immer wieder in seinen Werken umkreist. Für John Irving ist es zum einen die Kindheit, die jedes Erwachsenenleben nachhaltig geprägt hat, und zum anderen die ständige Sorge um die Menschen, die er liebt. Die Unfälle, die er mitunter seine Figuren erfahren lässt, fürchtet er im Leben für seine Lieben am meisten. Von diesen beiden Themen ist er regelrecht besessen.

Über politische Ereignisse, zum Beispiel den 11. September, kann John Irving nicht gleich schreiben. Solche Ereignisse muss er zuerst verarbeiten. Das dauert einige Zeit. Dann schreibt er nicht über diese Ereignisse, sondern bettet sie ein in seine fiktiven Geschichten.

Die am häufigsten gestellte Frage an einen Schriftsteller ist gewiss die nach dem autobiografischen Anteil in seinen Geschichten. John Irving bedauert, dass die Leute in den Medien eher an der Wirklichkeit als an der Fiktion interessiert sind. Er lässt Danny Angel dazu Folgendes sagen: »Geschichten aus dem wahren Leben waren nie so vollständig, so in sich geschlossen, wie es Romane sein konnten.«

Erste und letzte Sätze

John Irving ist der einzige Schriftsteller, von dem ich las, dass er seine Romane von hinten nach vorn komponiert, um sie dann von vorn nach hinten zu schreiben. Das bedeutet jedoch nicht, dass er auch der einzige ist. Im »Spiegel-Gespräch« mit Klaus Brinkbäumer (Heft 20/2010) erklärt er, warum er so arbeitet: »Weil ich das Ende brauche, um anfangen zu können. Wenn du es kristallklar vor dir siehst, wenn du den Standpunkt und den Ton des Endes hast, dann geht es dir wie mit dem Refrain eines guten Songs: Du bewegst dich darauf zu, du weißt, dass der Refrain kommt, und dieses Wissen gibt dir Selbstvertrauen.«

Die Idee für Letzte Nacht in Twisted River hatte John Irving viele Jahre mit sich herumgetragen.

In der Schriftstellerei geht es nicht um Tage und Wochen, sondern um Monate und Jahre. Manchmal auch um ein Leben.

Er konnte nicht anfangen, weil er das Ende nicht kannte und keinen letzten Satz hatte. Als er eines Tages zum Arzt fahren musste, weil er sich einen Finger verdreht hatte, hörte er im Autoradio den Song Tangled Up In Blue von Bob Dylan. Er wusste zwar, dass dieser Song das Motto seiner Geschichte war, dachte aber an nichts und hörte einfach nur zu. Plötzlich fielen ihm das Ende der Geschichte sowie der letzte Satz zu. In die Arzt-Praxis rennend, schnappte er sich dort den Rezeptblock, um schleunigst den letzten Satz zu notieren, der übrigens wie im amerikanischen Original den Titel des Romans beinhaltet. Dieser Satz würde sich nun nicht mehr ändern. »Letzte Sätze sind Fundamente, die ändern sich nicht.«

Der letzte Satz geht dann schon einher mit ziemlich genauen Vorstellungen vom Handlungsverlauf der Geschichte. Langsam entwickelt er nun die komplette Geschichte vom Ende bis zum Anfang. Das kann zwei oder mehr Jahre dauern. Der Anfang einer Geschichte ist dann nicht unbedingt der Anfang einer Handlung. John Irving lässt seine Geschichten gern »in medias res« beginnen. Diese lateinische Phrase bedeutet »mitten in die Dinge«.

Das Finden des ersten Satzes gestaltet sich für ihn oft genauso mühselig wie das Ringen um den letzten Satz. Und genau wie den letzten Satz bekommt der Schriftsteller auch den ersten Satz in einem Moment geschenkt, in dem er gerade nicht an das Schreiben denkt! »In diesem Moment, ohne dass er auch nur daran dachte – vielmehr hatte Daniel Baciagalupo gerade die Hand ausgestreckt, um Hero hinter dessen gutem Ohr zu kraulen –, fiel ihm der erste Satz zu. Der Schriftsteller merkte, wie er sich in sein Sichtfeld schob, als tauchte er aus den Tiefen des Wassers auf ...«

Nachdem er den ersten Satz gefunden hatte, stellte Daniel Baciagalupo seufzend fest, dass er nun wieder anfangen musste. Dann schreibt John Irvings anderes Ich das Manuskript von vorn nach hinten. Aus seiner Sicht ist es ein Zurück, denn er schreibt zu dem Satz hin, mit dem er einst begonnen hat.

Ausdauer

John Irving ist ein begeisterter Sportler, der früher aktiv gerungen hat. Mit Bewegung gleicht er die vielen am Schreibtisch verbrachten Stunden aus. Er läuft wie etliche andere Schriftsteller, weil es den Kopf frei macht und die Schöpferkraft stärkt.

Da die Muse erfahrungsgemäß immer dann erscheint, wenn man sie nicht ruft, hat er auch seinen Fitnessraum mit Klemmbrettern, Papier und diversen Stiften ausgestattet. Der Fitnessraum war früher sein Schreibzimmer gewesen. An den Fenstern hängen keine Gardinen, da der Schriftsteller »mit zunehmendem Alter immer häufiger nur noch bei Tageslicht schrieb.«

In einer längeren Passage preist John Irving das Überarbeiten. Er erzählt von einem gewissen Roland Drake, der Student in einem von Danny Angels Schreibseminaren war. Dieser Roland Drake hatte Fantasie, ja, war aber nicht bereit, seine »hingeschluderten Rohfassungen« zu überarbeiten. »›Ich steh auf Schreiben, nicht auf Überarbeiten‹, hatte Drake Danny gesagt. ›Mir gefällt nur das Kreative daran.‹ ›Aber Überarbeiten ist Schreiben‹, hatte Danny dem jungen Mann entgegnet. ›Manchmal ist die Überarbeitung das Kreativste daran.‹«

Irving hat Schreibseminare gegeben. Und es scheint mir, dass eine reale Person das Vorbild für diese Figur war.

In seinem Essay Charles Dickens – der König des Romans. Eine Einführung in Große Erwartungen‹ (in Rettungsversuch für Piggy Sneed) schreibt John Irving: »Große Erwartungen war der erste Roman, von dem ich wünschte, ich hätte ihn geschrieben. Dieser Roman ist schuld daran, daß ich Schriftsteller werden wollte oder vielmehr: daß ich Leser so bewegen wollte, wie dieses Buch mich bewegt hat.«

Vierzehn Romane hat der mittlerweile Fünfundsiebzigjährige neben anderen Büchern geschrieben. Ein so umfangreiches Werk konnte nur durch Beständigkeit gedeihen. Mit seiner Beständigkeit spornt John Irving mich an. Und deshalb überlasse ich ihm gern den letzten Satz: »Danny schrieb täglich bis zum frühen Nachmittag; die wenigen verbleibenden Stunden Tageslicht wollte er für seine Hausarbeiten nutzen.«

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Die Zitate stammen aus den Ausgaben:

John Irving:

Letzte Nacht in Twisted River, Diogenes Verlag 2010

Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog

Rettungsversuch für Piggy Sneed, Diogenes Verlag 1995

Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren

Schreiben.

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