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Kommt alles anders?

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Ende Oktober, ich war spät abends von der Arbeit zurück und hatte mich erschöpft hingelegt, klingelte nachts das Telefon. Meine Mutter teilte mir aufgeregt mit, dass mein Vater auf der Toilette gefallen wäre und vor Schmerzen geschrien hätte.

Zum Glück waren meine Eltern beide bis zum Ende geistig fit und in Notsituationen praktisch veranlagt. Auf Geheiß meines Vaters hatte sie dem Notarzt Bescheid gesagt, notwendige Sachen für meinen Vater in einen kleinen Koffer gepackt und war mit ihm zusammen im Rettungswagen in das Krankenhaus gefahren, nicht ohne vorher noch ihrem Schwiegersohn und der Nachbarin Bescheid zu sagen. Mit diesem Anruf war ich hellwach, raffte das Nötigste zusammen und machte mich auf den Weg ins Krankenhaus. Zum Glück war es Freitag und ich musste am nächsten Tag nicht arbeiten! Nach gut einstündiger nächtlicher Fahrt kam ich im Krankenhaus an und fand meine Mutter auf dem Krankenhausflur sitzend vor. Mein Vater hatte sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen, wurde sofort operiert. Nach kurzem Informationsaustausch mit dem Krankenhauspersonal nahm ich sozusagen meine vollkommen aufgelöste Mutter an die Hand und fuhr mit ihr gemeinsam in mein Elternhaus. Die Nacht war nur noch kurz! Ich lag in meinem alten Kinderzimmer im Bett, das gerade noch mein Vater benutzt hatte!

Die Nacht war wirklich kurz!! Meine Mutter war um 5 Uhr schon wieder auf den Beinen. Das war keine senile Bettflucht, sondern ihr, beziehungsweise auch mein ganzes Leben lang schon so. Sie konnte nur wenig Schlaf finden, zu sehr drückten sie die Sorgen um meinen Vater und sicher auch um ihre Zukunft. Und das alles trotz der Schlaftablette, die sie nun ausnahmsweise in doppelter Menge geschluckt hatte!

Leider bin ich ein Mensch, der sehr viel Schlaf braucht und gerne morgens auch einmal ein bisschen länger im Bett bleibt, gerade an arbeitsfreien Wochenenden. Doch daran war nun überhaupt nicht zu denken. Meine Mutter weckte mich zwar nicht, rumorte aber im ganzen Haus herum. Als ich mich endlich auch aus dem Bett gequält hatte, war der Tisch schon fürs gemeinsame Frühstück gedeckt. Ihr Mantel hing über dem Stuhl, die Handtasche lag bereit, auch das Brötchengeld lag schon abgezählt auf dem Tisch. Mit der Bemerkung, dass sie schon fast ein Taxi gerufen hätte, zog meine Mutter ihren Mantel an, nahm Handtasche und Geld, öffnete die Garage. Ich hatte mich währenddessen auch in Windeseile fertig gemacht, den Autoschlüssel geschnappt und war nun bereit zum Gehen beziehungsweise Fahren. Im Auto gab meine Mutter Anweisungen wie zu fahren sei, wo ich zu parken hätte, nämlich genau vor der Eingangstür und öffnete schon mal den Sicherheitsgurt, noch bevor ich überhaupt angehalten hatte. Während ich etwas unglücklich mit meinem Wagen nun genau vor der Eingangstür der Tankstelle, denn nur hier gab es nach Meinung meiner Eltern wirklich gute Brötchen, auf ihre Rückkehr wartete, hielt sie ein kleines Pläuschen mit der Inhaberin, erzählte ihr ein wenig detaillierter das Unfalldilemma meines Vaters. All das sah ich anhand der Gestikulationen. Die bösen Blicke der aus dem Shop hinauskommenden Leute, denen ich mit dem Auto deutlich den Weg versperrte, ignorierte ich standhaft. Endlich wieder im Auto angekommen, forderte meine Mutter mich ungeduldig auf nun aber mal schnell loszufahren. Während der Fahrt unterhielt sie mich damit, wie nett und einfühlsam die Dame an der Tankstelle sei.

Noch nicht auf der Auffahrt wurde der Gurt schon wieder gelöst und ich dem erbärmlichen Piepen des Anschnallsignals überlassen. Ich denke, meine Mutter hörte diesen dank ihrer zunehmenden Schwerhörigkeit nicht mehr wirklich. Meine Mutter sprang aus dem Auto, ich hinterher. Die Tür wurde geöffnet, noch im Mantel der vorbereitete Kaffee angestellt. Ich war bemüht mich an den Vorkehrungen meiner Mutter zu beteiligen, konzentrierte mich auf die für sie nächsten wichtigen Schritte, um sie wenigstens ein wenig zu entlasten. Schnell riss ich also den eben fertig gebrühten Kaffee aus dem Automaten, goss ihn in eine andere dafür vorgesehene Kanne, schraubte den Deckel auf und konnte gerade noch rechtzeitig vor meiner Mutter den Kaffeeautomaten für den Nachmittagskaffee präparieren. Dabei hätte ich doch beinahe vergessen, den Schalter der Kaffeemaschine auszustellen.

Ich brachte den fertigen Kaffee an seinen angestammten Platz, allerdings nicht bevor ich meiner Mutter und mir Kaffee in die Tasse eingeschenkt hatte. Mit einem unauffälligen schnellen Blick über den gedeckten Tisch stellte ich fest, dass meine Mutter wie immer an alles gedacht hatte. Ja, leider, wie in Zeiten meiner Kindheit lagen die schon mit Butter beschmierten Brötchenhälften auf meinem Frühstücksteller. Für mich kaum zu ertragen, waren die Brötchenhälften sehr ungleich geschnitten, hauchdünn das Unterteil, dafür um so dicker das Oberteil. Ich hasse das, schluckte aber meinen Ärger ohne Kommentar herunter.

Meine Mutter hatte sich indessen auch hingesetzt, präparierte nun ihre Brötchenhälften mit jeweils Marmelade und Wurst, dann kamen Dosenmilch und Zucker in den Kaffee. Besorgt fragte ich sie, ob denn alles in Ordnung wäre. Beim gemeinsamen Frühstück wurde nochmals der Sturz meines Vaters am letzten Abend erörtert. Dann ging es für meine Mutter um eher praktische Dinge. Mein Vater bräuchte noch einen neuen Ersatzschlafanzug, seine Batterien fürs Hörgerät müssten mit ins Krankenhaus, genauso der Rasierapparat. Zwischendurch kamen ein paar Tränen, ob des weiteren Schicksals. Da meine Mutter aufgrund eines Defekts in der Speiseröhre, wie schon erwähnt, nur noch sehr langsam essen konnte, immer Wasser dazu trinken musste, hatte ich ein wenig Zeit zu entspannen und alles Weitere zu überdenken. Klar war, dass ich noch eine weitere Nacht bei meiner Mutter bleiben würde. Immer wieder, wenn auch kurz, machten sich düstere Gedanken bei meiner Mutter breit. Das hätte doch sowieso alles keinen Sinn. Wer wüsste, ob mein Vater, ihr Mann, jemals wieder aus dem Krankenhaus käme! Also versuchte ich sie so gut es ging zu beschwichtigen und aufzumuntern.

Währenddessen hatte meine Mutter ihr halbes Brötchen aufgegessen und wurde wieder unruhig, schob schon einmal einige Frühstücksutensilien an ihre Seite. Nun hieß es auch für mich aufstehen, möglichst viele Sachen greifen und wieder an ihren richtigen Platz bringen. Trotz ihres hohen Alters war meine Mutter in diesen Dingen noch verdammt schnell. Das Frühstücksgeschirr wurde schnell mit kaltem Wasser abgewaschen und abgetrocknet. Das feuchte Geschirrhandtuch wurde danach wie immer sorgfältig auf der Nachtstromspeicherheizung zum Trocknen ausgebreitet. Dabei schwor ich mir innerlich, in einer ruhigen Minute, wenn meine Mutter schlief, alles mit Spülmittel und kochendem Wasser nachzuarbeiten, um ein Mindestmaß an Hygiene für mich zu sichern.

Nun hieß es aber wirklich rein ins Auto, vorher die Sachen für meinen Vater, die von meiner Mutter schon sorgfältig zurechtgelegt waren, in den Kofferraum zu packen, meiner Mutter die Autotür aufzuhalten, ihr beim Anschnallen zu helfen und zügig loszufahren, bevor meine Mutter ungeduldig einen Spruch loslassen konnte.

Am Krankenhaus angekommen dirigierte mich meine Mutter gleich auf die Auffahrt, da sie ja nicht mehr so gut laufen könnte. Energischen Schrittes ging sie ins Krankenhaus. Meine Aufgabe lag darin, einen Parkplatz zu suchen und mit den Sachen für meinen Vater hinterher zu stiefeln. Sie hatte mir vorher noch Station, Zimmernummer und den Weg dorthin genannt.

Im Krankenzimmer angekommen saß meine Mutter schon mit sorgenvollem Gesicht am Bett meines Vaters. Er war ja in der Nacht noch wegen seines Oberschenkelhalsbruches operiert worden. Entsprechend schläfrig lag er nun im Bett. Da es keine Kommunikation mit meinem Vater geben konnte, außer, dass er signalisierte, alles sei gut, machten wir uns schon kurze Zeit später auf zum Einkaufen. Vorher allerdings musste meine Mutter kurz mit der Krankenschwester sprechen und ihr wegen der besseren Pflege noch eine Kleinigkeit zustecken.

Ich huschte schon einmal davon, um das Auto rechtzeitig am Eingang für meine Mutter vorzufahren. Erst einmal ging es zum Bettengeschäft. Hier wurde für meinen Vater ein Schlafanzug ausgewählt, nicht ohne der Verkäuferin vom Unfall meines Vaters zu erzählen. Ich musste mir unbedingt ein Nachthemd aussuchen und meine Mutter fand auch noch Nachtwäsche. Mittlerweile war sie dabei zu erzählen, dass sie selbst einmal in solch einem Geschäft gelernt und dann gearbeitet hätte.

Die Kartoffeln für das Mittagessen waren schon morgens vorbereitet worden. Kuchen zum Nachmittagskaffee musste allerdings neu besorgt werden, bei der gewohnten Bäckerei.

Als alles minutiös geplant und auf das exakteste erledigt war, ging es schnell nach Hause, damit das Mittagessen rechtzeitig eingenommen werden konnte. Der Mittagstisch war auch schon seit morgens früh gedeckt!

Nach dem Essen endlich hoffte ich auf eine kleine Erholungspause. Denn meine Mutter hielt wie schon immer jeden Mittag für ca. 1 Stunde Mittagsruhe.

Allerdings musste sie nun doch noch beim Abwasch mithelfen und alles genau überwachen. Zum Glück war der Tisch für den Nachmittagskaffee auch schon seit morgens früh gedeckt.

Zwischendurch wurden weiter die Freunde genauestens über den tragischen Unfall meines Vaters informiert. Und immer wieder kamen leicht depressive Schübe zutage, dass nun doch alles keinen Sinn mehr hätte und mein Vater sicherlich bald das Zeitliche segnen würde.

In diesem Zusammenhang vergaß meine Mutter nicht, mir gegenüber zu erwähnen, dass sie an einem geheimen Ort genügend Tabletten gesammelt und zerkleinert hätte, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Allein, ohne meinen Vater könnte sie wirklich nicht existieren!

Leider war es nach einer guten halben Stunde mit der Mittagsruhe meiner Mutter vorbei. – Der Kaffeeautomat wurde angeschmissen, der Kuchen auf den Tellern verteilt. Meine Mutter wollte ihre Lieblingsserien im Fernsehen beim Kaffee sehen. Leider legte sie schon immer sehr viel Wert darauf, dass ich daran aktiv teilnehme, also wieder keine Auszeit. Dann war es soweit: Schnell alles abräumen, abwaschen, alles fürs Abendbrot hinstellen, Mantel überziehen, Handtasche mitnehmen. Bei all dem versuchte ich erneut so gut es ging sie zu unterstützen. Los ging die erneute Fahrt zum Krankenhaus.

Mein Vater war nun deutlich wacher, hatte auch schon Kaffee getrunken und ein kleines Stück Kuchen verzehrt. Das Essen war gut! Allerdings teilte er meiner Mutter voller Entsetzen mit, dass der Dienst habende Arzt ihn gefragt hätte, aus welchem Altersheim er komme. Und das in seinem Alter mit Ende achtzig und bei seiner geistigen Fitness. Das war nun wirklich die Höhe. Meine Mutter konnte ihm nur zustimmen.

Zu Hause wurde wieder mit Gott und der Welt unter anderem auch mit Australien telefoniert und unser geplanter Aufenthalt von meiner Mutter schon mal nicht nur infrage gestellt, sondern erst einmal abgesagt. – Ich allerdings hielt die ganzen Flugbuchungen erst einmal aufrecht. Nach Auskunft der Ärzte sollte mein Vater zum Reisezeitpunkt wieder fit sein. Meine Mutter jedoch jammerte mir immer wieder vor wie schrecklich alles sei und dass es das Beste wäre, wenn sie sich umbrächte. Trotz regelmäßiger psychotherapeutischer Sitzungen und Medikamente konnte meine Mutter nicht allein bleiben, oder wenn, dann nur für einen kurzen Zeitraum.

Zum Glück konnte ich mir Urlaub nehmen und war nun Tag und Nacht für meine Eltern da. – Es war Herbst, die Dahlien mussten dringend aus der Erde. Also machte ich mich mit meiner Mutter an die schwere Gartenarbeit. Zum Glück nahm es meine Mutter gelassen hin, dass mir dabei die Grabegabel abbrach. Das waren die Alterssanftmut und das Verständnis für solch missliches Ungeschick, die sich bei ihr im Laufe der letzten Jahre für mich entlastender Weise eingestellt hatten. – Es wurde halt eine neue Grabegabel gekauft! Aber nicht nur im Garten war etwas zu tun, meine Mutter war immer beschäftigt und ich ließ mich mit einbinden. Zwei Mal am Tag fuhren wir außerdem ins Krankenhaus. Meinem Vater ging es immer besser, sein Humor kehrte zurück.

Wie bei Oberschenkelhalsbrüchen üblich wurde mein Vater nach kurzem Krankenhausaufenthalt direkt von dort aus in die Reha nach Bad Bevensen verlegt. Und ich bereitete meine Mutter jeden Tag mehr darauf vor, dass ich in den Zeiten der Reha nur am Wochenende bei ihr sein könnte. Die Arbeit wartete, die Kollegen hatten auch nur begrenzt Verständnis für meine Situation!

Jeden Morgen rief meine Mutter bei meinem Vater im Krankenhaus an, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Jeden Morgen musste sie mindestens 3 Mal in ungeheurer Lautstärke ihre Frage nach seinem Befinden wiederholen, bis er es trotz Hörgeräten schwer hörend verstanden hatte. Mein Vater fügte dann laut und deutlich noch die neuesten Informationen aus dem Krankenhaus und vom Befinden seines Bettnachbarn hinzu. Dann war das Gespräch, das ich selbst ein Stockwerk höher in der hintersten Ecke aufgrund der Lautstärke verstehen konnte, beendet. Jeden Abend erkundigte sich meine Mutter darüber hinaus bei der Nachtschwester wegen eventuell aufgetretener Auffälligkeiten und Veränderungen. So war der Informationsfluss weitgehend gesichert, alles unter Kontrolle!

An diesem Freitag morgens früh nun erfuhr meine Mutter davon, dass mein Vater per Krankentransport nach Bad Bevensen kommen sollte. Also musste unser Frühstück noch etwas schneller eingenommen werden, um uns rechtzeitig von ihm verabschieden zu können. Ansonsten war es wie immer das gleiche Ritual, dem ich mich als folgsame Tochter ohne Murren ergab.

Im Krankenhaus angekommen fanden wir meinen Vater schon fertig angezogen wartend in seinem Zimmer vor. – Es wurde ein kurzer Abschied, da ja alles nach überstürzter Abreise sprich schnellem Krankentransport aussah.

Wie üblich erledigten wir die anstehenden Einkäufe dank der Organisation meiner Mutter zügig, so dass wir tatsächlich schon um 11.15 Uhr beim Mittagessen saßen. Das verhieß doch eine vielleicht etwas längere Mittagspause. Ich betete inständig. – Aber leider wurde mein Gebet etwas anders interpretiert.

Um 12 Uhr klingelte das Telefon. Mein Vater war dran und erzählte meiner Mutter einerseits wehleidig andererseits sehr verärgert, dass er immer noch angezogen und abreisebereit in seinem Zimmer im Krankenhaus säße. Zum Glück brauchte mir meine Mutter ja eigentlich keine Gesprächsinhalte mitteilen, da das Telefon sowieso immer auf laut gestellt wurde. Dankenswerterweise berichtete mir meine Mutter trotzdem jedes Mal, was im Telefonat besprochen wurde. Nun ging alles wieder ziemlich schnell. Meine Mutter hatte schon ihren Mantel von der Garderobe gerissen, die Stiefel wollten angezogen werden, die Handtasche lag auch wieder bereit. Also riss ich mich aus meiner aufgekommenen Mittagslethargie und kam gerade noch rechtzeitig, um meiner Mutter in den Mantel zu helfen. Selbst zog ich mich in Windeseile an und schnappte den Autoschlüssel, als meine Mutter schon fast das Haus von außen zugeschlossen hatte. Ich stürzte vorwärts Richtung Auto, damit ich ihr die Beifahrertür noch rechtzeitig aufhalten konnte. Während der folgenden erneuten Fahrt zum Krankenhaus kam meine Mutter nun richtig in Fahrt. Das war ja wohl das Allerletzte einen alten Mann so lange dort angezogen warten zu lassen. Ich konnte ihr nur zustimmen. Ds war einfach nicht in Ordnung.

Ich ließ sie wie gewohnt auf der Auffahrt für Krankentransporte und Taxen aussteigen und sah sie noch mit fliegendem Mantel den Flur entlang tippeln. Als ich endlich nach langer Parkplatzsuche im Zimmer eintrudelte, hatte meine Mutter jeden, den sie gesehen hatte, von dieser unverschämten Warterei in Kenntnis gesetzt. Sie würde nicht eher gehen, bevor endlich der Transport begänne. Mein Vater saß da wie ein Häufchen Elend, ihm war kalt trotz warmer Jacke und er war wahrscheinlich heilfroh, dass meine Mutter nun ordentlich Rabatz machte. Wenig später tat sich dann etwas, Gott sei Dank.

Es ging also zurück in mein Elternhaus, der Kaffee wurde angeschmissen, der Fernseher eingeschaltet, der Tisch war für den Nachmittag ja zum Glück schon seit morgens früh gedeckt. Aber das Wichtigste für meine Mutter war nun das Telefon, um alle Verwandten und Freunde an dieser Ungeheuerlichkeit teilnehmen zu lassen und natürlich an ihrem Triumph der raschen positiven Wende teilhaben zu lassen.

Meine Mutter hatte sich vorsorglich die Nummer der Reha-Einrichtung geben lassen. – Am späten Nachmittag, im Fernsehen kam auch nicht so richtig etwas, war es dann soweit. Meine Mutter rief in der Klinik in Bad Bevensen an und wurde tatsächlich zu meinem Vater aufs Zimmer durchgestellt, der schon mal eine funktionierende telefonische Festnetzverbindung organisiert hatte, sozusagen mit letzter Kraft. Denn als er nun die Stimme meiner Mutter hörte, weinte er wie ein kleines Kind, jammerte, dass er nicht mehr leben wolle, er wäre doch sowieso zu nichts mehr zu gebrauchen, könnte ja noch nicht einmal vernünftig gehen. Er könne nun endlich mit seinen fast 90 Jahren die Depressionen meiner Mutter verstehen. Das wäre ja nicht auszuhalten! - Ich durfte wieder einmal alles live miterleben. Das Telefon war wie immer auf laut gestellt.

Meine Mutter war nun vollkommen aus dem Häuschen. So etwas war ihr in ihren über 60 Ehejahren ja noch gar nicht begegnet. Was war zu tun, um meinen Vater zu retten?!? – Natürlich!!! Sie würde schon irgendwie jetzt am Wochenende zu ihm gelangen und ihn wieder aufbauen. Das hieß stillschweigend für mich übersetzt: Wir beide müssen sofort nach Bad Bevensen aufbrechen. Meine Mutter war quasi schon auf der Treppe, um ihren kleinen Koffer zu packen.

Mit viel ruhiger Ansprache und unter Einsatz sämtlicher zur Verfügung stehender Redemittel und Argumente konnte ich sie davon überzeugen, dass er die kommende Nacht allein überleben würde. Wir könnten ja früh am nächsten Morgen aufbrechen. Widerwillig ließ sich meine Mutter darauf ein. Letztendlich war ihr klar, dass sie allein mit dem Zug auch nicht so schnell dorthin gelangen würde. Und dann hieß es ja, auch für sich selbst für eine Unterkunft zu sorgen. Na ja, und dafür war dann ja ihre Tochter, also ich, doch ganz gut zu gebrauchen.

So buchte ich fürs Wochenende eine Übernachtung im Doppelzimmer für uns zwei in einer kleinen Pension in der Nähe der Reha-Klinik. Wir besprachen, was alles mitzunehmen sei und wann wir am Morgen aufbrechen wollten. – Und einen Augenblick später war meine Mutter am Telefon. Sie informierte meinen Vater über unseren nahenden Besuch, der wiederum mit Tränen erstickter Stimme voller Dankbarkeit auf unseren kurzfristigen Besuch reagierte. Im Anschluss mussten alle Verwandten und Freunde durch meine Mutter wieder telefonisch über den jetzigen Stand der Dinge informiert werden. – So verzögerte sich sogar die Einnahme des frühen Abendbrots. Es war einfach so viel zu bedenken und zu erledigen! – Von unserer Australienreise war keine Rede mehr, nur Worte zu dieser dramatischen schicksalhaften Wende durch den nächtlichen Toilettensturz meines Vaters.

Nach stundenlanger Autofahrt kamen wir am nächsten Tag bei meinem Vater in der Klinik an. Er war zusammen mit einem bettlägerigen todkranken Patienten auf dem Zimmer. Als er uns sah, kamen ihm die Tränen. In unendlicher Dankbarkeit strich er meiner Mutter, die sich sofort auf seine Bettkante gesetzt hatte, immer wieder über die Wangen, drückte sie zärtlich. Ich verdrückte mich unter einem Vorwand. Die Beiden sollten sich ungestört austauschen dürfen. Währenddessen schaute ich mich in der riesigen Klinik um. – Als mein Vater Mittagessen bekam, machten meine Mutter und ich uns auf zu unserer kleinen Pension, packten kurz unsere wenigen Sachen aus, aßen selbst eine Kleinigkeit. Anschließend brachte ich meine Mutter wieder in die Klinik. Und, oh Wunder, mein Vater war emotional schon wesentlich stabiler, hatte sich angezogen und wollte mit dem Rollator mit uns in der Klinik im Cafe ein Stückchen Kuchen essen. – Dann ließ ich meine Eltern wieder allein, schaute mir die Möglichkeiten zur Wellness genauer an. Die Preise waren moderat. Also nahm ich meine Badesachen und genoss einige Stunden der vollkommenen Entspannung mit Schwimmen, Saunieren, ruhen. – Herrlich!!!

So gestärkt holte ich meine Mutter aus der Klinik ab, wir aßen eine Kleinigkeit in der Pension, um dann auch frühzeitig schlafen zu gehen. Meine Mutter freute sich wie ein Kind darüber, dass es meinem Vater schon psychisch so viel besser ging. Auch die von mir ausgewählte Pension gefiel ihr ausnehmend gut. Der Wirtin erzählte sie etliches Intimes sehr ausführlich von ihrer und unserer gemeinsamen Lebensgeschichte. Aber solche Peinlichkeiten war ich gewohnt und ging mit einem freundlichen unverbindlichen Lächeln darüber hinweg.

Am nächsten Morgen nach unserem ausgiebigen leckeren Frühstück wartete mein Vater schon vollkommen angezogen auf uns. Er wollte mit uns durch den Klinikgang zur Wandelhalle im Kurpark! – Das war nun zum Glück wieder mein Vater, so wie ich ihn kannte. Nun wurde auch wieder über die in 5 Monaten geplante Australienreise gesprochen. Mein Vater war noch nicht wirklich zuversichtlich, meine Mutter wie immer eher negativ skeptisch.

Auf der Rückfahrt versuchte ich meine Mutter weiter positiv aufzubauen. Das war immer und in diesem Fall auch wieder ein schwieriges Unterfangen. Denn ihr Augenmerk richtete sich nun schon auf die kommenden Tage, an denen ich wegen meiner leider auch notwendigen Arbeitnehmertätigkeit weg war und sie allein im Haus sein sollte. Alles, was Depressionen verstärken konnte, wurde hervorgeholt, immer von mir mit positiven Argumenten relativiert. Tja, es heißt ja, je nach Sicht, ist das Glas entweder halb voll oder halb leer.

Zurück im Haus meiner Eltern wurde rasch Abendbrot gemacht, wie üblich der Tatort gesehen, der Frühstückstisch für den nächsten Morgen gedeckt und, nach einem kurzen Telefonat mit meinem Vater die Schlafenszeit eingeläutet. Das Licht wurde erst nach dem üblichen Gutenacht-Prozedere, nämlich der Reflexion des Tagesgeschehens aus Sicht meiner Mutter, einem lieben Dankeschön an mich als Tochter und zum Abschluss einem Streicheln der Wange, gelöscht.

Sehr früh am nächsten Morgen, meine Mutter war allerdings schon lange geschäftig in der Küche am Werkeln, hatte wie üblich mein Brötchen geschmiert und den Kaffee für mich eingegossen, leider war er deshalb auch eher kalt als warm, machte ich mich auf den langen Weg zur Arbeit, nicht ohne von meiner Mutter mit allen guten Wünschen, Dankesworten und „Fahr Vorsichtig“, „Ruf an, wenn du da bist“, verabschiedet worden zu sein. Im Rückspiegel erblickte ich noch bis zum Abbiegen ihre kleine schmale Gestalt in der beleuchteten Haustür, die immer noch winkte. – Sie wirkte so unendlich verloren und dabei doch kraftvoll.

Jeden Morgen und jeden Abend meldete ich mich in dieser Woche bei meiner Mutter. Und am Freitag nach der Arbeit ging es schnurstracks zu meinem Elternhaus, meine Mutter einpacken und weiter ab nach Bad Bevensen. – Meinem Vater ging es stetig besser, seine Hoffnung stieg, doch noch nach Australien und nach Neuseeland zu kommen mit jedem Besuchswochenende steil an. 4 Wochen ging das so. Kurz vor Weihnachten dann war es soweit. Nach der Arbeit holte ich meine inzwischen aus Australien zurück gekehrte Tochter ab. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg, meinen Vater aus Bad Bevensen abzuholen, um mit ihm gemeinsam weiter zu meinem Elternhaus zu fahren. Meine Mutter erwartete uns schon sehnsüchtig mit gedecktem Kaffeetisch, alles perfekt vorbereitet. Das war eine Freude! Es gab so viel zu erzählen. Mein Vater war voll guten Mutes, meine Mutter zwar immer noch skeptisch, was die große Reise anging, erst einmal aber doch froh, dass mein Vater wieder zu Hause war. Alles schien sich zum Guten zu wenden. Wir verabredeten, gemeinsam Heiligabend zu feiern. Ich wollte den Gänsebraten, den mein Vater so unendlich liebte, mitbringen, meine Tochter sollte auch mit dabei sein.

Natürlich wurde weiterhin jeden Abend telefoniert. Mit meinem Vater und seinen Gehkünsten ging es immer ein Stückchen mehr aufwärts. So glaubten wir alle letztendlich doch mit viel Vertrauen in die Zukunft, dass wir die geplante Australienreise im März antreten könnten. Erst einmal war ein wenig Entwarnung angesagt.

Weihnachten hatte sich der Zustand meines Vaters weiter gebessert. Er bekam einen weiteren Reiseführer für Neuseeland geschenkt. Meine Mutter, die wie immer wöchentlich längere Telefonate mit ihrer Freundin in Australien führte, sprach auch schon häufiger davon, dass es mit dem geplanten Besuch nun vielleicht doch klappen würde. Es wurden ihrerseits nun Befürchtungen geäußert, dass ihrer Freundin unser Besuch eher zuviel werden könnte. Aber es ginge natürlich auf keinen Fall, dass wir uns alle in ein Hotel am Ort einquartieren. Und ihre Freundin Asta zeigte sich auch sofort äußerst beleidigt, wenn meine Mutter Anspielungen dahingehend machte. Ich erwog allerdings zu diesem Zeitpunkt ernsthaft mir dort ein Hotelzimmer zu nehmen, einfach um wenigstens einige Tage mehr für mich zu haben.

Lustige Stolpersteine

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