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Kapitel 1


Wer eine Katze hat, braucht das Alleinsein nicht zu fürchten.


Daniel Defoe, englischer Schriftsteller


„Juliaaaane, was ist los mit dir?“, miaute Violetta.

Aufmerksam beäugte die Katze ihre Menschenfrau, die wie immer an ihrem Schreibtisch saß. Doch Juliane regte sich nicht. Was war das denn? Normalerweise reagierte sie gleich, und nun überhörte sie schon die dritte Begrüßung. Sie blickte nur gedankenverloren auf ihren Block, dessen Seiten im Sonnenlicht strahlten. Den Kopf hatte sie in die Hand gestützt, als wäre ihr sein Gewicht zu schwer geworden. Lange, nussbraune Haarsträhnen fielen auf ein aufgeschlagenes Buch hinab. Violetta hatte das nutzlose Rufen satt. Sie lief zum Schreibtisch und sprang mit einem energischen Satz nach oben.

Zwischen Stapeln von Büchern sammelten sich Papierbögen, Stifte, bunte Zettel, Metallklammern und andere kleine Gegenstände. Violetta kletterte über das ganze Zeug zu ihrer Menschenfrau hinüber. Mit einem Seitenblick streifte sie den leuchtenden Bildschirm von Julianes Arbeitskästchen. Die Katze machte noch einmal laut miauend auf sich aufmerksam und schmiegte sich an Julianes Arm. Das würde ihre Menschenfrau bestimmt merken.

Da es ein warmer Tag war, war ihr Arm nicht in Stoff gehüllt. Sie hatte ihren Oberkörper nur in ein kurzärmeliges Shirt verpackt, die Beine wie gewohnt in Jeans. Mit verwunderter Miene wandte sich die Frau der Katze zu. In ihren Mundwinkeln deutete sich ein Lächeln an. Kein Strahlen, nein. Nur eine entfernte Ahnung dessen, was Violetta dort zu sehen gewohnt war. Julianes graue Augen schimmerten schwermütig. Es war ein ziemlich trauriger Anblick. Violetta sah es so viel lieber, wenn diese Augen lächelten.

„Ist dir langweilig?“, fragte die Menschenfrau.

„Nein, ich wollte nur sehen, ob du noch atmest.“

„Na, komm her.“

Sanft begann Juliane Violetta den Kopf zu kraulen. Gut so. Es ging also doch noch. Aber gerade als die Katze sich auf das aufgeklappte Buch setzte und zu schnurren begann, hob ihre Menschenfrau sie hoch und setzte sie auf dem Boden ab. Das Parkett drückte sich kühl gegen Violettas Pfoten. Warum hatte Juliane keinen Teppich in ihrem Zimmer?

„Ich wollte dich doch aufheitern.“

Ihre Menschenfrau brauchte heute wohl noch einen extra Anstupser. Na schön. Laut schnurrend drückte Violetta ihr den Kopf in die Wade.

„Du brauchst Zuwendung von deiner Hauskatze. Du brauchst Streicheleinheiten.“

Bestimmt nahm Juliane sie gleich auf den Schoß. Dort würde sie sich zu einer Pelzkugel einrollen und ihre Menschenfrau konnte ihr weiches Fell kraulen statt dieser endlosen, rauhen Papierseiten.

Kaum hatte Violetta sich einmal an ihrem Bein entlang geschmiegt, beugte sie sich auch schon zu ihr. Die Katze blinzelte ihr aus ihren grünen Augen wohlig entgegen. Doch Juliane schob sie nur sanft weg.

„Ich kann jetzt nicht mit dir spielen, tut mir leid.“

„Wer hat denn was von Spielen gesagt?“

Verständnislos äugte Violetta zu ihrer Menschenfrau hinauf, die sich schon wieder ihrem Block zugewandt hatte und gedankenverloren einen Stift zwischen den Fingern drehte. Was war nur plötzlich los mit ihr? Normalerweise freute sie sich, wenn sie vorbeikam, um mit ihr zu kuscheln. Sie mochte Violettas Schnurren. Oft nahm sie sie extra auf den Arm und drückte sie an ihre Brust, damit sich das schöne, rollende Katzengeräusch auf sie übertragen konnte. Es entspannte sie spürbar. Und nun ging sie gar nicht darauf ein. Nur um in einer seltsam düsteren Atmosphäre über all diesen Büchern zu sitzen und abwechselnd ihren Block oder den Bildschirm anzustarren. Dabei hatte sie auch schon mal fröhlicher ausgesehen.

Violettas Schwanzspitze zuckte unruhig. Seit wann waren Bücher etwas Schlechtes? Was machte Juliane da eigentlich die ganze Zeit? Die Katze miaute noch einmal. Als Juliane nicht reagierte, hatte sie endgültig genug und verzog sich auf die Sofalehne. Violetta mochte diesen Platz. Es war der mit Abstand beste Aussichtspunkt im ganzen Zimmer. Sie setzte sich auf ihre nach innen gebeugten Vorderpfoten. Aus halb geöffneten Augen beobachtete sie Juliane, die inzwischen auf den Bildschirm an ihrem Arbeitskästchen blickte.

Den Stift drehte sie noch immer zwischen den Fingern. Nach einer Weile legte sie ihn weg, um auf den Tasten des Kästchens herumzutippen. Auf dem Bildschirm erschienen einige schwarze verschnörkelte Linien. Sie hingen dort einen kurzen Moment, bevor Juliane eine große Taste drückte und alles verschwand. Die Menschenfrau fing an, eine Haarsträhne zwischen den Fingern zu zwirbeln. Das machte sie öfter, wenn sie sich über ein unangenehmes Thema den Kopf zerbrach. Aber warum jetzt? Es passte nicht zusammen.

Juliane zwirbelte Haare, wenn sie ein ärgerliches Gespräch am Telefon führen musste, oder wenn ein aufdringlicher Mensch an der Wohnungstür seltsame Sachen loswerden wollte. Aber nicht, wenn sie Bücher las, auf ihren Block kritzelte oder auf ihrem Arbeitskasten herumtippte. Violettas Schwanzspitze schlug unruhig gegen die Sofalehne. Das alles gefiel der Katze nicht. Sie hatte in den Sommernachmittag hinauslaufen wollen, um zu sehen, was im Revier los war oder auf dem sonnenwarmen Metalldach eines Autos zu sitzen. Doch nun beschloss sie, Juliane besser noch eine Weile im Auge zu behalten.

Die Frau blätterte in einigen Büchern. Violetta gefiel das Papierrascheln der Seiten. Sie kannte alle Bücher im Zimmer. Die auf dem Schreibtisch, die im Regal, und die in den verschiedenen Stapeln auf dem Boden. Manchmal kamen neue dazu, ab und zu verschwanden ein paar. Auf den meisten hatte Violetta schon gesessen und sich die bedruckten Seiten angeschaut. Sie fragte sich, was die ganzen schwarzen Striche, Punkte und Kringel für Juliane wohl bedeuteten.

Es waren offenbar Buchstaben, und Juliane machte immer ein ziemliches Aufhebens um die Dinger. Aber Violetta konnte sie nicht lesen. Es reichte, wenn Juliane sich mit solchem Menschenkram beschäftigte. Doch dass sie dabei unglücklich war, das war neu. Vielleicht standen in den Büchern ganz schlimme Sachen? Aber dann könnte sie doch einfach andere lesen. Es waren genug da. Sogar welche mit Bildern, die bestimmt interessanter waren als die nur mit Buchstaben darauf.

Die Katze spitzte die Ohren, als etwas leise auf Papier kratzte. Juliane hatte sich wieder einen Stift gegriffen, um damit auf ihren Block zu kritzeln. Das weiße Blatt füllte sich mit geschwungenen Linien. Es sah schon fast aus wie Violetta es von ihrer Menschenfrau kannte. Doch nach einer Weile stieß Juliane einen tiefen Seufzer aus und zog einen großen Strich über das ganze Blatt. Dann riss sie es ab und zerknüllte es zu einer Papierkugel, die sie achtlos auf den Boden warf.

„Hat mit deinen Linien was nicht gestimmt?“

Juliane reagierte nicht. Sie war bereits dabei, andere Linien auf ein neues Blatt zu kritzeln. Violetta beäugte die Papierkugel. Was auch immer mit den Linien darauf nicht stimmte, sie war bestimmt ein tolles Spielzeug. Die Katze hüpfte vom Sofa, um sie sich zu schnappen. Sie sprang um die Kugel herum, schubste sie mit den Tatzen hin und her und riss eifrig Fetzen aus dem Papier. Das könnte Juliane doch ein wenig aufheitern, wenn sie ihr half, ihr durchgestrichenes Blatt loszuwerden. Als von der Kugel außer kleinen Schnipseln nicht mehr viel übrig war, äugte Violetta zu Juliane hinauf.

Doch sie schien noch nicht mal etwas bemerkt zu haben. Die Katze verzog sich wieder auf ihren Beobachtungsplatz auf der Sofalehne. Wenig später lief Juliane in den Flur hinaus. Als ihr Blick den Haufen Papierfetzen streifte, fuhr sie sich mit einem Seufzer durch das Haar. Offenbar fand sie ihn auch nicht besser als die Papierkugel.

„Ich dachte, das gefällt dir.“

Angespannt ließ Violetta ihre Krallen ein kleines Stück in das Sofapolster sinken, gerade so weit, dass sie keine Löcher machte. Juliane verschwand nach nebenan in die Küche und kam nach kurzem Geschirrklappern und Wassergurgeln mit einer dampfenden Tasse Kaffee wieder. Violetta kannte das Zeug. Es war für Menschen wohl ein bisschen wie Katzenmilch oder Knusperstangen. Sie mochten Kaffee besonders gern und fühlten sich wohl, wenn sie ihn tranken. Angeblich half er auch, Dinge schneller zu tun. Juliane sah nach der Tasse Kaffee aber nicht glücklicher aus, und sie machte auch sonst nichts anders als vorher.

Trotzdem holte sie sich im Lauf des Nachmittags noch einige Tassen. Seit wann machte sie das denn so oft? Vielleicht stimmte was mit dem Kaffee nicht. Violetta gefiel das Ganze immer weniger. Inzwischen senkte sich draußen vor dem Fenster die Dämmerung über die Dächer. Die Katze warf einen letzten Blick auf Juliane, die haarezwirbelnd über ihrem Block saß. Dann trollte sie sich in den Flur und kletterte auf die oberste Liegefläche ihres Kratzbaums. Während sie sich den schwarzen Pelz putzte, begann sie darüber nachzudenken, seit wann Juliane nicht mehr glücklich war.

*

Draußen im Treppenhaus näherten sich Schritte. Es war Carlas gleichmäßiges, festes Tappen, das auf den Steinstufen hallte. Als die Wohnungstür sich knarrend öffnete, war Violetta schon auf den Boden gesprungen. Mit zur Grußfahne hochgerecktem Schwanz lief sie Carla entgegen und schmiegte sich an ihr Bein. Die Menschenfrau beugte sich zu ihr, um sie zu kraulen.

„Hi, Kleine.“

„Was heißt klein?“, maunzte Violetta. „Für eine Europäisch Kurzhaar bin ich genau richtig. Sicher möchtest du nicht mit einer Katze deiner Größe zusammenwohnen.“

„Du bist aber gesprächig heute, meine Hübsche.“

„Das klingt schon besser.“

Violetta begann zu schnurren, als Carla sie auf ihre typische, nachdrückliche Art kraulte. Juliane konnte das zwar viel besser, aber man konnte es gelten lassen. Zumal Juliane sie im Moment so gut wie gar nicht kraulte. Nach einem kurzen Blick in die Küche klopfte Carla an die Zimmertür ihrer Mitbewohnerin. Juliane wandte sich von den Bücherstapeln auf ihrem Schreibtisch zu ihr um.

„Wie war dein Kurs?“

„War eine witzige Runde heute, und was sie so gepinselt haben, konnte man sich auch ganz gut anschauen. Wie war es bei dir?“

„Sehr trüb“, maunzte Violetta.

Statt einer Antwort zuckte Juliane nur mit resignierter Miene die Schultern. Carla sah sie nachdenklich an.

„Mach dir keinen Druck, das wird wieder.“

„Von allein wird da gar nichts“, miaute Violetta.

Juliane nickte und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. Sie ging mit Carla in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Endlich mal eine gute Idee. Bevor eine ihrer Menschenfrauen einen Fuß in den Raum gesetzt hatte, stand Violetta schon laut miauend vor ihrer Schale.

„Hungrige! Katze!“

Juliane öffnete den Schrank mit dem Katzenfutter. Gut so.

„Nimm eine Dose mit Thunfisch drin.“

Die Katze leckte sich die Lefzen. Heute war eindeutig ein Fischtag. Es gab unterschiedliche Futterdosen, von denen jede in Farbe und Muster anders aussah. Sie kannte alle. Es gab Rind, Hühnchen, Pute, Wild, Lamm, Kaninchen, Lachs und Thunfisch. Juliane hielt ihr eine gelbe Schale vor die Nase. Hühnchen.

„Ich mag lieber Thunfisch.“

Verwundert hob ihre Menschenfrau die Brauen.

„Kein Hunger?“

Was für eine Frage. Sie brauchte wohl ein bisschen Hilfe. Violetta wischte in den Schrank und schubste ein paar Dosen hinaus.

„He, das ist kein Selbstbedienungsladen“, rügte Juliane sanft.

Carla grinste vom Herd herüber, wo sie gerade einen Metalltopf mit Wasser zum Kochen aufstellte.

Violetta huschte aus dem Schrank und schnupperte an einer blauen Dose, die auf den Fliesen gelandet war.

„Also Fisch.“

Juliane schnappte sich Violettas Futterschale, um den Inhalt der Dose hineinzufüllen.

„Mahlzeit, Kleine.“

„Danke, Juliane“, maunzte Violetta, bereits kauend. „Klein bin ich aber immer noch nicht.“

Ihre Menschenfrau sammelte die übrigen Dosen vom Boden auf und räumte sie wieder in den Schrank. Sie begann zusammen mit Carla eine Menge Grünzeug zu schnippeln. Blattsalat, Gurken, Paprika, Auberginen, Zucchini und Kartoffeln. Skeptisch schielte Violetta über den Rand ihrer Schale.

„Ihr Menschen habt echt einen komischen Speiseplan.“

Die Katze spitzte die Ohren. Vielleicht erfuhr sie aus Julianes Unterhaltung mit Carla etwas darüber, warum sie unglücklich war. Doch die Menschenfrauen sprachen kaum. Meist war nur Geschirrklappern, das Schaben an Gemüsehaut oder das Brodeln siedenden Wassers zu hören. Wenn Carla dazu ansetzte, etwas zu erzählen, schien es an Juliane wie an einer unsichtbaren Hülle abzutropfen. Wo waren denn die gut gelaunten Gespräche hin? Die Sache wurde immer seltsamer. Nach einem letzten Blick in ihre leere Schale lief Violetta zum Fenster. Zuerst sprang sie auf einen der Holzstühle. Ihr voller Magen machte sie für einen direkten Sprung auf die Fensterbank zu träge. Die Katze machte es sich auf ihrem Kissen bequem und spähte durch die Scheibe hinaus in die Dämmerung.

Unten auf dem Gehweg lief ein Mensch mit einem Hund vorbei. Seltsame Tiere, die sich an einer Leine herumführen ließen. Auf der anderen Straßenseite hüpften ein paar Sperlinge zeternd in einer Dachrinne herum. Dem Lärm nach mussten sie einen großen Brocken Brot oder etwas Ähnliches gefunden haben. Hinter den Fenstern der Häuser begannen trübe Lichter zu schimmern. Nach und nach wurden Vorhänge zugezogen und Rolläden heruntergelassen. Ein Auto rollte durch die Straße. Seine Lichter warfen einen hellen Kegel auf den Asphalt. Mit einem metallischen Quietschen kam das Gefährt zum Stehen.

Ein Mensch stieg aus, blickte suchend um sich und verschwand. Violetta beäugte die Innenseite ihrer Vorderpfote und begann die rosa Ballen zu putzen. Juliane und Carla hatten den Tisch gedeckt und fingen an ihre seltsame Pflanzenmahlzeit zu vertilgen. Wieder war es Carla, die in das Schweigen hineinsprach.

„Nächste Woche beginnt die Manet-Ausstellung.“

„Er hat sich nicht gemeldet“, platzte Juliane heraus.

Violetta sah von ihrer Pfote auf und schielte zu ihren Menschenfrauen hinüber. Julianes Augen glänzten. Carla ließ ihr Besteck sinken.

„Wenn der sich hier noch einmal meldet, kann er was erleben. Nach allem, was er dir angetan hat.“

„Es ist ihm egal.“

Juliane wischte sich über die Augen, als ob sie gleich anfangen würde zu weinen. Violetta spürte ein unruhiges Zucken in ihren Schnurrhaaren. Wer war dieser Übeltäter?

„Dieser Typ ist das Letzte. Lass dir von dem bloß nicht die Laune verderben.“

In der Andeutung eines Nickens senkte Juliane den Kopf. Die Frauen vertieften sich in ein Gespräch über Menschen, die Bilder malten. Carla versuchte Juliane zu überreden, sich mit ihr eine Ausstellung besonders schöner Bilder anzusehen. Doch die Idee schien Juliane nicht sehr zu gefallen. Violetta blieb aufmerksam lauschend am Fenster sitzen, damit sie auch bestimmt alles mitbekam. Es fiel kein Wort mehr über den Übeltäter, der Juliane die Laune verdarb. Doch beim Aufräumen hielt die Frau plötzlich inne und blieb regungslos vor einem Regal stehen.

„Die hat er mir geschenkt.“

Von ihrer Stimme war nicht viel mehr als ein zittriges Schniefen zu hören. Violetta spähte aufmerksam auf die kleine Porzellanfigur, an der Julianes Blick hängengeblieben war. Das sollte wohl eine tanzende Menschenfrau sein. In zartem Rosa glänzte sie zwischen einer Metalldose und einer kleinen Glasvase heraus. Die Katze erinnerte sich, dass sie erst vor Kurzem dort aufgetaucht war. Doch woher sie kam, hatte sie nicht mitbekommen. Carla warf Juliane einen kurzen Blick zu und griff sich die Figur. Bevor Juliane etwas sagen konnte, hatte sie sie schon in den Mülleimer geworfen.

„Ich will nicht wissen, in wie vielen Regalen genau die gleiche steht.“

„Das ist ein Erinnerungsstück.“

„Genau deswegen. Vergiss den Typen. Jeder Salzstreuer ist besser als ein Geschenk von dem.“

Juliane schloss die Augen und rieb sich seufzend die Stirn. Einen Augenblick lang schielte sie unschlüssig auf den Mülleimer.

„Vielleicht hast du Recht.“

*

Im Licht der Morgensonne streifte Violetta durch ihr Revier. Vorbei an den vielfarbig blühenden Beeten im Garten vor dem Haus, in denen Käfer und Grashüpfer krabbelten. An der dichten Hecke entlang, aus der um diese Zeit besonders vorwitziges Vogelgezwitscher zu hören war. Über den Pfosten des Gartentors hinaus auf den Gehweg. Kleine Grasbüschel reckten sich aus den Erdspalten zwischen den Steinplatten empor, die von einem unregelmäßigen Muster aus grauen Steinchen und Asphaltstücken überzogen waren. Vereinzelt gingen ältere Menschen mit Körben oder Stofftüten die Straße entlang. Violetta äugte um sich. Alles wie gehabt. Doch was war das? Vor dem Haus nebenan war ein großes Auto aufgetaucht.

Violetta hatte es noch nie in der Straße gesehen. Es war kastenförmig und aus einem milchfarbenen Metall, auf dem zu beiden Seiten schwarze Buchstaben glänzten. Die Türen an der Rückseite standen offen. Die Katze sprang ins Wageninnere, wo sie verschiedene Holzplatten, Stühle, Kartons und einen Sessel entdeckte. Als sie gerade an dem Polster schnupperte, näherten sich schwere Menschenschritte. Violetta wischte aus dem Wagen und sprang in einiger Entfernung auf einen Zaunpfosten.

Sie beobachtete, wie zwei stämmige Menschenmänner einige Kartons aus dem Auto holten, um sie zum Haus zu schleppen. Dass Menschen sich von anderen Menschen Sachen bringen ließen, kannte Violetta. Juliane und Carla bekamen öfter mal ein Buch, etwas zu Essen oder Blumen, meistens von jungen Menschenmännern in bunter Kleidung. Aber dass jemand ein ganzes Auto voller Möbel bekam, hatte sie noch nie gesehen. Das behielt sie besser im Auge. Doch jetzt musste sie sich erst Mal um ihr eigenes Mitbringsel kümmern.

Mit einem schwungvollen Satz landete sie auf dem Rasen und lief weiter durch die angrenzenden Gärten. Wenig später erreichte sie die nahegelegene Wiese. Am Rand ragte ein Dickicht abgesägter Äste auf. Dort hatte Violetta schon oft eine gute Beute gefangen. Sie setzte sich vor ein Mauseloch, um still zu warten. Die Gräser schimmerten hell im Sonnenlicht. An einzelnen Halmen glänzten klare Tautropfen. Eine winzige Spinne krabbelte unermüdlich zwischen zwei Halmen auf und ab und zog dabei einen dünnen Faden nach dem anderen in ihr Netz. Eine Biene schwirrte über einer sommergelben Blüte.

Die Mäusejagd lief richtig gut. Schon nach kurzer Zeit hatte Violetta eine schöne, dicke Feldmaus erbeutet. Es gab noch dazu so gut wie keine Bissstellen. Ein perfektes Geschenk. Die Katze beeilte sich, es nach Hause zu tragen. Doch als sie durch das Katzentürchen in den Flur gelangte, waren weder Juliane noch Carla zu sehen. Wo waren sie denn? Auf dem Küchentisch standen Geschirr, Schalen und Päckchen.

Es sah aus, als ob die Menschenfrauen gerade erst vom Frühstück aufgestanden wären. Vielleicht saß Juliane schon wieder an ihrem Schreibtisch? Violetta schob die angelehnte Tür mit dem Kopf auf und huschte in das Zimmer. Doch ihre Menschenfrau war nicht da. Gerade als die Katze wieder in den Flur laufen wollte, fiel mit einem hölzernen Krachen die Tür zu. Vor Schreck ließ Violetta ihre Maus fallen. Was war das denn nun? Ein spürbarer Luftzug wehte durch den Raum. Juliane hatte die Kippfenster oberhalb des großen Fensters vor dem Schreibtisch offen stehen lassen. So ein Mist. Ärgerlich zuckte Violettas Schwanzspitze durch die Luft.

Die Vorderpfoten gegen die Zimmertür gestemmt, streckte sie sich so weit wie möglich nach oben und spähte begierig zu dem glänzenden Türknauf. Sie hatte schon öfter versucht, eine der Türen in der Wohnung zu öffnen. Geklappt hatte es aber nie. Warum konnten ihre Menschen keine Klinken an den Türen haben? Die konnte Violetta aufmachen. Sie duckte sich flach auf den Boden und schielte durch den schmalen Türspalt. Als sich im Treppenhaus Menschenschritte näherten, hielt sie inne und spitzte die Ohren. Knarrend öffnete sich die Wohnungstür.

„An dem Platz ist dein Wagen hundertprozentig sicher“, war Juliane zu hören.

„Das ist das Mindeste, es ist eine mobile Wertanlage.“

Diese Stimme kannte Violetta. Sie gehörte Hiltrud, einer Bekannten von Juliane. Es war lang her, dass sie hier aufgetaucht war. Was wollte sie? Und wo war Carla?

Als Erstes musste mal jemand diese Tür aufmachen und sie rauslassen. Dann konnte sie Juliane auch gleich ihr Geschenk präsentieren.

„Katze! Befreien!“, miaute Violetta.

Doch es kam niemand. Statt dessen mischten sich nebenan in der Küche die Stimmen der Menschenfrauen mit Geschirrklappern und Wasserplätschern.

„Ist diese Abschlussarbeit endlich fertig?“

„Es dauert noch ein wenig.“

„Das hast du letztes Mal auch gesagt.“

„Es stimmt auch jetzt noch.“

„Literaturwissenschaft, so etwas Brotloses. Du hättest Ärztin werden können oder Juristin.“

„Ich mache eben das, was ich gerne machen will.“

„So was hätte ich meinen Jungs nie durchgehen lassen. Vera war wohl zu nachsichtig mit euch. Da bleiben Flausen hängen.“

„Mama hat sich bei der Erziehung wirklich viele Gedanken gemacht.“

„Als Erstes muss man daran denken, dass sich die Kinder später selbst versorgen können. Wenn du wenigstens einen Mann hättest. Aber so…“

„Dann würde ich genauso selbst arbeiten.“

Julianes Stimme klang mit einemmal sehr dünn. Das gefiel Violetta gar nicht. Sie verengte ihre Augen zu grünen Schlitzen. Hiltrud brachte eine schlechte Stimmung mit, die regelrecht spürbar war.

„Emanzen-Geschwätz. Du bist sechsundzwanzig und wirst nicht jünger.“

Die Katze wusste nicht, was eine Emanze war. Doch so wie Hiltrud es sagte, war es anscheinend eine Beleidigung. Warum redete diese Frau so mit Juliane? Was wollte sie von ihr? Angespannt hörte Violetta zu. Das Gespräch wurde kein bisschen freundlicher. Als die Besucherin endlich gegangen war und sich die Wohnungstür geschlossen hatte, stieß Juliane einen tiefen Seufzer aus. Laut miauend machte Violetta auf sich aufmerksam. Jetzt musste ihre Menschenfrau sie hören. Sicher war ihr Mitbringsel eine willkommene Aufheiterung. Die Katze wich ein Stück zurück, als sich die Tür öffnete. Julianes Blick blieb an der Maus hängen. Sie wurde blass und machte ein quietschendes Geräusch, das gar nicht fröhlich klang. Hatte sie etwa Angst?

„Die lebt nicht mehr. Hab ich für dich gefangen.“

Grünäugig blinzelte Violetta ihrer Menschenfrau entgegen. Doch Juliane sah sie nur mit unglücklicher Miene an. Was hatte sie nur? Im Flur knarrte die Wohnungstür, als Carla hereinkam.

„Ich hab deine Lieblingskringel bekommen.“

Statt einer Antwort fuhr sich Juliane mit der Hand durchs Haar, ihre Augen begannen zu glänzen. Für einen Moment sah es aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. So ein Mist. Das klappte gar nicht mit dem Geschenk. Carla spähte verwundert zur Tür herein. Als sie die Maus entdeckte, verzog sie angewidert das Gesicht. Dann sah sie Juliane ruhig an.

„Lass dir davon nicht den Tag verderben.“

„Hiltrud war gerade eben da.“

„Warum hast du die denn reingelassen?“

„Ich kann nicht einfach Mamas Bekannte vor der Tür stehen lassen.“

Carla seufzte und holte eine Schaufel. Wenige Augenblicke später waren die Menschenfrauen mit der Maus verschwunden. Violetta fragte sich, was sie wohl damit machten. So wie sie geschaut hatten, wollten sie ihre Beute so schnell wie möglich loswerden. Was für eine Verschwendung. Und Juliane war noch unglücklicher als vorher. Violetta stürzte sich auf ihren Kratzbaum und hackte ärgerlich ihre Krallen in die Fasern.

„Nimm das“, miaute sie. „Und das.“

Während sie heftig wetzte, lösten sich knisternd feine Fäden. Ihre Menschenfrauen kamen draußen über die Steintreppen herauf.

„Hiltrud findet alles an meinem Leben schlecht“, seufzte Juliane.

„Ist doch ganz egal, was Hiltrud findet.“

Als Carla in den Flur lief, fiel ihr Blick auf Violetta. Sie sah sie mit schiefgelegtem Kopf an.

„Ich schätze, Violetta ist schlecht drauf.“

„Ist es ein Wunder?“

Ohne vom Kratzbaum abzulassen, schielte Violetta zu ihren Menschenfrauen hinüber. Julianes Gesicht war müde, ihr Blick schwermütig. Sie wirkte mit einemmal um einiges älter als sonst. So ungefähr musste eine Katze aussehen, nachdem sie versehentlich in der Waschmaschine mitgewaschen worden war.

Carla wollte Juliane mit ihrer Gebäcktüte in die Küche locken, doch die vertröstete sie auf später. Offenbar konnte nicht mal das Getreidekrümelzeug sie aufheitern. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, um in einigen Büchern zu blättern. Violetta rollte sich in ihrem Korb zu einer schwarzen Pelzkugel. Mit einem Auge schielte sie ab und an zu Juliane hinüber. Ihre Schwanzspitze tippte angespannt gegen den Korb. Sie musste sich etwas einfallen lassen, damit Juliane wieder glücklich war, und zwar bald.

Der Juliane-Plan

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