Читать книгу "Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht" - Christina Seidel - Страница 6

Die Kindheit und Jugend

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(1875 – 1891)

Wer das Leben von Marie Curie, Trägerin zweier Nobelpreise, verstehen will, muss die geschichtlichen Zusammenhänge kennen und sollte wissen, dass das 19. Jahrhundert eine Zeit voll wissenschaftlicher Entdeckungen war, die mit ihren Folgen das Leben der Menschen nachhaltig prägten und auch heute noch prägen.

Polen hatte sich seit dem 16. Jahrhundert zur größten Nation Europas entwickelt. 1867 jedoch, als Maria Skłodowska in Warschau geboren wurde, war es bereits seit zweiundfünfzig Jahren von der Landkarte gelöscht. Nach dem Sturz Napoleons 1815 teilten die Siegermächte Europa beim Wiener Kongress neu auf. Polen in drei Provinzen. Seine Schwäche nach dem Koalitionskrieg machten sich Russland, Österreich und Preußen zunutze.

Das Herzogtum Warschau fiel an Russland und unter der Zarenherrschaft ging es der polnischen Bevölkerung besonders schlecht. Sie wehrte sich. Vergebens. Im 19. Jahrhundert zweimal. Im November 1830 und im Januar 1863. Beide Aufstände wurden blutig niedergeschlagen. Marias Großvater Józef hatte im ersten Aufstand in der Artillerie mitgekämpft, war von Kosaken gefangen genommen und 140 Meilen zu Fuß zurück nach Warschau getrieben worden. 1832 wurde, nur ein paar hundert Meter von Marias Geburtshaus in der Fretastraße entfernt, die Warschauer Zitadelle als Sitz des Kriegsgerichtes und Gefängnisses errichtet. Dort saß der Bruder ihrer Mutter, auch einer der Rebellen, bevor er zu vier Jahren Haft in Sibirien verurteilt wurde. Marias Schulweg führte sie später jeden Tag an diesem Gefängnis vorbei.

Hunderttausende Polen mussten 1864 ins Exil, auch Zdzisław Skłodowski, der Bruder von Marias Vater, Leutnant der Kavallerie, war nach Frankreich geflohen.

Auf Zar Alexander II. wurden mehrere Attentate verübt. Mit Dynamit kannte man sich bereits aus. 1863, im Jahr des zweiten Aufstandes der Polen, hatte sich der schwedische Chemiker Alfred Nobel seine folgenreiche Erfindung des Sprengstoffs patentieren lassen. Folgenreich auch für Maria, deren späteres Leben sonst vermutlich anders verlaufen wäre.

Neunzehn Jahre später gelang durch eine Sprengbombe das Attentat auf den Zaren. Sein Nachfolger wurde Alexander III. Für die polnische Bevölkerung änderte sich fast nichts.

Unter der oppositionellen Jugend verbreitete sich die Auffassung, inspiriert von dem französischen Philosophen Auguste Comte und seinem »Positivismus«, dass man sich nicht durch Verschwörung, Terror oder Bombenattentate von der zaristischen Vorherrschaft befreien kann, sondern nur durch Intelligenz und fleißige Arbeit. Genauso wichtig sei es, die Bildung des einfachen Volkes zu fördern.

Auch Maria schloss sich als junges Mädchen dieser Bewegung an und unterrichtete heimlich Bauernkinder.

1881 brachte Alexander Swietochowski in Warschau die Wochenzeitschrift »Prawda« heraus. In einem ersten Artikel kritisierte er die »Salon-Erziehung« für höhere Töchter und schlug vor, sie stattdessen Mathematik und Naturwissenschaften studieren zu lassen. Bloß wo? Die Warschauer Universität war bereits 1830 geschlossen worden und als sie wieder geöffnet wurde, durften dort nur Männer studieren.

Aber es gab Menschen in Warschau, die gegen diese Diskriminierung vorgingen. Eine von ihnen war Jadwiga Dawidowa, die, verborgen vor russischen Spionen, in der Stadt eine Akademie für Frauen organisierte. Der Unterricht erfolgte in Privatwohnungen von Wissenschaftlern und Philosophen. Unter dem Namen »Fliegende Universität« fanden auch Veranstaltungen im Museum für Industrie und Landwirtschaft statt, das Marias Cousin Józef Boguski leitete und in dem sie später ihre ersten Laborversuche durchführte.

1882 gründete Ludwik Waryński, ein Freund von Marias zukünftigem Schwager, in Warschau die erste polnische Arbeiterpartei. Er wurde von der zaristischen Geheimpolizei verhaftet und nach einem Prozess zu sechzehn Jahren Haft auf der Festung Schlüsselburg, einer Insel nahe St. Petersburg, verurteilt. 1889 starb er während seiner Festungshaft an Tuberkulose.

Marias Vater, Władisłav Skłodowski, ein politischer Realist, der die nationale Souveränität wie die Positivisten mit den »Waffen« Wissenschaft, Handwerk und Handel erreichen wollte, hatte auch seine fünf Kinder in diesem Sinne erzogen. Sie sollten sich nicht ducken vor dem zaristischen Regime, sich aber auch keiner unnötigen Gefahr aussetzen. Beständig versuchte er, das naturwissenschaftliche Interesse bei ihnen zu wecken und ließ sie staunen über die neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen. Und es gab genug zu staunen in diesen Zeiten. Die ersten fünfundzwanzig Jahre in Marias Leben – bis zu ihrem Umzug nach Paris – sind auch ein Vierteljahrhundert der für die Menschheit bedeutendsten Entdeckungen.

Es wurde heller auf der Welt. Der Amerikaner Edison, ein Erfinder auf vielen Gebieten, hatte die Glühlampe entwickelt. Auch einen Phonografen, ein Gerät zur Tonaufnahme und Tonwiedergabe. Nun konnte man seine Stimme konservieren lassen. 1871 baute er eine funktionsfähige Schreibmaschine. Dreizehn Jahre später ließ sich der Amerikaner Waterman den Füllfederhalter patentieren. Im gleichen Jahr begannen die Bilder zu laufen. Der Stripping Film, ein papierner Rollfilm, wurde entwickelt.

Nikolaus August Otto konstruierte 1876 einen Verbrennungsmotor, zehn Jahre später fuhren die ersten Motorräder und Autos mit einem Benzinmotor. In Marias Verwandtschaft konnte sich zu diesem Zeitpunkt niemand ein Auto leisten. Aber das Fahrrad kam in Mode und wurde später als Fortbewegungsmittel für Maria unentbehrlich. 1890 ließ sich der schottische Tierarzt John Boyd Dunlop den pneumatischen Gummireifen patentieren.

Eine Entdecker-Sensation löste die andere ab. Graham Bell entwickelte das Telefon des Deutschen Philipp Reis so weit, dass eine Verständigung möglich wurde, später wurde es von Edison vervollkommnet. Über Tausende Kilometer hinweg konnte man sich unterhalten.

Mendelejew ordnete die Elemente nach steigender Kernladungszahl im Periodensystem und damit ließ sich die Existenz unbekannter Elemente vorhersagen. Ernst Mach gelang es Schallwellen sichtbar zu machen und der damals zwanzigjährige US-Amerikaner Wilson Bentley fotografierte die erste Schneeflocke unter dem Mikroskop. Nur ein Jahr älter war Pierre Curie, Marias späterer Ehemann, als er mit seinem Bruder Jacques eine hochempfindliche Waage konstruierte und die Piezoelektrizität entdeckte.

Und wie freuten sich die Menschen, als Robert Koch 1882 den Tuberkulosebazillus aufspürte. Für Marias Mutter jedoch, kam die Entdeckung zu spät. Sie war, wie so viele, bereits an der »weißen Pest« gestorben. Marias Geschwister Józef und Bronia begannen Medizin zu studieren und Bronia eröffnete später mit ihrem Mann in Zakopane ein Sanatorium für Tuberkulose-Patienten. Unterstützt wurden sie dabei von ihren Freunden, dem weltberühmten polnischen Pianisten Ignazy Paderewski, der Präsident des befreiten Polens wurde, und dem Schriftsteller Henryk Sienkiewicz, der viele historische Romane schrieb, mit »Quo Vadis« weltberühmt wurde und 1905 sogar den Nobelpreis für Literatur erhielt.

1891, in dem Jahr als Maria ihr Studium an der Sorbonne begann, schlug der irische Physiker George Johnstone Stoney die Bezeichnung »Elektron« für die kleinste Ladungseinheit vor. Er vermutete, dass die Elektrizität aus Elementarteilchen besteht.

Es gab genug Wissenschaftler, denen Maria nacheifern konnte, genug Geheimnisse, die auf ihre Entdeckung warteten, genug Vermutungen, die bewiesen werden mussten, genug zum Wundern und Staunen. Das Tor zur wissenschaftlichen Welt stand ihr offen …

»Die Freude ist nicht ewig,

so wie der Kummer nicht unendlich ist!«

Aleksander Nikolajewitsch Afanasjew, aus: »Schneeflöckchen«

1875

»Man nennt mich Mania. Aber ich heiße Maria. Maria Skłodowska und bin heute acht Jahre alt geworden.«

So hätte Marie einst ihr Tagebuch beginnen können. Hätte sie? Hätte sie.

Sonntag, 7. November, nach meiner Geburtstagsfeier

»Du bist die Hauptperson«, hat Ma gesagt. Ich will keine Hauptperson sein. Ich bin Maria. Alle haben mich angeguckt. Vater und Ma, Großvater und Großmutter, meine vier Geschwister. Ich sollte mich freuen.

Ich habe mich gefreut. Über das Tagebuch. Der Umschlag aus blauem Samt. Das kleine Schloss. Zwei Schlüssel. Die muss ich verstecken. Denn, was man ins Tagebuch schreibt, ist geheim.

Vater hat gesagt: »Schreib ein, was du nicht vergessen willst oder ein kleines Geheimnis.«

Was ich nicht vergessen will? Ich vergesse nichts. Ich kann besser lesen als meine großen Geschwister.

Kleines Geheimnis? Das gibt es nicht. Nur ein großes. Dass Marek nicht Janek ist. Ich weiß das. Marek sieht aus wie Janek. Aber er ist nicht Janek. Sie lügen. Ich weiß das. Warum lügen sie? Nur damit ich nicht traurig bin?

Ich bin genau einen Meter zehn groß, ein bisschen pummlig, sagen sie alle, habe dickes blondes, lockiges Haar, das ich meist mit einem schwarzen Samtband bändige. Meine Augen sind grau, manchmal auch grünlich oder blaugrau. Das ist vom Licht abhängig.

Wo ich geboren wurde? In einer Schule. In einer Schule werden selten Kinder geboren. Aber ich. »In der privaten Mädchenschule, in der Fretastraße 16«, sagt Vater. »Im hinteren Gebäude.«

Montag, 8. November

Meine Hand tut weh, vom Schönschreiben in mein Tagebuch. Aber das ist unwichtig. Ich will in das Buch über früher schreiben. Weil es mit dem Anfang beginnen soll. Mit meinem Leben. Wie es war, als ich geboren wurde? Das hat mir meine Ma erzählt. Sie war damals Direktorin in der Mädchenschule. Und hatte vier Kinder. »Rechne aus, wie alt sie damals waren«, hat Ma gesagt. Ich kann nicht nur gut schreiben und lesen, ich kann auch gut rechnen. Zofia war fünf Jahre, Józef vier, Bronislawa zwei und Helena war ein Jahr alt.

Dann gab es ein großes Unglück und ein Glück. Meine Ma wurde krank. Eine schlimme Krankheit. Tuberkulose. Aber mein Vater wurde Direktor. Stellvertretender. Im Warschauer Knabengymnasiums. Dort gab es eine schöne große Wohnung für uns. Leider nur für fünf Jahre. Mein Schmusebär Janek kam nicht in der neuen Wohnung an. Er blieb für immer verschwunden. Ma hat mir Marek gegeben, aber Marek ist nicht Janek. Ich will ihn trotzdem lieb haben und mit ihm schmusen.

Dienstag, 9. November

Ich hasse den russischen Zaren. Vater hat beim Abendessen gesagt, dass er niemals vor den Russen buckeln wird. »Buckeln?«, habe ich gefragt. »Was heißt buckeln?«


Die Fretastraße im 19. Jahrhundert

»Alles machen, was die Russen in unserem Land verlangen. Wir sind und bleiben Polen.«

Vater verlor seine Arbeit. Weil er nicht buckeln wollte. Und wir mussten wieder umziehen. Raus aus der schönen Wohnung.

Ich werde trotzdem nie buckeln! Das nehme ich mir ganz fest vor! Nie, nie, nie!

Mittwoch, 10. November

Ma liegt nebenan auf dem Sofa. Sie hustet so furchtbar, dass auch mir die Brust weh tut und ich kaum ruhig schreiben kann.

Ma wurde krank, als ich in ihrem Bauch war. »Wegen mir?«, habe ich Vater gefragt. »Nein!« Er hat wild mit dem Kopf geschüttelt.

Sonntag, 14. November

Es regnet. Ma ist zur Kur in Nizza. Das ist schrecklich weit weg. In einem anderen Land. In Frankreich. Mit meiner großen Schwester. »Zosia ist mir Trost und Hilfe«, sagt Ma. Ich möchte auch Trost und Hilfe sein. Ma fehlt mir sehr. Ich weine, wenn es keiner sieht. Tante Lucia hat es gestern Abend gesehen. Sie wollte mich trösten. Ich sollte mit Marek, meinem Bärchen, schmusen.

Aber Marek ist nicht meine Ma, Tante Lucia ist nicht meine Ma, Bronia nicht und Vater auch nicht.

Montag, 15. November

Ich habe Ma gestern geschrieben. Sie soll keine Angst haben, dass sie uns ansteckt und bald zurückkommen. Ich trinke auch nicht aus ihrer Tasse, esse nicht von ihrem Teller. Auch Küssen ist verboten. Streicheln nicht. Ich will auf Mas Schoß sitzen. Ich will meine Ma zurück.

Mittwoch, 17. November

»Schreib mal über deine Lieblingsbeschäftigungen«, hat Vater gesagt. Was ich am liebsten mache? Lesen natürlich. Seit vier Jahren. Und nichts davon will ich vergessen.

Meine große Schwester Bronia hat mir das Lesen beigebracht. Wir haben Schule gespielt. Karten mit Buchstaben aneinandergelegt. Plötzlich konnte ich besser lesen als Bronia. Sie war beleidigt. »Lesen ist doch so einfach«, habe ich gesagt.

Nicht alles ist einfach. Nicht vor dem Zaren buckeln und ohne Ma am Tisch sitzen, nein, das ist nicht leicht.

Samstag, 20. November, Nebel

Alles hat sich versteckt. Hinter einer grauen Wand. Ich möchte mich auch verstecken. Vorhin, beim Lesen, als ich die Siebenmeilenstiefel des Däumlings anhatte und in die Welt hinaus wollte, aber in der Küche helfen sollte.


Gedenktafel: Am 7. November 1867 erblickte Marie Skłodowska-Curie in diesem Haus das Licht der Welt. Im Jahre 1898 entdeckte sie die radioaktiven Elemente Polonium und Radium

Mittwoch, 1. Dezember, schon dunkel

Der Regen prasselt an die Fensterscheiben. Der Wind pfeift. Ich bin froh, im Zimmer zu sein. Wir haben wieder Schule gespielt. Diesmal war Vater der Lehrer. Geografieunterricht. Wir haben Bauklötzer bemalt. Bronia als Kontinente, Hela als Länder, Zosia die Städte, Józef Berge und ich Flüsse. Dann haben wir sie wie eine Landkarte zusammengelegt. Keiner konnte mehr treten im Zimmer, aber es hat Spaß gemacht. Vater ist stolz, weil wir uns so gut in Geografie auskennen.

Mittwoch, 15. Dezember, nach den Leibesübungen

Vater liebt Leibesübungen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen müssen wir alle antreten. Vaters Gedächtnis ist so gut wie meins. Er vergisst das nie.

Montag, 20. Dezember

Meine Ma ist wieder zu Hause. Ich war so froh, aber gestern haben sie gestritten. Vater und Ma. Ich lag im Bett und schlief noch nicht. Sie haben ein Geheimnis. Es ging um den Bau einer Dampfmühle. Onkel Henryk, Mas Bruder, ist schuld. Oder doch Vater und Ma, weil sie ihm geglaubt haben. Es sei gut, mit unserem Geld die Mühle zu bauen, hat der Onkel gesagt. Er ist Künstler und war Partisan. Er hat bei einem Aufstand gegen den Zaren mitgekämpft. Vier Jahre musste er dann nach Sibirien. Künstler und Partisan, Künstler und Müller? Es hat nicht funktioniert mit der Mühle. Nun ist das ganze Geld weg. 30 000 Rubel. Das ist so viel, wie ich mir gar nicht vorstellen kann.

Sonntag, 26. Dezember

Es schneit. Schon den ganzen Tag. Als ob Wattebäusche zur Erde fallen. Ich habe mit Vater aus dem Fenster gesehen. »Jetzt spreche ich wissenschaftlich mit dir«, hat er gesagt. Ich war sehr stolz. Nun weiß ich, dass eine Schneeflocke aus vielen weißen Schneekristallen besteht. Bei Kälte sind sie durch kleine Wassertropfen verklebt. Die Kristalle sind durchsichtig wie Eis. »Transparent«, sagt Vater. Ich habe mir alles gemerkt, was er erzählt hat. An den Grenzflächen zwischen den Eiskristallen und der Luft wird das Licht zurückgeworfen. »Reflektiert und gestreut«, sagt Vater. Der Schnee erscheint daher weiß. Wie beim Salz. Ich will eine Wissenschaftlerin werden!

Dienstag, 28. Dezember, nach der Schule

Mein Lieblingsmärchen ist »Schneeflöckchen« von Afanasjew. Es beginnt im Winter, als es schneite, so stark wie seit Tagen bei uns. Da bauten Bauer Iwan und seine Frau Maria ein Schneemädchen. Sie hatten sich schon lange ein Kind gewünscht. Sie gaben ihm eine Nase, Augen und einen Mund. Plötzlich kam warmer Atem aus dem Mund. Es öffnete die Augen und die Lippen begannen zu lächeln. Schneeflöckchen wackelte mit Armen und Beinen wie ein Baby. »Gott hat uns ein Kind geschenkt«, schrie Maria vor Freude. Aber ihr Mann sagte: »Die Freude ist nicht ewig, so wie der Kummer nicht unendlich ist!«

Als das Schneemädchen so alt war wie ich, ging sie mit ihren Freundinnen in den Wald. Sie sprang dort über ein Feuer. Plötzlich war sie verschwunden. Nur eine kleine Wolke war zu sehen, die langsam in den Himmel flog. Ich möchte auch fliegen können. Aber ich will immer zurückkommen.


Marias Eltern Bronislava und Władisłav Skłodowski

1876

Samstag, 15. Januar

Wir sind ein Pensionat. Schon seit drei Jahren. Als Vater entlassen wurde, weil er nicht buckeln wollte. Zehn Gymnasiasten wohnen jetzt bei uns. Sie sind laut. Sie werfen Papierkügelchen nach mir. Sie stellen mir ein Bein. Mein Tagebuch habe ich unter meiner Matratze versteckt. Die Schatzkiste mit den Schlüsseln unterm Bett.

Vater sagt, wir brauchen das Geld der Gäste. Mas Krankheit kostet viel. Ich esse gar nicht so viel und ziehe Bronias oder Zosias alte Sachen an. Schulgeld müssen wir aber auch bezahlen.

Donnerstag, 20. Januar

Ich habe wahnsinnige Angst. Ignaz, einer der Pensionsgäste, hat Typhus. Oft habe ich ihn zum Teufel gewünscht. Aber Typhus!? Das ganz Furchtbare ist: Er hat Bronia und Zosia angesteckt. Ich darf nicht in ihr Zimmer. Aber ich stand in der Tür, als Dr. Lebednikow kam. Zosia hatte die Augen geschlossen. Der Doktor hat ihr mit einem Tuch den Schweiß aus dem Gesicht getupft. Das Bettzeug war zerknittert, das Laken nass.

Lieber Gott, bitte hilf …

Montag, 31. Januar

Zosia ist tot. Ich will das nicht glauben. Sie soll nur schlafen und wieder aufwachen. Vaters Augen sind rot vom Weinen. Ma hat sich eingeschlossen. Ich habe gebetet. Hat Gott es nicht gehört? Bitte lass uns Bronia. Bitte!!!

Die Sonne scheint, kein Wind weht. Die Zeit steht still. Aber die große Standuhr tickt laut.

Sonntag, 20. Februar

Regentropfen zerfließen am Fenster. Ich sehe die Welt draußen nur noch verschwommen. Ma spielt Klavier und singt: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind … erreicht den Hof mit Müh und Not, in seinen Armen das Kind … Ich halte mir die Ohren zu. Sie singt nicht, sie schreit, laut und wütend.

Dienstag, 22. Februar

Bronia ist fieberfrei! Ich fühle mich so leicht wie eine Feder. Dr. Lebednikow sagt, dass ich bald wieder mit Bronia spielen kann. Aber warum hat Gott nur Bronia geholfen? Ist das sein Geheimnis? Oder sollte ich fragen: Warum hat der Doktor nur Bronia geholfen?

Montag, 28. Februar

Vater ist spazieren. An der Weichsel. Ich war heimlich in seinem Arbeitszimmer. Ich saß im tiefen braunen Ledersessel. An der Wand gegenüber die große Standuhr mit den zwei Pendeln. Mit meiner Hand habe ich über das Schachbrettmuster auf dem runden Tisch gestrichen. So viele seltene Steine in dem Glasschrank. Auch eine Waage und ein Elektroskop mit einem Goldblatt stehen im Zimmer. Das Beste ist das Barometer mit den goldenen Zeigern auf dem silbernen Zifferblatt. Das sind physikalische Geräte, hat Vater gestern gesagt.

Sonntag, 12. März

Schulfrei. Und trotzdem habe ich mit Bronia Schule gespielt. Heute war ich die Lehrerin.

»Warum sind die Blätter grün?« Bronia wusste es nicht. »Weil sie Chlorophyll enthalten«, habe ich gesagt. Das hatte ich gelesen. Bronia ärgerte sich. Weil ich mehr wusste.

Sie will Medizin studieren, Józef auch, und Ma gesund machen. Hela will Lehrerin oder Sängerin werden. Manchmal nervt sie mich mit ihrer Trällerei.

»Du wirst Träumerin«, hat Bronia zu mir gesagt. »Na und«, habe ich geantwortet, »das ist bestimmt der beste Beruf auf der ganzen Welt.«

Mittwoch, 10. Mai

Wenn ich nichts hören und sehen will, lese ich. Dann bin ich bei Baba Jaga oder dem Falken Finist. Bei Wasilisa, der Weisen, oder der Tochter des mächtigen Zauberers Koschej. Ich fliege auf dem Feuervogel, der im Innern zu glühen scheint. Eine Feder von ihm kann großes Glück oder Unglück bringen. Die Federn strahlen in Gold, Orange und Rot. Ich möchte so eine Feder finden. Ich hebe sie auf, auch wenn man mich davor warnt.

»Maria ist frühreif«, hat Ma neulich zu Vater gesagt und dann zu mir: »Lies nicht immer, geh lieber in den Garten.« Zu den frühreifen Äpfeln oder wie, hab ich gedacht.

Maria, die Weise, so möchte ich einmal genannt werden …

Montag, 15. Mai

Ich gehe in die Privatschule von Fräulein Jadwiga Sikorska. Mit meiner Schwester Hela. Ich bin ein Jahr jünger als sie. Trotzdem lernen wir beide in der dritten Klasse. Fräulein Sikorska ist sehr streng. Ich habe viele Fragen, aber ich traue mich nicht immer. Das Fräulein ärgert sich, wenn sie keine Antwort weiß. Lehrerin für Geschichte und Mathematik ist Fräulein Antonina Tupalska. Wir nennen sie Tupcia. Tupcia wohnt bei uns. Jeden Morgen gehen wir mit ihr zur Schule. Ein weiter Weg. Bis zur breiten gasbeleuchteten Lesznostraße, an der Reformkirche vorbei, wo ich getauft wurde, durch die Sächsischen Gärten. Ich denke, Tupcia mag mich. »Du hast ein unglaubliches Gedächtnis«, hat sie mich heute gelobt. Ich bin immer schneller fertig mit meinen Hausaufgaben als Hela und die anderen.

Donnerstag, 25. Mai

In der Schule müssen wir russisch sprechen. Befehl vom Zaren. Bei Fräulein Sikorska lernen wir auch polnisch. Aber das ist ein Geheimnis.

Heute kam Inspektor Hornberg in die Schule. Unerwartet. Die Glocke hat geläutet und uns gewarnt. Fünf Mädchen haben die polnischen Lehrbücher in ihren Schürzen in den Schlafsaal getragen. Unser Fräulein war rot vor Aufregung. »Maria, steh auf und nenne die Ahnentafel der russischen Zaren«, verlangte sie. Ich kann die russische Sprache am besten. Der Inspektor wollte, dass ich ein russisches Gebet aufsage. Mein Herz war ganz hart dabei, aber das konnte keiner sehen.

Montag, 12. Juni, in Marki

Wir haben Ferien. Vater hat mich zu den Großeltern Boguski aufs Land gebracht. Oma und Opa haben dort einen kleinen Gutshof. Am liebsten bin ich bei den Kaninchen. Zwei Kätzchen sind auch da. Morle und Weißchen. Wenn ich Milch bringe, lassen sie sich kraulen.

Freitag, 7. Juli

Hier ist so viel los, dass ich mein Tagebuch fast vergesse. Es ist Ernte und ich helfe mit. Abends bin ich dann so müde, dass ich gar nicht mehr nachdenken kann.

Heute gab es mit süßem Quark gefüllte Piroggen. Mein Lieblingsgericht.

Samstag, 15. Juli

Gestern hat Großmutter gesagt: »Deine Eltern werden aber staunen, wenn du nach Hause kommst. Die Landluft tut dir gut.«

Ma ist wieder zur Kur. In Salzbrunn in Schlesien. Wir hoffen alle, dass sie dort endlich geheilt wird.

Ich bin braun und noch ein bisschen pummliger geworden. »Du isst ja auch wie ein Scheunendrescher«, sagt Großvater. Karol, der Knecht, ist ein Scheunendrescher. In der Scheune drischt er mit einem Flegel auf das Getreide ein. Klar, dass man davon Hunger kriegt.

Mir schmeckt der Nachtisch am besten. Selbstgepflückte Heidelbeeren oder Brombeeren mit Milch und Zucker. »Den ganzen Tag an der frischen Luft«, hat Großmutter gesagt, »da muss man ja Appetit kriegen. Hau nur tüchtig rein, meine Kleine.« Sie drückte mich so fest, dass ich kaum Luft bekam.

Samstag, 26. August

Heute will mich Vater abholen. Ich freue mich auf Bronia, Józef, Hela, Vater und besonders auf meine Ma. Und auf die Schule. Ich will lernen, viel und gut und einfach alles. Aber auch Kätzchen zum Streicheln haben und von Ma geküsst werden.

Ich denke so oft an Zosia. Ein Platz, der leer und doch besetzt ist.

Aber das schreibe ich nur in mein Tagebuch. Ma soll nicht traurig sein.

Mittwoch, 30. August, nach dem Gebet

»Lass unsere Ma wieder gesund werden«, beten wir alle jeden Abend. Ma ist zurück von der Kur. Aber nicht geheilt. Sie sieht so dünn und bleich aus. Ihre Augen blicken traurig. Ich habe Angst um sie.

»Fahr auch mal zu den Großeltern«, habe ich zu ihr gesagt. »Dort wird man gesund.« Wenigstens hat sie mir zugelächelt.

Freitag, 15. September

Ma geht es besser. Sie hat sogar wieder Schuhe gefertigt. Obwohl sie ganz schmale Finger hat, schneidet sie Sohlen zu. Sie führt die Ahle mit dem Pechfaden durch das Leder. Dabei singt sie. Von einer schönen Müllerin. Ich habe Ma ewig nicht so singen gehört. Mein Herz sang mit.

Ein gutes Ende für mein erstes Tagebuch. Mein blausamtenes Tagebuch. Bald werde ich neun Jahre alt. Zum Geburtstag wünsche ich mir ein neues.

1879

Freitag, 7. November

»Du bist aber groß geworden«, sagen alle, wenn sie mich lange nicht gesehen haben. So ein Unsinn, Kinder werden eben immer größer. »Und hübsch dazu«, finden sie. Nein, hübsch finde ich mich nicht. Mira aus meiner Klasse ist hübsch, mit ihrem schwarzen Haar und den großen dunklen Augen. Wollen sie mir schmeicheln, wenn sie sagen, ich sei hübsch? Ich bin 1,45 Meter groß, immer noch zu pummlig und meine Haare lassen sich kaum bändigen. Mehr gibt’s zu meinem Äußeren nicht zu sagen. Busen habe ich noch keinen, muss auch nicht sein.

Geburtstag habe ich heute natürlich auch noch. »Damit du nicht immer nur bei deinen Büchern hockst«, hat Bronia gesagt, gelacht und hinter dem Rücken ihr Geschenk, ein neues Tagebuch, hervorgeholt. Der rote Ledereinband ist viel zu auffällig, ich werde es mit Packpapier einschlagen.

Oh, wie lange habe ich nichts aufgeschrieben. Aber nichts vergessen in den drei Jahren.

Zuerst fällt mir meine Ma ein. Wie schrecklich, schrecklich, schrecklich, schrecklich! Im Mai vorigen Jahres ist sie gestorben. Es war wie bei Zosia. Ein Tag, an dem eigentlich nichts Böses geschehen kann. Sonnenschein, Vogelsang – und dann stand die Welt still.

In der Kirche habe ich stumm mit Gott gesprochen. Ich war wütend, traurig, vorwurfsvoll und habe immer wieder gefragt: Warum? Warum Zosia, warum meine Ma? Ich konnte Gott nicht erreichen. Kein Laut von ihm drang an mein Ohr.

Auch das Klavier im Wohnzimmer schwieg. Selbst Marek, mein Bär, war kein Trost für mich.

Bauer Iwan aus meinem Lieblingsmärchen Schneeflöckchen hätte gesagt: Die Freude ist nicht ewig, so wie der Kummer nicht unendlich ist! Manchmal denke ich immer noch, Ma ist nur zur Kur und ich muss ihr schreiben. Aber wohin? Hier, in mein Buch!

Meine liebste Ma, der November in Warschau ist grau und windig. Aber wir haben es bei uns im Zimmer warm und die Kerze flackert hell. Nur in meinem Herzen ist so eine Kälte und Finsternis, die nicht weichen will. Keiner traut sich, von dir zu reden, aus Angst, dass ein großes Weinen beginnt. So sitzen wir mitunter stumm und schauen aus dem Fenster oder in das Licht der Kerze und denken an dich. Mein Blick ist verschleiert und ich kann die Schrift nicht mehr erkennen. Vielleicht aber kannst du unsere Gedanken auffangen und wenn ja, dann bitte schicke uns wenigstens ein Zeichen oder noch besser deine Adresse. Das wäre mein schönstes Geburtstagsgeschenk.

Sonntag, 9. November

Unsinn, Zeichen und Adresse von meiner Ma! Maria, wie konntest du dir nur so etwas wünschen? Manchmal verstehe ich mich selbst nicht und schüttle über mich den Kopf.

Dann wieder denke ich, wünschen und hoffen kann man doch so viel und so oft man will. Das kann mir keiner verbieten. Und wenn ich es keinem sage, kann mich auch keiner verrückt nennen.

Ein Sonnenstrahl fällt auf mein Tagebuch. Vielleicht ist das ein kleines Zeichen von meiner Ma. Sie wird von irgendwoher auf mich schauen. Ich möchte mich an den Sonnenstrahl klammern wie an eine Hoffnung.

Samstag, 22. November

Der November ist ein guter Monat zum Lesen, Lernen, Schreiben. Kein Sonnenstrahl lenkt ab. Ich kann mich einigeln, alles um mich herum vergessen. Mein Lieblingsmonat. Ich bin ein Novemberkind.

Im vergangenen Herbst habe ich die Schule gewechselt und gehe nun aufs kaiserliche Gymnasium Nummer Drei. Hier müssen wir auch in der Pause russisch sprechen und selbst Polnischunterricht wird auf Russisch geführt. Wir werden verdächtigt und bespitzelt. »Aber nur auf einem staatlichen Gymnasium kannst du das Zeugnis erhalten, das du später brauchst, wenn du in Sankt Petersburg oder Paris studieren willst«, hat Vater gesagt. Natürlich will ich. Am liebsten natürlich in Warschau. Józef studiert hier. Ich verstehe einfach nicht, warum Frauen das nicht dürfen.

Meine Schwester Bronia hat die Schule mit einer Goldmedaille abgeschlossen. Nun führt sie den Haushalt und die Pension. Józef ist auch von der Schule mit einer Goldmedaille gegangen. Ich bin stolz auf meine klugen Geschwister und will ihnen nacheifern. Nur kochen, waschen, putzen, nein, das ist für mich verlorene Zeit.

Sonntag, 14. Dezember

Wie immer vor Weihnachten versammelten sich in Vaters Zimmer seine engsten Freunde. Sie debattierten so laut, dass ich es durch die geschlossene Tür hörte. Vater mahnte zur Stille, und sie fingen an zu flüstern. Zwei von ihnen waren wie Mas Bruder Henryk 1863 bei dem Aufstand gegen den Zaren dabei und sind heute noch froh, dass sie mit dem Leben davonkamen. Ich hasse es, mit doppelter Zunge reden zu müssen, nicht frei und offen meine Meinung sagen zu können. Wenn die Polen für ihre Freiheit wieder auf die Straße gehen, ich bin dabei. Doch Vater schärft uns immer wieder ein, vorsichtig zu sein. »Ehe du dich versiehst, landest du in einem Straflager in Russland«, droht er.

1880

Donnerstag, 5. Februar

Wir sind mal wieder umgezogen. Von der Nowolipkistraße in die Lesznostraße. Auch Marek hat den Umzug überstanden. Die neue Wohnung ist viel schöner. Vom Balkon sehe ich lauter kleine weiße Zipfelmützen. Der Schnee hat den Garten zugedeckt, und der Anblick ist lustig und friedlich zugleich. Im Sommer wird Wein an der Fassade und am Balkon hinaufranken. Ich stelle mir schon jetzt vor, wie ich hier sitze und lerne und immer mal wieder eine Weintraube nasche. Auch die Pensionäre werden mich nicht mehr so stören. Jedenfalls ist ihr Esszimmer nicht mehr mein Schlafzimmer.

Mittwoch, 17. März

Ich habe eine Freundin, der ich alles erzählen kann. Sie heißt Kazia Przyborowska, ihr Vater ist Bibliothekar beim Grafen Zamoyski. Ihre Familie wohnt im »Blauen Palast« des Grafen, der von einer Löwenfigur bewacht wird. Jeden Morgen hole ich Kazia dort ab. Bevor wir auf die breite Krakowskie Przedmiescie kommen, müssen wir den Sächsischen Platz überqueren mit dem hässlichen Obelisk, den der Zar nach dem Novemberaufstand dort errichten ließ. Klobig, mit grässlichen doppelköpfigen Adlern, höher als die Häuser ringsum. Er ist für die Polen errichtet, die während des Aufstandes dem Zaren treu blieben. Wenn wir uns unbeobachtet fühlen, spucken wir beim Vorübergehen auf das Denkmal. Im Palast auf dem Platz residierte einst unser König, jetzt sind Russen dort.

Auf der Krakowskie Przedmiescie geht es immer lebhaft zu. Wir müssen aufpassen, nicht überfahren zu werden von beladenen Fuhrwerken oder von prächtig polierten Kutschen oder von den Pferdewagen, die in der Mitte auf Schienen fahren. Unsere Schule befindet sich im ehemaligen Kloster der Visitantinnen im ersten Stockwerk. Im Erdgeschoss verkauft Herr Wosinski in seinem Geschäft Uhren aus Genf.

Donnerstag, 15. April

Mein Lieblingslehrer ist Professor Slosarski. Er unterrichtet Naturwissenschaften und führt uns, wie er es nennt, an die »Wunder der Welt« heran. »Du hängst ja an seinen Lippen«, hat Kazia mich heute geneckt. Aber ich sauge wirklich alles auf, was er sagt. Ich habe längst gemerkt, dass nicht alle russischen Lehrer unsere Feinde und Freunde des Zaren sind.

Heute hat er uns von Dmitri Mendelejew erzählt, der den Zusammenhang zwischen Atomgewicht und den Eigenschaften der chemischen Elemente entdeckt hat. Er ordnete alle bekannten Elemente in einer Tabelle an und nannte sie das Periodensystem. Mit diesem System konnte er sogar noch die Entdeckung neuer Elemente vorhersagen. In Paris hatte er sich dazu in seiner Wohnung ein kleines Labor eingerichtet und geforscht.

Mendelejew war wie Ma an Tuberkulose erkrankt, konnte aber auf der Insel Krim geheilt werden. Er war das jüngste von siebzehn Kindern und seine Familie war sehr arm.

Ich habe so große Hochachtung vor diesem Mann. Und einen Traum: Ein Labor in Paris!

Kazia verehrt Professor Gloß, der Mathematik unterrichtet. Sie ist sogar verknallt in ihn. Obwohl er ein Russe ist. Aber er ist klug, sieht auch noch wahnsinnig gut aus und schikaniert uns nicht.

Donnerstag, 20. Mai

Heute bin ich, wie so oft nach der Schule, noch mit zu Kazia gegangen und wir erledigten gemeinsam Hausaufgaben.

Ihr Zimmer ist viel schöner als meins, heller, freundlicher, ruhiger, keine nervigen Pensionäre und unfreundlichen Haushälterinnen. Aber mein Tagebuch nehme ich natürlich nicht mit dorthin. Das öffne ich erst hier zu Hause. Kazia würde mich mit ihrer Neugier nerven. »Was schreibst du da? Zeig doch mal!«

Aber ihre Mutter verwöhnt uns mit Limonade und Schokoladeneis. Auch meine Ma hat mich oft verwöhnt. Sie fehlt mir so sehr. Fast genau auf den Tag vor zwei Jahren ist sie gestorben. Meine Ma …

1881

Dienstag, 15. März

Heute habe ich mich so gefreut, dass ich nicht an Vaters Ermahnungen gedacht habe, vorsichtig zu sein, und mit Kazia einen Freudentanz auf dem Schulhof aufführte. Das wäre beinahe schief gegangen.

Zar Alexander II. ist tot. Eine Dose mit Dynamit hat seine Kutsche getroffen. Er ist ausgestiegen, weitergelaufen, und dann hat ein Student ihm noch eine Sprengbombe vor die Füße geworfen.

Fräulein Mayer, die mich sowieso nicht leiden kann, sah uns tanzen. Warum wir tanzen, hat sie gefragt. »Weil uns nach tanzen zumute ist«, hab ich gesagt. Sie hat geschrien: »Ob wir denn nicht gehört hätten, dass heute der Zar ermordet und Staatstrauer angesagt ist?« Wir haben ihr den Rücken zugedreht und sind gegangen. Vielleicht wird unser Land nun befreit? Oder kommt ein neuer Zar? Ich hoffe sehr, dass unser Leben freier und besser wird!

Dienstag, 29. März

Ein neuer Zar. Alexander III. Alles Wünschen vergebens …

24. Dezember

Wie haben wir uns alle auf das Weihnachtsfest gefreut! Es beginnt bei uns, wenn der erste Stern abends aufgeht. Dann ist auch das Fasten zu Ende und eine große, bunt bedruckte, eckige Oblate wird gebrochen und verteilt. Weil alle in der Familie das Leben miteinander in Liebe teilen wollen. Gerade Weihnachten fehlt Ma am meisten.

Bronia und Tante Lucia haben den Baum geschmückt. Silbern glänzende Kugeln, silbernes Lametta und weiße Kerzen. »Schlicht und schön, so soll er stehen«, hat Vater gesagt. Auf dem festlich gedeckten Tisch wird jedes Jahr auch ein Gedeck aufgelegt für einen unerwarteten Gast. Tante Lucia sagt, die Heilige Familie könnte ja anklopfen. Aber es ist bisher noch nie passiert und außer Tante Lucia glaubt wohl keiner bei uns daran. Unter dem Tisch liegt immer ein kleiner Ballen Stroh, aus dem sich jeder einen Halm zieht. Józef hat den längsten gezogen und man sagt, er wird nun auch am längsten leben. Im vorigen Jahr hatte Vater den längsten gezogen. Er hat mit dem Kopf geschüttelt und gesagt: »Das wäre ja furchtbar, wenn ich euch alle überlebe …«

Unter dem Tisch Stroh, aber auf dem Tisch … Ich habe gedacht, der muss zusammenkrachen von dem Gewicht. Karpfen in Biersauce, unseren polnischen Borschtsch, Piroggen, Hering in Öl, Bratfisch und Fisch in Aspik, Krautgerichte und Gemüsesalate. Mohnkuchen … Ich konnte fast nichts essen, vor lauter Aufregung und warten auf den Sternenmann. Ich habe ein Tabellenbuch bekommen, mit allen 66 bisher bekannten Elementen, periodisch angeordnet nach Mendelejew. Vater war der Sternenmann und ich bin ihm vor Freude um den Hals gefallen.

1. Weihnachtsfeiertag

Fast bis Mitternacht haben wir gestern kolędy, Weihnachtslieder, gesungen und sind dann zur pasterka, der Hirtenwache, in die Kirche gegangen. Es war eiskalt, der Himmel sternenklar, der Schnee knirschte unter unseren Schuhen und die Glocken begannen zu läuten. Eine heilige Nacht, die ich sicher nie vergessen werde.

1883

Freitag, 18. Mai

Zwei Jahre nur gelesen, gelernt, gelesen, gelernt … Wenig gegessen und geschlafen. Keine Zeit fürs Tagebuch.


Maria im Alter von 16 Jahren

Nur die Schule hat mir wirklich Spaß gemacht. Ich bin dankbar, dass ich schnell begreife und will diese Begabung nutzen! Immer noch will ich Wissenschaftlerin werden.

Sonntag, 10. Juni

Geschafft! Viele Reden über mich ergehen lassen, Hände geschüttelt, Professor Slosarski umarmt, Fanfarenklänge … Zwei scheußliche russische Bücher als Preis erhalten und mit Vater am Arm das Schulgebäude mit einer Goldmedaille um den Hals verlassen. Für immer. Wie stolz wäre meine Ma gewesen … In der flimmernden Hitze glaubte ich ihr Gesicht zu sehen, ihre Augen …

Mein Bruder Józef hat mir von Robert Koch geschrieben, einem deutschen Arzt und Biologen. Er hat im vorigen Jahr den Bazillus entdeckt, der die Tuberkulose verursacht. Bald wird die Krankheit heilbar sein. Hätte die Wissenschaft nicht schneller sein können? Nur fünf Jahre …

Freitag, 15. Juni

Vater will, dass ich ein Jahr »abschalte« und mich erhole. Nicht lerne, sondern beobachte, staune, mich wundre, die Schönheit der Natur genieße. Ich weiß nicht, ob das für mich Erholung sein wird, ob das gelingt. Ein ganzes Jahr ohne Formeln und Zahlen …

Sonntag, 17. Juni

Kazia meint, drei Möglichkeiten bleiben einem Mädchen nach dem Gymnasium-Abschluss. Sie hat mit ihrer Mutter darüber gesprochen.

1 In Paris oder Sankt Petersburg studieren,

2 Lehrerin an einer Privatschule werden,

3 heiraten.

Für mich kommt nur 1. in Frage. Und zwar in Paris, an der Sorbonne. Aber dafür braucht man Geld. Kommt Zeit, kommt Rat … Ich hab schließlich eine Goldmedaille. Kazia schwankte zwischen 2. und 3. Wenn der Richtige käme, meinte sie und lachte. Sie lachte, als ob er schon da wäre. Aber das hätte sie mir bestimmt erzählt. Für mich kommt heiraten jedenfalls vorerst nicht infrage! Natürlich warte ich auch auf den Richtigen. Aber ob der mich dann auch will?

Sonntag, 1. Juli

Das Jahr »Abschalten« hat schon begonnen. Vater hat ein Machtwort gesprochen: »Raus mit dir aufs Land!«

Erst im Zug, dann im Pferdewagen durch Masowien gereist, auf holprigen Wegen, zwischen Kornfeldern, an verfallenen Windmühlen und ärmlichen Blockhäusern vorbei habe ich mein Ziel in Zwola erreicht.

Wie ein Palast mutet dort das Landhaus von Onkel Wladislaw, Mutters Bruder, im Vergleich dazu an. Und wie fröhlich das Leben sein kann, ohne Formeln und Zahlen!

An Freundin Kazia im August

Ich kann sagen, daß ich außer einer Französischstunde, die ich einem kleinen Jungen gebe, und der Übersetzung aus dem Englischen nichts tue, buchstäblich nichts, denn sogar die Stickarbeit, mit der ich mich anfangs beschäftigte, habe ich heute fast völlig beiseite gelegt. Ich lese nichts Ernstes, nur Liebesromane … Ich komme mir auch unglaublich dumm vor, trotz des Reifezeugnisses und trotz der Würde einer Person, die die Schule beendet hat. Nicht selten habe ich Lust, über mich selbst zu lachen, und mit wahrer Genugtuung erwäge ich meinen Mangel an Verstand.

Wir gehen oft im Wald spazieren. Dort versammeln sich ein paar Dutzend Personen, wir spielen Serso und Schlagball, wovon ich keine Ahnung habe, Katz und Maus, Mensch ärgere Dich nicht usw. – lauter Kinderspiele …

Sonntag, 2. September

Zurück aus Zwola. Aber in Warschau darf ich nicht bleiben. Ich will (muss) nach Zawieprzyce zu Onkel Ksawery.

Montag, 10. September, in Zawieprzyce bei Lublin

Zehn Kinder hat Onkel Ksawery und versteht zu wirtschaften. Er besitzt große Ländereien, und viele Arbeiter, die er menschlich behandelt, sagt mein Vater. Sein Landhaus ist riesengroß und steht Gästen immer offen. Auch ein schon etwas verfallenes Schlösschen aus dem 16. Jahrhundert und eine Ahnenkapelle gehören dazu. Die Gäste müssen reiten können und an der Jagd teilnehmen.


Zawieprzyce – hier verbrachte Maria ihre Ferien

Heute bin ich das erste Mal allein ausgeritten. Unglaublich schön … Auf Keszhoma, einem 1,60 Meter großen Wallach. Ein Mohrenkopfschimmel. Onkel Ksawery hat ihn mir anvertraut. Zuerst war ich ängstlich. Aber jetzt … Eine Stunde waren wir unterwegs. Keszhoma ist ein ganz ruhiges und friedliches Pferd. Macht, was ich sage, und freut sich über ein Stück Zucker oder wenn ich seine Mähne streichle. Alle Vasen und Gläser im Haus habe ich mit Kamille und Kornblumen gefüllt. Die Wiesen rings um Zawieprzyce sind voll davon.

Samstag, 15. September

Ausflug nach Lublin. Die Stadt ist heller als Warschau, freundlicher, die Menschen sitzen in Parks, an der Weichsel, spielen Schach oder plaudern. Der Sommer ist noch einmal mit ganzer Kraft zurückgekommen. Wunderschön im Sonnenlicht das alte Rathaus und die Kathedrale … Hoch über der Stadt trohnt die Burg …

Montag, 15. Oktober

Eine Woche war ich mit Vater in Zakopane, einem beschaulichen Dörfchen. Wir wohnten in einem der viel giebligen Holzhäuser der Goralen. Ein Haus mit ungewöhnlich reichem Balkenschnitzwerk. Diese Bergmenschen laufen in seltsam bunten Trachten umher, spielen sehr schön die verschiedensten Musikinstrumente und ihr Schafskäse ist der beste überhaupt.

Zakopane liegt tausend Meter über dem Meeresspiegel. Kein Ort in Polen liegt höher! Beeindruckend sind die schneebedeckten Gipfel ringsherum. Wir sind bis zum Fischsee gelaufen, der am Fuße des Rysy liegt, und in dessen glasklaren, grün schimmernden Wasser man Schwärme von Fischen beobachten kann. Meinen Rucksack habe ich vollgepackt mit Steinen und Mineralien. Wir haben Falken und Mäusebussarde gesehen, sogar einen Steinadler, Gemsen und das Pfeifen der Murmeltiere gehört. Im Sommer sollen hier die Kuhschelle, Heilglöckchen, Orchideen und Edelweiß wachsen. Ich will unbedingt noch mal im Frühjahr oder Sommer hierher fahren. Ich hatte heimlich ein altes Physikbuch mitgenommen. Für abends, wenn Vater schon schlief …

1884

Donnerstag, 10. Januar

Und wieder einmal habe ich die Koffer gepackt und bin zu Vaters Bruder, Onkel Zdzisław, gefahren. Er wohnt in Skalbmierz, einem kleinen Ort am Fuße der Karpaten. Der Onkel ist ganz anders als mein Vater. Er kann unglaublich lustig sein, aber dann auch plötzlich wieder aufbrausen. Hier werden immer irgendwelche Feste vorbereitet. Seine drei Töchter sollen endlich unter die Haube kommen. Sie sind aber nicht nur hübsch, sondern auch geistreich, und ich finde ihre Gegenwart angenehm und unterhaltsam.

Wie schnell die Zeit verfliegt …

Dienstag, 15. Januar

Tante Maria, die Frau von Onkel Zdzisław, ist vorgestern aus Kielce angereist. Dort besitzt sie eine Klöppelschule und eine Möbelfabrik. Tante Maria ist groß, schön, blond und sehr selbstbewusst. Von Kindererziehung und Kochen hält sie nichts, das überlässt sie einer »Wahltante«. Sie trägt Hosen, raucht Zigaretten und zieht die Gesellschaft von Männern vor. Ich bewundere sie und möchte auch so ein bisschen werden wie sie. Aber nicht unbedingt rauchen und Hosen tragen …

Sonntag, 17. Februar

An Bronia

Ich habe noch einmal am Sonnabend auf dem Kulig (Schlittenfahrt zur Fastnachzeit – Anm. d. Ü.) die Wonne des Karnevals genossen und denke, daß ich mich nie wieder so amüsieren werde …

Wir sind ziemlich früh angekommen. Ich fungierte als Frisöse, denn ich kämmte die Mädchen für den Abend, und zwar sehr gut. Die anderen kamen gegen acht, unterwegs ist so einiges passiert, wir haben die Musikanten verloren und wiedergefunden, eine Kutsche ist umgekippt.

Man teilte mir meine Nominierung zur »Braut« mit und stellte mir den »Bräutigam« vor, einen sehr gut aussehenden, schicken Krakauer. Der Kulig gelang einzigartig. Wir tanzten am hellen Tag um acht Uhr Mazurka, und es war so fröhlich wie am Anfang. Sechzehn Paare. Wir haben den herrlichen Oberek mit seinen Figuren getanzt, und du mußt wissen, daß ich ausgezeichnet Walzer tanzen gelernt habe, ich hatte einige Touren im voraus vergeben. Wenn ich herausging, um mich auszuruhen, warteten sie an der Tür auf mich.

Donnerstag, 3. April

Ein unverhofftes Glück … Unsere Ferien gehen weiter. Eine ehemalige Schülerin unserer Ma, die Gräfin de Fleury, hat meiner Schwester Hela und mir einen Sommerurlaub auf ihrem Landsitz Kępa angeboten. Langsam gewöhne ich mich an das faule, fröhliche Leben.

Samstag, 12. April, in Kępa

Wir sind wieder erst mit der Bahn, aber diesmal nördlich von Warschau bis Małkinia gefahren. Am Bahnhof stand eine prachtvolle Kutsche mit vier Pferden und einem Kutscher in blauer Livree für uns bereit.

Der Landsitz sieht aus wie ein kleines Schloss und ist von einem wunderschönen Garten umgeben, nah bei einem Eichen- und Lindenhain. Unsere Zimmer sind groß und hell, und die freundliche Haushälterin Frau Rogowska verwöhnt uns schon morgens mit Semmeln, Keksen, Butter, Honig und Marmelade.

Zwei Flüsse stoßen in Kępa zusammen: Narew und Biebrza, aber zum Baden ist das Wasser noch viel zu kalt.

Sonntag, 15. Juni

Brief an Kazia

Jetzt sind wir schon einige Wochen in Kępa, ich müßte dir unser Leben hier beschreiben, aber ich habe keine Kraft dazu, sondern sage dir nur, daß es wunderbar ist!

Wir machen alles, was uns einfällt, mal schlafen wir nachts, mal am Tage, wir tanzen und machen überhaupt solche Dummheiten, daß wir es manchmal verdienten, ins Irrenhaus geschickt zu werden.

Sonntag, 20. Juli

Hela und ich plündern die Kirschbäume, pflücken Himbeeren und suchen Pilze. Wir schwimmen und fahren Boot. Jan Moniuszko, der Bruder der Gräfin, er ist 27 Jahre alt und ein bisschen dick, bringt mir das Rudern bei.

Zu jedem Essen trinkt er einen Viertelliter Milch. Wir haben uns einen Spaß mit ihm erlaubt und jedes Mal seine Milch verdünnt. Es hat ziemlich lange gedauert, bis er misstrauisch wurde und sich beklagte, dass die Milch grau aussehe und nicht mehr schmecke. Die Gräfin hat einen Giftanschlag vermutet, und wir konnten uns nicht mehr halten vor Lachen.

Sie spricht sehr liebevoll und mit Hochachtung von meiner Ma! Das macht sie mir besonders sympathisch.

Freitag, 15. August, immer noch in Kępa

Heute haben wir den 14. Hochzeitstag unserer Gastgeber gefeiert. Ein ungleiches Paar. Der Graf ist schon ziemlich alt, aber ein Ästhet und Feinschmecker, die Gräfin, seine zweite Frau, wohl 30 Jahre jünger, ist unwahrscheinlich lebenslustig und charmant.

Wir haben sie auf zwei hochlehnige Sessel gesetzt aus feinstem Plüschbezug und ihnen einen Kranz aus Karotten, Rosenkohl, Zwiebeln und Steckrüben, verziert mit bunten Bändern geschenkt.

Dienstag, 2. September, wieder in Warschau

Zurück aus einer anderen Welt … Im Dunklen, Minuten vor dem Einschlafen bin ich manchmal noch in Kępa … verrückt, ausgelassen, eine andere Mania als hier, wo lauter ernste Gesichter mich umgeben …

Vater ist älter geworden, aber wie eh und je an den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen interessiert. Bronia bügelt ihm die Hemden, bürstet seine Anzüge. Nur das Schuheputzen übernimmt er selbst. Auch für Hela und mich. So sind wir heute am Sonntag bei wolkenlos blauem Himmel, also mit glänzenden Schuhen an dem sandigen Ufer der Weichsel entlangspaziert. Von der Neustadt der Sonne entgegen zur Altstadt im Süden. An der Marienkirche mit ihrem weithin sichtbaren Turm vorbei, den Königstrakt entlang bis zum Potocki-Palais. Wie viele Baumeister sich an seiner Architektur schon versucht haben. Vater kann sie alle aufzählen: Piola, der den Palast im 17. Jahrhundert mit barockem Garten für die Magnatenfamilie Dönhoff errichtete. Schröger, der ihn im Stil des Rokoko umbaute. Samuele Contessa, Redler und Zeisel, die die Bildhauerarbeiten gestalteten. Vor 100 Jahren war es Boguslaw, der ihn Zug um Zug veränderte, auch das klassizistische Säulenportal schuf. Ende des vergangenen Jahrhunderts arbeitete der Maler Antonio Tombari an dem Gebäude. Und 1860 errichteten die Brüder Marconi den Ausstellungspavillon auf dem Schlosshof, der voriges Jahr, wie Vater erzählte, der Zacheta-Galerie zur Verfügung gestellt wurde. Wir liefen durch die gegenwärtige Ausstellung von Michałowski, Matejko und Gierymski. Interessante Bilder, die den Übergang vom Rokoko zur Moderne zeigen.

»Aus dir ist eine junge Frau geworden«, hat Vater am Abend zu mir gesagt.

»Na weißt du nicht, dass ich in zwei Monaten schon siebzehn werde«, habe ich gesagt.

Freitag, 26. September

Gemeinsam mit Hela ein Scheltgedicht an die Söhne von Onkel Zdzisław in Skalbmierz geschrieben, weil die Burschen unsere schönen langen Briefe nicht beantworten. Wir haben ihnen eine Impfung gegen »Schreibphobie« vorgeschlagen, ähnlich der Impfung gegen Tollwut.

Mittwoch, 8. Oktober

Heute hat mich Vater in sein Arbeitszimmer geholt und mir physikalische Vorträge gehalten. Er erklärte mir die elektrischen Einheiten Volt, Ampere und Ohm, mit denen man die Spannung, den Strom und den Widerstand messen kann. Er redete über wichtige Entdeckungen. Zum Beispiel, dass manche Kristalle elektrische Eigenschaften haben. Vorausgesetzt, sie besitzen, wie zum Beispiel Quarz, kein Symmetriezentrum. »Stell dir vor«, sagte Vater, »die Ladungen sind Kugeln auf einer Ebene und der Ladungsmittelpunkt ist der S c h w e r p u n k t. Wenn Plus und Minus nicht aufeinanderliegen, entsteht ein Dipolmoment. Vor vier Jahren hat das der einundzwanzigjährige Franzose Pierre Curie herausgefunden und als Piezoelektrizität bezeichnet.«

Vater behauptet, dass bereits in wenigen Jahren in den meisten Ländern der Welt die Menschen nicht mehr bei Kerzenschein oder mit Hilfe von Gaslampen lesen werden, sondern im hellen elektrischen Licht. Er hat von Edison erzählt, einem amerikanischen Wissenschaftler, dem wir das zu verdanken haben. Im vergangenen Jahr entdeckte der den glühelektrischen Effekt. »Stell dir vor«, hat Vater gesagt, »Elektronen gelingt es aufgrund ihrer thermischen Bewegung aus dem Metall bzw. der Oxidschicht herauszutreten. Sie bilden um die Glühkathode im Vakuum eine Raumladungswolke und laden in der Nähe befindliche Elektroden gegenüber der Kathode negativ auf. Dieser Effekt kann zur direkten thermischen Erzeugung von elektrischer Energie genutzt werden.«

Ich bin froh, dass ich mir das vorstellen und merken kann.

Vater hat gesagt: »Wir leben im Jahrhundert der unglaublichsten Entdeckungen. Nie wieder werden die Menschen der Natur in relativ kurzer Zeit so viele neue Erkenntnisse abringen.«

Freitag, 7. November

Vater hat mir einen großen Geburtstagswunsch erfüllt: Das Buch »Schuld und Sühne«, von Dostojewski. Dieser russische Dichter gehört neben unseren Dichterfürsten Juliusz Słowacki und Adam Mickiewicz gegenwärtig zu meinen Lieblingsautoren.

60 000 Menschen sollen bei Dostojewskis Beerdigung vor vier Jahren in St. Petersburg dabei gewesen sein!

Aus »Pan Tadeusz oder Der letzte Einritt in Litauen«, diesem riesigen Versepos in zwölf Büchern von Mickiewicz, lesen wir uns auch oft gegenseitig vor. Ich liebe diese literarischen Samstagabende am Samowar.

Montag, 29. Dezember

Vater ist in Pension gegangen. Langeweile kennt er nicht. Ganze Bücher übersetzt er aus dem Französischen, Englischen, Deutschen und Russischen ins Polnische. Und er schreibt selbst Gedichte. Aber seine Pension reicht nicht. Nicht für Essen, Kleidung, Miete …

Ich bin die prächtige Marszałkowska-Straße entlanggegangen und habe Zettel verteilt: Junge absolvierte Gymnasiastin unterrichtet Französisch, Arithmetik, Naturwissenschaften …

1885

Montag, 2. Februar

Seit einem Monat verdiene ich durch Unterrichten Geld.

Laufe kreuz und quer durch die Stadt, von einem Schüler zum anderen. Schneegriesel im Gesicht, die Füße kalt, der Frost dringt durch die Handschuhe. Schaue sehnsüchtig der Pferdebahn hinterher … Sie sind faul und dumm, die Kinder der Reichen. Spielen lieber mit Puppen oder Soldaten, stehen stundenlang vor dem Spiegel, hecken dumme Streiche aus. Vielleicht nicht alle, aber meine Pappenheimer auf jeden Fall … Kein Interesse für die Wunder der Wissenschaft. Ihre Eltern lassen mich im Vorzimmer ewig warten, behandeln mich wie eine Untergebene, die ich ja auch wirklich bin, wie eine Abhängige, eine, die dankbar sein muss für jeden Rubel, den sie mir geben. Dabei musste ich sie gestern noch erinnern, mir meinen Lohn für den vergangenen Monat zu zahlen.

Wie erniedrigend …

Freitag, 13. Februar

Abergläubig bin ich nicht. Ich fürchte mich nicht vor Freitag dem 13. oder einer schwarzen Katze von rechts … Auch mein Glaube an Gott ist leider verloren gegangen.

Habe mich einer Gruppe »Positivisten« angeschlossen, um meinem Vaterland Polen zu helfen. Bronislawa Piasecka ist mir Freundin und Lehrerin zugleich. Sie ist wahrlich nicht hübsch zu nennen, hager, dünnes kurzes Haar, aber mit ihrem warmen Blick und ihrer wohlklingenden Stimme, mit der sie treffend und ohne Pathos neue Gedanken äußert, wirkt sie sehr anziehend auf mich. Die Welt wird nur besser werden, wenn sich die Individuen verbessern, ist einer ihrer Leitsätze. Zusammen mit Bronia sind wir an Vorlesungen der »Fliegenden Universität« zugelassen und bilden uns weiter in Anatomie, Naturgeschichte und Soziologie. Heimlich muss das geschehen. Entdeckt man uns, droht Gefängnis. Ich habe mich von meinem langen Haar getrennt …

Donnerstag, 5. März

Bronislawa hat mich gebeten, fünf Schneiderinnen, die in einem Atelier arbeiten, Unterricht zu erteilen. Unser Ziel, denjenigen zu helfen, denen wir am ehesten nützen können, kann ich hier gut umsetzen. Ich habe eine kleine polnische Bibliothek für sie zusammengestellt, lese ihnen vor, bringe ihnen Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki nahe, mache sie aber auch mit Goethe, Schiller und Shakespeare vertraut. Erzähle von Darwin und Pasteur. Die Frauen sind aufmerksam, aber ich darf sie nicht überfordern. Sie sind unwahrscheinlich dankbar, wollten bei mir schon mal Maß nehmen, um mir ein Kleid zu nähen. Ich konnte sie nur mit Mühe davon abhalten.

Montag, 30. März

Übe mich jetzt auch im Zeichnen, versuche La Fontaines Fabeln zu illustrieren …

Donnerstag, 14. Mai

Keinem offenbare ich meine schwärmerischen Neigungen, meine stille Freude an poetischen Liebesgedichten. Selbst Bronia würde mich verständnislos anschauen. Neulich haben wir uns in vertrauter Umarmung fotografieren lassen, das Bild Bronislawa geschenkt und quer darüber geschrieben: »Für eine ideale Positivistin von zwei positivistischen Idealistinnen.«

Dienstag, 2. Juni

Meine Schüler leiden einfach an einer schlechten Vorstellungsgabe. Ich habe ihnen aber erfolgreich das Hebelgesetz an einer Wippe erklärt. Den dicken Gregor so daraufgesetzt, dass ihn auch die kleine Olga hochkriegte.

Gewicht mal Lastarm auf der einen Seite ist gleich Kraft mal Kraftarm auf der anderen Seite. Ein Gewicht kann man leichter hochheben, wenn der Kraftarm auf der anderen Seite viel länger ist. So haben sie es endlich verstanden.

»Gib mir einen Punkt im All, und ich hebe die Erde aus den Angeln.«

Wie klug war Archimedes schon vor 2 000 Jahren!

Freitag, 14. August

»Ja, ich weiß, die Erde dreht sich«, sagte Tamara, eine meiner Schülerinnen, heute, »aber ich muss doch nicht verstehen warum!!! Und noch dazu in den Ferien.« Sie riss mir das Pendel, an dem ich es ihr demonstrieren wollte, aus der Hand, schwang es wie ein Lasso über den Kopf und ließ es davonfliegen. »Gehen wir baden, das macht mehr Spaß«, sagte sie und zog mich zur Weichsel hinunter. Spaß! Als ob wir nur zum Spaßhaben auf der Welt sind!

Freitag, 28. August

Bronia hat meinen Plan akzeptiert. Auch Vater ist der Meinung, dass sie als Ältere zuerst dran ist. Sie schleicht herum wie ein verwundeter Panther. Ihre Mutlosigkeit ist einfach nicht mehr anzusehen. Sie muss endlich an der Sorbonne Medizin studieren, was schon lange ihr sehnlichster Wunsch ist. Ich werde mich um eine Gouvernantenstelle bemühen und so ihr Studium mitfinanzieren. Wenn sie fertig ist und sich als Ärztin niederlässt, wird sie mich nachholen. Es wird nicht leicht werden, aber ich habe wieder ein Ziel!

Donnerstag, 3. September

Gerade vom Stellenvermittlungsbüro zurück. Meine Haare hatte ich wieder wachsen lassen, um Vertrauen zu erwecken. Meine Referenzen und Zeugnisse sind ausgezeichnet, meine Ansprüche nicht hoch, die Aussichten, schnell eine Anstellung zu kriegen, gut.

Donnerstag, 10. Dezember

An Cousine Henriette

Liebe Henriette, seit wir uns getrennt haben, habe ich das Leben einer Gefangenen geführt. Wie du weißt, habe ich eine Stellung in der Familie des Rechtsanwalts B. angenommen. Ein solches Höllenleben wünsche ich nicht meinem ärgsten Feind!

… Es ist eines jener reichen Häuser, wo man vor Gästen Französisch spricht – ein erbärmliches Französisch –, die Rechnungen ein halbes Jahr lang nicht bezahlt, aber das Geld aus dem Fenster hinauswirft und dabei an dem Petroleum für die Lampen spart. Es gibt fünf Dienstboten, man posiert auf Liberalismus. In Wirklichkeit aber herrscht finstere Dummheit. In süßestem Ton wird bösartiger Klatsch getrieben – ein Klatsch, der an keinem ein gutes Haar lässt.

Meine Kenntnis der Gattung Mensch hat sich hier sehr erweitert; ich habe gelernt, daß es die Personen, die in den Romanen beschrieben sind, wirklich gibt, und daß man mit Leuten, die der Reichtum moralisch heruntergebracht hat, nichts zu tun haben darf …

1886

Freitag, 1. Januar

Heute verlasse ich Warschau. Vielleicht für mehrere Jahre. Ich bin traurig und hoffnungsvoll zugleich. Habe eine Stelle als Hauslehrerin auf dem Gutshof Szczuki bei Przasnysz angenommen. Drei Bahn-, vier Pferdestunden weit entfernt. Meine Hoffnung, nahe bei meiner Familie Geld zu verdienen, hat sich zerschlagen. Auch die Abendkurse, die Vorlesungen bei der »Fliegenden Universität« muss ich aufgeben. Hier in Warschau ist von meinem ersten Monatsgehalt nicht genügend übriggeblieben, um Bronia in Paris im Quartier Latin zu unterstützen. Sie lebt dort in ganz bescheidenen Verhältnissen, und mein Versprechen muss ich halten.

Ich denke oft an Zawieprzyce. Wie schön kann es auf dem Land, in freier Natur sein. Achtzehn Jahre und Marek ist immer noch bei mir.

Es schneit in dichten Flocken, und mir fällt mal wieder Bauer Iwan aus »Schneeflöckchen« ein. Jede Freude hat ein Ende, aber auch der Kummer …

Mittwoch, 3. Februar

An Cousine Henriette

Jetzt bin ich seit einem Monat hier im Hause Z. Ich habe also Zeit gehabt, mich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Bisher geht es mir recht gut. Herr und Frau Z. sind sehr nette Leute. Mit der ältesten Tochter, der achtzehnjährigen Bronka, habe ich eine richtige Freundschaft angeknüpft, die sehr dazu beiträgt, mir das Leben angenehm zu gestalten. Meine Schülerin, die zehnjährige Andzia, ist ein gelehriges Kind, aber sehr verwöhnt und undiszipliniert. Schließlich aber kann man nichts Vollkommenes erwarten.


Maria als Hauslehrerin in Szczuki

… Stell’ Dir vor, daß ich schon eine Woche nach meiner Ankunft auf gar nicht freundliche Weise ins Gerede kam, weil ich wagte, die Einladung zu einem Ball abzulehnen. Es hat mir aber wenig leid getan, denn Herr und Frau Z. sind von diesem Fest um ein Uhr mittags nach Hause gekommen …

Auch bei uns hat es einen Ball gegeben. Ich habe mit viel Vergnügen manche Gäste beobachtet, die der Feder eines Karikaturisten wert wären. Die jungen Leute sind herzlich wenig interessiert; die Mädchen sind Gänse, die den Mund nicht aufmachen, oder sie sind im höchsten Maß aufreizend. Es soll auch gescheitere geben. Bisher aber schien mir meine Bronka eine seltene Perle an gesundem Verstand und Lebensklugheit.

Ich habe sieben Stunden täglich zu arbeiten, vier mit Andzia und drei mit Bronka. Das ist etwas viel, doch was tut’s …

Freitag, 23. April

Warschau im Frühling – wie belebend und wärmend. Fürs Herz und die Sinne …

Ich habe mich so auf Ostern hier zu Hause gefreut. Hätte ich das Fahrgeld sparen sollen, auch um Vaters prüfendem Blick zu entgehen? Er ahnt wohl, dass ich nicht glücklich bin. Ich habe erzählt, von meiner Schülerin Andzia, die lieb, aber nicht fleißig ist und eine Langschläferin noch dazu. Von meiner Anstrengung, sie am Morgen aus dem Bett zu holen. Ich habe von der besseren Gesellschaft erzählt, die nur auf Klatsch und Tratsch aus ist. Die von Tolstoi noch nichts gehört hat und von Karl Marx erst recht nicht. Nichts von Positivismus und Kapital, und wenn ja, zucken sie zusammen, schauen sich ängstlich um, als ob ein Gespenst im Raum wäre. Aber über die neueste Mode sind sie genaustens informiert.

Ich kleide mich sauber und »adrett«, gehe sonntags in die Kirche, was Vater sehr überraschte.

Ich habe erzählt, dass Herr und Frau Z. freundlich zu mir sind und mich nicht von oben herab behandeln. Aber sie ahnen natürlich auch nicht, dass ich Frauen bewundere, die studieren und selbst ein Studium anstrebe. Wenn sie das wüssten, würden sie mich wahrscheinlich für den falschen Umgang für ihre große Tochter Bronka halten.

Wie habe ich mich geirrt, als ich von einer ländlichen Idylle träumte. Der Schornstein der Zuckerfabrik in Szczuki speit dunkle Wolken in den Himmel, verschmutzt die Luft, genau wie die Abwasserbrühe das Wasser des kleinen Flusses vergiftet und ihm Schaumkronen aufsetzt.

Ich habe Vater erzählt von den arbeitenden Menschen, die von Rüben und ihrem Zucker leben. Es reicht gerade für ärmliche Kleidung und karge Speisen. Ostern ist für sie kein üppiges Fest.

Morgen werde ich meine Koffer packen, Samstag fährt der Zug zurück. Heimweh habe ich schon jetzt.

Sonntag, 2. Mai

Ein Gutes hat die Fabrik auch für mich: Es gibt eine Werksbibliothek, in der ich mir Zeitschriften und Bücher ausleihen kann. Mein Wissen ist so lückenhaft! Nun versuche ich es hier mit meinen Möglichkeiten zu erweitern und lerne selbstständig zu arbeiten. Vieles interessiert mich, aber Mathematik, Physik und Chemie begeistern mich am meisten. Heute kam wieder ein Brief von Vater. Er weiß fast auf alle meine wissenschaftlichen Fragen eine Antwort.

Mittwoch, 2. Juni

Habe meine »große Schülerin« Bronka für meinen Plan, die Dorfkinder zu unterrichten, begeistern können. Die meisten sind Analphabeten, nur wenige lernen in der Schule die russische Sprache. Wir wollen sie heimlich in unserer schönen polnischen Sprache unterrichten. Ich habe Bronka gewarnt: Wenn man uns verrät, sehen wir uns in Sibirien wieder …

Das hat sie nicht abschrecken können. Nun werben wir versteckt und vorsichtig in den Hütten der Dorfbewohner. Ich habe bereits Hefte und Federhalter gekauft.

Donnerstag, 15. Juli

Kasimir, der älteste Sohn der Familie Z., ist in den Ferien nach Hause gekommen. Er ist so alt wie ich und studiert an der Naturwissenschaftlichen Universität in Warschau. Er macht mir ein wenig Angst. Wenn er mit seiner kleinen Schwester Andzia lacht und scherzt, schaut er immer zu mir. Selbst Bronka zieht mich auf. »Er ist verliebt in dich, merkst du das nicht?« Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.

Samstag, 17. Juli

Er hat einen Wiesenstrauß gepflückt und ist mit ihm in der Hand vor mir auf die Knie gefallen. Welch albernes Getue … Aber ich konnte nicht verhindern, dass ich rot wurde …

Dienstag, 20. Juli

Selbst in der Kirche richtet er es so ein, neben mir zu sitzen. Ich spüre seine Wärme, seinen vorsichtigen leichten Druck, und die Predigt rauscht ungehört an mir vorbei.

Donnerstag, 22. Juli

Gestern spielten wir Schach, und er ärgerte sich furchtbar, weil ich immer gewann. Dann nannte er mich Prinzessin. »Meine kleine Prinzessin.« Das »meine« ist eine ziemliche Anmaßung. Das habe ich ihm gesagt, aber er hat nur gelacht, die Schachfiguren umgeworfen und mein Gesicht in seine Hände genommen. Ich war wie versteinert. Gesehen hat es zum Glück wohl niemand.

Mittwoch, 28. Juli


Kasimir Zorawski, Sohn des Gutsverwalters in Szczuki

Ich habe noch nie so lange in so dunkle Augen gesehen. Maria – wo bleibt deine Reserviertheit? Wie schafft er es nur, dass du nachts vor Sehnsucht nach ihm nicht schlafen kannst, dass du vor deinen Büchern sitzt und alles dreimal lesen musst, um zu verstehen, dass du unkonzentriert auch deine Aufgaben mit Andzia erledigst, dass du eine andere geworden bist und dass alles Wehren dagegen sinnlos ist? Wie soll das enden? Eine nicht lösbare Gleichung mit vielen Unbekannten …

Die Tage, selbst die Nächte sind drückend heiß …

Montag, 2. August

Ich bin so unendlich glücklich. Vorgestern Nacht, die Kulisse wie in einem Kitschroman: Mondlicht, ein kleiner See, kein Lufthauch zu spüren, und er: Komm Maria, lass uns baden … Nicht weit vom Rand entfernt, eine tiefe Stelle, ich fühlte plötzlich keinen Grund mehr unter meinen Füßen, erinnerte mich erst wieder, als ich am Ufer lag, er mein Gesicht streichelte, mein Haar, und dann geschah es, was ich nicht in Worte fassen kann, worüber ich auch nie sprechen, auch nicht schreiben werde …

Wie viel später, weiß ich nicht mehr, mein Zeitgefühl war mir abhanden gekommen, aber es geschah, als sich gerade eine Wolke vor den Mond schob und ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Mit einer einfachen Frage löste er die Gleichung mit den vielen Unbekannten. Und ich antwortete überglücklich: »Ja, ja, ja, Kasimir, mein Liebster, ich will dich heiraten!«

Samstag, 14. August

»Die Freude ist nicht ewig und mein Kummer unendlich!« Alles nur ein Märchen, aber mit einem bittren Ende. Nie wieder werde ich einem Mann trauen, wenn er von seinen Gefühlen zu mir spricht.

Er ist zurück nach Warschau, ohne sich von mir zu verabschieden. Frau Z., seine Mutter, hat mich zu sich bestellt. Ich mag ihre Vorhaltungen nicht aufschreiben, es ist zu erniedrigend. Nur ein Satz: »Eine Gouvernante heiratet man nicht!«

Ich ging wortlos. Meine Tränen sollte sie nicht sehen.

Sonntag, 15. August

Vergessen, wie leicht sagt sich das, und wie schwer ist es … Natürlich möchte ich meinen Rucksack packen und Szczuki auf Nimmerwiedersehen den Rücken kehren. Oder wenigstens Urlaub nehmen. Aber ich kann die Stelle nicht aufgeben. Bronia braucht die 20 Rubel jeden Monat, und auch die Bauernkinder verlasse ich nicht. Jetzt haben wir schon zehn Schüler und sie machen langsam Fortschritte.

Mein Herz ist verkrustet, aber schlägt noch. Bronka, Kasimirs Schwester, meine Schülerin, ahnt und schaut mich mitleidig an. Kein Wort über mein Leid wird aus meinem Mund kommen. Geklagt oder gejammert wurde in unserer Familie nie.

Freitag, 3. Dezember

Achtzehn Schüler unterrichten wir jetzt jeden Mittwoch und Samstag, manchmal bis zu fünf Stunden. Mein Zimmer im ersten Stock hat einen separaten Eingang von der Treppe zum Hof. Die Kinder kommen unbemerkt, ohne jemanden zu belästigen. Ihr Lernwille ist beachtlich, nicht zu vergleichen mit dem von der kleinen Andzia. Ich warte auf diese Tage und die Kinder mit großer Freude.

Sonntag, 5. Dezember

An Cousine Henriette

… Ich habe mich daran gewöhnt, um sechs Uhr aufzustehen, damit ich mehr arbeiten kann – aber ich bin nicht immer fähig dazu. Jetzt ist ein sehr netter alter Herr hier, Andzias Taufpate; auf Aufforderung von Frau Z. mußte ich ihn bitten, mich zu seiner Zerstreuung im Schach zu unterrichten. Auch muß ich den Vierten beim Kartenspiel abgeben, und das läßt mich nicht zu meinen Büchern kommen.

Augenblicklich lese ich:

1. Die Physik von Daniel; mit dem ersten Band bin ich fertig.

2. Die Soziologie von Spencer, auf französisch.

3. Das Lehrbuch der Anatomie und Physiologie von Paul Bers, auf russisch.

Ich lese immer mehreres auf einmal: die fortlaufende Beschäftigung mit ein und demselben Gegenstand könnte mein schon stark überanstrengtes Gehirn ermüden. Wenn ich mich absolut unfähig fühle, mit Nutzen zu lesen, löse ich algebraische und trigonometrische Aufgaben; die vertragen kein Nachlassen der Aufmerksamkeit und bringen mich wieder ins rechte Fahrwasser.

Die arme Bronia schrieb aus Paris, daß man ihr mit den Prüfungen Schwierigkeiten macht, daß sie viel arbeitet und sich gesundheitlich nicht sehr fest fühlt.

… Meine Zukunftspläne? Ich habe keine, oder vielmehr sind sie so gewöhnlich, daß es nicht der Mühe wert ist, von ihnen zu reden. Mich durchschlagen, so gut es geht, und wenn es nicht mehr geht, dieser schnöden Welt Adieu sagen. Der Schaden wird gering sein, und beweinen wird man mich auch nicht länger als so viele andere. – So sehen jetzt meine Projekte aus. Manche Leute reden mir ein, daß ich noch die gewisse Krankheit durchmachen muß, die man Liebe nennt. Dafür habe ich aber gar keinen Platz in meinen Plänen. Wenn ich andere hatte, so sind sie nur in Rauch aufgegangen, ich habe sie begraben, eingesargt, versteckt und vergessen – denn Du weißt ja auch, daß die Mauern immer stärker sind als die Köpfe, die gegen sie anrennen …

1887

Mittwoch, 9. März

An Józef

… Es gibt nur eine Meinung darüber, daß das Praktizieren in einer Kleinstadt eine Fortsetzung der wissenschaftlichen Arbeiten und überhaupt der geistigen Fortbildung abschneidet. Du wirst Dich in irgendein Loch begraben und keine Karriere machen. Ohne Apotheke, ohne Spital, ohne Bibliothek bleibt man stecken, trotz der besten Vorsätze. Und wenn Dir das geschähe, mein Lieber, würde ich darunter ungeheuer leiden, denn da ich nun für mich jede Hoffnung verloren habe, etwas zu werden, konzentriert sich mein ganzes Streben auf Bronia und Dich. Ihr beide wenigstens müßt Euer Leben nach Eurer Begabung einrichten. Die Begabung, die ohne Zweifel in unserer Familie vorhanden ist, darf nicht verloren gehen und muß in einem von uns zum Durchbruch kommen. Je hoffnungsloser ich für mich bin, desto mehr erhoffe ich für Euch …

Montag, 7. November

Mein zwanzigster Geburtstag. Bronka stellte eine Torte mit zwanzig Kerzen auf den Tisch. Meine kleinen Schüler haben mir Bilder gemalt, mit Herzen, Vögeln und Sonnenstrahlen. Glückwünsche aus Paris, von Schwesterherz Bronia, kamen schon vorgestern an. Heute von Schwesterchen Hela, die ihre Trauer, weil kurz vor der Hochzeit zurückgewiesen, noch nicht überwunden hat. Aus demselben Grund, den auch ich erfahren musste. Was sind das für Menschen? In Vaters Brief überschatteten Sehnsucht und Verzweiflung die Freude, dass seine Mania bei guter Gesundheit zwanzig Jahre alt geworden ist.

Ich habe gelacht und gesungen mit meinen Schülern und mich tausendmal bedankt und niemand wird gemerkt haben, dass ich mich dabei so elend und einsam wie noch nie gefühlt habe.

Sonntag, 20. November

Ich sitze am Tisch, es ist bald Mitternacht. Nicht jeder Tag im November ist grau und regnerisch. Obwohl ich diese Grauen liebe, stimmte mich der Sonnenschein heute optimistisch. Ich werde Vater schreiben, dass er keinen Grund zum Kummer haben muss. Seine Kinder werden ihren Weg gehen. Wir haben eine so gute Erziehung genossen. Wie er uns ohne Ma großgezogen hat, verdient Hochachtung und ewige Dankbarkeit. Ja, wir werden ihm alle zeigen, dass er sich nicht umsonst um uns so uneigennützig bemüht hat.

Samstag, 26. November

Meine Stimmungen sind sehr schwankend. Heute fühle ich mich wieder einsam und verlassen, und meine Zukunft erscheint mir grau und trostlos.

Einzig der Gedanke an meine fleißigen Bauernkinder, die morgen wieder zum Unterricht erscheinen, lässt mich ein bisschen leichter atmen.

Samstag, 10. Dezember

An Henriette

Meine Zukunftspläne sind überaus bescheiden: mein ganzer Traum ist, einen Winkel zu finden, wo ich mit meinem Vater wohnen kann. Der Arme entbehrt mich sehr, er vermißt meine Gegenwart im Hause und sehnt sich nach mir. Und ich würde mein halbes Leben dafür geben, wieder meine Unabhängigkeit und einen Unterschlupf zu haben.

Sobald es also möglich ist – es wird ohnedies noch einige Zeit bis dahin vergehen –, werde ich Szczuki verlassen, nach Warschau kommen, mich um eine Stelle als Lehrerin in einem Pensionat bewerben und mit Privatstunden noch etwas dazu verdienen. Das sind alle meine Wünsche. Das Leben ist es nicht wert, daß man sich seinetwegen so sehr den Kopf zerbricht …

1888

Sonntag, 1. April

April, April, der weiß nicht, was er will. Mitunter komme ich mir vor wie der April: wetterwendisch, mal himmelhoch jauchzend, dann zu Tode betrübt. Mal, das Leben ist es nicht wert, daß man sich seinetwegen so sehr den Kopf zerbricht …, dann wieder hört mein ungehorsamer Kopf nicht auf zu denken. Und ich wünsche mir einen Schalter, um das mit einem einfachen Klick abzustellen. »Eine Gouvernante heiratet man nicht.« Dieser Satz will nicht aus meinem Kopf. Nie hat man mich mehr gedemütigt!

Donnerstag, 25. Oktober

An Kazia (die ihr ihre Verlobung mitgeteilt hat) Nichts von allem, was Du mir anvertraust, kann mir jemals übertrieben oder lächerlich erscheinen. Muß Deiner Wahlschwester nicht alles, was Dich bewegt, zu Herzen gehen, als handelte es sich um sie selbst?

Was mich betrifft, so bin ich sehr heiter – und oft genug verberge ich hinter einem Lachen meinen völligen Mangel an Heiterkeit. Das habe ich nämlich gelernt: Menschen, die alles so stark empfinden wie ich und nicht imstande sind, diese Veranlagung zu ändern, müssen sie wenigsten so gut als möglich verheimlichen. Glaubst Du aber, daß es damit schon getan ist, daß es etwas nützt?

Nicht im mindesten! Meistens lasse ich mich von der Lebhaftigkeit meines Temperaments fortreißen, und dann – nun, dann sagt man Dinge, die einem leid tun, und auch das wieder mehr, als es nötig wäre.

Ich schreibe ein wenig verbittert, Kazia. Was soll man tun? Du sagst, daß Du die glücklichste Woche Deines Daseins erlebt hast, und ich, ich habe hier Wochen durchstehen müssen, wie Du sie nie kennen lernen wirst. Es waren sehr bittere Tage, und das einzige, was mir die Erinnerung an sie erträglich macht, ist, daß ich trotz allem aus ihnen anständig und mit erhobenen Kopf hervorgegangen bin …

Sonntag, 28. Oktober

Vater hat wieder eine Arbeit. Er leitet jetzt eine landwirtschaftliche Erziehungsanstalt in Studzieniec ganz nah bei Warschau. Er scheint nicht glücklich zu sein, aber sein Einkommen ist hoch und sein erstes Monatsgehalt hat er sofort Bronia in Paris zukommen lassen. Vierzig Rubel will er ihr künftig monatlich schicken. Aber meine liebste Schwester hat ihn gebeten, acht Rubel davon für mich zur Seite zu legen und sie will von mir kein Geld mehr haben. Von nun an kann ich für mich selbst sparen. Ich fange wieder an zu hoffen, an zu träumen. Von mir als Wissenschaftlerin. Nein, Ärztin will ich nicht werden. Mein Verstand liebt die Naturwissenschaften: Physik und Chemie. Gestern Nacht habe ich »richtig« geträumt. Ich war eine Chemikerin und arbeitete in einem Labor in Paris.

Wie war ich enttäuscht, als ich aufwachte.

Sonntag, 25. November

An Henriette

Glaube nicht, daß Deine Erzählungen mich langweilen: im Gegenteil, es ist für mich eine wirkliche Befriedigung, zu hören, daß es noch Gegenden gibt, wo die Leute sich regen und sogar: denken! Du lebst im Zentrum der Bewegung, mein Leben aber gleicht auf merkwürdige Weise dem der Weichtiere in dem trüben Wasser unseres Flusses. Glücklicherweise kann diese Lethargie nicht mehr lange dauern.

Wirst Du, wenn Du mich wieder siehst, finden, daß die Jahre unter den Menschen mir gut oder schlecht getan haben? Das frage ich mich selbst. Alle Leute sagen, daß ich mich während der Zeit in Szczuki sehr verändert habe, körperlich und geistig. Das wundert mich nicht. Ich war kaum achtzehn Jahre alt, als ich hierher kam und was habe ich nicht durchgemacht! … Oberstes Prinzip: sich nicht unterkriegen lassen, nicht von den Menschen und nicht von den Ereignissen …

1889

Sonntag, 3. März

Zu Ende! Dreieinhalb lange Jahre in Szczuki sind vorbei. Meine Zeit hier ist um und das Wichtigste: Die Kinder haben die Prüfungen bestanden. Ich muss mich nicht schämen oder verstecken, ich habe meine Arbeit gut gemacht. Do widzenia Stoppelfelder und Rübenacker … Do widzenia meine fleißigen Bauernkinder!

Do widzenia Bronka und Andzia. Sie sind auf der glücklichen Seite des Lebens. Sollen sie was draus machen!

Eine wohlhabende Familie Fuchs sucht eine Gouvernante. Also pack die Sachen Maria, für die baltische Küste …

Sonntag, 5. Mai

Zum einen lohnt es nicht, viele Worte über meine neue Arbeitsstelle zu verlieren, zum anderen fehlen mir auch die Lust und Kraft dazu. Ich bin von früh bis abends eingebunden. Wenn ich mich nicht um die Erziehung der zwei Kinder (acht und dreizehn Jahre alt) kümmern muss, wartet Frau Fuchs senior bereits, dass ich mit ihr Tee trinke, ihr vorlese, sie ausfahre. Sie ist stark gehbehindert und ich bin sozusagen ihre Zofe. Ich kann das nur ertragen mit der Hoffnung, dass dieses Leben hier endlich ist und auch ich irgendwann meinem Intellekt entsprechend studieren und arbeiten kann.

1890

Samstag, 8. März

Eine wunderbare Überraschung! Schwester Bronia hat sich verlobt. Mit einem zehn Jahre älteren Arzt. Kazimierz Dłuski heißt er. Seine Eltern haben auch im Januaraufstand mitgekämpft und er selbst musste Polen verlassen, weil er eine Schmähschrift verfasst hatte. Im August soll in Krakau die Hochzeit gefeiert werden. Käme er nach Warschau, müsste er damit rechnen, verhaftet zu werden. Bronia muss noch wenige Prüfungen ablegen, dann ist sie in Paris mit dem Medizinstudium fertig. Sie drängt, ich soll nachkommen. Doch mein Erspartes reicht noch nicht zum Einschreiben an der Sorbonne. Auch bin ich unentschlossen wegen meiner Verpflichtungen für Vater …

Liebe wird für mich ewig ein Fremdwort bleiben … Eine Gouvernante heiratet man nicht!

Mittwoch, 12. März

Liebe Bronia,

ich war dumm, ich bin dumm, ich werde dumm sein, solange ich lebe, oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Glück hatte ich nie, habe ich nicht und werde ich auch nie haben. Ich habe von Paris wie von der Erlösung geträumt, aber seit langem schon habe ich die Hoffnung aufgegeben, je hinzukommen. Und jetzt, wo sich mir die Möglichkeit bietet, weiß ich nichts mit ihr anzufangen … Ich fürchte mich, mit Vater davon zu sprechen; ich glaube, daß unser Plan, zusammen zu wohnen, ein Herzenswunsch ist, von dem er nicht lassen möchte; und ich will ihm ein wenig Glück in seinem Alter geben. Andrerseits bricht mir das Herz, wenn ich an meine verpfuschten Begabungen denke, die doch zu etwas gut sein sollten …

Du aber, Bronia, nimm mit deiner ganzen Kraft die Interessen Józefs in die Hand – ich bitte dich darum … er muß unbedingt in Warschau bleiben, hier studieren und praktizieren … Wenn er in die Provinz geht, ist er verloren!


Maria Skłodowska 1890

… Mein Herz ist so verfinstert, so traurig, daß es, das fühle ich, unrecht von mir ist, mit dir von allem dem zu reden und dein Glück zu trüben. Du bist die einzige von uns allen, die hat, was man Glück nennt. Verzeihe mir, aber sieh, ich habe unter so vielem zu leiden, daß es mir schwer fällt, diesen Brief heiter abzuschließen …

Dienstag, 20. Mai

Bronia drängt und drängt und schreibt in jedem Brief, dass ich kommen soll. Aber auch sie hat nicht das nötige Geld, für eine Fahrkarte von Warschau nach Paris.

Montag, 2. Juni

Nun ist es beschlossen. Ende September werde ich meine Gouvernantenstelle bei Frau Fuchs beenden und dann noch ein Jahr bei Vater in Warschau bleiben. Er hat die Stelle in der Erziehungsanstalt aufgegeben, verdient aber durch Privatstunden dazu. Ich werde die Hochzeit meines Bruders mit vorbereiten und für Hela eine Anstellung suchen. Bronislawa Piasecka wird mich an die »Fliegende Universität« mitnehmen und endlich werden wieder Menschen um mich sein, die ähnliche Interessen und Ziele haben.

Montag, 10. November

Wieder in Warschau! Sie haben mich alle so liebevoll und herzlich empfangen und mein Herz krustet langsam auf. Zum Geburtstag hat mir mein Cousin Józef, ehemaliger Assistent von Dmitri Mendelejew, ein unglaubliches Überraschungsgeschenk gemacht. Er ist Leiter des Museums für Industrie und Landwirtschaft. Zwar kann man hier alte landwirtschaftliche Geräte, industrielle Technologien »studieren«, aber die russischen Behörden wissen nicht, dass ihr Museum Teil der »Fliegenden Universität« ist und sogar ein Laboratorium besitzt. Abends oder am Wochenende darf ich dort experimentieren! Traurig, dass alles geheim bleiben muss. Trotzdem schleiche ich nicht wie eine Verbrecherin nachts durch den Nebel der Stadt.

1891

Montag, 5. Januar

Ich bin ich noch eine Anfängerin im Labor. Wie messe ich den Schmelzpunkt, worin ist eine Verbindung lösbar, wie kann ich sie wieder auskristallisieren und von Verunreinigungen trennen? Es gibt so viel zu lernen. Wie geht man mit dem Bunsenbrenner um, wie funktioniert die Lötrohrprobe? Vieles muss ich mir selbst aneignen. Ein notwendiges Übel ist auch das Säubern von Kolben, Destillen und Reagenzgläsern. Putzen, reinigen, wie belastend fand ich diese Hausarbeit! Nun gehört sie zur Laborarbeit dazu. Manchmal bin ich verzweifelt, weil einfache Versuche nicht gelingen wollen. Selbst eine Kapillare am Bunsenbrenner ziehen, mal bricht sie ab, dann ist sie wieder viel zu dick. Aber aufgegeben habe ich noch nie!

Sonntag, 15. März

Gestern habe ich meine alte Lehrerin Fräulein Jadwiga Sikorska getroffen. Auf dem Sächsischen Platz in der Nähe des Obelisken, auf den Kazia und ich, wenn wir uns auf dem Weg zur Schule unbeobachtet fühlten, spuckten. Wie leichtsinnig und sorglos! Wenn Vater das gewusst hätte. Aber wie lang ist das her …

Fräulein Sikorska hat sich kaum verändert. Bleibt wohl ewig ein altes Fräulein. Ich befürchte, dass ich auch so werde, einsam und verbittert. Ein altes Fräulein!

Aber Sikorska kann gut zuhören und ich musste ihr erzählen, vom Gymnasium, von meinen faulen Schülern in Warschau, von den fleißigen Bauernkindern in Szczuki …

Als sie nach meinen Plänen für die Zukunft fragte, wollte ich ihr nicht die Wahrheit sagen und konnte meine Unsicherheit vor ihr schlecht verbergen. Aber die ganz große Angst vor der Zukunft habe ich nicht gezeigt. Das haben wir zeitig genug in unserer Familie mitbekommen: Nur keine Angst zeigen und wenn sie noch so groß ist!

Dienstag, 15. September, Urlaub in Zakopane

Kasimir. Ich habe immer befürchtet, ihm in Warschau wiederzubegegnen. Und nun ist es in Zakopane passiert. Gestern, am vorletzten Urlaubstag, kommt er mir auf einem Waldweg plötzlich entgegen. Ich stand wie erstarrt.

Er faselte von Freude, Liebe, Sehnsucht, Schmerz … wäre vielleicht sogar wieder auf die Knie gesunken, aber ich erwachte aus meiner Lethargie und meine Verachtung muss ihm aus meinen Augen entgegengesprungen sein, denn er wich erschrocken zurück. Ich konnte mein Zittern bekämpfen und ging an ihm vorbei, den steinigen Pfad hinauf.

Noch so eine Begegnung halte ich nicht aus. Paris könnte Lösung und Erlösung werden. Ein anderer Ausweg bleibt nicht. Paris …

Mittwoch, 23. September

An Bronia

… Jetzt, Bronia, verlange ich von Dir eine letzte Antwort. Entschließe Dich, ob Du mich wirklich bei Dir aufnehmen kannst, denn ich, ich kann jetzt kommen. Was ich für meine Ausgaben brauche, habe ich zusammengebracht. Wenn Du also, ohne Dir Entbehrungen aufzuerlegen, mich verköstigen kannst, schreib es mir. Es wäre ein großes Glück für mich … aber andrerseits will ich mich Dir nicht aufdrängen.

Da Du ein Kind erwartest, könnte ich Dir vielleicht nützlich sein. Schreibe mir auf jeden Fall. Wenn mein Kommen irgendwie möglich ist, sage es mir und sage mir auch, welche Aufnahmeprüfungen ich ablegen und bis wann ich spätestens inskribiert haben muss.

Ich bin so außer Rand und Band bei der Aussicht auf meine Abreise, daß ich Dir nichts anderes erzählen kann, ehe ich nicht Deine Antwort habe. Ich flehe Dich an, schreibe mir augenblicklich.

Ihr könnt mich unterbringen, wo Ihr wollt, ich werde Euch nicht zur Last fallen, ich verspreche, daß ich Euch weder Sorgen noch Unordnung machen werde. Ich beschwöre Dich, antworte mir, aber ganz aufrichtig!

Mittwoch, 28. Oktober

Ich schreibe im Zug nach Paris. Es rattert und rumpelt so sehr, dass ich kaum den Federhalter ruhig halten kann. Paris, Sorbonne, ich komme! Auf einem Klappstuhl, im Wagen vierter Klasse. Ich würde selbst laufen oder kriechen, nur um endlich ans Ziel meiner Wünsche zu gelangen. Mein Abschiedsschmerz ist nur ein winziges Teilchen meiner Freude.

Vater, Józef, Kazia, Bronislawa, Henriette ihr seid nicht aus der Welt, ich kann schreiben und berichten.

So oft war ich schon allein auf mich gestellt, so oft musste ich mit meiner Sehnsucht fertig werden.

Bronia ist extra nach Warschau gekommen, um mir bei den Vorbereitungen für die Abreise zu helfen, Dinge einzupacken, die hier billiger sind als in Paris. »Sind deine Dokumente in Ordnung«, hat sie gesagt, »sonst kriegst du Ärger mit der Grenzpolizei in Alexandrowa, nimm genug Proviant mit«, hat sie geraten, »die teuren Bahnhofsrestaurants wirst du dir nicht leisten können. Fast vierzig Stunden wirst du unterwegs sein. Drei Tage, drei Nächte. Nimm Wolldecken mit, es wird nachts eiskalt sein Ende Oktober …«

Sie dachte an alles, meine liebe Bronia, hat lange genug die Ma ersetzt.

Viel wichtiger als diese praktischen Ratschläge war für mich das Vorlesungsverzeichnis 1891 – 92, wo ich die Lehrpläne studieren konnte. Welche Kurse welche Professoren anbieten und was ich am Ende eines Semesters können muss für eine licence de sciences.

Der Zug fährt an farbenprächtigen Laubwäldern in Deutschland vorbei, gelb, rot, purpur, orange. Wie die Federn im Feuervogel, aus meinem alten Märchenbuch, der seinem Besitzer großes Unglück, aber auch großes Glück bringen konnte.

Ich werde eine finden, und sie wird mir Glück bringen. Ich spüre die Kraft und das Können dazu in mir. Auch aus bunten Blättern lassen sich Federn zaubern. Man muss nur Fantasie haben und das Unmögliche wollen.

Sorbonne – wie wirst du mich empfangen? In einem Monat bin ich 24, jung und aufnahmefähig für alles.

Aber viel zu alt für Marek. Doch er reist mit nach Paris und schaut neugierig aus meinem Rucksack in die dunkle Nacht.



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