Читать книгу Nur ein Tropfen Leben - Christina M. Kerpen - Страница 6

Festnahmen

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Carol hat sich sehr schnell in Ebony Town eingelebt, denn sie kann sich jeder Gegebenheit ohne Umschweife sofort anpassen. Diese Fähigkeit hat sie in ihren beiden Wanderjahren ganz stark ausgeprägt. Jeder Stadtbewohner kennt sie und fast jeder hat sie irgendwie ins Herz geschlossen, auch wenn sich so mancher seine Gedanken über ihre ‚Vergangenheit’ macht. Carol ist fröhlich, gutmütig, hilfsbereit und pfiffig, kurz gesagt, sie ist ein prima Kamerad und ihrem ebenfalls sehr beliebten Bruder in vielem enorm ähnlich.

Schon nach wenigen Tagen registrieren alle fast nur noch beiläufig, dass sie ein Mädchen ist und nehmen sie so, wie sie ist. Auch an ihren Aufzug hat sich mittlerweile jeder gewöhnt und keiner nimmt mehr öffentlich daran Anstoß, dass sie wie ein Junge reitet und ihre Waffe so natürlich trägt, wie alle anderen Frauen ein Schmuckstück.

Ihre ganz besonderen Freunde sind neben ihrem Bruder und den Carpenters der Vormann, der seiner indianischen Abstammung wegen von fast jedem nur der Indianer oder auch der Indian genannt wird und der Sheriff. Beide Männer würden schon jetzt, nach den wenigen Tagen der Bekanntschaft, für das kleine Mädchen zu Fuß zum Nordpol wandern, wenn es denn nötig wäre.

Der Vormann hat seine anfängliche Antipathie gegen einen weiblichen Cowboy im Allgemeinen und Carol im Besonderen schnell über Bord geworfen, als er feststellen durfte, dass nur noch wenig an dem Kind zu erziehen ist. Sie kann lesen und schreiben, ist höflich und kennt die Tageszeiten, die zu Begrüßungen notwendig sind.

Und sie kann arbeiten, besser und härter als mancher Mann, der schon lange sein Leben als Cowboy fristet. So klein und zierlich sie auch ist, dafür ist sie zäh und drahtig und von einer unerschütterlichen Ausdauer.

Carol ist selten weit, wenn Widefield oder Blacky irgendwo aufkreuzen. So ist es auch zu erklären, dass sie schon nach relativ kurzer Zeit in der ganzen Stadt bekannt ist, wie ein bunter Hund, denn Willow-Tree ist die größte Ranch im weiten Umkreis und natürlich kennt jeder den sehr angesehenen Rancher und damit selbstverständlich auch die Leute, die zu seinem festen Arbeiterstamm gehören.

Als Carol an einem nicht ganz so drückend heißen Tag mit ihrem Boss in die Stadt geritten kommt, sehen die beiden schon von weitem den Sheriff auf der Veranda vor seinem Office stehen. Fawkes hält einen Brief in der Hand, schüttelt immer wieder nachdenklich den Kopf, liest dann erneut die Anschrift und rauft sich die Haare.

Als er seine Freunde erblickt, kommt er ihnen sofort entgegen. Nachdem sie abgesessen sind, hält er ihnen einen Brief unter die Nase und Carol, in ihrer ungezügelt temperamentvollen Art, lacht lauthals los.

„Oh nein, ich habe immer gedacht, ich könnte lesen, aber dem scheint nicht so zu sein oder habe ich plötzlich einen Knick in der Optik? Ich brauche eine Brille. Das darf doch wohl nicht wahr sein, Bill, sag, dass da nicht steht, was ich zu lesen glaube. Ich lache mich kringelig, ich bin schon ganz scheckig.“

Vor Lachen entgleiten ihr Silkys Zügel, die sie um die Barre wickeln will. Sie schüttet sich förmlich aus vor Lachen und es ist ihr noch immer kaum möglich, die Zügel wieder zu ergreifen.

Es ist aber auch zu komisch, der Brief ist adressiert an ‚Sheriff Gerrit Fisher’.

In der Bank von Ebony Town arbeitet ein langer, dürrer, sehr höflicher und viel zu schüchterner junger Mann. Er blickt von seinem Stapel Papiere auf, als sich die Türe öffnet. Er erkennt die Eintretenden sofort und springt von seinem Platz hinter dem riesigen Schreibtisch auf und begrüßt den Sheriff und die beiden Leute von der Willow-Tree-Ranch in seiner üblich unterwürfigen Art, die Carol auf den Tod nicht ausstehen kann. Entsprechend rümpft sie die Nase.

Nachdenklich übergibt Fawkes dem jungen Mann den Brief, dann meint er zögernd: „Es wird sich wohl um irgend eine Verwechslung handeln.“

Fisher blickt peinlich berührt auf den Umschlag, schluckt, wird puterrot und murmelt erstickt: „Nein, das ist äh“, er räuspert sich, „das ist keine Verwechslung, leider. Ich bin es selber schuld. Mein Vater war nämlich ein bekannter Marshall im Osten, Er war immer sehr streng und lebte nur für das Gesetz. Ich glaube, er wollte, dass ich genauso werde, wie er es ist: stark und mutig. Ein Sohn halt, auf dem man stolz sein kann. Was aber ist aus mir geworden? Ein kleiner Bankangestellter, der schon zusammenzuckt, wenn im Saloon jemand sein Glas hart auf den Tisch stellt.“

Der junge Mann schluckt und holt tief Luft. „Um meinem Vater zu imponieren, habe ich halt zu einer dicken Lüge gegriffen. Ich habe irgendwo mal eine Geschichte gelesen, wo es ein junger Mann auch so gemacht hat, um sich die Anerkennung seiner Eltern zu sichern, also habe ich ihm geschrieben, ich sei hier der Sheriff. Ich habe damit erreicht, dass mein Vater denkt, er könne stolz auf seinen Sohn sein.“

Mit wachsendem Erstaunen haben die drei Personen diese kleine Rede zur Kenntnis genommen. Carol findet als erste die Sprache wieder und so burschikos sie auch sonst immer ist, tut ihr der linkische Kerl irgendwie leid.

Anerkennend nickt sie. „Zu einem derartigen Geständnis gehört aber reichlich viel Mut. Ich finde, das ist immerhin schon der erste Schritt zur Besserung.“

Auch der Sheriff hat seine Verblüffung überwunden. „Nun, wir nehmen Dir Deine Flunkerei nicht krumm, Gerrit. Bankangestellte muss es schließlich auch geben und Du hast mit Deinen Schwindeleien ja niemandem geschadet.“ Bill grinst und wendet sich mit seinen Begleitern der Tür zu, als sie von einem unterdrückten Stöhnen zurückgehalten werden.

Auf Davids teilnahmsvolle Frage, ob es sich um schlechte Nachrichten handele, stöhnt der verzweifelte junge Mann: „Schlecht wird es mir gleich. Es sind die übelsten Nachrichten, die ich mir vorstellen kann.

Mein Vater kommt morgen nach Ebony Town. Er ist auf dem Weg nach Oregon und sein Zug hat hier zwei Stunden Aufenthalt. So ähnlich ging es in der Geschichte auch, die ich gelesen habe.“

Fisher stehen doch glatt die Tränen in den Augen und in Carol regt sich erneut so etwas wie ein Funken Mitleid. ‚Ist das aber auch ein armes Würstchen. Na ja, das war ja wohl schon immer so: Lügen haben kurze Beine.’

„Hm, eine üble Sache, dann fliegt Dein Schwindel auf und Dein Vater ist erst recht unzufrieden mit Dir. Aber warte mal“, Fawkes überlegt, grinst wie ein Lausbub dem ein Streich für seinen Lehrer eingefallen ist, blickt verschwörerisch zu seinen Freunden hin und brummt: „Ich glaube, wir können Dir helfen.“ Er hat die Geschichte auch gelesen und gedenkt sie nachzuspielen.

Am darauffolgenden Tag steht Gerrit in ungewohntem Aufzug am Bahnsteig, um seinen Vater zu empfangen. Er trägt statt des üblichen dunkelgrauen Anzugs eine Jeans, eine Lederweste, Cowboystiefel, einen Colt und ... den Sheriffstern. „Aber wehe, Du verlierst ihn, dann buchte ich Dich ein!“, waren die begleitenden Worte vom Sheriff, als er ihm das Blech an die Weste geheftet hat.

Nun steht Bill nicht weit entfernt auf einer Veranda vor dem Drugstore. Er hat die Hände in die Hüften gestemmt und blickt äußerst unzufrieden auf den langen Fisher, der total gezwungen und völlig verkrampft in der Gegend rumsteht. Dabei sieht er aus, als hätte er sich von einem fremden Stern auf die Erde verirrt und als erstes einen Besenstiel verschluckt.

Natürlich sind auch der Vormann der Willow-Tree-Ranch und seine mittlerweile zum Lieblingscowboy avancierte Neuerwerbung in der Nähe.

Der Indianer hat sich lässig an einen hohen Bretterstapel angelehnt und die Daumen in den Holster gesteckt. Auch er schaut Gerrit missbilligend an und zeigt ihm, wie er etwas lässiger stehen soll, obwohl er sich insgeheim fragt, was er eigentlich hier tut, denn auf der Ranch wartet die Arbeit und er spielt irgendeinem Ex-Marschall eine Schmierenkomödie vor. Hoffentlich erfährt der Boss die Story nie, nicht auszudenken, was er von diesem zu hören bekäme.

Carol, die sich vorkommt, als sei sie auf einem Rummelplatz, wobei Gerrit hier die Schießbudenfigur abgeben soll, hat reichlich undamenhaft einen Fuß auf einen Stein gestellt, stützt sich mit dem Ellbogen auf ihrem Knie ab und guckt ihren nur wenige Schritte entfernt stehenden Boss an, das Kinn in die Hand gestützt, mit einem Blick, der mehr sagt, als tausend Worte: ‚So ein verklemmter Trottel, hoffentlich passiert in den zwei Stunden nichts Unvorhergesehenes, das gäbe nämlich eine Katastrophe.’

Sie kann aber gleichzeitig nicht verhehlen, dass die Situation ihr ein diebisches Vergnügen bereitet. Solche Späße kennt sie nicht. Freunden helfen, egal wie auch immer, war ihr bisher verwehrt.

Plötzlich hebt das Mädchen abwehrend die Hand, wendet sich ein wenig ab und beginnt von einem Ohr zum anderen zu grinsen. Sie glaubt plötzlich, an ihrem unterdrückten Lachen ersticken zu müssen, denn ihre feinen Ohren haben den ersten, noch weit entfernten Pfiff des Zuges vernommen.

Um nicht lauthals loszuprusten, beißt sie sich die Unterlippe blutig und wagt es nicht, den Blick zu heben. Der Vormann sieht, dass die Schultern des Mädchens verdächtig beben und er hofft, dass sie in ihrer impulsiven Art keinen Fehler macht. Wenn schon Theater, dann wenigstens perfekt inszeniert.

Carol hebt vorsichtig Ihren Blick, schaut zu ihren Freunden hinüber und ist ein klein wenig beruhigt, denn der echte Sheriff grinst ganz offen.

David, dessen unerschütterliches Wesen so leicht durch nichts zu bewegen ist, hat ihrem weidwunden Blick nicht standhalten können und er blickt kurz zu Boden. Er gehört ganz bestimmt nicht zu den Männern, deren hervorstechendste Eigenschaft Humor, gepaart mit einem strahlenden Lächeln ist, im Gegenteil, er bleibt eigentlich in fast jeder Lebenslage ernst und besonnen, doch diese groteske und erwachsenen Männern eigentlich absolut unwürdige Situation bringt sogar ihn zum Lachen und so beißt er fest die Zähne aufeinander, dass die Backenknochen hart hervortreten.

Alle drei haben nur einen Gedanken: ‚Hoffentlich fängt von den beiden anderen keiner an zu lachen, denn dann wäre die ganze, schön geplante und vorbereitete Vorstellung gefährdet.’

Die dicke, schwarze Qualmwolke kommt immer näher und das Schicksal kann seinen unaufhörlichen Lauf nehmen.

Schnaufend und zischend rollt das schwarze Ungetüm von Lokomotive in den Bahnhof ein. Die Waggontüren öffnen sich und entlassen die Reisenden auf den Bahnsteig der kleinen Stadt.

Ein hochgewachsener, kräftiger Hüne schaut sich suchend um und stapft dann unerbittlich, wie eine nicht zu bremsende Flutwelle, auf den unglücklichen, plötzlich noch dünner wirkenden Bankangestellten zu, um ihn zu begrüßen, wobei er erstaunlich stolz und selbstzufrieden wirkt.

Auf alle, die die Szene neugierig verfolgen, macht der Fremde einen harten und eiskalten Eindruck.

Carol, die in ihrem bisherigen Leben um jeden Gesetzeshüter einen großen Bogen gemacht hat, erschauert und plötzlich kann sie verstehen, warum Gerrit ihn angeschwindelt hat. Von diesem Vater auch nur die geringste Anerkennung zu bekommen, scheint ein fast unmögliches Unterfangen zu sein.

Wahrscheinlich hat Gerrit seine gesamte Kindheit und Jugend damit verbracht, ein wenig Zuneigung von seinem Vater zu erhalten und das dürfte ihm mit Sicherheit niemals gelungen sein.

Dem jungen Mädchen ist auf einmal gar nicht mehr zum Lachen zumute und der arme, unbeholfene junge Mann tut ihr ehrlich leid. Also dann lieber gar keinen Vater, als so einen. Das ist genau der Sheriff, Marshall oder was auch immer, der sie mit Wonne in eine Besserungsanstalt gesteckt hätte, um sie dann sofort zu vergessen.

Alle Bewohner der kleinen Stadt wissen genauestens über die ganze Sache Bescheid. Der Informationsdienst hat ausgezeichnet gearbeitet und Carol kann sich rühmen, nicht gerade wenig zu der Schnellverbreitung beigetragen zu haben.

Einige der lieben Mitbürger haben entsetzt den Kopf geschüttelt, ob der Komödie, die wegen eines unbedeutenden, jungen Mannes veranstaltet werden soll, doch jeder, der hörte, dass sogar der Sheriff und der geachtete Vormann der Willow-Tree-Ranch das Theater mitmachen, hat sich bereit erklärt mitzuspielen, oder sich wenigstens neutral zu verhalten.

Es herrscht ungewöhnlich viel Leben auf den um diese Tageszeit normalerweise eher leeren Straßen des Städtchens, doch dieses Schauspiel will sich dann doch kaum jemand entgehen lassen, denn es gibt selten mal eine größere Abwechslung im Alltagsleben der Bewohner.

Jeder, auch der gestern noch eher skeptische, begrüßt nun den „Sheriff“ auffallend freundlich, zum Teil sogar ehrerbietig, was dessen alten Herrn mit offensichtlichem Wohlwollen erfüllt.

Allerdings geht im Sheriff-Office das eigentliche Theater erst richtig los, denn die Zeit war zu kurz, um Gerrit auf alle Eventualitäten vorzubereiten.

Schon bei der ersten Frage wird es für Fisher Junior echt brenzlig, weil der interessierte Senior zu gerne wissen möchte, wie viele Zellen das Gefängnis hat. Gerrit, in der Kürze der Zeit insoweit natürlich nicht informiert, macht in seiner Verzweiflung das einzig richtige, er nuschelt was, das genauso gut zwei wie auch zwanzig heißen kann und führt die Räumlichkeiten kurzerhand vor.

Draußen sagt Widefield derweil zu dem echten Sheriff: „Ich glaube, Bill, Du gehst jetzt besser rein, bevor der Alte Fragen stellt, die unser guter Gerrit nicht beantworten kann. Ich muss noch schnell was für meinen Boss erledigen und Carol sucht nach ihrem Bruder. Wir kommen also etwas später nach und leisten Dir Schützenhilfe.“

Er schüttelt den Kopf. „Ich hoffe nur, Carpenter erfährt nie was von dieser Geschichte.“

Bill verzieht das Gesicht: „Wird sich nicht ganz vermeiden lassen, Du kennst doch Eure Cowboys, das wird bis zum nächsten Winter das Gesprächsthema überhaupt auf Willow-Tree sein. Und sieh zu, dass ihr bald kommt, denn Schützenhilfe werde ich bestimmt brauchen. Wieso haben wir uns nur auf so einen Unsinn eingelassen?“

David zieht die Augenbrauen in die Höhe. „Ich meine mich zu erinnern, dass das Ganze Deine Idee gewesen ist. Selbst unser kleines Teufelchen war skeptisch, ob Dein Plan gut geht. Erinnere Dich, sie sagte wörtlich: Ich hätte nie gedacht, dass ein ausgewachsener Sheriff so kindisch sein kann.“

Fawkes zuckt mit den Schultern und nickt, dann wendet er sich zur Tür, wobei er noch einmal die mahnende Stimme des Freundes hört: „Und denk dran, nicht lachen, Bill!“

Der Sheriff bleibt, die Hand schon am Türknauf, stehen und wendet dem Sprecher den Kopf zu: „Ich werde schon daran denken. Ich mache mir da eher wegen unserem Feuerkopf Sorgen. Carol wäre besser nicht mitgekommen, aber so ein Theater ist bestimmt nach ihrem Geschmack und nicht mal ein gebrochenes Bein hätte sie daran hindern können, hier aufzutauchen. Ich hoffe nur, ihre Unkerei wegen dem Waffenhändler bewahrheitet sich nicht. Eins zu eins wollte ich die bescheuerte Geschichte nicht umsetzen.“ Er seufzt und öffnet die Tür.

Fawkes betritt sein Office just in dem Augenblick, als Papa Fisher missbilligend feststellt: „Du solltest die Gewehre aber besser pflegen, mein Sohn!“ Dabei linst er durch den Lauf einer Winchester.

„Äh, die Gewehre sind meine Sache, Sir. Ich bin Hilfssheriff Fawkes und sie müssen Marshall Fisher sein, nicht wahr? Ihr Sohn hat oft in großer Hochachtung von Ihnen gesprochen.“

Eine brenzlige Situation im letzten Augenblick entschärft. Der arme Gerrit hat in seinem ganzen Leben noch kein Gewehr in der Hand gehalten, dementsprechend hat er natürlich auch von der Pflege gar keinen Dunst.

„Ach, Sie sind der Hilfssheriff, freut mich, Sie kennen zu lernen.“ Fisher Senior streckt Bill die Hand entgegen. Sein Händedruck ist fest und ehrlich.

Der Möchtegernsheriff Gerrit schwitzt bei Daddys Fragen Blut und Wasser, doch Fawkes versteht es, allen Fragen die Schärfe zu nehmen und den Alten mit seinen geschickten Antworten zufrieden zu stellen.

Wenige Zeit später öffnet sich die Tür nach einem kurzen, energischen Klopfen und David Widefield betritt das Office. Er nickt grüßend in die Runde.

„Habe ich Sie nicht eben noch am Bahnhof gesehen?“, fragt Fisher Senior misstrauisch.

„Sie haben ein gutes Erinnerungsvermögen.“

„Das braucht man in meinem Beruf auch. Früher war es üblich, wenn Fremde in die Stadt kamen, dass sie gefragt wurden, wer sie sind und was sie wollen.“ Fishers Ton ist streng und unerbittlich. Wer ist hier eigentlich der Sheriff? Der Vater oder der Sohn?

„Ich bin durchaus kein Fremder, sondern ein Freund. David Widefield, der Vormann der Willow-Tree-Ranch!“, antwortet der Indian ernst und schüttelt dem Marshall im Ruhestand, der den gesetzt wirkenden dunkelhaarigen Mann nun durchaus wohlwollend mustert, die Hand.

Wieder klopft es an der Tür und sie öffnet sich im gleichen Moment, ohne dass eine Aufforderung ausgesprochen worden wäre, sehr schwungvoll und jetzt stürzt Carol herein, gefangen in der Angst, sie könne irgendwas verpassen. Sie will jedes noch so kleine Detail der Geschichte genießen.

Sie bleibt vor ihrem Boss stehen, zieht die Augenbrauen hoch und fragt gespielt erstaunt: „Du bist schon hier, Boss? Na, das ging aber schnell!“

Dann fliegt sie auf Bill zu, gibt ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange: „Tag, Bill, lange nicht gesehen und doch wiedererkannt“, und lächelt ein süßes „Hallo Gerrit“, zu dem Sheriff wider Willen hinüber. Danach folgt ein treuherziger Augenaufschlag in Richtung des Seniors: „Guten Tag, Sir. Sie sind sicher Marshall Fisher, der Vater von unserem hochverehrten Sheriff. Gerrit hat schon oft von Ihnen gesprochen und geschwärmt, wie vielen Verbrechern Sie schon den Garaus gemacht haben.“ Sie lässt ihren Blick an dem Alten hinabgleiten und wieder hoch bis zu seinen Augen: „Nun weiß ich endlich, wo Gerrit seine wahnsinnige Ausstrahlung her hat.“

Sie hat wie immer maßlos dick aufgetragen und Bill sowie David schicken einen entnervten Blick zur Decke, doch Carol hat es wieder einmal geschafft. Sie hat zumindest die Verwirrung des alten Herrn komplett gemacht.

Grimmig denkt er: ‚Das ist kein Sheriff-Office, das ist ein Irrenhaus. Das ist mal wieder typisch für meinen Sohn.’

Missbilligend schaut er die junge Frau an, deren langer Pferdeschwanz unter dem Stetson, den sie abgenommen hat, hervor gerutscht ist. Der Mann verabscheut Mannweiber zutiefst, insbesondere, wenn sie noch so unverschämt jung und dabei so hübsch sind. Der Vater sollte das Kind mal gehörig übers Knie legen. Eine Tracht Prügel hat schon so manches Wunder bewirkt.

Noch bevor er seine Verstimmung in Worte fassen kann, grüßt Gerrit das junge Ding zurück: „Hallo Carol! Hast Du Blacky gefunden?“

„Klar, Bruderherz sitzt im Saloon und verdrückt eine riesige Portion Bohnen mit Speck. Wo der das alles hinmampft, möchte ich mal wissen.“

Sie grinst und beobachtet aus den Augenwinkeln die Reaktion des alten Fisher auf ihren Auftritt. An seinem Gesicht kann sie so in etwa ablesen, was er über sie denkt. ‚Wieso läuft so was frei rum. Wo ist hier die nächste Besserungsanstalt.’

In diesem Moment spricht der Mann auch schon aus, was er denkt: „Gibt es in diesem Kaff keinen vernünftigen Schneider? Wie kann ein hübsches Kind nur in dieser Verkleidung rumlaufen? Bei uns zuhause gäbe es so was nicht!“

„Ach was?“ Carol wirkt auf einmal richtig erwachsen, als sie sich aufrichtet und kühl reagiert: „Da wo ich herkomme, müssen auch die Frauen arbeiten und das ist keine Verkleidung, sondern meine Arbeitskluft. Ich habe keine silbernen Löffelchen daheim und auch wenn sie es kaum für möglich halten, ich muss für das, was ich essen will, arbeiten. Damit will ich nicht sagen, dass ich es nicht freiwillig mache, alles ist besser, als in einem Saloon als Tanzmädchen sein Dasein zu fristen. Ich wohne auf einer Ranch und der Job der Haushälterin war doch glatt schon vergeben, als ich mich beworben hatte. Aber einen Job als Cowboy konnte ich noch kriegen. Da habe ich doch sofort und ohne zu überlegen zugegriffen.“

Bill und David schauen sich an und verdrehen die Augen. Carol wird die Aktion zum Scheitern bringen, bevor sie angelaufen ist.

„Sie gehören noch auf die Schule, Kind. Wie alt sind Sie?“

„Alt genug, um alles zu wissen, was ich wissen muss und meinen Namen schreiben kann ich auch schon!“

Zu ihrem großen Leidwesen hat Carol im Moment keine Zeit, das Vergnügen von Papis Anwesenheit noch länger zu genießen, denn sie wird nicht zu ihrem Vergnügen auf Willow-Tree durchgefüttert, deshalb wendet sie sich, noch bevor Fisher zu einem Gegenschlag ausholen kann, an David: „Ich muss mich sofort wieder verkrümeln, ich bin nämlich nicht hergekommen, um mich anmachen zu lassen, sondern nur weil ich Dich fragen wollte, ob Du mit mir zu Smith kommst, Boss“, sprudelt es aus ihr heraus. „Es ist wegen der Kälber die Carpenter kaufen will. Ich mag nicht alleine zu dem Kerl gehen, der ist mir zu schleimig und meint immer tatschen zu müssen, außerdem komme nicht mal ich gegen den an, der ist mir einfach über. Eigentlich wollte ich ja Fess mitnehmen, aber den kann ich beim besten Willen nirgends auftreiben. Keine Ahnung wo der sich wieder rumtreibt.“

Gemeinsam verlassen die beiden Willow-Tree Leute das Büro.

Draußen kann sich Carol nicht mehr halten. Als sie endlich außer Hörweite sind, prustet sie lauthals los. „Au, auweia, hast Du Gerrits dämliches Gesicht gesehen? Ich dachte, er heult jeden Augenblick los. Oh Mann, so was habe ich mein Lebtag noch nicht erleben dürfen.“

„Carol, benimm Dich, es kann ja schließlich nicht jeder so hartgesotten und abgebrüht sein, wie Du. Er hat halt nicht deinen Mut, aber dafür kann er nichts, bei so einem Vater hätte ich auch ganz schlimme Minderwertigkeitskomplexe“, weist David sie zurecht. „Und jetzt hör gefälligst auf zu lachen, alle Leute starren schon zu uns herüber.“

„Ja ja, ich weiß schon“, winkt Carol ab. „Unterdrückte Kindheit und alles so ein Quatsch. Ich habe den Unsinn auch irgendwo mal gelesen und nicht viel verstanden, nur dass in der alten Welt die Wissenschaftler behaupten, menschliches Verhalten würde bereits in der Kindheit geprägt und ließe sich schon aus der frühkindlichen Entwicklung ableiten.“ Sie tippt sich vielsagend an die Stirn. „Halte ich für ausgesprochenen Blödsinn. Wenn Du mich fragst, als der Mut verteilt wurde, hatte Gerrit gerade die Masern oder er hat einfach vergessen, laut ‚hier’ zu rufen. Vielleicht hatte er aber auch gar nicht den Mumm, ‚hier’ zu rufen.“

Carol schüttelt sich. „Der Typ hätte mal ein paar Wochen mit mir durch die Gegend ziehen sollen. Ich fürchte nur, er hätte nicht mal ein paar Tage überlebt. Die erste Nacht in einer Höhle mit einigen entzückenden Fledermäusen und er wäre am anderen Morgen nicht mehr aufgewacht.“

Das Mädchen grinst, doch der Vormann schüttelt wieder missbilligend den Kopf. Ein leichtes Lächeln kann er sich plötzlich aber doch nicht verkneifen und insgeheim muss er dem Mädchen sogar recht geben.

Nachdem die beiden das Geschäftliche für Carpenter erledigt haben, verschwindet Carol völlig undamenhaft mit der Bemerkung: „Mal sehen, ob Jonny mir noch ’ne Limo übriggelassen hat“, im Saloon.

Anständige junge Damen haben dort eigentlich nichts zu suchen, aber ist Carol eine anständige junge Dame? Wahrscheinlich liefe ihr bei der Vorstellung schon etwas kalt den Rücken hinunter. Anständig schon, aber Dame? Igitt!

Sie betritt das Etablissement und was sie dort sieht, verschlägt ihr glatt die Sprache und das will schon etwas heißen.

Die beiden Herren Fisher stehen mit ihrem Bruder bei Randy Grouse an der Theke und Blacky erzählt gerade von Gerrits ‚Heldentaten’, ganz so wie Regisseur Fawkes es ihm eingebläut hat. Dabei trägt er natürlich, um Wirkung zu erzielen, unheimlich dick auf, woran ein geübter Beobachter die Verwandtschaft zu seiner Schwester sofort erkennen könnte. Diese gesellt sich mit der schelmischen Frage: „Hast Du schon von der Sache mit Schwarzem Adler erzählt?“ zu den Männern. ‚Oh Mann‘, denkt sie, ‚genauso wie in der bekloppten Story von Bill, fehlt nachher nur noch der Waffenfutzi oder ein schrulliger Scherenschleifer.‘

Vater Fisher, der ihren Eintritt mit einem indignierten Kopfschütteln zur Kenntnis genommen hat, fragt daraufhin erstaunt: „Haben Sie hier denn etwa noch Indianerprobleme?“

Stolz wie Oskar sagt Blacky, begeistert auf die Frage seiner Schwester eingehend: „Jetzt nicht mehr, Mister Fisher, jetzt nicht mehr. Gerrit hat dem Indianerunwesen ein Ende bereitet.

Sie standen auf dem Felsen“, er macht eine theatralisch schweifende Handbewegung, „mindestens hundert!“

„Mehr!“, sagt Carol mit Nachdruck. Diese Szene ist ganz nach ihrem Geschmack und sie spürt ein herrliches Kribbeln im Magen. Blacky liebt das Fabulieren genauso, wie sie selbst und sie weiß, er wird sich eine hübsche Story einfallen lassen, außerdem hat er das Buch, an das sie bei ihrer Frage gedacht hat und welches ihrem Vater gehörte, als Junge sicherlich auch einige Male gelesen.

„Ja, ich glaube, Du könntest recht haben. Es können auch gut und gerne zweihundert gewesen sein. Es sah imponierend und gleichzeitig ziemlich beängstigend aus, nicht wahr Randy?“, fragt Blacky den verdutzten Barkeeper.

„Äh, hm, ja ja, eh so, so war es, ja ja“, stottert dieser, völlig aus der Fassung gebracht und begibt sich schnell ein Stück von den Geschwistern Blake weg, um nicht zu stark in das Gespräch einbezogen zu werden, denn das wäre ihm in Anbetracht der imposanten Erscheinung von Fisher Senior dann doch ein wenig unheimlich.

Blacky fühlt sich ermuntert. Er ist ganz in seinem Element. Die Geschwister sind sich doch in vielen Dingen sehr ähnlich.

„Ja, wie sie da so standen.“ Kunstpause. „ Und plötzlich gibt Schwarzer Adler das Zeichen zum Angriff. War das ein Gemetzel!

Bis der Häuptling tot war. Und wie Gerrit den Hünen dann ohne Deckung auf den Hügel zu seinem Stamm schleppte, das hatte was. Unsere Kleine hier ist fast vor Angst um ihren Sohn gestorben, Sir.“

Carol tippt sich hinter Fisher Seniors Rücken mit dem Zeigefinger an die Stirn.

„Tja, und genau seit diesem Tage haben wir keinerlei Probleme mit den Rothäuten mehr.“

„Also wirklich, mein Junge, ich bin sehr stolz auf Dich. Darauf müssen wir unbedingt einen trinken. Miss, äh...“

„Blake, aber Sie dürfen ruhig Carol zu mir sagen, das tun alle hier“, hilft Carol sofort aus.

„Nun, Miss Carol, was trinken Sie?“

Carol schüttelt ablehnend den Kopf. „Nichts, vielen Dank, Sir. Milch bekomme ich hier nämlich keine, das wäre Geschäftsschädigung und Bier mag ich nicht.“

„Stell Dich nicht so an, Du Küken. Du bist doch sonst nicht so zimperlich. Du trinkst, was wir auch trinken und damit basta! Schließlich ist Dein großer Bruder dabei und der erlaubt Dir das!“, bestimmt Blacky kategorisch und Grouse stellt ihr, sehr zu Papis Erstaunen und noch mehr zu seinem Missfallen, ein sehr volles Glas Brandy unter die Nase.

Der Senior und die Geschwister heben ihre Gläser und leeren sie auf einen Zug. Dem Mädchen schießen sofort die Tränen in die Augen, die Speiseröhre brennt ihr, als hätte sie eine frische Chilischote gekaut und genau so wird ihr auch der Atem bedenklich knapp. Sie schnappt zwei Mal heftig, aber möglichst unauffällig nach Luft, schluckt krampfhaft und versucht, wenn auch ziemlich mühsam, zu lächeln. Im Stillen verflucht sie ihren Bruder und beschließt, ihm das bei passender Gelegenheit heimzuzahlen.

Little Gerrit würde lieber darauf verzichten, den Brandy zu trinken, aber da alle Blicke jetzt erwartungsvoll auf ihm ruhen, hebt er todesmutig sein Glas an die Lippen, aber kaum hat er auch nur einen winzigen Schluck genippt, beginnt er auch schon ganz entsetzlich zu husten. Er läuft blau an und krümmt sich.

Sein Vater reagiert sofort. Er fasst ihn am Arm und führt ihn nach draußen, an die frische Luft, wo er gütig meint: „Das hast Du sicher von Deiner Mutter, die hat auch keinen Alkohol vertragen. Aber es ist ja nicht unbedingt der Brandy, der einen harten Kerl auszeichnet.” Seine Augen wandern zur Saloontür. “Dieses Mädchen, diese Carol, die ist aber auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Die Eltern sollten Ihr den Umgang mit dem Bruder nicht zu häufig gestatten. Wenn sie meine Tochter wäre, ich würde sie jeden Morgen erst mal prophylaktisch übers Knie legen.“

Todesmutig wagt es Gerrit, seinem Vater mit noch immer nicht fester, ein wenig krächzender Stimme zu widersprechen. „Du kennst sie doch überhaupt nicht. Carol ist ein feiner Kerl. Sie hat einen großartigen Charakter und den Mut einer Löwin. Sie hat es nicht leicht gehabt, denn ihre Eltern sind schon vor langer Zeit gestorben und sie hat nur noch ihren Bruder, der sich ein wenig um sie kümmert. Was dann auch das von wegen dem häufigen Umgang gestatten hinfällig macht. Aber Dir das jetzt ausführlich zu erklären, das würde entschieden zu lange dauern und“, tapfer schaut er seinem Vater in die Augen, „ich weiß auch nicht, ob Du es verstehen würdest.“

Erneut fängt der Junge an zu husten. Nie wieder Brandy! Wie mag das Mädchen das nur gemacht haben, ganz ohne zu husten das scharfe Zeug in sich hinein zukippen.

Im Saloon zurückgeblieben, grinst das unmögliche Kind seinen Bruder an. „Ich glaube, Du hast wohl doch so ein ganz klein wenig übertrieben, mit dem Schwarzen Adler und von wegen Gemetzel und so. Dann wäre Ebony Town entvölkert. Und dann auch noch zu behaupten, ich hätte Angst um diese Pfeife gehabt. Du hast sie wirklich nicht mehr alle.“

„Ach, Schwesterchen, nimm’s nicht so tragisch. Die Hauptsache ist doch, dem Papilein hat unsere kleine Vorstellung ein wenig Freude in seinem trostlosen Leben gemacht.“

„Oh, oh! Dein Wort in Gottes Gehörgang, mein Lieber. Würde mich nicht wundern, wenn der Alte den Braten nicht bald zu riechen beginnt. Scheiß Spiel! Nur gut, dass der Indian bei dem Theater nicht dabei war. Der würde uns in der nächsten Woche den Lohn kürzen.“

John zieht seine Uhr hervor und brummt: „Nur noch etwas über eine Stunde, dann ist der Spuk vorüber. Bisher hat doch alles geklappt. Ich denke nicht, dass jetzt noch was schief geht.“

Bei diesen Worten ahnt er nicht, dass die nächste Gefahr bereits im Anrollen ist und zwar in Gestalt eines harmlosen Waffenhändlers, den Carol mit ihren Gedanken förmlich angelockt zu haben scheint.

Der echte Sheriff und die beiden Herren Fisher haben sich ins Office zurückgezogen und der alte Herr schwärmt gerade von seinen aktiven Zeiten als Marshall, als der gute Mann eintritt.

Ohne Umschweife geht er auf Gerrit zu und drückt ihm einen Revolver in das schweißnasse Patschehändchen. Dann preist er mit vielen unnützen Worten seine Waffen als das Non-Plus-Ultra an.

Gerrit ist leichenblass geworden und das Entsetzen steht ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Er hat noch nie in seinem Leben eine Waffe in der Hand gehalten.

Auch Fawkes ist der Schweiß auf die Stirn getreten und er versucht sofort, dem Jungen zu Hilfe zu kommen. „Vielen Dank, Mister, aber wir brauchen wirklich keine Waffen.“

Doch der Händler bleibt hartnäckig. Er lässt sich so leicht nicht abschütteln und daher lockt er: „Vielleicht möchten Sie meine Waffen trotzdem einmal ganz unverbindlich ausprobieren. Erst dann können Sie die hervorragende Qualität erkennen und es sich immer noch überlegen, ob Sie nicht doch die eine oder die andere neue Waffe gebrauchen können. Ich habe draußen vor der Stadt einen kleinen Schießplatz aufgebaut und eine Probe kostet Sie doch nichts.“

Obwohl Bill sofort versucht, vorsichtige Einwendungen anzubringen, ist der alte Fisher von dem Gedanken geradezu begeistert. Er schaut kurz auf seine Uhr, fasst seinen Sohn besitzergreifend am Arm und sagt dann unternehmungslustig zu Bill: „Ich habe noch jede Menge Zeit und finde die Idee einfach großartig. Sie kommen doch auch mit, Hilfssheriff?“

Fawkes atmet tief durch, überlegt eine Sekunde, dann murmelt er: „Na gut, den Spaß sollte man sich nicht entgehen lassen. Ich habe allerdings vorher noch etwas Dringendes zu erledigen. Reiten Sie ruhig schon vor, ich komme so bald als möglich nach. Sie können mein Pferd benutzen, Sir.“

Auf der Straße zieht Bill den völlig entnervten und am Boden zerstörten Gerrit beiseite: „Mach ja nichts, bevor ich wieder bei Euch bin. Dein Schwindel fliegt sonst schneller auf, als Dir lieb ist. Hast Du mich verstanden?“

Vor der Stadt lässt der junge Mann seinem Vater höflich den Vortritt. Er kann seine Angst und Unruhe kaum noch verbergen. Nervös blickt er immer wieder auf die Stelle, an welcher der echte Sheriff auftauchen müsste.

Fisher Senior begutachtet die Waffen mit Kennerblick. Glücklicherweise lässt er sich hierbei ein wenig Zeit und gerade, als Gerrit seine Rettung nahen sieht, hebt sein Vater die Waffe. Sein alter Herr schießt noch immer hervorragend. Er trifft ein Mal die Zwölf, drei Mal die Elf und zwei Mal die Zehn. Der Händler ist von dieser Treffsicherheit begeistert. Er lobt die scharfen Augen des Schützen, seine ruhige Hand und nicht zuletzt natürlich seine tollen Waffen.

Inzwischen sind Fawkes und Carol am Ort des Geschehens eingetroffen, ebenso wie Widefield, der allerdings unbemerkt hinter einem Felsen unmittelbar hinter der Gruppe der Schützen in Deckung gegangen ist, von wo aus er ein gutes, freies Schussfeld auf die Scheiben hat.

Bill nickt Gerrit zu und drückt ihm eine Waffe in die Hand, dann stellt er sich schräg, ganz dicht hinter ihn und flüstert leise: „Ziele immer auf den Baum und wenn ich drei sage, drückst Du ab!“

„Ja, aber was ist, wenn ich nun nicht treffe? Die Scheiben sind doch ein Stück vom Baum weg.“

„Du triffst mit Sicherheit nicht“, grinst Fawkes und blickt Carol vielsagend an. „Aber keine Bange, es geht alles gut!“

Das Mädchen schaut zu dem Felsen hinüber, dann nickt sie Bill unmerklich zu. Ihr Boss hat sein Gewehr in Anschlag gebracht. Er ist bereit.

Hinter Gerrits Rücken, aber so, dass keiner der anderen etwas merkt, gibt Fawkes ihm Zeichen.

Der arme Sheriff wider Willen hebt zitternd den Revolver und versucht zu zielen. Bill zählt leise bis drei und Gerrit drückt gleichzeitig mit dem verborgenen Schützen ab. Zweifelnd lauscht Carol. Ihre scharfen Ohren hören den etwas dumpfer klingenden Knall des Gewehrs, welcher zwei Mal auch nicht genau zeitgleich mit dem Pistolenschuss erklingt, aber die anderen Personen scheinen nichts davon zu bemerken. Sechs Schuss, sechs Treffer, davon vier ins Schwarze. Gerrit kann sein Glück kaum fassen und schaut verwundert die Waffe an.

David nickt befriedigt und entfernt sich leise aus seinem Versteck, wobei er sich erneut nach seinem eigenen Verstand fragt. John alleine war ja schon manchmal sehr speziell, aber jetzt im Doppel mit seiner Schwester werden noch heitere Zeiten auf Willow-Tree zukommen.

Der nun vollends aus dem Häuschen geratene Waffenhändler fragt den ‚Hilfssheriff’, ob er es nicht auch einmal probieren möchte, denn seine Waffen seien wirklich einmalig, was Gerrit begeistert bestätigt, doch Bill hebt nur abwehrend beide Hände und lehnt mit der Begründung: „Vielleicht ein anderes Mal, die sind mir heute alle viel zu gut in Form. Ich will mich ja nicht unbedingt blamieren“, ab.

„Aber ich hätte große Lust. Auf Scheiben schießen, das mag ich.“ Carol ist Feuer und Flamme. Bill schaut sie an und zieht unwillig die Augenbrauen hoch. Sie fängt seinen Blick auf und ihre Augen antworten, dass der Indian dann problemloser von der Bildfläche verschwinden kann. Eigentlich ein kluges Mädchen, aber wie immer reitet das kleine Biest der Teufel. Statt nur ein paar Fragen zu stellen um Zeit zu gewinnen, muss sie sich mal wieder produzieren. Dabei hatte sie doch fest versprochen, solange Gerrits Vater in Ebony Town ist, sich so unauffällig, wie nur möglich zu verhalten und sich keine Eskapaden zu erlauben. ‚Wenn sie das jetzt verbockt, lege ich sie nachher übers Knie!’, nimmt sich Bill vor.

Jetzt steht sie da, breitbeinig, die Waffe mit beiden Händen auf die Scheibe gerichtet, die Augen leicht zusammengekniffen, absolut konzentriert und drückt ab. Dem alten Marshall kommt der Ausdruck ‚Flintenweib’ in den Sinn.

Es bellen kurz hintereinander sechs Schüsse und diese gehen sechs Mal so dicht nebeneinander ins Schwarze, dass die Scheibenmitte zu einem einzigen großen Loch geworden ist.

Die Männer, die das Girl voller Verblüffung beobachten, müssen erkennen, dass sie von allen mit Abstand die beste Schützin ist. Kaum das sich ihre Hand beim Rückstoß nach oben bewegt hat, so wie das bei Gerrit doch ziemlich stark zu beobachten gewesen ist.

Strahlend geht das Mädchen nun auf Gerrit zu, klopft ihm auf die Schulter und sagt vernehmlich: „Na, ich bin doch ganz gut geworden, auch wenn ich nur ein Mädchen bin, oder? Du warst mir der beste Lehrmeister, den ich mir wünschen konnte. Deine kleinen Tricks sind absolute Klasse, Sheriff. Übrigens, Du hast vollkommen recht, wenn Du sagst, dass sich auch ein Mädchen verteidigen können sollte. Schaden tut das bestimmt nicht. Und dass ich so gut treffe“, sie schaut strahlend in die Runde, “liegt einzig und alleine daran, dass ich Augen wie ein Habicht habe.”

Bill, der das Kind noch nie beim Schießen beobachtet hat, ist beeindruckt, Gerrit völlig fassungslos und die beiden nicht in das Theater eingeweihten Männer absolut hin und hergerissen zwischen Bewunderung und Erstaunen. Sie können kaum glauben, was sie da gerade eben mit ihren eigenen Augen gesehen haben und sie wissen nicht so recht, was sie davon halten sollen. Fest steht für sie beide, das außergewöhnliche Kind ist ein Teufelsweib mit dem Gesicht eines unschuldigen Engels.

„Du, Daddy“, beginnt Gerrit, noch immer ganz unter dem Eindruck des Geschehens, mit zittriger Stimme, „ich glaube, wir müssen bald zum Bahnhof zurück, Dein Zug fährt sonst ohne Dich weiter. Mit dem Waffenhändler, das klären der Hilfssheriff und Carol auch ohne uns.“

Der junge Mann wird sich erst wieder wohl in seiner Haut fühlen, wenn der Zug mitsamt seinem Vater aus dem Bahnhof gerollt ist und er die ungewohnten Klamotten los ist.

Die Nerven des armen Jungen sind so überstrapaziert, dass er glaubt, auf der Stelle tot umfallen zu müssen, wenn noch irgendetwas Unvorhergesehenes eintritt. Er wünscht seinen Vater auf die andere Seite der Erde oder aber doch wenigstens ganz, ganz weit weg.

Aber erstens kommt es anders, als fromme Wünsche es sich denken und so geht zweitens auch diese Hoffnung nicht in Erfüllung.

Als Vater und Sohn wenig später den Bahnhof erreichen, gibt es für den armen Gerrit die nächste Hiobsbotschaft, denn sie erfahren, dass der Zug wegen eines Defekts noch nicht abfahren kann und der Aufenthalt in Ebony Town daher noch um etwa ein, zwei Stunden verlängert werden muss. Wenn doch nur ein Mauseloch zum Verkriechen da wäre oder sich wenigstens die Erde auftäte, um Gerrit oder wenigstens seinen Vater zu verschlingen, aber nichts dergleichen tut sich und ausgerechnet jetzt droht ein Pulverfass zu explodieren.

Wenig später stürzt Fess, ein junger Cowboy von der Willow-Tree-Ranch, ins Sheriff-Office, wo sich die Hauptakteure des Spektakels mittlerweile wieder treulich versammelt haben, als ob der Leibhaftige hinter ihm her wäre.

„Unsere Stadtpflanze, unser Tenderfoot, sieh an, sieh an. Ich heiße Emil, wenn der jetzt nicht alles schnell noch durcheinander bringt“, murmelt Carol leise und erhält dafür einen Rippenstoß sowie einen missbilligend ermahnenden Blick von ihrem Boss.

Der junge Mann ist kaum eingetreten, da ruft er schon in Fawkes Richtung: „Sie müssen sich beeilen, Sheriff, draußen vor der Stadt beim toten Baum sind die sechs Männer, die die Postkutsche, in der Blacky saß, überfallen haben. Ich bin an ihrem Rastplatz vorbeigeritten und habe den Gaul mit der T-förmigen Blesse erkannt. Die Kerle scheinen irgendetwas zu planen.“

„Und das kann nichts Gutes sein!“ Carol ist wie vom Blitz getroffen aufgesprungen. Mit wild entschlossenem Blick knurrt sie: „Wehe Dir Fess, wenn das eine Ente ist! Such’ sofort nach meinem Bruder! Er ist entweder im Saloon oder im Drugstore. Aber beeil Dich gefälligst und fall nicht vor Aufregung über Deine eigenen Füße! Ich denke nämlich, John hat mit den Kerlen noch ein Hühnchen zu rupfen!“

Sie dreht sich zu Fawkes um. „Bill, wo hast Du meinen Colt? Ich habe auch noch eine offene Rechnung zu begleichen.“ Suchend blickt das Girl sich um.

Gerrits Vater ist verblüfft. Hier hat scheinbar ein Mädchen die Führung übernommen, wogegen erstaunlicherweise niemand protestiert. Und wieso wenden sich plötzlich alle an den Hilfssheriff?

Carol, die keine Antwort von Bill abgewartet hat, zieht eine Schreibtischschublade auf, entnimmt ihr einen Holster und schnallt ihn um. Dann kontrolliert sie gewissenhaft, ob der Revolver geladen ist und schaut erwartungsvoll in die Runde. „Na und? Was ist mit Euch?“

Der Indianer räuspert sich vernehmlich und schüttelt leicht den Kopf.

Als Fawkes diesen Blick auffängt, kann auch er sich nicht mehr beherrschen und knurrt ungehalten: „Carol, was soll das? Hast Du schon vergessen, was Du dem Indian und mir versprochen hast?“

Mit einem harten Ausdruck in den Augen erwidert sie kühl auf diesen Vorwurf: „Ich weiß ganz genau, was ich mit Euch verabredet habe und ihr müsst beide zugeben, in gewisser Weise habe ich mich auch an mein Versprechen gehalten, obwohl ich von Anfang an gewisse Bedenken hatte, aber die Zeit, die wir vereinbart haben, ist überschritten, zudem hat sich die Situation grundlegend geändert. Veränderte Umstände erfordern geändertes Verhalten!

Dieser Vorfall war ja nun wirklich nicht mit eingeplant und auch keineswegs vorhersehbar. Er geht mich aber unbedingt etwas an und dieses Etwas ist viel stärker, als jedes Versprechen, dass ich Euch gegeben habe.“

Mit entschlossenem Blick schaut das Girl seinen Boss kurz an und stolziert dann hoch erhobenen Hauptes auf die Tür zu.

„Ich gehe! Dieses einmalige Spektakel und die Gelegenheit mit Mördern abzurechnen lasse ich mir doch nicht entgehen. Wer Lust und Mut hat, der kann ja nachkommen. Es dürfte allerdings haarig werden!“, brummt sie noch mit einem letzten Blick auf den falschen Sheriff.

Mit Nachdruck schließt sich die Türe hinter ihr.

Einen Fluch unterdrückend ist Widefield aufgesprungen, dann seufzt er: „Oh weh, oh weh, das wird noch mal böse enden mit der Kleinen. - Aber irgendwie kann ich sie gut verstehen. Ich würde in ihrer Situation wahrscheinlich ganz genauso handeln.“

Mit ernstem Gesicht setzt er seinen Stetson auf und verlässt zusammen mit dem Sheriff und den beiden Herren Fisher das Office. Just in genau diesem Augenblick kommt Blacky auf seiner Stute über die Straße geprescht.

„Was ist denn hier los? Noch schnell einen kleinen Kongress vor der Mörderjagd abgehalten? Was wurde beschlossen?“ Suchend blickt sich der junge Mann um. „Wo ist denn Carol? Mir wäre es angenehmer, wenn sie hier bliebe, aber wie es aussieht, habt ihr dem Wildfang ein Mitkommen verboten. Oder hat sie noch keinen Wind von der Sache bekommen? Ist vielleicht auch ...“

Der Vormann schüttelt den Kopf und unterbricht den Redeschwall seines Freundes: „Wind bekommen? Deine Schwester? Das war schon mehr eine Orkanböe, die über Ebony Town hinweggefegt sein muss!“

Er deutet die Straße hinunter und alle Augenpaare folgen seiner Blickrichtung. Die Männer sehen gerade noch, wie der Wildfang in einer riesigen Staubwolke verschwindet.

Blacky stöhnt auf, wie von einem Schlag getroffen und meint kurzentschlossen: „Das ist entschieden zu gefährlich für sie alleine. Wir müssen uns beeilen und ihr helfen, sonst macht sie womöglich ihre üblichen Dummheiten und versucht die Sache ganz alleine auszufechten. Ich wusste gar nicht, dass ich eine Irre zur Schwester habe. Diese Krankheit war eigentlich in unserer Familie, so weit ich weiß, bisher nicht vertreten. Und jetzt Tempo meine Herren, ich habe höllische Angst um die Kleine!“

Während die Männer die Zügel ihrer Pferde von der Barre lösen, fragt Fawkes Gerrit leise: „Willst Du nicht lieber hier bleiben? Es könnte verdammt brenzlig werden.“

Der bleiche Junge schüttelt, mit einem ängstlichen Blick auf seinen Vater, den Kopf und klettert in den Sattel. Auch Fisher Senior greift nach den Zügeln seines geliehenen Gauls, alle sitzen auf und angeführt von den beiden Willow-Tree Cowboys galoppieren sie hinter Carol her. Nur einholen können sie sie nicht mehr, das ist ein Ding der Unmöglichkeit, dafür war die Schrecksekunde der Männer zu lang und der Vorsprung des Mädchens zu groß.

Sie erreichen den Irrwisch erst wieder am Schauplatz der nun folgenden Geschichte.

Hinter einem Felsen musste das Girl in Deckung gehen, um zuerst einmal die Lage zu peilen und sich zu vergewissern, dass es sich bei den Männern tatsächlich um die Mörder handelt.

Blacky und der Vormann schimpfen leise auf sie ein und machen ihr große Vorwürfe wegen ihres eigenmächtigen Verhaltens, doch das Kind reagiert nicht im Geringsten reuevoll oder tut wenigstens so, als ob. Die harten Worte der Männer perlen an ihr ab, wie Wasser von einer Ölhaut.

Fisher Senior, von Bill in groben Umrissen von den Ereignissen vor knapp vier Wochen informiert, hat sein Erstaunen mittlerweile ganz in die hinterste Ecke verdrängt, denn für ihn ist das Girl schon seit seinem ersten Blick auf sie nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Daher beschließt er, zu ignorieren, dass sie noch ein Kind und dazu ein Mädchen ist und kramt in seinem reichen Erfahrungsschatz.

„Sind das die Männer?“, will er wissen und da Carol nickt, knurrt er aus zusammengebissenen Zähnen: „Wir müssen von hinten an die Kerle ran!“

Das rothaarige Girl nickt und macht geduckt einen Schritt vorwärts, doch zu aller Erstaunen hält Gerrit sie todesmutig zurück: „Nicht Du gehst, ich gehe, das ist mein Job.“

Sie lässt sich zurückgleiten und schaut den jungen Mann mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Mitleid an. Nun übertreibt er es aber wirklich mit seinem Sheriffspielchen. „Du?“, fragt sie dann auch leise. „Das geht doch nicht, Du spinnst wohl? Übertreib es nicht, ist die Sache nicht wert!“ Vielsagend tippt sie sich an die Stirn, doch der Vater nickt seinem Sohn zu und der schleicht leise und behände wie ein Trampeltier los.

Carol runzelt erbost die Stirn, blickt erst ihren Boss, dann den Sheriff an, schüttelt den Kopf, zieht die Augenbrauen hoch und tippt sich erneut an die Stirn. „Das ist glatter Mord, da könnte der seinen Sohn ja gleich selbst erschießen. Ihr habt sie nicht mehr alle beisammen. Will ihn denn keiner von Euch aufhalten?“

Nun wendet sie sich an Fisher Senior, verengt die schönen, grünen Augen zu Schlitzen und ist nicht mehr zu bremsen.

„Sie erfahren jetzt die volle Wahrheit, Mister. Auch wenn es einigen der hier anwesenden Herren nicht passen sollte.“ Sie wirft einen Blick zu ihren Freunden. „Mir ist das im Moment alles egal. Auch wenn ihr mir meine Gesprächigkeit auf ewige Zeiten übel nehmen solltet. Ich bin diese Schmierenkomödie ein für alle Male leid, auch wenn ich zunächst meinen Spaß an dem Spielchen hatte. Ich spreche jetzt auch für Gerrit, denn selbst wenn er das hier überleben sollte, er kann doch nicht auf Dauer mit einer derartigen Lüge weiterleben. In was für eine belämmerte Situation er sich damit gebracht hat, sehen wir ja jetzt!“

Sie holt tief Luft. „Ihr Sohn Gerrit ist kein Sheriff, es war alles nur Theater. Auch die Schießübungen waren getrickst. Der Junge hat noch nie in seinem Leben auf irgendwas geschossen, schon gar nicht auf ein bewegliches Ziel und er hat daher auch noch nie etwas getroffen, noch nicht mal eine Konservendose, die ganz still gehalten hat.“

Carol schluckt. „Die Männer dort hinter dem Felsen sind eiskalte, gefährliche Killer, die mit nichts so schnell umgehen können, wie mit Gewehr und Revolver. Und ich persönlich habe ihre Brutalität mit meinen eigenen Augen mit ansehen müssen. Es war widerlich, wie sinnlos sie sogar auf schon Tote noch mal geschossen haben.“

Gelassen meint der alte Herr darauf: „Aber ich weiß doch, dass Gerrit kein Sheriff ist. Ich will ihm endlich eine Chance geben, sich zu beweisen und im übrigen, ich kann auch lesen.“ Ein kühler Blick aus grauen Augen trifft das rothaarige Mädchen, das erst jappst und dann erschauert.

„Sie wissen...“ Carol spuckt diesen unvollendeten Satz.

„Eine feine Chance, die Sie Ihrem Sohn da geben.“ Carol ist furchtbar entsetzt. Gerrit tut ihr unendlich leid. „Sie wissen alles und lassen ihn dennoch gehen? Ich verstehe Sie nicht, Mann. Sie sind ja ein umwerfend liebender Vater. Und wenn wir nicht bald etwas unternehmen, sind Sie ein trauernder Vater. Wenn Sie überhaupt wissen, was Trauer ist. Ich weiß es, bei Gott, ich weiß es. Und ich denke, Gerrit hat seinen Mut jetzt genug bewiesen. - Gebt mir Feuerschutz!“

Leise und behände, wie eine Raubkatze, schleicht das Mädchen hinter dem unerfahrenen und noch viel unbeholfeneren Jungen her.

Sein Vater will ihr folgen, doch David hält ihn zurück: „Lassen Sie sie nur machen, sie weiß besser als Gerrit, wie man mit Colt und Banditen umzugehen hat.“

Verblüfft schaut der Ex-Marschall den ernsten, dunkelhaarigen Mann, der auf ihn nicht gerade den Eindruck eines übermütigen Heißsporns macht, an. „Meinen Sohn wollen Sie nicht gehen lassen, aber dieses Kind soll mit den Banditen klarkommen?“

Ein kleines Lächeln erscheint in den Augenwinkeln des Vormanns. „Wir sind ja auch noch da!“

Mittlerweile hat sich Gerrit der Bande schon bis auf wenige Schritte genähert und Carol hat ihn im Schutze der Felsen auch fast erreicht, als das Mädchen erkennen muss, dass der junge Mann eine mehr als schlechte Deckung hat und von den Gangstern längst gesichtet worden ist.

Einer der Killer zielt auf ihn, was Gerrit, der vollkommen mit lautem Schleichen beschäftigt ist, noch nicht einmal bemerkt hat. Das Girl handelt blitzschnell und ohne lange zu überlegen. Sie gibt ihre eigene, sehr gute Deckung auf und springt von ihrem ungefähr zwei Meter höheren Standort auf einem Felsen, hinab, um Gerrit aus der Schusslinie zu stoßen.

Das ungeplante Überraschungsmanöver gelingt ihr, aber sie schafft es nicht, selbst rechtzeitig eine neue, geeignete Deckung zu finden. Der für Gerrit gedachte Schuss kracht an ihm vorbei, dafür kann Carol einen Aufschrei nicht unterdrücken, als er ihren Arm streift. Sie wirft sich trotz der Schmerzen flach auf den Boden und schlängelt sich aus der Gefahrenzone.

„Los, Du Kamel, nun mach schon! Sie wissen jetzt, wo wir sind. Wir müssen schleunigst hier verduften.“ Das Mädchen schaut sich kurz um. „Komm hier entlang! Und halt die Rübe unten!“

Sie hält sich den blutenden linken Arm und läuft geduckt einen Umweg zu den wartenden Cowboys zurück. Gerrit folgt ihr ziemlich kleinlaut.

Die Banditen schießen noch immer wild in die Richtung, wo sie Gerrit zuerst gesichtet haben.

Carol lehnt sich mit dem Rücken an einen Felsen und lässt sich langsam an dem glatten Stein herabgleiten, dann untersucht sie vorsichtig ihren Arm. Sie presst die rechte Hand auf die Wunde, beißt die Zähne zusammen, gibt einen leisen, zischenden Laut von sich und schüttelt energisch den Kopf, als wolle sie die Schmerzen abschütteln. Das Mädchen kämpft mit den aufsteigenden Tränen und versucht tapfer, sie hinunter zu schlucken, kann es aber doch nicht verhindern, dass sich zwei kleine Rinnsale lösen, über ihr erhitztes Gesicht kullern und vor ihr in den Staub tropfen.

David Widefield schaut sich nach ihr um und bemerkt sofort, dass etwas nicht stimmt.

Geduckt nähert er sich seinem Cowgirl, hockt sich neben sie und deutet fragend auf ihren Arm. Das Kind lockert die Hand und zeigt ebenso wortlos die Verletzung. Ihr Boss runzelt bedenklich die Stirn.

„Schaut böse aus!“, knurrt er lautlos.

„Ach was, ist nur ein Streifschuss, brennt aber ganz hervorragend. Wird sicher schön sein, wenn der Schmerz nachlässt.“ Durch ihre betont forsche Art will die Kleine überspielen, wie groß ihre Schmerzen tatsächlich sind.

Mittlerweile haben die Banditen entdeckt, wo sich die Widersacher versteckt halten und das Feuer in ihre Richtung eröffnet. Sie liefern sich einen erbitterten Schusswechsel mit dem Sheriff und seinen Leuten, an dem sich David nun mit einer enormen Wut im Bauch beteiligt.

Plötzlich ertönt ein spitzer Aufschrei aus dem Mund der jungen Frau, als sie erkennt, dass sich einer der Gangster in dem Getümmel unbemerkt hinter sie geschlichen hat und nun versucht, sich auf ihrem schwarzen Hengst aus dem Staub zu machen.

Zu aller Erstaunen unternimmt das Girl nichts, nur ein ironischer Zug erscheint in ihren Mundwinkeln, Längst sind die Tränen getrocknet und gespannt beobachtet sie das weitere Geschehen, als säße sie in einem Theater.

Der brave Hengst reagiert ganz anders, als alle es von ihm erwartet haben. Die noch immer mit den Schützen beschäftigten Männer können nur aus den Augenwinkeln beobachten, was geschieht. Silky steigt vorne hoch und nur Bruchteile von Sekunden später hebt sich seine Hinterhand. Er bockt, dass es einem sogar als Zuschauer Angst und Bange werden kann. Es dauert auch keine halbe Minute und das Bandenmitglied liegt am Boden.

Wütend zieht der Mann seinen Colt, denn er weiß, dass er entdeckt ist und dadurch nur wenige Chancen zur Flucht hat. Er will sich seinen Weg freischießen, doch er hat nicht mit Carols Reaktionsschnelle gerechnet. Nur gut, dass sie mit beiden Händen gleichermaßen gut schießen kann. Mit einem einzigen Schuss zerfetzt sie dem Kerl das Handgelenk.

Mit einem Aufschrei lässt er seine Waffe fallen und rollt sich jaulend über den Boden, wobei er bemüht ist, weit von den nervösen Hufen eines schwarzen Pferdes wegzubleiben.

Das mutige Mädchen schließt erschöpft die Augen, lässt den Revolver fallen, als hätte sie sich daran verbrannt und beginnt nun laut zu schluchzen.

Der Sheriff und David sehen sich kurz an, als sie die Worte „Oh mein Gott, ich habe wirklich auf einen Menschen geschossen, ich habe einen Menschen verletzt, ich kann nicht mehr!“, vernehmen. Doch sie haben keine Zeit sich darüber zu wundern und konzentrieren sich wieder voll und ganz auf die verbliebenen fünf Bandenmitglieder, von denen bereits einer leblos am Boden liegt.

Glücklicherweise dauert es nun nicht mehr lange und der Sheriff kann vier der gefährlichen Männer festnehmen. Sie haben bei dem Feuergefecht alle mehr oder minder schwere Verletzungen davongetragen, aber dennoch werden sie gefesselt und wie Pakete verschnürt. Die beiden anderen Männer des Sextetts haben den Schusswechsel nicht überlebt. Auf Seiten des Sheriffs und seiner Freunde ist es nur Carol, die eine Verletzung davon getragen hat.

„Na, mein Mädchen, wie schaut’s aus? Tut deine Wunde sehr weh?“ will Fawkes besorgt, mit einem Blick auf ihren blutdurchtränkten Ärmel wissen.

Müde winkt das junge Mädchen ab. „Nur wenn ich laut lache, aber danach ist mir jetzt gar nicht zumute. Mir ist todschlecht und ich glaube, ich muss mich gleich übergeben.“ Mit umflortem Blick schaut sie erst den Freund, dann die anderen Männer an. Ihr Gesicht ist schmutzig und blutverschmiert, trotz allem sieht sie hinreißend, weil so völlig hilflos, aus.

Sie erhebt sich langsam und bedächtig wie nie, wobei sie jede Hilfe ablehnt, dann jammert sie: „Wie eine alte Frau“, geht zu ihrem treuen Hengst und will sich in den Sattel schwingen.

Fess, der zu der Gruppe gestoßen ist, während Carol versucht hat, Gerrit zu Hilfe zu kommen, hält sie erschrocken zurück: „Bist Du verrückt?“

„Nee, dachte ich eigentlich nicht. Ich habe ’ne Verletzung am Arm, nicht am Kopf und schon gar nicht am Hintern. Ich denke, ich kann ganz gut reiten.“

Blacky schaut Fess anerkennend an, dann wendet er sich an seine Schwester. „Du kannst jetzt nicht auf Silky reiten, die Schießerei hat ihn scheinbar ziemlich nervös gemacht. Er reagiert ziemlich bösartig für meinen Geschmack. Nimm lieber meinen Bock.“

Die Kleine lacht trotz der Schmerzen glockenhell auf und schaut fast vergnügt in die Runde. „Silky ist nicht bösartig und schon gar nicht nervös wegen den paar Schüssen. Er ist immer so, das ist halt seine temperamentvolle Natur. Von Euch hat nur noch keiner versucht, das Tier zu reiten. Und wie ihr gesehen habt, es ist auch nicht ratsam, denn jedem von Euch würde es genauso gehen, wie dem Banditen eben. Da macht Silky keinen Unterschied.“

Sie schaut in die Ferne, senkt die Stimme und murmelt: „Silky war der gefährlichste Bronco, den Vater sich jemals hat verkaufen lassen. Kein Cowboy aus der Nachbarschaft wagte es, ihn zuzureiten. Manche wagten es nicht einmal, sich ihm auch nur zu nähern. Also sollte er wieder verkauft werden. Für Vaters Zwecke war er so wild und ungebändigt nicht zu brauchen. Mir tat der arme Kerl leid, denn der Weg hätte ihn sicherlich zum Abdecker geführt, weil keiner diesen Teufel haben wollte, außerdem gefiel er mir großartig, es war so etwas, wie die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Diese Liebe habe ich versucht, ihm entgegenzubringen und ich habe es geschafft, sein Zutrauen zu erhalten und konnte ihn so recht leidlich sogar zureiten. Es war aber ein hartes Stück Arbeit und ich hatte mächtig viele Blessuren, aber zum Schluss war er ganz brav, nicht nur mir, auch anderen Menschen gegenüber. Allerdings lässt er niemand anderen auf seinen Rücken als mich. Aus dem Bronco ist eben kein Lamm geworden, aber immerhin ein halbwegs zugerittener Mustang. Übrigens, er gehorcht auch nur mir. Das war von Anfang an so und er tut alles, was ich von ihm verlange.“

„Typisch Frau, dressiert hast Du ihn, wie einen Zirkusgaul!”, seufzt Blacky.

„Na hör mal, gerade Du musst meckern. Wenn Silky nicht so toll ‚dressiert’ wäre, wie Du so nett zu sagen beliebst, ich hätte Dich seinerzeit nicht in die Stadt gebracht. Wenn wir uns nicht so gut verstehen würden, hätte er Dich, verletzt oder nicht, gleich wieder abgeworfen, aber da der gute Junge klug ist, wusste er, auf was es ankommt.“

Das Mädchen schwingt sich auf seinen Hengst und ruft: „Seht zu, dass ihr die Bande hinter Schloss und Riegel bringt und dann ab zum Bahnhof, sonst muss Mr. Fisher noch hier in dem Kaff mit den grässlichsten Frauen der Welt übernachten. – Wenn was ist, ihr findet mich beim Doc!“

Damit verschwindet sie in einer dichten Staubwolke.

Das Lügengebilde um ‚Sheriff’ Gerrit Fisher ist also aufgeflogen, jedoch hat sich der alte Fisher nie geäußert, wann er den Schwindel entdeckt hat.

Nachdem die Verbrecher unter Blackys Bewachung im Gefängnis eingeschlossen sind, beeilen sich die beiden Fishers, in Begleitung des richtigen Sheriffs und des Indian zum Bahnhof zu kommen, wo die beiden Letztgenannten eine große Überraschung aus dem Munde des Alten erwartet, als er sich von ihnen verabschiedet. Er klopft beiden auf die Schulter und sagt jovial: „So übel kann mein Sohn gar nicht sein, wenn er Menschen wie Sie beide und die Geschwister Blake zu Freunden hat. Grüßen Sie Miss Carol von mir und richten Sie ihr meine besten Genesungswünsche aus. Erst dachte ich, das Kind sei das Übelste, was hier durch die Stadt läuft, aber sie hat mir die Augen geöffnet. Nicht das Aussehen oder die Art sich zu geben sind ausschlaggebend, sondern das, was hier drinnen ist.“ Er klopft sich in der Herzgegend an die Brust. „Hier drin, das ist wichtig. Diese kleine Frau ist prachtvoll. Ich habe viel begriffen in den wenigen Stunden, die ich hier sein durfte.“

Er wendet sich an seinen Sohn. „Ich glaube, ich habe es Dir bisher in Deinem Leben nicht besonders leicht gemacht, es tut mir von Herzen leid. Ich hoffe, Du kannst mir vergeben. In Deinem nächsten Brief brauchst Du mir keine Heldentaten zu schildern, erzähl mir darin lieber mehr über Deine kleine Freundin und warum ihr Leben bisher nicht leicht gewesen ist. Das interessiert mich wirklich!“

Wenig später sehen ihn die drei verbleibenden Menschen aus dem Zug winken und der Stein, der Gerrit vom Herzen fällt, ist bis ans andere Ende des Bahnsteigs zu hören. Für ihn hat dieser denkwürdige Tag ganz bestimmt etwas Gutes, denn er fühlt sich in seinem Job als Bankangestellter nun noch mal so wohl wie bisher und ist ganz froh, dass er nicht Sheriff sein braucht.

Carol dagegen ist wieder einmal die Heldin des Tages, ganz besonders für Gerrit, der ihr fortan eine derartig unterwürfige Verehrung entgegenbringt, dass er das Mädchen damit völlig verlegen macht.

Nur ein Tropfen Leben

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