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Miyaca

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Der Nebel war ganz plötzlich aufgekommen. Max sah nur noch eine weiße, leicht vor sich hin wabernde Masse, die klamm und feucht ihre Finger nach ihm ausstreckte. Die Hände vor sich haltend, tastete der junge Mann sich Schritt für Schritt orientierungslos vorwärts. Wo war der Weg? Eben noch hatte er ihn sehen können, hatte das Knirschen von Kies unter seinen Füßen gehört, doch jetzt war seine Umgebung vollkommen stumm und weiß. Max ging weiter, langsam und vorsichtig. Unerwartet stieß sein Fuß gegen etwas. Das Gleichgewicht verlierend fiel der junge Mann der Länge nach hin. Hart prallte sein Kinn auf kalten Stein. Fluchend rieb Max sich die schmerzende Stelle und schmeckte plötzlich Blut in seinem Mund. Er drehte sich auf die Seite, wollte aufstehen, als er erkannte, worüber er gestolpert war. Mit einem Schaudern las er die Inschrift auf dem alten verwitterten Grabstein. Plötzlich glaubte Max, ein seltsames Geräusch zu hören ...

Robert feuerte das Buch >>Spooky Halloween<< wütend auf den Tisch. Diese Geschichte brauchte er nicht zu Ende zu lesen, wie sie ausging, wusste er. Der liebe Max würde gleich auf ein Skelett, wahlweise auch einen Ghoul, auf jeden Fall aber irgendein Wesen treffen, das gerne auf Friedhöfen hauste. Das Monster würde Max natürlich jagen und der würde natürlich das Weite suchen. Am Schluss würde sich selbstverständlich herausstellen, dass es gar kein übernatürliches Wesen, sondern Max' bester Freund gewesen war, der sich verkleidet hatte, um ihm einen kleinen Schrecken einzujagen. Haha, was für ein unerwartetes Ende! Von diesem Buch hatte Robert sich mehr versprochen. >>Es ist wirklich spannend<<, hatte die Verkäuferin ihm versichert. >>Der Autor hat das Gruseln quasi neu erfunden.<< Und Robert hatte das Buch in blindem Vertrauen gekauft. Doch jetzt entpuppte die Geschichte sich als voraussehbar und vollgestopft mit Standard-Horror-Elementen, die bei Robert tödliche Langeweile hervorriefen, anstatt ihn in Spannung zu versetzen. Schade! Seufzend sah er zum Fenster hinaus auf das geschlossene Tor der Autowerkstatt.

Es war Sonntag, der 31. Oktober, und Robert saß mitten im Nirgendwo im Staat New York wegen einer Autopanne fest. Zum Glück hatte er einen Automechaniker gefunden, der bereit gewesen war, seinen Wagen nicht nur abzuschleppen, sondern auch sofort zu reparieren. Allerdings dauerte das schon eine ganze Weile.

Verärgert warf er einen Blick auf die Uhr. Ausgerechnet heute muss die Karre kaputt gehen, schimpfte Robert lautlos vor sich hin. Warum hatte sein Chef nicht irgendwen anderes in diese gottverlassene Gegend geschickt? Dann säße er jetzt nicht hier fest. Wütend schnaubt Robert durch die Nase. Er hatte alles genau geplant, genau durchgerechnet und ja, die Zeit war knapp kalkuliert gewesen. Aber alles hätte mit Sicherheit funktioniert - wenn sein Wagen sich nicht verabschiedet hätte. Robert schaute erneut auf die Uhr. Nein, er konnte seine Halloween-Pläne vergessen. Nach New York City würde er heute nicht mehr kommen. Dabei hatte er sich so auf die Party gefreut - und darauf, sie mit Beverly besuchen zu können.

Der Frau des Automechanikers, die zusammen mit Robert wartete, blieb dessen Unmut nicht verborgen. Der junge Mann tat ihr leid. Schon als sie sein Auto abgeschleppt hatten, war ihr aufgefallen, dass er unter großem zeitlichem Druck zu stehen schien. Aber ihr Mann tat gerade, was er konnte.

In dem Moment blickte Robert zu ihr hinüber. Kurzentschlossen sah sie ihn auffordernd an und winkte ihn zu sich. Robert stand erleichtert auf. Das Buch ließ er liegen, absichtlich. Hoffentlich landete es in der Mülltonne!

>>Mister Miller<<, sagte die Dame freundlich, >>ich rufe jetzt in der Werkstatt an, dann wissen wir mehr. Ist ja kaum mit anzusehen, wie Sie hier auf glühenden Kohlen sitzen.<< Für einen kurzen Moment meldete sich bei Robert das schlechte Gewissen, schließlich hatten der Automechaniker und seine Frau diesen Sonntagnachmittag mit Sicherheit auch anders verbringen wollen.

>>Tut mir leid<<, murmelte er, aber die Frau winkte ab, während sie darauf wartete, dass ihr Mann in der Werkstatt den Hörer abnahm.

Das Telefonat war kurz und offensichtlich hatte ihr Mann Positives zu berichten, denn die Frau legte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck auf und meinte: >>Ihr Wagen wird gleich gebracht.<< Robert zwang sich zu einem Lächeln. Der Mechaniker hatte sich mit Sicherheit alle Mühe gegeben und es war definitiv nicht seine Schuld, dass Robert seit über vier Stunden hier festsaß. Ohne dessen Hilfe stünde er jetzt immer noch fluchend am Straßenrand.

>>Bezahlen Sie bar oder mit Karte?<<, unterbrach die Dame Roberts Gedanken.

>>Mit Karte bitte<<, sagte Robert nach kurzem Überlegen.

Während er die Geheimzahl eintippte, fragte die Frau neugierig: >>Sie haben heute doch noch etwas vor, oder? Es muss Ihnen sehr wichtig sein.<<

>>Ich hatte etwas vor, ja. Aber ich werde es nicht mehr schaffen<<, sagte Robert und seine Stimmung verdunkelte sich wieder.

Es war ihm dieses Jahr endlich gelungen, zwei Karten für DIE Halloweenparty des Jahres in New York City zu bekommen, aber dank der Panne hatte er keine Chance mehr, die Karten auch einzulösen. Bedauernd schaute die Dame ihn an. >>Das tut mir sehr leid.<<

Und mir erst, dachte Robert. Er seufzte und zuckte mit den Schultern. >>Ist nicht zu ändern und jammern hilft mir jetzt auch nicht weiter. Ich werde zusehen, dass ich heute noch ein paar Meilen gutmache. Mal sehen, wie lange ich durchhalte. Vielleicht fahre ich auch bis New York durch.<<

Ein entsetzter Blick traf Robert. >>Sie wollen doch nicht in der Halloweennacht, in der Nacht, in der die Wand zwischen den Welten fällt und die Toten unter uns wandeln, Auto fahren?<<

Im ersten Moment dachte Robert, sie meine es ernst, doch dann sah er den Schalk in ihren Augen und musste grinsen. Die Dame grinste verschmitzt zurück. >>Kleiner Scherz. Jetzt aber im Ernst: Ich bitte Sie, wenn Sie wirklich weiterfahren wollen, bleiben Sie bei dem Wetter auf dem Highway, egal was passiert. Und suchen Sie sich eine Bleibe, wenn Sie müde werden.<<

Robert blickte zum Fenster hinaus. Zwar war es hier im Gegensatz zu der Geschichte und dem lieben Max auf seinem Friedhof kein bisschen neblig, aber er sah, wie der Wind an den Ästen der Bäume zerrte und die letzten Blätter des Herbstes durch die Gegend wirbelte. Auch das Grau des Himmels sah nicht gerade freundlich aus und versprach in nicht allzu ferner Zukunft Regen zu bringen. Vielleicht drohte sogar ein Sturm, so wie der Wind tobte. >>Das verspreche ich Ihnen<<, sagte Robert feierlich, mit dem festen Vorsatz, der netten Dame diesen Gefallen zu tun. Im selben Moment fuhr draußen sein schwarzer Dodge vor. Robert wünschte noch ein schönes Halloween und ging hinaus.

Der Mechaniker empfing Robert an der geöffneten Fahrertür. >>Die nächsten zwei- bis dreihundert Meilen müsste er jetzt schaffen<<, meinte er. >>Aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Zuhause müssen Sie den Wagen dringend überprüfen lassen.<<

Robert dankte dem Mann von ganzem Herzen, froh, dass der Dodge überhaupt wieder lief, stieg ein und fuhr vom Hof. In diesem Moment begann es zu regnen.

Bedrückt lenkte Robert den Dodge auf den Highway 87 und rief Beverley an. Seine Freundin begrüßte ihn überrascht. >>Robert? Was ist los?<<

>>Hi, Süße, du ich schaff's nicht.<< Absolute Stille in der Leitung. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, zählte Robert.

>>WAS?<<, rief Beverly wütend. >>Das glaub' ich jetzt nicht! Du meinst nicht im Ernst ...<<

>>Der Wagen hatte eine Panne<<, unterbrach Robert sie rasch. >>Ich bin auf dem Heimweg, aber bis um acht bin ich niemals in New York.<<

>>Ausgerechnet heute<<, motzte Beverly stocksauer. Sie war außer sich. Von Robert würde sie sich Halloween mit Sicherheit nicht verderben lassen! Autopanne, dass sie nicht lachte, ihr Freund würde ja sehen, was er davon hatte. Sein Problem! >>Ich will aber auf jeden Fall auf die Party<<, sagte Beverly mit dem trotzigen Unterton eines Kleinkinds. Robert hatte sich schon gedacht, dass sie nicht darauf verzichten würde, Egoismus war eine von Beverlys Stärken. Aber seine Freundin alleine auf die Party gehen zu lassen, nein, dieser Gedanke behagte Robert überhaupt nicht.

>>Frag doch Peter, ob er mit dir hingeht<<, schlug Robert nach kurzem Zögern vor. Peter war sein bester Freund, er würde bestimmt auf Beverly aufpassen, die dazu neigte, gelegentlich über die Stränge zu schlagen. Sie flirtete ein bisschen zu gerne, war ein bisschen zu sehr darauf aus, sich ihre Selbstbestätigung von anderen Männern zu holen, aber der ruhige Peter würde schon aufpassen.

Beverly war begeistert. >>Ich ruf ihn gleich an. Bis morgen früh dann! Und du weißt schon, dass dir eine Spitzenparty entgeht?<<

>>Leider ja<<, seufzte Robert und legte auf. Ein bisschen mehr Enttäuschung, ein >>Ich werde dich vermissen<< hätte er sich schon gewünscht, aber das war einfach nicht Beverlys Art.

Robert senkte den Blick, um sein Smartphone zurück in seine Aktentasche zu legen. Für einen kurzen Moment war er abgelenkt. Der Schnappverschluss klemmte und Robert musste sein Smartphone durch eine enge Lücke in die Tasche schieben, als er aus dem Augenwinkel ein Hindernis auf der Straße wahrnahm. In letzter Sekunde blickte er hoch und trat instinktiv das Bremspedal bis auf den Boden durch. Er hörte, wie das ABS vergeblich zu greifen versuchte, spürte, wie der Wagen ins Schlingern geriet, bemühte sich, gegenzulenken und erreichte nur, dass der Wagen sich einmal um die eigene Achse drehte. Mit Entsetzen sah Robert den umgestürzten Baum immer näher kommen, bereitete sich innerlich schon auf den Zusammenprall vor, als der Dodge in letzter Sekunde nur wenige Handbreit vor dem Baum zum Stehen kam. Nass klopften dünne Äste auf seine Windschutzscheibe.

Roberts Puls raste, sein Herz wollte aus der Brust springen. Bilder von einem zerquetschten Dodge, er selbst schwer verletzt, eingeklemmt zwischen Sitz und dem Motorblock, der sich beim Aufprall in den Fahrerraum gedrückt hatte, schoben sich vor seine Augen. Und das alles hier, im Nirgendwo! Bis ihn da jemand gefunden hätte! Bei diesen Gedanken brach ihm der Schweiß aus. Seine schneeweißen Händen umklammerten eisern das Lenkrad, während Robert sich bemühte, einfach nur ein- und auszuatmen und darauf wartete, dass das Zittern nachließ, und seine Hände endlich seinem Befehl folgten, das Lenkrad loszulassen. Dann erst stieg er aus.

Mit wackeligen Beinen umrundete er das Auto. Kein Kratzer, keine Delle, nichts. Er hatte wirklich mehr Glück als Verstand gehabt - im wahrsten Sinne des Wortes. Eines aber stand fest: Hier war kein Durchkommen. Der Baum hatte nicht nur seine Seite des Highways lahmgelegt. Die mächtige Krone lag auf der Gegenfahrbahn.

Kurzentschlossen fuhr er über den Grünstreifen, lobte die amerikanischen Highways ohne nervige Mittelleitplanke und brauste den Weg zurück, den er gekommen war.

Oh man, dachte er sich, Halloween hat dieses Jahr etwas gegen mich.

Mit noch immer zitternden Händen aktivierte er das Navigationssystem des Wagens und tippte sein Ziel >>New York<< ein, darauf bestehend, auf Nebenstraßen fahren zu wollen. Dabei fiel ihm das Versprechen ein, das er der Damen vom Autohaus gegeben hatte. Tut mir leid, dachte er sich, ich muss es brechen.

Das Navigationssystem schlug Robert zwei Routen vor. Verwundert schaute er auf das Display. Die grüne Route, >>meine Route<<, war ganze dreißig Meilen länger als die rote Route. Eigentlich hatte er alles so eingestellt, dass immer die kürzeste Strecke als >>meine Route<< angezeigt wurde.

>>Rote Route<<, gab Robert laut und deutlich den Stimmbefehl.

>>Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun<<, antwortete die weibliche Computerstimme ohne diese winzigen, kaum hörbaren Pausen, die entstanden, wenn die einzeln aufgenommenen Worte zu einem Satz zusammengefügt wurden. Robert erschrak. Verunsichert wagte er einen Blick auf das Display. Hatte er sich verhört? Das musste er, oder? Sein Navigationssystem konnte nicht auf diese Weise eigenständig agieren. Es war unmöglich, dass es ihm solche Ratschläge erteilte. Leichtes Unbehagen machte sich in ihm breit. Das war heute definitiv nicht sein Tag.

>>Was hast du gerade gesagt?<<, fragte er beunruhigt nach und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme zitterte.

>>Es tut mir leid, ich habe Sie nicht verstanden.<<

Erleichtert atmete Robert auf. Alles nur Einbildung.

>>Rote Route<<, wiederholte er den Sprachbefehl. Dieses Mal gab es keine Probleme. Das Navigationssystem startete die rote Route und lotste Robert über Nebenstraßen in Richtung New York City.

Das Wetter wurde ungemütlicher. Immer wieder schüttelten Windböen das Auto durch. Krampfhaft hielt Robert das Lenkrad umklammert, bemüht den Wagen in der Spur zu halten. Er drosselte die Geschwindigkeit auf 40 Meilen pro Stunde.

Langsam streckte die Müdigkeit ihre Finger nach ihm aus. Gähnend rieb Robert sich die Augen und stellte zur Unterhaltung das Radio an. Doch nichts passierte. Missmutig aktivierte Robert den Suchlauf, doch auch der präsentierte nichts als nervige Störgeräusche.

Verdammt!, dachte sich Robert. Vermutlich hatte der Sturm einen Sendemast lahm gelegt. Er musste sich eingestehen, dass er irgendwo übernachten musste.

>>Wo ist der nächste Ort?<<, fragte Robert.

Das Navi reagierte nicht.

Was ist bloß heute mit der Technik los?, fragte er sich. Wenn das Navi mich jetzt auch noch im Stich lässt, kann ich genauso gut rechts ranfahren.

Gerade wollte er seine Anfrage wiederholen, als es sich zögernd doch noch meldete. >>South Mills, fünf Meilen.<<

>>Dann South Mills<<, antwortete Robert und hoffte, dass es dort ein Hotel gab.

*

Ungefähr zum selben Zeitpunkt, als Roberts Navigationssystem die Route neu berechnete, um ihn zum gewünschten Ziel zu bringen, traf Amy Taylor in ihrem Auto vor dem Hotel >>Pinto Inn<< in South Mills ein und stieg aus.

Ich bin wieder da, dachte sie und konnte nicht verhindern, dass sich ein schwerer Kloß in ihrem Hals bildete, der direkt in ihren Magen plumpste und es sich dort gemütlich machte. In diesem Moment wollte die junge Frau an jedem anderen Ort der Welt sein, nur nicht hier, in South Mills vor dem >>Pinto Inn<<. Ihr Blick fiel auf die viktorianische Fassade des Hotels, die sie höhnisch anzugrinsen schien. Am liebsten wäre Amy auf dem Absatz umgedreht und wieder zurück ans College gefahren. Aber diese Möglichkeit war ihr für die nächsten vierundzwanzig Stunden versagt.

Niemand verlässt dieses Dorf für immer, dachte sie müde, dieser Ort zwingt dich jedes Jahr zur Heimkehr.

Schweren Herzens betrat sie das Hotel. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, als ihr Vater sie auch schon erleichtert begrüßte. Wie jedes Jahr am Halloween hatte er am Küchenfenster nach seiner Tochter Ausschau gehalten und ihr Kommen schon sehnlichst erwartet.

>>Gut, dass du da bist<<, sagte er. >>Ich dachte schon, du kommst nicht.<<

Amy umarmte ihren Vater. >>Du weißt doch, dass ich das nie wagen würde.<<

>>Und ich weiß, wie sehr du das alles hier verabscheust.<<

Für einen kurzen Moment herrschte eine bedrückende Stille zwischen den beiden. Hastig löste Amys Vater sich aus der Umarmung seiner Tochter. >>Bleib kurz an der Rezeption<<, bat er.

>>Es darf doch eh keiner kommen<<, sagte Amy lustlos.

>>Ich weiß<<, antwortete ihr Vater. >>Bitte, nur kurz. Ich bin gleich wieder da und dann machen wir uns den Abend so schön wie möglich.<< Er verschwand in der Küche. Seufzend setzte sie sich an die Rezeption. >>So schön wie möglich<<, hatte ihr Vater gesagt. Mit anderen Worten: Im Dunklen sitzen und auf unerwartete Geräusche lauern um dann Panik zu bekommen. Sie verzog das Gesicht ohne es zu merken.

*

South Mills lag an diesem Abend wie ausgestorben da. Alle hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. Alle, bis auf Steve. Er war bereits seit Stunden im Wald unterwegs. Angespannt und nervös suchte er den nadelbedeckten Boden nach etwas ganz Bestimmtem ab. Sollte Steve es nicht finden, hatte er ein nicht zu unterschätzendes Problem.

Sein Blick fiel auf die langsam sinkende Sonne. Der Mann murmelte Unverständliches. Vielleicht war es ein verzweifeltes Fluchen gewesen, denn für einen kurzen Moment gewann die Panik, die schon lange in ihm gärte, die Oberhand. Doch Steve zwang sich zur Ruhe und suchte weiter. Noch hast du Zeit, flüsterte er sich selbst immer wieder zu. Und dann entdeckte er endlich das Gesuchte. Unendlich erleichtert hob Steve die Adlerfeder vom Boden auf und verstaute sie sicher in seiner Umhängetasche. Wieder schaute er, dieses Mal sichtlich ruhiger, in den Sonnenuntergang. Sollte die Sonne ruhig ihr Tagewerk vollenden, er konnte sich jetzt auf den Weg zu Martin machen. Der Keller der alten Jagdhütte wartete bereits.

*

Kurze Zeit später fiel Robert auf, dass sein Motor seltsame Geräusche von sich gab. Oh nein, dachte er sich, war wohl nichts mit den 200 Meilen. Betend, dass der Wagen es noch bis South Mills schaffen würde, fuhr er weiter.

Wo ist dieses verdammte Dorf?, fragte sich Robert. Rings um ihn herum war nichts als eine bewaldete, dunkelgrüne, hügelige Landschaft, durch die er schon seit einer gefühlten Ewigkeit fuhr. Vertraute er auf sein Navi, konnte es aber nicht mehr weit sein. Vorsichtig gab Robert etwas mehr Gas und der Wagen beschleunigte verhalten.

Kurz bevor er South Mills erreichte, hörte es auf zu regnen und die Wolkendecke riss auf. Die letzten Strahlen der Abendsonne fielen auf den regennassen Asphalt. Robert beschloss, das als gutes Omen zu nehmen und lenkte den Wagen einen kleinen Hügel hinauf. Von der Kuppe aus erblickte er in der vor ihm liegenden Talsenke endlich das kleine Dorf South Mills. Verschlafen und friedlich lag es da, noch eingehüllt vom Dunst des Regens, der nur stellenweise von einigen Sonnenstrahlen durchbrochen wurde. Umgeben von saftigen Wiesen schmiegte sich der Ort zu einer Seite eng an einen dunklen, nicht enden wollenden, vom Regen dampfenden Wald. Zur anderen Seite entdeckte Robert zu seinem Entzücken einen tiefblauen See.

Was für ein wunderschönes Fleckchen, dachte er sich, gab Gas und fuhr auf das Dorf zu. Das Ortsschild teilte Robert im Vorbeifahren mit: >>South Mills - Staat New York - 300 Einwohner<<.

Für heute Nacht dann wohl 301, überlegte sich Robert und musste lächeln.

Wenige Meter vor dem >>Pinto Inn<< gab Roberts Wagen endgültig den Geist auf. Der Motor erstarb und Robert dankte dem lieben Gott, dass er den Dodge bis hierher hatte durchhalten lassen. Er ließ den Wagen ausrollen, der genau vor der Treppe zum Eingang des Hotels zum Stehen kam. Besser geht’s nicht, dachte sich Robert. Durch die Frontscheibe betrachtete er die Fassade des Hotels - wie kurz zuvor Amy. Im Gegensatz zu ihr hatte Robert allerdings das Gefühl, das Hotel begrüße ihn freundlich und die Fenster schienen ihm einladend zuzuzwinkern.

Hier lässt es sich auf jeden Fall aushalten, dachte der junge Mann sich. Robert stieg aus und sah sich um. Obwohl es erst Nachmittag war, präsentierte sich die Straße menschenleer. Doch nicht nur Menschen vermisste Robert. Auch etwas anderes ... Angestrengt schaute er die Hauptstraße hinauf und hinunter. Irgendetwas in diesem Dorf fehlte, etwas, das so offensichtlich war, dass er es genau deshalb nicht erkannte.

Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Es gab keinerlei Halloweendekoration! Komisch, dachte Robert sich, überall in diesem Land wimmelt es zurzeit von Plastikskeletten, geschnitzten Kürbissen mit seltsamen Fratzen, Hexen und anderen Gestalten der Dunkelheit, aber hier gibt es - nichts. Als ob die Bewohner von South Mills Halloween nicht feiern.

Im selben Moment musste er über sich selbst lachen. Dieser Gedanke war absolut absurd. Wer bitte in den gesamten Vereinigten Staaten von Amerika feierte nicht Halloween?

Sein Blick wanderte wieder zum >>Pinto Inn<<. Auch das Hotel wies keinerlei Dekoration auf, noch nicht einmal den obligatorischen Strohballen mit einem darauf liegenden Kürbis neben der Eingangstür. Ein wenig seltsam erschien Robert das schon, aber ihm war heute bereits zu viel passiert, als dass er sich auch noch darum Gedanken machen wollte. Kurzentschlossen ging er die Treppe zum >>Pinto Inn<< hinauf. Ein Zimmer und Hilfe für sein Auto war alles, was er sich jetzt wünschte.

Als er durch die Eingangstür trat, klingelte darüber leise eine kleine Glocke. Hinter der Rezeption erblickte Robert eine junge Frau, die ihn völlig überrascht ansah.

>>Was wollen Sie denn hier?<<, fragte sie brüsk. Robert, der mit so einer Begrüßung nicht gerechnet hatte, blieb verblüfft in der Tür stehen.

>>Ich ..., äh ..., mein Auto.<<

>>Sie müssen gehen! Sofort! Raus mit Ihnen!<<

Robert sah sie an. Ihrer Gesichtszüge hatten blitzschnell von Überraschung zu, ja Robert täuschte sich nicht, Furcht gewechselt. Er hob die Arme, hielt sie ausgestreckt vor sich und bewegte seine Hände langsam auf und ab, als wolle er ein aufgeregtes Rennpferd beruhigen. Während er behutsam einen Schritt auf die sichtlich nervöse Frau zumachte, sagte er: >>Ich wünsche mir genauso wie Sie, dass ich nicht hier wäre, glauben Sie mir, aber ich ...<<

In diesem Moment betrat ein Mann in den Fünfzigern den Empfangsraum. Robert hielt mitten in seiner Bewegung inne und verstummte. Der Mann starrte Robert an als sei er ein seltenes Insekt. Abstoßend, aber zu außergewöhnlich um es zu töten. Steile Falten gruben sich in seine Stirn und für einen Moment glaubte Robert, tiefe Verzweiflung in seinen Augen zu sehen. Doch innerhalb kürzester Zeit hatte der Mann sich wieder unter Kontrolle und kam auf ihn zu. Zurückhaltend stellte er sich vor. >>Hallo, ich bin Sam, Sam Taylor.<< Nachdenklich musterte er Robert von oben bis unten. Instinktiv ging Robert einen Schritt zurück. >>Ich brauche ein Zimmer für heute Nacht<<, sagte er zurückhaltend, als fordere er etwas ein, auf das er kein Anrecht habe. Sams Blick wurde zu Eis. Abweisend sagte er: >>Wir haben in dieser Nacht nie Gäste. Es ist besser so.<<

Robert wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Das seltsame Verhalten von Sam und seiner Tochter machte ihm beinahe Angst, aber er hatte keine Wahl.

*

Zur gleichen Zeit trafen Martin und Steve am Waldrand von South Mills vor der Hütte ein. Bedrückt sahen sie sich an. Wie jedes Jahr an diesem Tag ruhte eine große Verantwortung auf ihren Schultern.

Niemand außer den Bewohnern von South Mills wusste von dem Fluch, der seit Jahrhunderten auf dem Dorf lag. Gefangen in einem Pakt mussten die Bewohner des Ortes ihn jedes Jahr in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November erneuern. Diese Aufgabe übernahmen schon seit Generationen die Familien von Steve und Martin. Gelang es den beiden nicht, ihren Teil des Paktes zu erfüllen, drohte jeder Seele in South Mills nichts Geringeres als der Tod. Denn wenn der Pakt brach, war Miyaca frei.

>>Was musstest du dieses Jahr sammeln?<<, fragte Martin. Steve zog einen Sack hervor und ließ Martin einen Blick hinein werfen. >>Adlerfedern<<, stellte er fest. >>Und es sind genau dreihundert?<<

>>Nicht mehr und nicht weniger. Die Letzte fand ich erst vorhin.<<

>>Was ein Glück<<, sagte Martin erleichtert.

Für Fremde musste sich dieses Gespräch seltsam anhören, für Steve und Martin aber war es bitterer Ernst.

>>Was hast du?<<, fragte Steve.

>>Mais und Rittersporn.<<

>>Dreimal Dreihundert<<, sagte Steve leise. >>Das sollte Miyaca für ein weiteres Jahr besänftigen.<<

>>Vorausgesetzt, wir haben seine Zeichen richtig gedeutet<<, wandte Martin ein. Steves Gesicht verfinsterte sich. Martin bedeutete ihm mit einer Handbewegung, fortzufahren. Steve schloss die Kellertür auf.

*

>>Robert Miller<<, stellte Robert sich zögernd vor. >>Mein Wagen ist vor Ihrem Hotel liegen geblieben. Vermutlich ist er endgültig kaputt. Eigentlich wollte ich heute nach New York auf eine Halloweenparty, aber das schaffe ich nicht mehr. Dafür wollte ich dann wenigstens die Nacht durchfahren bis nach Hause, aber ich hatte kein Glück.<<

>>Nein, das haben Sie wirklich nicht<<, sagte Sam todernst und schaute nachdenklich auf Robert. >>Amy, ruf die Werkstatt an, Mister Miller sollte unser Dorf noch heute verlassen<<

Amy griff zum Telefon und wählte.

>>Ich bin sehr müde<<, wandte Robert ein. >>Haben Sie keine freien Zimmer mehr?<< Robert entging das kurze Zögern von Sam nicht. Es war nicht zu übersehen, dass er sich bei dem Gedanken, dass Robert hier die Nacht verbringen könnte, sehr unwohl fühlte. Merkwürdig, dachte sich der junge Mann, was haben die beiden nur für ein Problem mit Gästen? Und warum haben sie dann ein Hotel?

Sam räusperte sich. >>Natürlich haben wir noch freie Zimmer. Nur, wie ich bereits erwähnte, wir haben an Halloween nie Gäste<<, sagte er zurückhaltend. >>Außerdem meinten Sie doch, dass Sie noch nach New York wollten?<< Sam ließ die Frage im Raum stehen.

Sie wollen tatsächlich, dass ich gehe, dachte sich Robert und gab nach. >>Wenn es geht und der Wagen wieder läuft, natürlich.<< Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Irgendwie würde er den Rest der Strecke schon schaffen, zur Not blieb immer noch die Rückbank seines Dodge, falls ihm die Augen zufielen.

>>Marty kommt sofort<<, meldete Amy in diesem Moment.

>>Gut<<, meinte Sam bedrückt. >>Bring du doch unseren Gast auf sein Zimmer. Ich werde hier auf Marty warten und versuchen, Steve und Martin zu erreichen. Vielleicht können sie uns noch retten.<<

Während Robert mit Amy die Treppe in den ersten Stock hinauf ging, sah er aus den Augenwinkeln, wie Sam nervös zum Telefon griff. Seine Finger trommelten aufgeregt auf der hölzernen Theke herum. Als sie die oberste Stufe erreichten, hörte Robert, wie das Telefon fluchend auf den Tresen geworfen wurde.

Amy blieb direkt vor der ersten Zimmertür stehen und kramte in ihrer Tasche. Während sie nach dem Zimmerschlüssel suchte, sah Robert sich um. Viel zu entdecken gab es in dem Flur nicht, bis auf ein Bild, das direkt an der Wand neben der Tür mit der Nummer 1 in einem schlichten Holzrahmen hing. Neugierig ging Robert hin und betrachtete es genauer. Schaudernd fuhr er zurück. Zwischen fremden Symbolen, vermutlich indianischer Herkunft, und einem längeren Text, hatte der Künstler einen pechschwarzen zähnefletschenden Wolf gemalt. >>Was ist das?<<, fragte Robert. Im selben Moment überkam ihn das Gefühl, dass er die Antwort nicht wissen wollte, aber es war schon zu spät.

>>Die Geschichte von South Mills<<, antwortete Amy. >>Das alles hier gehörte einst den Miyaca-Indianern. Doch irische Siedler forderten dieses fruchtbare Land für sich. Die Ureinwohner wehrten sich dagegen, natürlich ohne die geringste Aussicht auf Erfolg. Die Geschichte endete wie so viele andere über die einstigen Ureinwohner unseres Landes: Der Stamm wurde von den Weißen grausam abgeschlachtet. Jeder einzelne. Keiner überlebte.<< Sie seufzte.

>>Wie furchtbar<<, sagte Robert schockiert.

>>Die Geschichte lockt unsere Sommergäste an<<, erklärte Amy. >>Zwar gibt es hier keine Kultstätten oder Ähnliches, zumindest sind keine bekannt. Aber Boden, auf dem einst eine Menge Blut vergossen wurde, zieht immer.<<

Robert schaute nachdenklich auf den Wolf. Er wirkte unheimlich, geradezu lebendig. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, das Tier würde ihm direkt in die Augen sehen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.

>>Das Bild ist unheimlich, ich weiß<<, sagte Amy und zog endlich den passenden Schlüssel aus ihrer Tasche. >>Aber den Gästen gefällt's.<< Sie öffnete ihm die Tür. >>So, das hier ist Ihr Zimmer, hoffentlich nicht allzu lang.<< Robert, froh dem Wolf zu entkommen, trat neugierig ein und sah sich um. Es war klein, aber sehr gemütlich eingerichtet, mit einem großartigen Ausblick über das Dorf bis hinunter zum See.

*

Steve und Martin betraten die Jagdhütte und zogen sich aus. Die Kleidung legten sie sorgfältig auf zwei bereitstehende Stühle. Nackt und frierend gingen sie die kleine Treppe hinunter und betraten den Kellerraum. Steve, der nach Martin eingetreten war, verschloss die Kellertür hinter sich. Sie war massiv, aus fünf Zentimeter dickem Stahl und hielt nicht nur jedes Geräusch fern, das von außen herein drang. Eine dringend nötige Sicherheitsmaßnahme für das Dorf. Im Notfall würde die Tür hoffentlich das drinnen einsperren, was niemals frei kommen durfte.

Zuerst klingelte Steves Handy in seiner Jacke, lange und anhaltend, danach Martins, der es immer in seiner Jeans bei sich hatte. Doch die beiden konnten das Klingeln nicht hören.

Die Männer entzündeten in der Dunkelheit Feuer in kleinen flachen Schalen. Sie wussten genau, wo die Schalen standen, wussten genau, wo sich in dem Keller welcher Gegenstand befand. Hätte Feuer nicht zum Ritual gehört, sie hätten sich auch ohne Beleuchtung problemlos zurechtgefunden.

Flackerndes Licht erhellte den Raum und zeigte, was er sonst verbarg. Die Decke bestand aus dicken Stämmen, geschwärzt von Ruß und braun vom Alter. Die Wände waren mit gegerbtem Leder verkleidet, das wunderschön bemalt war. Felle verschiedener Tiere lagen auf dem Boden, exakt angeordnet und seit Jahrhunderten unverändert. Eine Art Altar war in dem Raum aufgebaut, hinter dem ein alter indianischer Teppich hing, der einen riesigen schwarzen Wolf zeigte. Ein seltsamer Geruch, eine Mischung aus Erde, Tod und Raubtier hing in der Luft.

Steve und Martin sahen sich bedrückt an, dann begannen sie, sich anzukleiden. Die zeremonielle Tracht des Schamanen, sorgfältig auf einem Wolfsfell ausgebreitet, wartete bereits auf sie. Ohne ein Wort zu sagen, gingen die Männer ihrer Aufgabe nach.

>>Bist du soweit?<<, fragte Steve schließlich. Seine Stimme klang kraftlos. Martin nickte. >>Und du? Nichts vergessen?<<

Beide schauten auf das Wolfsfell. Nein, sie hatten alles angelegt. Sie begannen mit der Reinigung ihres Geistes.

*

Sam ging im >>Pinto Inn<< nervös auf und ab. Der junge Mann aus New York City musste verschwinden. Hoffentlich würde Marty diese dämliche Karre wieder hinbekommen und zwar bevor die Sonne unterging.

Marty hatte nach Amys Anruf alles stehen und liegen gelassen und war sofort zum Hotel aufgebrochen. Er wusste, was auf dem Spiel stand. Kaum hatte er das >>Pinto Inn<< erreicht, als er auch schon die Stufen hinauf stürmte und so hektisch die Tür aufriss, dass die kleine Glocke empört klingelte. Sam unterbrach seine Wanderung und schaute Marty erleichtert an.

>>Der Dodge da draußen?<<, fragte Marty, obwohl er die Antwort schon wusste. Ein fremdes Auto an Halloween fiel in South Mills auf wie ein bunter Hund.

Sam nickte. >>Mister Miller<<, rief er die Treppe hinauf, >>unser Automechaniker ist hier.<<

>>Ich komme<<, rief Robert.

Draußen übergab Robert Marty die Autoschlüssel und der warf einen prüfenden Blick unter die Motorhaube. Was er sah, gefiel ihm nicht und was Robert ihm erzählte, noch viel weniger.

>>Ich schleppe ihn ab<<, sagte Marty, >>schaue ihn mir in der Werkstatt sofort an und melde mich dann bei Ihnen.<<

>>Machen Sie sich bitte keine Umstände<<, wandte Robert ein. >>Heute ist Halloween und außerdem Sonntag. Sie haben frei. Den Motor können Sie sich auch morgen noch ansehen.<<

>>Morgen? Das werden Sie nicht erleben.<< Marty lachte zynisch und ging ohne eine weitere Erklärung zu seinem Abschleppwagen und begann, den Dodge aufzuladen.

Verunsichert ging Robert wieder ins >>Pinto Inn<<. Gerade, als er die Tür öffnen wollte, hörte er Amy und ihren Vater miteinander streiten.

>>Vater wir können doch nicht ...<<

>>Amy, ich kann Martin und Steve nicht erreichen.<<

>>Aber wir sollten es ihm wenigstens sagen!<<

>>Wenn Marty es nicht schafft ...<<

Das Ende dieses Satzes sollte Robert nie erfahren. Als er die Tür öffnete, verstummten beide sofort. >>Marty meldet sich<<, sagte Robert zögernd. Unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Robert beschloss, sich zurückzuziehen. >>Ich bin dann auf meinem Zimmer.<<

Keine zwanzig Minuten später klingelte das Telefon in der Halle, Robert lauschte durch den Spalt der angelehnten Tür. Unschwer konnte er hören, dass bei seinem Wagen heute nichts mehr zu machen war.

Schritte kamen die Treppe hinauf. Robert schloss hastig die Tür, warf sich auf sein Bett und antwortete nur wenig später auf das erwartete Klopfen mit einem höflichen >>Herein<<. Zu seiner Überraschung trat Amy ein und nicht Sam. >>Ihr Auto wird wohl etwas länger hierbleiben müssen<<, sagte sie leise.

>>Das habe ich mir schon gedacht<<, antwortete Robert und ließ Amy nicht aus den Augen. Die junge Frau wirkte ernstlich bedrückt. Robert beschloss, einen kleinen Aufheiterungsversuch zu starten und fragte übertrieben fröhlich: >>Gibt‘s hier vielleicht ne' kleine Halloweenparty? Dann könnte ich doch noch auf eine Feier gehen.<< Amy ging nicht auf Roberts Versuch ein. Und obwohl der junge Mann, seitdem er in South Mills war, schon einiges erlebt hatte, was durchaus als ungewöhnlich zu bezeichnen war, sollte ihr nächster Satz das alles noch weiter steigern.

>>Wir müssen versuchen, Sie hier raus zu bekommen, so schnell es geht<<, sagte Amy drängend. Robert setzte sich verwirrt auf. Da hatte er endlich eine Bleibe, jemand kümmerte sich um seinen Wagen und jetzt wollten die Hotelbesitzer ihn doch noch vor die Tür setzen. >>Aber wieso denn das?<<, fragte Robert und konnte seine Verwunderung nicht verbergen.

>>Das kann ich Ihnen nicht sagen<<, antwortete Amy leise. >>Aber Sie müssen hier verschwinden, bitte glauben Sie mir.<< Der Ernst in ihrer Stimme ließ Robert aufhorchen. Irgendetwas machte Amy offensichtlich schwer zu schaffen. Wenn sie ihm nicht sagen wollte was, dann war das ihre Sache, Robert aber hatte das eindringliche Gefühl, dass es besser war, auf sie zu hören. >>Wenn Sie meinen<<, sagte er und nickte.

>>Dann kommen Sie, schnell<<, bat Amy. >>Noch ist Zeit.<<

Beide verließen das Gasthaus und stiegen in Amys Wagen.

*

Steve und Martin hatten mit dem Ritual begonnen. Leise, in einer fremdartigen Sprache vor sich hin murmelnd, saßen sie sich vor dem Altar gegenüber und wiegten sich gemeinsam im gleichen Rhythmus vor und zurück, scheinbar beobachtet von dem unheimlich Wolf.

Auf dem Altar selbst lag ein Wolfsschädel und starrte aus leeren Augenhöhlen finster auf Steve und Martin. Verschiedene seltene Hölzer, kreisförmig um den Schädel ausgelegt, wurden nach und nach in einer bestimmten Reihenfolge entzündet. Beißender Qualm stieg auf. Die beiden Männer mussten den aufkommenden Husten unterdrücken, sonst war alles verloren, bevor sie richtig begonnen hatten.

Der Qualm verdichtete sich über dem Schädel. Auf diesen Moment hatte Martin gewartet. Er warf den Mais hinein. Für einen kurzen Moment sahen die Männer, wie die gelben Körner in den grauen Rauch eintauchten, doch anstatt auf dem Altar und dem Schädel aufzuschlagen, verschwanden sie einfach. Martin atmete auf. Die erste Gabe hatte der Wolfsgott akzeptiert. Der Qualm nahm eine bläuliche Färbung an. Jetzt war es an Steve, den Rittersporn zu opfern. Es gelang, doch die Anspannung der beiden Männer ließ nicht nach. Einmal noch! Martin griff nach den Adlerfedern und warf sie in den mittlerweile schwefelgelben Rauch. Beide sahen, wie er sich zu einer Kugel formte und auf das Bildnis des Wolfs zu schwebte um in den Teppich einzutauchen. Die Augen des Wolfes glühten mit einem Mal blutrot auf.

*

Amy fuhr los. Der Wagen beschleunigte rasch. >>Wir müssen es bis über die Grenze von South Mills schaffen<<, sagte sie.

Nun, das konnte nicht weiter schwer sein, überlegte sich Robert, so groß war das Dorf ja nicht. >>Und dann?<<, fragte er.

>>Dann nimmst du meinen Wagen und siehst zu, dass du so weit wie möglich von hier wegkommst. Ich kann leider nicht mitkommen.<<

Wann waren sie zum >>du<< gewechselt? Offensichtlich in dem Moment, als Robert in Amys Auto gestiegen war. Nun gut, es gab jetzt wichtigere Dinge, an die er denken musste.

>>Warum kommst du nicht mit?<<, fragte Robert, der langsam ärgerlich wurde. >>Warum wollen du und dein Vater mich so dringend loswerden, dass du sogar bereit bist, mir dein Auto zu geben? Das klingt total verrückt, aber das weißt du wohl selbst.<<

Amy kam nicht mehr dazu, Roberts Frage zu beantworten. Sie waren kurz davor, das Ortsschild zu passieren, als der Wagen plötzlich eine Vollbremsung hinlegte und exakt an der Ortsgrenze mit einem Ruck zum Stehen kam. Robert wurde nach vorne geschleudert und spürte, wie der Sicherheitsgurt sich schmerzhaft um seinen Brustkorb zog. Amy hatte weniger Glück, ihr Kopf prallte gegen das Lenkrad und sie verlor das Bewusstsein. Für einen kurzen Moment fühlte auch Robert sich leicht benommen, während er zu verstehen versuchte, was da gerade passiert war. Er schüttelte den Kopf um die Benommenheit zu vertreiben und rieb sich die Schläfen. Es half. So schnell er konnte löste Robert seinen Anschnallgurt und beeilte sich, Amy aus dem Auto zu holen.

Er sah nicht, wie die Bewohner von South Mills, die den seltsamen Unfall beobachtet hatten, ihre Vorhänge zuzogen.

Robert schnallte Amy ab und zog sie aus dem Wagen. Behutsam bettete er die junge Frau auf den Bürgersteig. >>Amy<<, rief Robert laut und schüttelte sie sacht. >>Wach auf!<< Zuerst reagierte sie nicht und in Robert wuchs die Befürchtung, sie könnte sich ernsthaft verletzt haben. Noch einmal schüttelte er sie, dieses Mal ein bisschen fester. Zu seiner großen Erleichterung schlug sie endlich die Augen auf. >>Was ist passiert?<<, fragte Amy irritiert.

>>Du hast plötzlich eine Vollbremsung gemacht, erinnerst du dich nicht mehr?<<

Mit einem Schlag war ihr Blick wieder klar. >>Das war ich nicht<<, flüsterte sie. >>Es ist zu spät.<< Ihr Blick ging an Robert vorbei, der sich umdrehte um zu sehen, was sie sah und gemeinsam beobachteten sie, wie die letzten Strahlen der Sonne im See verschwanden. Halloween! Die Nacht, in der die Wand zwischen den Welten fällt, hatte begonnen.

>>Wir müssen zurück<<, rief Amy in plötzlicher Panik und sprang auf. >>Zum >>Pinto Inn<<, schnell.<< Robert wollte wieder einsteigen, doch Amy schüttelte den Kopf. >>Vergiss den Wagen! Vergebene Liebesmüh.<< Sie packte ihn an der Hand und lief los. Weit kamen sie nicht, Amy wurde schwindelig, geriet ins Taumeln. Kurzentschlossen legte Robert ihren Arm über seine Schultern und lief weiter. So eilten sie die Hauptstraße zurück zum Hotel. Sie hasteten die Treppe hoch und Robert öffnete die Tür. Fast stieß er dabei mit Sam zusammen, der die beiden im ersten Moment mit einer Mischung aus Entgeisterung und Fassungslosigkeit anschaute. Dann wandelte sich sein Gesichtsausdruck in grenzenlose Wut.

>>Ihr habt versucht, South Mills zu verlassen?<<, brüllte Sam los, kaum dass sie eingetreten waren. Amy fühlte sich noch immer leicht benebelt, doch sie wusste, sie musste sich jetzt zusammenreißen. Kurz entschlossen löste sie sich von Robert und baute sich trotzig vor ihrem Vater auf. >>Wir sind so oder so geliefert<<, sagte Amy widerborstig und hielt dem wütenden Blick ihres Vaters ohne mit der Wimper zu zucken stand.

>>Geliefert?<<, donnerte Sam. >>Musst du es noch schlimmer machen, indem du abhaust?<<

Amy griff sich an den Kopf, schloss die Augen und stöhnte leise. Die laute Stimme ihres Vaters tat ihr weh.

>>Hören Sie auf<<, fuhr Robert Sam an. >>Wir hatten einen Unfall, Amy geht es nicht gut. Vielleicht hat sie sogar eine Gehirnerschütterung.<<

Sam aber interessierte das nicht. Mit seinem Einwand hatte Robert nur erreicht, dass Sams Wut sich jetzt ganz auf ihn konzentrierte. >>Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun und zu lassen habe<<, brüllte er los. >>Ohne Sie wären wir jetzt alle in Sicherheit, aber nein, Sie müssen ja hier auftauchen! Wir hätten Sie zu Fuß wegschicken sollen!<< Sam bedachte Robert mit einem vernichtenden Blick, der ihm durch Mark und Bein ging. In dem Moment reichte es Robert. >>Erfahre ich jetzt bitte, was hier los ist?<<, fragte er scharf.

>>Wir sollten es ihm sagen<<, sagte Amy beschwörend zu ihrem Vater.

>>Er wird dir nicht glauben, aber mach was du willst. Machst du ja ohnehin. Ich bin in der Küche.<< Die Tür laut hinter sich zuknallend, verließ Sam die Eingangshalle.

Draußen brach mit einem Schlag endgültig die Dunkelheit herein. Robert schaute erstaunt aus dem Fenster. Wo eben noch das Grau der Dämmerung den Ort eingehüllt hatte, herrschte jetzt die Finsternis. Keine Straßenlampen brannten. Der junge Mann bekam es mit der Angst zu tun. Was ging hier vor sich?

>>Amy?<<, fragte Robert.

Sie nahm ihn am Arm und führte ihn zu der kleinen Sitzgruppe in der Halle.

>>Setzt dich!<<, sagte sie. >>Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.<< Warum hatte Robert das Gefühl, dass ihm wirklich nicht mehr viel Zeit - Lebenszeit - blieb?

Amy begann zu erzählen. >>Wie ich vorhin schon sagte, leben wir hier auf einstigem Indianerland.<< Robert nickte.

>>Aber das ist nicht alles<<, fuhr Amy fort. >>Es waren nicht irgendwelche Indianer. Sie wurden >>Miyaca<< genannt. >>Miyaca<< bedeutet so viel wie >>Wolf<<. Die >>Indianer vom Stamm des Wolfs<<, wenn du es so übersetzten willst. Sie lebten hier Jahrhunderte lang friedlich für sich und verehrten die Gottheit, die dem Stamm seinen Namen gab. Der Stamm der Miyaca brachte ihrem Wolfsgott regelmäßig Opfergaben dar, der Schamane hielt gemeinsam mit dem Häuptling den Kontakt zu ihm. Als Gegenleistung wachte Miyaca über sein Volk und versprach ihm Schutz vor jeglicher Gefahr. Dann kam der weiße Mann, der das Land der Miyaca für sich wollte, und den Indianern drohte die Vertreibung oder der Tod. Sie wandten sich an ihre Gottheit und er erhörte sie. Miyaca versprach ihnen, sie gegen den weißen Mann zu verteidigen. Der Legende nach wehrte er die Soldaten, die das Land einnehmen sollten, mehrmals erfolgreich ab und beschützte so sein Volk. Der weiße Mann aber war hinterlistig. In einer Nacht - es war die Halloweennnacht - brachen die Soldaten zu einem letzten tödlichen Schlag gegen die Indianer auf, denn dem weißen Mann war es gelungen zu verhindern, dass Miyaca die Welt der Sterblichen betreten und seinem Volk zu Hilfe eilen konnte. So rottete der weiße Mann die Miyaca aus. Doch der Wolfsgott sann auf Rache und er verfluchte mit dem letzten Sterbenden seines Stammes dieses Land. Sein Geist, so schwor er, würde über dieses Land auf ewig wachen und kein Weißer sollte jemals einen Fuß darauf setzen können.

Niemand nahm das ernst, doch genau ein Jahr später holte ein geisterhafter Wolf sich in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November seine Opfer in South Mills. Der weiße Mann bekam Angst. Das fruchtbare Land aber aufzugeben, kam nicht in Frage und so holte er sich Rat. Es gelang ihm im folgenden Jahr in der Halloweennacht noch einmal, den Wolf zu täuschen und dieses Mal zu einem Pakt zu zwingen, der ihn von South Mills fernhält. Seitdem müssen jedes Jahr an Halloween alle Einwohner von South Mills sich hier versammeln, egal wo sie leben. Es ist ein Teil der Abmachung. Dem Wolf werden außerdem Opfergaben gebracht. Welche es sind, erfahren wir im Laufe des Jahres durch Zeichen, die Miyaca uns schickt. Steve und Martin deuten sie. Dreimal so viele Opfergaben, wie Seelen im Dorf sind, das ist die Bedingung, damit der Wolf South Mills verschont. Passiert nur ein Fehler, bricht der Pakt, der Wolfsgott Miyaca ist frei. Durch deine Ankunft haben wir dieses Jahr eine Seele zu viel in unserem Dorf.<<

Amy machte eine kurze Pause. Robert, der staunend und ungläubig zugehört hatte, fragte sich, ob Amy die Geschichte wirklich ernst meinte und ob in dieser Nacht wirklich eine alte indianische Gottheit auf Rachezug durch South Mills ziehen würde.

Bei diesem Gedanken musste er ein Lachen unterdrücken. Das konnte Amy nicht ernst meinen. Sie aber sprach ruhig weiter: >>Wir haben versucht, die Männer, die das Ritual durchführen, zu erreichen. Vielleicht hätten sie noch etwas machen können, aber es war bereits zu spät. Marty konnte deinen Wagen nicht reparieren, deswegen versuchte ich, dich aus der Stadt zu schaffen, aber der Wolf musste bereits die Grenze zwischen den Welten passiert haben und hinderte uns. Er wird dich jagen Robert, dich und ganz South Mills.<< Mit dem letzten Satz brach ihre Stimme. Furcht vor dem, was kommen würde, stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Unvermittelt stand die junge Frau auf. >>Ich wünsche dir für die heutige Nacht viel Glück, du wirst es brauchen.<< Sie wandte sich zum Gehen, als Robert unsicher auflachte. >>Du, das ist eine ganz tolle Halloweengeschichte, aber du glaubst das doch nicht wirklich? Ich meine, der Wolfsgott eines Indianerstammes?<<

>>Du denkst, ich lüge<<, stellte Amy traurig fest.

>>Feiert deswegen niemand hier Halloween?<<, versuchte Robert abzulenken, um nicht antworten zu müssen.

>>Warum sollten wir einen Tag feiern, an dem wir jedes Jahr aufs Neue Gefahr laufen, zu sterben?<<

>>Du glaubst tatsächlich daran<<, stellte Robert fest. Bittend, ihr Glauben zu schenken, sah Amy ihn an. Robert spürte, wie Wut in ihm aufkam. >>Genug Spuk für heute Nacht<<, sagte er verärgert. >>Ich bin oben.<<

Robert ging hinauf und Amy in die Küche. Auf dem Esstisch hatte Sam bereits mehrere Pistolen und Gewehre ausgebreitet. Jeder in South Mills besaß welche. Amy und ihr Vater wählten ihre Waffen.

Robert lag in der Zwischenzeit auf seinem Bett und ärgerte sich. Dorftrottel, alle miteinander, dachte er bei sich. Ein Wolfsgott, der das Dorf heimsuchte, wenn man einen Pakt nicht erneuerte, also wirklich!

*

Steve und Martin sahen mit großer Angst, wie das mächtige Tier aus dem Bild stieg und senkten demütig den Blick. Der Geruch nach Raubtier wurde beinahe unerträglich. Der Wolf war riesig, pechschwarz, mit einem wunderschönen seidigen Fell. Jedes Jahr aufs Neue fragte sich Steve, wie etwas gleichzeitig so wunderschön und edel und so grausam und herzlos sein konnte.

Ein tiefes Knurren erklang. Der Wolf sprach in seiner Sprache zu den beiden. >>Ihr habt Glück gehabt und für ein weiteres Jahr Zeit gewonnen<<, knurrte das Tier.

Martin und Steve hoben die Köpfe. >>Wir danken dir<<, flüsterten sie mit heiseren Stimmen. Der Wolf drehte sich um, seine Konturen verschwammen, beide wollten schon aufatmen als der Wolf plötzlich ein schauderhaftes Heulen ausstieß und wütend herumfuhr. Mit einem Sprung warf er Martin zu Boden und bohrte seine Krallen in dessen Brustkorb. Martin keuchte schmerzerfüllt auf. Mit gefletschten Zähnen beugte sich der Wolf über ihn. >>Ihr habt mich betrogen<<, knurrte er. >>Ihr habt mir die Opfergaben für eine Seele vorenthalten.<<

Steve, der sich entsetzt an die Wand presste, stammelte: >>Nein, niemals. 300 Seelen, ich schwöre.<<

Der Wolf wandte seinen mächtigen Kopf Steve zu. >>Der Schwur eines weißen Mannes bedeutet nichts! Eine Seele kam in den Abendstunden nach South Mills. Ein Mann, ich kann ihn spüren. Auch für ihn stehen mir Opfergaben zu! Aber ich habe sie nicht bekommen. Ihr habt den Pakt gebrochen. Ich bin frei!<<

Steve schrie, während der Wolf Martin die Kehle zerfetzte, spürte in seiner Angst nicht, wie das warme Blut seines Freundes auf ihn spritzte und hörte nicht Martins gurgelnde Schreie.

Seinen eigenen Schmerz wenige Sekunden später nahm Steve nicht mehr wahr. Es schien ihm, als schwebe er an der Decke und sähe als Unbeteiligter, wie Miyaca ihn angriff. Das Letzte, was er auf dieser Erde erblickte, war der Wolf, der mit seinen Krallen die dicke Stahltür zerfetzte als sei sie aus Papier.

*

Im >>Pinto Inn<< hielten sich Amy und ihr Vater in höchster Alarmbereitschaft. Robert trat unterdessen in seinem Zimmer an das Fenster. Voll und rund hing jetzt der Mond über dem See und tauchte alles in ein silbriges Licht. Sein Blick glitt über die unbeleuchtete Straße. Die Menschen hier mussten Halloween wirklich verabscheuen.

Plötzlich konnte Robert sich des Gefühls nicht erwehren, beobachtet zu werden. Langsam schaute er über seine Schulter. Niemand stand hinter ihm. Er schaute wieder auf die Straße und erschrak. Rote Augen schauten zu ihm hoch und ein leises Knurren scholl herauf.

Im weichen Licht des Mondes schimmerte das Fell des riesigen Wolfes wie mit Silber überzogen. Im ersten Moment glaubte Robert, noch nie etwas Schöneres in seinem Leben gesehen zu haben. Fasziniert trat er einen Schritt näher an das Fenster heran. Da offenbarte sich die wahre Gestalt des Wolfes. Blut tropfte von seinen Lefzen, nach Rache sehnende Augen starrten ihn an. Ein Schrei des Entsetzens drang aus Roberts Kehle. In diesem Moment wurde ihm bewusst, wen er da sah. So schnell er konnte, rannte er aus seinem Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und stürmte die Treppe hinunter. Zitternd riss er die Küchentür auf. >>Er kommt, ich habe ihn gesehen<<, rief Robert panisch.

>>Natürlich kommt er<<, sagte Sam ruhig. >>Hast du Amy nicht zugehört?<<

Robert war leichenblass und schlug stöhnend die Hände vor sein Gesicht. >>Ich dachte ...<<

>>Sie lügt?<<, fragte Sam fassungslos. >>Glaubst du ernsthaft, über so etwas machen wir Witze?<<

>>Ja<<, sagte Robert. >>Ich meine, nein. Es klang wie eine klassische Halloweengeschichte, die einem Angst einjagen soll.<<

>>Du Vollidiot<<, zischte Sam. In diesem Moment hörten sie das Splittern der Eingangstür. Sam und Amy entsicherten die Waffen.

>>Eine Pistole gegen einen wütenden Gott? Im Ernst?<<, fragte Robert verzweifelt.

>>Hast du eine bessere Idee?<<, fragte Amy sarkastisch.

>>Habt ihr euch nie damit beschäftigt, was ihr macht, wenn er kommt?<<

>>Nein<<, fuhr Amy Robert wütend an. >>Jahrhundertelang war auch niemand so blöd, in der Halloweennacht hier aufzukreuzen!<<

Leise klackten die Krallen über den Dielenboden und sie hörten das Schnüffeln des Tieres. Ein tiefes Knurren drang durch die Küchentür, nur mühsam als menschliche Sprache zu entziffern. >>Robert<<, knurrte der Wolf, >>dir verdanke ich, dass ich nach all der Zeit meine Rache vollenden kann, Sterblicher.<<

>>Er kann sprechen?<<, flüsterte Robert völlig außer sich. >>Und er weiß meinen Namen?<< Er wusste nicht, was ihm mehr Angst einjagte. Amy und Sam erstarrten.

>>Ich gebe dir als Dank eine faire Chance<<, knurrte das Tier durch die geschlossene Tür. >>Lauf!<<

Eine Sekunde später hörte Robert das berstende Geräusch von Holz und sah, wie der mächtige Wolf durch die Tür brach. Sam reagierte sofort und feuerte. Jaulend warf sich der Wolf noch im Sprung herum, erkannte sofort, wer auf ihn geschossen hatte und griff an. >>Weg mit euch<<, brüllte Sam. Amy packte Robert und zerrte ihn durch die Hintertür. Weitere Schüsse hallten durch die Küche, denen ein Moment der absoluten Stille folgte, dann ein grauenhafter Schrei.

Blankes Entsetzen spiegelte sich in Amys Gesicht. Wo sie eben noch entschlossen gewesen war zu fliehen, versuchte sie jetzt, zurückzulaufen. Robert aber ließ es nicht zu. Er packte sie am Arm, rannte los und zog sie einfach hinter sich her. Sams Opfer sollte nicht umsonst gewesen sein. Zur Ortsgrenze!, brannte es in Roberts Kopf. Sie mussten sie erreichen!

Sam war nur der Auftakt gewesen. Miyaca stand in der Küche, blickte auf den zerfetzten Körper zu seinen Füßen, hob dann den Kopf und heulte. Er entfesselte seine ganze Macht und rief nach denen, die Jahrhunderte mit ihm auf diese Nacht gewartet hatten.

Hufgetrappel erscholl urplötzlich hinter Robert und Amy und wildes Kriegsgeschrei. Amy und Robert sahen sich erschrocken um. Für einen Moment zweifelten beide an ihrem Verstand. Geisterhafte Gestalten, Indianer längst vergangener Zeit in voller Kriegsbemalung und schwer bewaffnet, waren zurückgekehrt und überfielen das Dorf. Die Ersten erreichten die Häuser und drangen in sie ein. Grauenhaftes geschah.

Wie versteinert lauschten Amy und Robert dem Geschehen, sahen, wie die Indianer in jedes Haus eindrangen und waren gezwungen, mit anzuhören, wie sie sich ihre lang ersehnte Rache holten.

>>Flieh, du Dummkopf!<< Was auch immer Robert diesen Befehl gegeben hatte, er verfehlte seine Wirkung nicht. Endlich kam Leben in Robert und wieder zog er Amy einfach hinter sich her. South Mills war verloren, daran konnte er nichts mehr ändern, aber der Wolf hatte ihm eine Chance gegeben.

Völlig außer Atem erreichten sie die Ortsgrenze und Amys Wagen. Robert schubste sie grob auf den Beifahrersitz. Wie eine Puppe ließ Amy alles mit sich geschehen. Er selbst setzte sich ans Steuer und drehte hastig den Zündschlüssel, doch der Motor sprang nicht an. >>Sie kommen<<, flüsterte Amy tonlos.

Erst jetzt fiel Robert auf, dass sie den Außenspiegel nicht aus den Augen gelassen hatte. Er schaute über die Schulter zur Heckscheibe hinaus und wünschte sich im selben Moment, er hätte es nicht getan. Was - oder wer - dort auf ihn zukam, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf das Auto zu richten und drehte erneut den Zündschlüssel. >>Spring schon an<<, brüllte Robert. Endlich erklang das erlösende Geräusch des startenden Motors. Robert gab Gas, doch der Wagen bockte wie ein junges Pferd.

>>Robert!<< Amys Stimme war noch leiser geworden und Robert wusste, dass seine schlimmsten Befürchtungen sich jede Sekunde bewahrheiten würden. Das Kriegsgeschrei schwoll an.

Die Indianer erreichten das Auto. Die Heckscheibe zerbarst splitternd unter dem Schlag einer Axt. Es ist vorbei, dachte Robert und begann zu beten. In diesem Moment machte der Wagen einen Satz und schoss los.

Kaum hatten sie die Grenze passiert, waren die Indianer verschwunden.

Leise weinend saß Amy auf dem Beifahrersitz, während Robert den Wagen mechanisch in Richtung Highway lenkte.

Halloween ist wahr, dachte Robert sich. Verdammt! Nie wieder würde er einer Halloweennacht fröhlich und entspannt entgegensehen können. Hoffentlich hatte Beverly auf der Party mehr Spaß als er in dieser Nacht gehabt hatte. Wobei das ja nicht besonders schwer sein konnte, oder?

Miyaca

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