Читать книгу Mami Bestseller 56 – Familienroman - Christiane von Torris - Страница 3

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Thorsten Hallberg stand auf und ging zu dem breiten Fenster seines großzügig eingerichteten Büros in den Hallberg-Textil-Werken. Der Fabrikhof war menschenleer, längst waren die Arbeiter und Angestellten durch das große Tor ihrem wohlverdienten Feierabend entgegengegangen. Die elektrische Uhr über dem Pförtnerhaus zeigte zehn Minuten vor achtzehn Uhr. Die meisten Fenster der zahlreichen Fabrikgebäude waren dunkel, nur da und dort schien Licht in den Hof, und aus den geöffneten Fenstern klang fröhliches Singen von Reinmachefrauen, die um diese Stunde mit ihrer Arbeit begannen.

Thorsten fuhr sich mit der linken Hand durch sein dichtes dunkles Haar, dann strich er sich über die vom Lesen endloser Zahlenkolonnen und Aktenstücke müde gewordenen braunen Augen. Er seufzte, da er mit der ganzen Arbeit, die ihm da heute morgen auf den Schreibtisch gelegt worden war, nicht zurechtgekommen war. Dann nahm er seine Zigarettenpackung vom Schreibtisch und zündete sich eine an. Er rauchte in tiefen Zügen, während er wieder ans Fenster ging und es weit öffnete.

Der Himmel war türkis und rosa, dazwischen wanden sich, tanzenden Schlangen gleich, zartviolette und dunkelrote Bänder, einmal zu einer Einheit verschlungen, dann wieder eilig auseinanderstrebend. Es war ein faszinierendes Schauspiel. Thorsten sah gebannt zu, dann holte er sein Reißbrett mit dem aufgespannten weißen Bogen und die Pastellkreiden. Mit kräftigen Strichen bannte Thorsten Hallberg auf das Papier, was seine auf den Himmel und sein wechselvolles Schauspiel konzentrierten Augen sahen. Jetzt wurde das Himmelgemälde um einen Ton heller, und Thorsten ließ seinen auf einem Tisch montierten Filmapparat laufen, den er stets betriebsbereit und nun an das Fenster herangerollt hatte.

Nach fünf Minuten war der Zauber am Firmament vorüber; hauchzarte Nebelschleier zogen auf, die Konturen der Bäume, die draußen auf der Lichtensteiner Allee standen, wurden dunkler.

Thorsten Hallberg schob das Reißbrett an seinen gewohnten Platz, zog die helle Arbeitslampe, die dar­überhing, tiefer herunter und setzte sich davor. Im Zimmer von Emma Prunk, seiner Sekretärin, läutete ununterbrochen das Telefon. Thorsten hörte es mit einem Ohr und war froh, daß Emmchen schon heimgegangen war und nicht mehr zu ihm durchstellen konnte. Jetzt, da er die Farben des Himmels, die er in sich aufgenommen hatte, auf das Papier bringen und festhalten wollte, durfte ihn niemand stören.

Doch der junge Hallberg irrte sich. Kaum hatte er zehn Minuten an seinem Entwurf gearbeitet, da wurde die Tür aufgerissen. Ärgerlich drehte sich Thorsten um und wollte schon die Putzfrau anfahren, die ihn zu stören wagte, als ihm das Wort im Mund und die Freude im jungen Gesicht erstarb.

»Thorsten, warum meldest du dich nicht? Soll ich mich totklingeln, um mit meinem Herrn Sohn sprechen zu können?« polterte Konstantin Hallberg.

Er war schmal und drahtig, kleiner als der Sohn, der ihn bei weitem überragte, als er dem Vater jetzt entgegenkam.

»Bist du fertig mit der Kalkulation? Können wir morgen mit Dumont darüber reden?« fragte Konstantin Hallberg. Die erloschene Zigarre hing ihm im Mundwinkel, man sah ihn selten ohne eine dieser dunklen Havannas. Jetzt nahm er ein Streichholz und zündete sie neu an. Die Asche fiel über sein Revers, er achtete nicht darauf.

»Ich bin nicht ganz damit zu Rande gekommen«, sagte Thorsten. Er hatte eine angenehme, warme Stimme, die so sympathisch war wie alles übrige an dem jungen Mann, der auffallend gut aussah.

Grollend sah der Vater Thorsten an. »Was heißt, nicht damit zu Rande gekommen?«

Thorsten zuckte die Achseln. »Dazu hast du doch unseren Betriebswirt, der hat das schließlich studiert, es ist doch nur eine Farce, wenn ich mich damit abgeben soll, Vater!«

»Als Juniorchef mußt du von allem etwas verstehen, Thorsten! Du wirst nach mir das Werk führen, es soll florieren und wachsen und nicht durch schlechtes Management rückläufig werden. Du weißt ohnedies, daß wir durch die internationale Wirtschaftslage im Augenblick nicht so rosig dastehen, wie es sein sollte.«

»Um so mehr mußt du Fachleute für die jeweiligen Gebiete einsetzen. Meine Stärke liegt anderswo, das weißt du!«

»Ja, ja, in deiner Pinselei, ich weiß schon, aber das ist Larifari, in erster Linie hast du ein scharf kalkulierender Geschäftsmann zu sein«, donnerte der alte Hallberg wütend.

»Vater, im großen und ganzen verstehe ich von allem etwas. Aber nicht bis in die kleinste Detailfrage. In der Politik hat jeder Minister schließlich auch seine Referenten, die fachlich geschult sind, und auf diese Mitarbeiter muß er sich verlassen können. Ich finde es richtig, die entsprechenden Leute zu haben und sich nicht zu zersplittern. Trotzig sah Thorsten den Vater

an.

»Na ja«, räumte Konstantin Hallberg ein, »ganz von der Hand zu weisen ist das nicht. Du bist instinktsicher und hast bei den Sitzungen oft erstaunliche Dinge von dir gegeben. Trotzdem möchte ich dich bitten, dich mehr auf das Kaufmännische zu konzentrieren. Ich möchte nicht noch einmal erleben, daß du mit etwas nicht zu Rande kommst. Verstanden?«

»Ja. Du schreist ja schließlich laut genug!«

»Na also!«

»Im übrigen bringt Monsieur Verrin in seiner nächsten großen Modenschau drei Modelle, die aus Stoffen nach meinen Entwürfen gefertigt wurden«, sagte Thorsten.

Konstantin Hallberg tat dies mit einer Handbewegung ab. »Und bleibt doch nichts als Spielerei. Du hast noch keine Mark selbst verdienen müssen, Thorsten. Sonst würdest du anders reden und energischer zupacken.«

»Als dein Sohn war ich nicht gezwungen, Geld zu verdienen. Meine Ausbildung habe ich lückenlos absolviert, was willst du eigentlich mehr, Vater?«

»Tja, das kann ich nicht so mit ein paar Worten sagen. Lassen wir es also. Wenn du unbedingt zeichnen willst, dann entwirf Gebrauchsmuster, die gefragt sind, und verleg’ dich nicht auf exklusive Luxusgeschichten, die nicht Hand und Fuß haben!«

»Das liegt mir nicht, diese ordinären Gebrauchsmuster, die man überall zu kaufen bekommt, dafür hast du ja die Angestellten, die sich mit derlei Entwürfen abgeben müssen«, sagte Thorsten arrogant. »Mir schwebt Höheres vor.«

»Und mir kommt es vor, daß du selbst schwebst, Junge! Manchmal glaube ich, mit dir habe ich damals eine Niete gezogen«, sagte der Fabrikant leise.

»Was meinst du damit?«

Hallberg senior winkte wieder ab. »Nichts, nichts, vergiß es!«

Thorsten drehte sich zum Fenster und starrte in die Dämmerung hinaus. Amselschlag klang süß durch die Stille, doch er hörte ihn nicht.

»Sei vernünftig, Thorsten, und kümmere dich jetzt wirklich aus­schließlich um die wesentlichen Belange unserer Firma. Dumont sitzt uns mit seinen Forderungen im Genick. Weiß der Teufel, wie der Kerl immer seinen gewaltigen Vorsprung schafft. Er mußte einen besonderen Riecher haben. Du bist einfach zu weich, Thorsten. Damit kommst du nicht weiter.«

Konstantin Hallberg warf die heruntergebrannte Zigarre in den Aschenbecher und zündete sich gleich eine neue an, nachdem er sie recht umständlich eingekerbt und abgeschnitten hatte. Dann trat er vor den Sohn und sah ihn scharf an.

»Wann soll übrigens deine Hochzeit mit Elena Dumont endlich stattfinden? Du schiebst alles auf und drückst dich vor Entscheidungen. So geht es doch nicht weiter, wirklich nicht! Gerhard hat mich recht direkt danach gefragt.«

Wieder zuckte Thorsten mit den Achseln. »Ich weiß nicht, ich habe es eigentlich nicht eilig.«

»Hm, du wohl nicht, aber Elena! Sie ist ein paar Jahre älter als du, und ich könnte mir denken, daß sie endlich unter die Haube will. Außerdem ist es zu riskant, wenn du noch länger wartest. Es könnte leicht sein, daß ein anderer dir den Goldfisch vor der Nase wegschnappt!«

»Na, hör mal, Papa, Elena liebt mich schließlich. Und ich sie auch. Ich heirate sie nicht deswegen, weil sie, wie du es bezeichnest, ein Goldfisch ist!«

»Schon gut, Thorsten. Aber die Tatsache, daß sie was in die Scheune einbringt, ist nicht zu übersehen. Du widersprichst dir!«

»Wieso?«

»Weil du in einem Satz sagst, du hättest es mit der Hochzeit nicht eilig, und im nächsten, daß du sie liebst«

»Das eine schließt das andere nicht aus«, sagte Thorsten diplomatisch.

*

Elena Dumont saß ein paar Tage später an der Bar des Golfclubs von Straßberg und lachte immer wieder hell und laut auf über alles, was ein paar junge Clubkameraden ihr erzählten. Sie gab sich charmant und gelöst, obwohl sie innerlich kochte und immer wieder aus schmalen Augen zur Tür sah. Sie fand es unerhört, daß Thorsten nicht, wie verabredet, in den Club gekommen war, um mit ihr zu spielen. Er hatte es nicht einmal für nötig gefunden, sie anzurufen und sich zu entschuldigen. Und das ihr, Elena Dumont! Sie nahm sich vor, sich das nicht länger bieten zu lassen und ihm gehörig die Meinung zu sagen, wenn sie ihn wiedersah. Am liebsten hätte sie die Verlobung gelöst.

Doch genau das Gegenteil war der Fall. Sie hatte Angst, daß sie Thorsten verlieren könnte, den sie abgöttisch liebte. Es war höchste Zeit, daß sie heirateten. Erst wenn sie seinen Namen trug, würde sie seiner etwas sicherer sein. Nachdenklich sah Elena in ihr Glas, ihre klassisch schönen, doch wie aus Marmor gemeißelten und daher stets etwas kalt und hochmütig wirkenden Züge wurden weicher und lieblicher.

Kitty Marlon sah ihre Freundin spöttisch an und schüttelte den Kopf.

»Zeig doch den anderen nicht, daß du dich ärgerst, weil dich Thorsten versetzt hat«, flüsterte sie Elena zu.

»So ein Unsinn, wie kommst du denn auf so eine Idee, Kitty!«

»Schließlich kenne ich dich – und Thorsten! Du liebe Zeit, ich möchte mir keinen Mann aufhalsen, dessen ich nicht sicher sein könnte!« Kitty lachte und sie sah dabei boshaft aus. Wo sie konnte, machte sie Thorsten bei Elena schlecht. Denn dieser hatte ihre allzu heftigen Beweise ihrer Zuneigung für ihn einmal brüsk zurückgewiesen. Das konnte sie ihm nicht verzeihen. Da auch Kitty Marlon zu den superreichen nichtstuenden Mädchen wie Elena Dumont zählte, hatte sie genügend Zeit, um sich mit derlei Dingen zu belasten.

»Aber ich bitte dich, Kitty, ich bin mir Thorstens doch wirklich mehr als sicher«, sagte Elena. Sie war viel zu stolz und hochmütig, um selbst ihrer besten Freundin anzuvertrauen, daß sie schon mehr als einmal um Thorsten gezittert hatte.

Jetzt atmete Elena auf, als Thorsten endlich kam. Aus schmalen Augen sah sie ihn, tat aber so, als wäre sie intensiv mit den anderen beschäftigt. Sie neigte sich heftig zu einem der jungen Burschen, die ihr den Hof machten, legte ihre Hand auf dessen Schulter und tat recht vertraut, um Thorstens Eifersucht zu schüren.

Dieser wurde bald von einer Gruppe junger Mädchen umringt, die hinter ihm in das Clublokal gestürmt war. Ihre Haare waren zerzaust, und sie hatten rote Wangen von dem Spiel, das sie mit größtem Ehrgeiz absolviert hatten.

»Bestellst du uns Cola, Thorsten?« fragte die Jüngste, und die anderen riefen lautstark: »Bitte, ja!«

»Wenn möglich mit Rum«, verlangte ein dunkelhaariges Mädchen, das den gutaussehenden Thorsten Hallberg schon lange anhimmelte.

»Kommt nicht in Frage, in eurem Alter haben wir’s auch ohne Rum getrunken«, sagte er.

»Na, jetzt bist du ja bei den Senioren«, erwiderte die Kleine keck und lachte spöttisch. Dabei deutete sie mit dem Kinn zum rückwärtigen Teil des Clubraumes, wo Elena mit ihrer Gruppe an der Bar saß.

»Himmel, das hätte ich ja beinahe vergessen«, sagte Thorsten und schlug sich an die Stirn. »Tschüß, ihr Grünzeug!«

Er bestellte für alle Cola und Gebäck auf seine Rechnung und schlenderte dann lässig zu Elena.

»Hallo, da bin ich, wie ich sehe, geht’s ja schon urgemütlich bei euch zu«, sagte er. Er beugte sich zu Elena hinunter und küßte sie flüchtig, sehr flüchtig auf die Wange. Sie wandte ihren Kopf ab und bemühte sich um Beherrschung. Am liebsten hätte sie Thorsten vor allen eine Szene gemacht. Was fiel ihm bloß ein, sie erst zu versetzen und dann zu übersehen, während er mit der Juniorengruppe flirtete und herumalberte!

Thorsten setzte sich zwischen sie und Kitty, die ihn mit einer Handbewegung dazu aufgefordert hatte. Es war wenig Platz, Kitty lehnte sich eng an Thorsten, dem das gar nicht angenehm war. Er bestellte sich einen Campari und fragte Elena nach ihren Wünschen. Da stand sie brüsk auf.

»Ich habe Kopfschmerzen; ich möchte nicht mehr, wir fahren nach Hause«, sagte sie.

»Aber davon haben wir ja gar nichts gemerkt«, riefen die anderen. »In unserer Gesellschaft werden deine Kopfschmerzen viel rascher vergehen als allein zu Hause!«

»Ich bin nicht allein, mein Verlobter ist ja bei mir«, erklärte Elena mit einem hinreißenden Lächeln, das sie immer hervorzaubern konnte, wenn sie es einsetzen wollte. »Komm, Liebling«, setzte sie noch hinzu und berührte Thorsten am Arm.

Er zögerte nur kurz, dann stand er auf. Thorsten fürchtete, Elena würde eine Szene heraufbeschwören, und das wollte er vermeiden. So gab er nach, obwohl er nicht an ihre Kopfschmerzen glaubte.

»Du meine Güte, was es selbst heutzutage noch für folgsame Männer gibt«, rief Kitty Marlon laut und spöttisch. Es bereitete ihr Genugtuung, Thorsten zu blamieren.

»Ihr Campari, Herr Hallberg«, sagte der Barkeeper und schob das dunkelrote Getränk über den Tresen.

»Der Dame hier, zur Abkühlung«, sagte Thorsten und deutete auf Kitty.

Elena zerrte ihn am Arm, ging ihm hocherhobenen Kopfes voraus und Thorsten folgte ihr. Als er an der Juniorengruppe vorüberging, wurde ihm der Dank für die großzügige Einladung zur Cola zugerufen. Thorsten winkte lässig. Elena drehte sich um und schaute ihn giftig an. Da seufzte der junge Mann und ging ihr schweigend nach.

»Hast du deinen Wagen hier, Elena?«, fragte Thorsten draußen am Parkplatz und sah sich um.

»Nein, der Chauffeur hat mich hergebracht; es war doch ausgemacht, daß du kommst und mit mir spielst«, sagte sie. »Aber du hast es nicht einmal der Mühe wert gefunden, rechtzeitig abzusagen.«

»Tut mir leid, ich wußte es vorher nicht«, sagte Thorsten und schloß die Tür seines roten Maserati auf. Dann half er Elena höflich hinein.

Schweigend fuhren sie die breite Simonis-Chaussee hinunter.

Vor der letzten Kurve hielt Thorsten den Maserati am Waldrand an. Er kurbelte das Fenster herunter; würzige Waldluft, der köstliche Geruch nach Blättern, Moos und Erde strömten herein.

»Wollen wir ein Stück durch den Wald laufen, das würde dir guttun und die Kopfschmerzen vertreiben«, schlug Thorsten vor.

»Ich bin doch nicht verrückt! Wie langweilig, außerdem habe ich nicht die richtigen Schuhe an!«

»Schade. Ich hätte es mir schön vorgestellt. Aber wie du willst. Ich bringe dich nach Hause, Elena, und gehe dann noch allein ein Stück.«

»Warum willst du das unbedingt?«

»Mir schwebt ein Muster von Farnen und Efeu vor, das ich entwerfen will – und die Natur ist die beste Vorlage dazu.«

»Ach, der Herr Künstler«, sagte Elena spöttisch. Thorsten war verletzt und schwieg.

Dann lenkte sie wieder ein. »Liebling, ich werde den Flug auf die Bermudas für den Dreißigsten buchen, habe ich beschlossen. Ich nehme an, es ist dir recht.«

»Nein, ich kann nicht«, entgegnete Thorsten.

»Was heißt das?« fuhr Elena auf. Ihre grünschimmernden Augen wurden ganz schmal und ihr schöner geschwungener Mund verzog sich zu einem häßlich dünnen Strich.

»Du kannst auch nicht. Wir fahren zusammen nach Paris. Zur Modenschau, wo drei der schönsten Modelle vorgeführt werden, die aus meinen Entwürfen gefertigt wurden!« Stolz und Freude klangen aus Thorstens Stimme; er war ganz erregt und packte Elena an den Schultern. »Ich schwimme mich damit frei und bin endlich auf dem Gebiet gelandet, das mir wirklich liegt; verstehst du, was das für mich bedeutet? Mein Wildrosenmuster findet auch Absatz, hat mir Vater gesagt.«

»Natürlich! Es ist an die Dumont-Kaufhauskette verkauft worden«, sagte Elena und hob ihre Hand an Thorstens Wange. »Ich habe es Papa untergejubelt und schmackhaft gemacht, damit du deine Freude hast, Liebling!«

Thorsten preßte die Zähne zusammen; Elenas Worte taten ihm weh, aber er faßte sich rasch. Es hatte ja alles keinen Sinn, was er unternahm. Er schaffte es nicht, gegen den Strom zu schwimmen. Dumonts Einfluß war zu mächtig, und die Hallberg-Werke waren von ihm abhängig. Thorsten wußte, daß er sich eigentlich freuen mußte, so gänzlich ohne jede Anstrengung eines Tages in den Besitz des Kapitals der Dumonts zu kommen. Warum wehrte er sich dagegen? Alle meinten es doch so grenzenlos gut mit ihm! Seine Mutter Henriette, die ihn von klein auf verwöhnt und verhätschelt hatte, Elena, die zwar launisch war, aber ohne ihn offensichtlich nicht zu leben bereit war, was paßte ihm eigentlich nicht?

»Du sagst ja gar nichts, Thorsten«, fragte Elena, jetzt doch etwas kleinlaut.

»Weil ich überwältigt von deiner Großmut bin, Liebes! Also dir habe ich das Geschäft mit dem Wildrosenmuster zu verdanken!«

»Du sagst das so komisch; was ist los?«

»Nichts Besonderes. Ich habe nur eben von der Idee Abschied genommen, jemals einen wirklich eigenen Gedanken zu verwirklichen. Mir wird ja doch alles vorgeschrieben, alles wird bestimmt!«

»Freu dich doch darüber, nicht jeder zieht das große Los so wie du«, meinte Elena. »Unser Leben ist doch das aufregendste, was es gibt. Ich möchte nur wissen, was dir daran nicht paßt! Wir haben Geld, mehr, als wir jemals ausgeben können, und wenn wir hundert Jahre alt werden˛ wir sind jung und gesund, anerkannt und beneidet von allen, das macht doch Spaß, oder?«

»Ja, es macht Spaß, das muß ich zugeben. Vielleicht bin ich nur in einer depressiven, nachdenklichen Phase. Verzeih mir, wenn ich kein guter Gesellschafter bin.«

Da schlang Elena ihre Arme um Thorstens Nacken und legte ihre Wange an die seine. Sie duftete nach Chanel˛ ihre immer weiße Haut war glatt und warm, und ihr Mund lag verlockend nah an seinem. Thorsten küßte Elena, und sie erwiderte seinen Kuß mit einer Leidenschaft, die die seine bei weitem übertraf. Als sie wieder zu sich fand, glitzerte Triumph in ihren Augen, wieder einmal Thorstens kurzen Widerstand gebrochen zu haben.

»Also abgemacht, dann fahren wir zusammen nach Paris?« fragte er, als sie sich voneinander gelöst hatten.

Elena zog eine Zigarette aus ihrer Tasche, Thorsten gab ihr Feuer. Sie schüttelte den Kopf, stieß den Rauch aus und schaute den kleinen Rauchwölkchen nach.

»Nein, ich kann wirklich nicht, Liebling. Ich muß auf die Bermudas fliegen. Papa will uns dort doch ein Ferienhaus kaufen, dir und mir, ich muß es mir ansehen. Bis zum Vierten reserviert es der Makler für uns. Wann ist deine Modenschau in Paris?«

»Am Zweiten, Elena.«

»Dann fliegst du eben zwei Tage nach mir, und wir treffen uns auf den Bermudas, in Hamilton, einverstanden?« Elena rieb ihre Nase an Thorstens Wange und schnurrte wie ein zufriedenes Kätzchen. »Dort am Atlantik werden wir das Paradies finden!«

»Ich hoffe, daß es sich machen läßt. Vater hat da gerade schwierige Verhandlungen, und ich muß mich vorher durch die Kalkulationen arbeiten, ob ich will oder nicht.«

»Bah, dein Vater!« rief Elena verächtlich.

»Wetten, daß ich ihn rumkriege und du mitkommen kannst?«

»Wir werden ja sehen«, schränkte Thorsten ein, der nicht so rasch ja sagen wollte. Aber auch er wußte, daß geschah, was Elena sich in ihrem eigensinnigen, kleinen bildschönen Kopf setzte. Immerhin kannten sie sich von Kindesbeinen an, und Thorsten Hallberg konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, daß Elena jemals ein Wunsch nicht erfüllt worden wäre!

»Thorsten, mein Schatz, denk dir, Papa will das Haus am Atlantik dir und mir schenken; weißt du, was das bedeutet?« fragte Elena sanft.

Er wußte, daß sie endlich einen Termin für die Hochzeit von ihm hören wollte.

Aber er brachte es einfach nicht fertig, sich endgültig festzulegen.

Eine Sternschnuppe, deutlich sichtbar am allmählich samtdunklen Abendhimmel, fiel vom Himmel und verlor sich hinter den Wipfeln der hohen Tannen.

»Na, hast du dir etwas gewünscht?« fragte Elena. »Ich brauche mir nichts zu wünschen, ich habe alles, vor allem dich«, setzte sie hinzu.

Thorsten gab keine Antwort. O doch, er wünschte sich etwas, aber er konnte es nicht beim Namen nennen. Es war eine unbestimmbare Sehnsucht, die an ihm zehrte und ihn unzufrieden sein ließ.

*

Vierzehn Tage später reiste Thorsten allein nach Paris. Elena Dumont war ein paar Tage vor ihm auf die Bermudas geflogen und erwartete ihn dort.

Die Modenschau im kleinen Palais von Monsieur Verrin am Luxemburg Park war ein Erlebnis. Atemlos saßen die Journalisten aus aller Herren Länder und viele Prominente, die geladen worden waren, in dem großen Saal. In dem Licht, von Myriaden von Kerzen, das aus den venezianischen Leuchtern auf das spiegelnde Parkett und die dicken, weichen Teppiche fiel, standen mit roter Seide bezogene zierliche Stühlchen. Ein Laufsteg zog sich in Form eines S durch den eleganten Saal, dessen Wände mit eierschalenfarbenem Samt bespannt waren. Herrliche Blumenarrangements in weißen, blauen und zartrosa Tönen hingen von der Decke, und über allem lag ein feiner Duft und die prickelnde Atmosphäre, wie sie meist bei einem außergewöhnlichen Ereignis herrscht.

Monsieur Verrin, zierlich und lebhaft, in einem eleganten Anzug aus weißer Wildseide, war ganz in seinem Element. Er hatte für seine Modeschöpfungen die schönsten Mannequins, den vornehmsten Rahmen und immer die zeitlosesten Modelle. Auch jetzt wurde er von Beifall überschüttet für seine großartigen Einfälle, die doch immer schlicht waren und dadurch um so vornehmer und kostbarer wirkten.

»Sie werden überrascht sein, lieber Hallberg«, sagte Verrin zu Thorsten, nachdem er ihn begrüßt hatte, »mein Lieblingsmodell ist aus einem Ihrer Stoffe. Ihre beiden anderen laufen so mit, aber das eine ist phantastisch. Wahrscheinlich, weil ich die richtige Trägerin dafür gefunden habe. Nun, Sie werden ja sehen. Hinterher gehören Sie selbstverständlich zu den Gästen, die dann noch privat bei mir bleiben. Einverstanden?«

»Nur zu gern, Monsieur Verrin. Jetzt bin ich aber wirklich gespannt«, sagte Thorsten und suchte dann seinen Platz in einer der mittleren Reihen auf.

Die Mannequins waren alle ganz blaß geschminkt, sie hatten den tiefroten, herzförmig gemalten Mund und die Lockenfrisuren, die in diesem Jahr von der Mode diktiert wurden. Alle hatten, wenn auch in verschiedenen Farbtönen, die gleichen Perücken auf, und man konnte sich kaum vorstellen, wie die gutgewachsenen jungen Damen wirklich aussahen.

Thorsten Hallberg war niedergeschlagen, als er die Kleider sah, die aus den Stoffen, die er entworfen hatte, gefertigt worden waren. Sie wirkten fad und verschwommen, auf dem Papier waren sie zweifellos ansprechender gewesen. Ich habe doch nicht genug Talent, dachte Thorsten bekümmert, mein Vater hat schon recht, wenn er diese Arbeit als Larifari bezeichnet.

Doch dann kündigte Monsieur Verrin die letzten Modelle an. Verwandelt erschienen die Mannequins nun auf dem Laufsteg. Jede mit ihrer natürlichen Frisur und fast ohne Make-up. Beifällige Bemerkungen schwirrten durch den Raum, und eifrig notierten die Berichterstatter und Journalistinnen, was sie da an Schönem sahen.

Wie ein Dirigent wies André Verrin die schönen Damen an, sich im Hintergrund zu halten. Dann schaute er in die Runde.

»Nun kommt die Krönung der diesjährigen Schau, mein Modell Sonnenkönigin, voilá«, rief Verrin.

Der schwere eierschalenfarbene Samtvorhang öffnete sich, und heraus trat ein wunderschönes Mädchen mit langem bernsteinfarbenem Haar, das über die gebräunten Schultern fiel. Es trug ein in seiner Einfachheit raffiniert geschnittenes Gewand, dessen alt­ägyptisches Muster in den Farben Rost, Türkis, Smaragd und allen Schattierungen von Sonnengold gehalten war.

»Phantastisch, einfach hinreißend!« rief die Herzogin, die neben Thorsten Hallberg saß, und gleich ihr sprangen viele der begeisterten Zuschauer auf und drängten zum Laufsteg.

Wie gebannt hing Thorstens Blick an der herrlichen Erscheinung. Langsam ging nun auch er näher. Die ›Sonnenkönigin‹ trug ihren Namen zu recht. Sie war von strahlender Natürlichkeit; ihr Lächeln schien echt und nicht aufgesetzt, wie es in diesem Beruf doch meist ist; der warme Goldton ihrer Haut paßte wundersam harmonisch zu den satten Farben des langen, an den Seiten geschlitzten Gewandes.

Thorsten wußte nicht, wie ihm geschah; er trank das herrliche Bild förmlich in sich hinein, und etwas rührte zugleich sonderbar an sein Herz. Da richtete die ›Sonnenkönigin‹ ihre Augen auf ihn; er stand sehr nahe vor ihr und sah, daß sie tiefdunkelblau waren und wie von innen her leuchteten. Sie war noch sehr jung, wohl kaum mehr als achtzehn, schätzte Thorsten.

Später, als sich der Tumult gelegt hatte, machte Monsieur Verrin Thorsten Hallberg mit der ›Sonnenkönigin‹ bekannt. Die meisten Zuschauer waren zu einem Cocktail geladen worden und standen zwanglos plaudernd herum.

»Das ist der Mann, der die Sonne zum Strahlen gebracht hat; sehr poetisch, nicht wahr?« meinte Verrin lachend, glücklich über seinen neuen Erfolg. »Er heißt Thorsten Hallberg, ein Landsmann von Ihnen, Andrea!«

Thorsten verbeugte sich vor dem Mädchen, das nun ein schlichtes eisblaues Kostüm aus leichter Wolle trug.

»Guten Abend, ich heiße Andrea Eggerth«, sagte sie und reichte ihm die Hand. »Ich habe mich sehr gefreut, daß ausgerechnet ich das schönste Kleid tragen durfte.«

»Es hätte zu niemandem besser gepaßt, Fräulein Eggerth«, erwiderte Thorsten. »Fast kommt es mir vor, als hätte ich an Sie gedacht, als ich den Stoff entwarf.«

»An mich?« Sie lachte und warf den Kopf ein wenig zurück. »Aber Sie haben mich doch gar nicht gekannt!«

»Manchmal erfindet man jemanden, Dichtern muß es mit ihren Personen genauso gehen, die dann zu leben anfangen. Wahrscheinlich habe ich von Ihnen geträumt.«

Es klang nach einem leichten Kompliment, aber als Andrea Eggerth Thorsten Hallberg ansah und in seine sanften, braunen Augen blickte, spürte sie, es war ihm ernst mit dem, was er sagte. Ein wenig verlegen strich sie sich das Haar, das sie nun aufgesteckt trug, über den Ohren zurück.

Monsieur Verrin war längst bei einer anderen Gruppe, nun kam er zu den beiden zurück, einen rotgesichtigen gewichtigen Herrn im Schlepptau.

»Andrea, das ist Mike Hogart aus New York, er will Sie unter Vertrag nehmen«, sagte Verrin und tänzelte wieder davon.

Hogart, der in Amerika eine angesehene Künstler-Agentur besaß und Manager der besten Mannequins und Fotomodelle – im ehrbarsten Sinn – war, redete gleich wie ein Wasserfall auf Andrea ein, nachdem er auch Thorsten Hallberg begrüßt hatte.

»Sie bekommen den besten Vertrag und ein gigantisches Honorar, obwohl Sie doch erst Anfängerin sind. Sie werden nur für die allerbesten Firmen arbeiten, ihr Bild wird bald, hochbezahlt, von den internationalen Illustrierten lächeln. Sie werden…«

Noch ehe er weiterreden konnte, machte Thorsten eine energische Handbewegung. Dann nahm er Andrea am Ellenbogen und hielt sie zwingend fest.

»Mister Hogart, ich habe bereits Pläne mit Fräulein Eggerth; wir wollen sie heute abend besprechen. Bitte haben Sie die Freundlichkeit und gedulden Sie sich – bis übermorgen, würde ich sagen. Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte.«

»Wo kann ich Sie erreichen, Miß Eggerth?«

»Über Monsieur Verrin«, erwiderte sie. Thorsten hielt sie immer noch am Ellenbogen fest, und sie wunderte sich ein bißchen über sich selbst, daß sie es so geschehen und ihn einfach über sich verfügen ließ.

»Dann geben Sie mir wenigstens eine Option, denn wer weiß, wem Sie heute noch in die Hände laufen«, meinte der Agent.

»Die haben Sie, bis wir über die Sache sprechen«, willigte Andrea ein.

Hogart zog einen Notizblock aus seiner Tasche und hielt ihn ihr hin. »Geben Sie mir das bitte schriftlich!«

»Sorry, Mister Hogart. Aber ich pflege zu halten, was ich verspreche.«

»Na gut, Ihnen glaube ich.« Er grinste breit. Und kummervoll durch trübe Erfahrungen setzte er hinzu: »Obwohl man das in diesem harten Geschäft nie sollte!«

Thorsten zog Andrea Eggerth beiseite.

»Wäre es Ihnen recht, wenn wir irgendwohin gingen, wo wir ungestört miteinander reden können?«

Sie wollte nein sagen, höflich ablehnen, aber als sie seine bittenden Augen sah, brachte sie es nicht fertig. Vom ersten Augenblick an, als dieser elegante, ein wenig verträumt wirkende und so überaus gut aussehende junge Mann an den Laufsteg gekommen war, hatte ihr Herz ganz unkontrolliert heftiger zu schlagen begonnen. Und das tat es immer noch, immer stärker in seiner Nähe!

»Gut. Aber zuerst müssen wir noch ein Glas Champagner mit Monsieur Verrin trinken. Ich habe ihm viel zu verdanken«, sagte sie leise.

Bei dieser letzten Bemerkung, die Thorsten falsch verstand, begann ihn Eifersucht zu quälen. Seine Finger gruben sich hart in Andreas Arm, und er schaute finster vor sich hin. Sie spürte, was in ihm vorging und lächelte.

»Aber doch nicht so«, beruhigte sie ihn, »er war immer überaus korrekt zu mir!«

André Verrin wollte mit Thorsten Hallberg einen Liefertermin für den Stoff des Modells ›Sonnenkönigin‹ vereinbaren, das er in einer größeren Stückzahl anfertigen wollte.

»Es tut mir leid, Monsieur Verrin, aber dieser Stoff ist unverkäuflich!« erklärte Thorsten.

»Unverkäuflich? Ich dachte, die Hallberg-Werke stellen Stoffe her, um mit ihnen zu handeln, eh?«

»Im allgemeinen schon und jeden anderen können Sie haben. Aber diesen gibt es nur einmal. Ich möchte Sie bitten, mir das Kleid zu verkaufen, das Fräulein Eggerth getragen hat!« Thorsten lächelte erst Verrin, dann Andrea zu, er war äußerst charmant.

Verrin war einen Moment irritiert, dann brach er in ein herzliches Gelächter aus. »Mon dieu, das ist aber schnell gegangen«, japste er. Dann wurde er ernst. »Das Modell, meine Idee, brauchen Sie mir nicht abzukaufen, Herr Hallberg. Auch ich verehre es Andrea, die dieses einmalige Gewand wie keine andere Frau zu tragen weiß! Bonne chance, euch beiden, viel Glück«, setzte er hinzu und ging davon.

»Kommen Sie, Fräulein Eggerth, hier hat man keine Minute Ruhe, um miteinander zu reden«, sagte Thorsten und führte Andrea zur Tür.

Sie war so verwirrt und sprachlos, daß man ihr das herrliche Kleid geschenkt hatte, daß sie ihm widerstandslos folgte. Sie fühlte sich zu dem charmanten jungen Mann hingezogen, wie noch nie zuvor zu einem anderen!

*

Der Abend, die Nacht, für beide waren sie wie ein Märchen. Zuerst fuhren sie auf einem der roten Ausflugsboote auf der Seine und betrachteten die in tausend Lichtern glitzernde Stadt, die zu den schönsten der Welt zählt.

Andrea freute sich wie ein Kind. Sie deutete hierhin und dorthin, voll unverbildeter Aufnahmefähigkeit und natürlicher Gelöstheit, die Thorsten in der Welt, in der er sich bewegte, noch nie erlebt hatte. Er selbst mußte sie immerfort ansehen, wie sie im Fahrtwind saß, das lebendige honigbraune Gesicht vom Deckenlicht überflutet, die Augen sprühend und dunkel, vor Freude und Begeisterung.

Als sie ausstiegen, mietete Thorsten ein Taxi und zeigte Andrea die schönsten Plätze der herrlichen Stadt.

Sie fuhren durch den Bois de Boulogne, es duftete nach Verbenen, die hier mannshohe Sträucher bildeten, und nach den berühmten Rosen von Malmaison, die Napoleons Josephine so geliebt hatte. In einem Terrassencafé mitten im Park aßen sie und tranken dazu einen feurigen Burgunder. Thorsten hob Andrea Eggerth sein Glas entgegen.

»Auf unsere Begegnung, Sonnenkönigin«, sagte er und sah ihr tief in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand, bis ihre Lider zu zittern begannen und sich über die fragenden Augen senkten.

»Am liebsten würde ich Ihnen alles zeigen, was ich selbst an dieser Stadt so liebe«, fuhr Thorsten fort. »Aber das können wir unmöglich in ein paar Stunden schaffen. Morgen ist ja auch noch ein Tag. Wann darf ich Sie abholen und wo?«

Andrea schüttelte den Kopf. »Gar nicht, Herr Hallberg. Ich muß morgen vormittag nach Deutschland zurück.«

»Sind Sie mit dem Wagen da oder fliegen Sie?«

»Ich habe kein Auto. Und ich bekomme das Geld für das Flugticket, das ist vertraglich festgelegt, aber ich fahre mit dem Zug. Das ist billiger, und ich kann die Differenz auf die hohe Kante legen. Oh, entschuldigen Sie, das kann Sie aber wirklich nicht interessieren«, sagte sie und wurde ganz verlegen.

Thorsten legte seine Hand auf ihre schmalen Finger. »Doch, es interessiert mich. Alles, was Sie angeht, interessiert mich, Andrea.«

Als er sie beim Vornamen nannte, zog sie ihre Hand zurück. Sie knöpfte ihre Jacke über der cremefarbenen Chiffonbluse zu und griff nach ihrer Handtasche.

»Wenn Sie nicht zu müde sind, möchte ich mit Ihnen noch auf den Montmartre hinauf«, sagte Thorsten. Er winkte dem Kellner, bezahlte und stand auch auf.

Andrea ging ein paar Schritte voraus, wieder trank er ihr zauberhaftes Bild mit seinen nimmersatten Augen, wie sie so im Schein der schmiedeeisernen Kandelaber zurück zum Taxi ging, das Thorsten hatte warten lassen.

Er faßte sie am Ellenbogen, sehr behutsam, um sie nicht zu erschrecken. »Wie ist es, fahren wir noch hinauf und lassen uns Paris zu Füßen legen?«

»Gern, ein, zwei Stunden werde ich schon noch durchhalten«, sagte Andrea.

Aber aus diesen ein, zwei Stunden wurden viel mehr. Sie blieben zusammen, bis der Morgen dämmerte. Sie tanzten in einem hübschen kleinen Lokal, in dem es viele fröhliche und zärtliche Paare gab. Andrea trank wenig, und auch Thorsten hielt sich zurück. Er wollte jede Sekunde dieses Zusammenseins mit wachem Verstand erleben und festhalten für immer.

»Sind Sie mit dem Wagen aus Deutschland gekommen?« fragte Andrea einmal.

»Nein, per Flugzeug. Ich fliege morgen abend weiter nach Hamilton.«

»Wohin?«

»Auf die Bermudas«, erklärte Thorsten. Dann jedoch schüttelte er energisch den Kopf und lachte. »Nein, ich fliege nicht auf die Bermudas. Ich habe umdisponiert. Endgültig!«

»Was haben Sie umdisponiert?«

»Alles, Andrea, alles!« rief er und griff stürmisch nach ihren Händen.

Dann beugte sich Thorsten zu dem Mädchen mit dem bernsteinfarbenen Haar und küßte es ganz zart auf die Wange. Andrea sah ihn mit großen Augen an, sie zitterte ein wenig und hatte Angst, daß er es merken könnte. Er würde sie für eine dumme Gans halten, die einem hübschen Abend zu Zweit und seiner offenen Anbetung zuviel an Tiefe beimaß.

»Es klingt vielleicht verwegen oder verrückt, aber ich muß Sie etwas fragen, Andrea!«

»Fragen Sie nur, Thorsten«, erwiderte sie und nannte ihn zum erstenmal bei seinem Vornamen.

Wieder nahm er ihre Hände, hielt sie ganz fest und sah ihr zwingend in die Augen. »Würden Sie mich heiraten, wenn ich Sie darum bitten würde, Andrea?«

Da zuckte sie richtig zusammen und schüttelte den Kopf. »Bitte machen Sie nicht solche Späße, bitte«, sagte sie flehentlich und schluckte.

»Es ist mir Ernst, heiliger Ernst!«

»Aber das ist doch unmöglich, ganz und gar unmöglich!«

»Und warum?« fragte Thorsten Hallberg.

»Sie kennen mich doch gar nicht, wir wissen nichts voneinander, nicht das geringste, es ist eine absurde Idee!« Andreas lange tiefschwarze Wimpern zitterten; sie zog ihre Hände zurück und machte eine hilflose Gebärde.

»Andrea, wärst du mit jedem, der dich darum gebeten hätte, von der Modenschau und Monsieur Verrin heute abend weggegangen?«

»Aber wie kommen Sie darauf, selbstverständlich nicht«, empörte sie sich.

»Und warum dann mit mir?« fragte er leise und mit vibrierender Stimme, die einschmeichelnd und überaus zärtlich war.

Sie hob die Schultern. »Das kann ich nicht erklären. Da war etwas, was ich nicht beschreiben kann. Und ganz bestimmt nicht wegen des kostbaren Geschenkes, Thorsten. Ich weiß es selbst nicht.«

»Ich weiß es aber! Der Hauch der Liebe hat uns berührt, Andrea, dich und mich; wir haben gefühlt, daß es

etwas anderes ist als alle vorangegangenen Begegnungen. Stimmt es nicht?«

Sie lächelte, nickte ganz leicht, sagte aber nichts. Dann seufzte sie. »Das haben Sie schon hundertmal irgend jemandem gesagt; es klingt gut.«

Thorstens Lippen preßten sich zu einem dünnen Strich zusammen, er schüttelte den Kopf. »Nein. Noch nie. Natürlich habe ich da und dort einen Flirt gehabt, ich bin vierundzwanzig, und man macht es mir nicht gerade furchtbar schwer – aber so etwas habe ich noch nie zu einer Frau gesagt und, was noch wichtiger ist, noch nie in meinem Leben empfunden!«

Andrea sah ihn mit großen Augen an, ihr Herz klopfte wie verrückt, sie war ganz durcheinander. Und sie glaubte ihm, was er sagte! Sie spürte, daß es die Wahrheit war.

Plötzlich stiegen ihr die Tränen in die Augen, sie wandte den Kopf ab, damit er es nicht sah. Dann nahm sie ihre Tasche und stand rasch auf, um hinauszugehen.

Draußen lehnte sie an der Balustrade vor dem Lokal und sah auf die erwachende Stadt im Morgendunst hinunter. Thorsten trat hinter sie und legte seinen Arm um ihre Schulter. Sie lehnte den Kopf an seine Brust, und er streichelte ihr seidiges Haar.

»Ich liebe dich, Andrea«, sagte er leise.

Da sah sie zu ihm auf, und er las in ihren Augen die Antwort.

»Aber wir wissen doch gar nichts voneinander«, hauchte sie.

»Was sind schon Äußerlichkeiten und Daten! Ich weiß, daß du wunderbar bist und daß ich noch nie im Leben für jemanden so viel empfunden habe, das genügt mir.«

»Du kommst aus einer ganz anderen Welt, Thorsten. Ich bin ein armes Mädchen und komme aus einfachen Verhältnissen. Ich habe medizinisch-technische Assistentin werden wollen und stand vor dem Abschluß, als meine Mutter schwer erkrankte. Zufällig wurde ich mit André Verrin bekannt. Er engagierte mich vom Fleck weg. Ich bekam viel Geld von den Magazinen, die mich groß herausbrachten, die Fotografen rissen sich um mich. Damit konnte ich meiner Mutter eine gute Zeit bereiten. Ihre letzte. Es half alles gar nichts, sie mußte diese Erde frühzeitig verlassen.«

Thorsten streichelte sie sanft. »Ich werde dich für alles Leid entschädigen, Andrea!«

Sie lächelte ihn mit feuchten Augen an. Da riß die Nebeldecke auf, und die silbrig-zarten Strahlen der Morgensonne tauchten alles in funkelndes Licht.

»Nur eines paßt mir nicht, das mit den Fotografen«, sagte Thorsten dann nachdenklich.

»Aber ich bitte dich, es war doch immer alles ganz harmlos, wirklich!«

»Ich kenne diesen Beruf, ich weiß, wie es da zugeht!«

»Siehst du, ich habe dir ja gesagt, wir wissen zuwenig voneinander«, sagte Andrea traurig.

Da riß Thorsten sie in die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, atemlos und leidenschaftlich. Sie stand ganz still und wie benommen, dann legte sie die Arme weich um seinen Hals, und ihre Lippen fanden sich.

»Verzeih mir, ich weiß gar nicht, was mit mir los ist, Eifersucht kenne ich sonst gar nicht«, sagte Thorsten.

»Es ist und es war niemand da, auf den du eifersüchtig sein müßtest, Thorsten. Ich glaube, einfach deshalb, weil ich überhaupt keine Zeit hatte. Ich mußte meine Mutter jahrelang pflegen, dann die Ausbildung, ah, es ging alles so schnell vorüber.«

»Ich kann nicht behaupten, daß bei mir niemand in meinem Leben eine Rolle spielt. Aber das muß ich in Ordnung bringen, offen und rückhaltlos. Dann komme ich zu dir, Andrea, und es soll nichts mehr zwischen uns stehen.«

»Thorsten«, sagte sie weich, »es war ein schöner Abend, eine verzauberte Nacht. Ich glaube, es ist besser, wir trennen uns und sehen uns nie mehr wieder. Noch geht es, glaube ich. Aber ich möchte nicht, daß du meinetwegen irgend jemandem weh tust, wirklich nicht!«

»Nicht deinetwegen eigentlich, Andrea, sondern weil ich endlich aufgewacht und erwachsen geworden bin«, sagte er und dehnte weit die Arme. »Außerdem ist es viel zu spät, um uns so mir nichts, dir nichts aus dem wieder zu lösen, das uns gefangenhält. Mich jedenfalls.«

»Mich auch, Thorsten. Bitte fahr mich jetzt heim. Ich muß um neun bei Monsieur Verrrin sein. Muß noch ein bißchen schlafen.«

Vor dem Hotel Mirabeau verabschiedete sie sich. Thorsten küßte Andrea die Hand, er wagte es nicht, sie noch einmal in seine Arme zu nehmen.

»Auf Wiedersehen in Frankburg, Andrea, ich komme bald«, sagte er.

»Nein, bitte nicht, leb wohl«, flüsterte sie und sah ihn mit Augen an, die denen eines verwundeten Tieres glichen, erschrocken und voll Abwehr. Dann glitt sie durch die Drehtür und entschwand Thorstens Blicken.

Er sprang wieder in das wartende Taxi und ließ sich zum Zentralpostamt fahren, dessen Schalter rund um die Uhr geöffnet waren.

Hastig riß er ein Telegrammformular vom Block und füllte es aus. Es ging an Elena Dumont, Regency Hotel, Hamilton, auf einer der Bermudainseln:

Stoppe geplanten Hauskauf – Aussprache dringend nötig – mein Kommen unmöglich – jedoch kein Grund zur Besorgnis.

Herzlichst Thorsten.

Thorsten las das Telegramm dreiviermal durch, dann gab er es dem Schalterbeamten, der gleichgültig die Worte und Buchstaben zählte und dann den fälligen Betrag nannte.

Als er aus dem Postamt trat, fuhr ihm ein kühler Windstoß entgegen und zerzauste sein üppiges dunkles Haar. Thorsten Hallberg dehnte die Arme. Er wollte zu Fuß zu seinem Hotel zurücklaufen. Er fühlte sich unbeschwert, als wäre eine große Last von ihm genommen worden, und er fühlte sich frei.

Doch er war nicht frei!

*

»Am-dam-des,

disse-male-pless,

disse-male-pumperness,

am-dam-des!«

sang ein helles Kinderstimmchen auf einem blumengeschmückten Balkon hoch über der Stadt Frankburg.

Dann nahm der kleine, gerade dreijährige Georgy Groß die Gießkanne, die seine Mutter auf ein kleines Tischchen gestellt hatte, und war sehr stolz darauf, daß er unter Aufbietung aller Kräfte sich so auf die Zehen stellen konnte, daß er sie erreichte. Glücklich lachend und vor sich hin schwätzend, begann Georgy, die Blumen zu gießen.

Hella Groß, seine Mutter, hatte sie in zwei Reihen aufgestellt. Auf dem Boden standen die Hängegeranien und Petunien und fielen mit ihren fröhlichen Blütenkaskaden zwischen den Stäben über den Balkon. Die oberen, in Drahtgestellen befestigten Kästen konnte der kleine blondlockige Junge beim besten Willen nicht erreichen, auch wenn er sich so anstrengte, daß er puterrot anlief.

»Am-dam-des,

disse-male-pless«,

sang er dabei laut und vergnügt vor sich hin, bis sich unter ihm eine giftige Stimme empörte.

»Wirst du wohl sofort aufhören, du mißratener Bengel, immer dieses blöde Lied, kein Kind singt das hier! Außerdem sollen Kinder überhaupt nicht singen, sondern den Mund halten und ruhig sein, hast du mich verstanden?«

Georgy hielt ein, schnaufte, verzog den Mund, als wolle er weinen, entschloß sich dann aber, nur die Unterlippe trotzig vorzuschieben. Die Tränen hielt er eisern zurück. Aber sein Kinderherz war verängstigt. Was hatte denn die böse Frau Lundholz nur immer? Tagaus, tagein schimpfte sie, er durfte sich kaum rühren, schon ging das Gezeter unter ihm los. Immer mußte er auf Socken laufen, und auch seine liebe Mami zog sofort ihre Schuhe aus, wenn sie die Wohnung betrat. Wenn eine der Dielen knarrte, klopfte Frau Lundholz gleich mit einem Stock an die Decke und dazu kläffte der Goldi, ihr Dackel, gleich so böse, als hätte er sich vervielfältigt.

Jetzt wurde dem Kleinen doch mulmig zumute, und er wollte schon in die Wohnung zu seiner Mami laufen, als ihm etwas anderes einfiel. Er kniete sich auf den Boden und schaute, so gut er konnte, auf den darunterliegenden und etwas vorspringenden Balkon. Den Kopf durch die Gitterstäbe hindurchzuzwängen, hatte die Mami ihm verboten, und Georgy hielt sich daran, weil sie ihm deutlich veranschaulicht hatte, was dann passieren konnte.

Nun sah der kleine Junge den kläffenden Hund und hörte immer noch die zeternde Stimme der Frau Lundholz. Da nahm Georgy die Gießkanne – und schwupp! – goß er den ganzen Inhalt hinunter.

Jaulend sprang der Hund zurück, und Frau Lundholz schrie, als stecke sie am Spieß. Georgy mußte zuerst lachen, doch dann war ihm nicht ganz geheuer und er zog es vor, vom Balkon zu verschwinden.

Mami Bestseller 56 – Familienroman

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