Читать книгу Der Landdoktor Classic 35 – Arztroman - Christine von Bergen - Страница 3
Оглавление»Weißt du, wer uns geschrieben hat?«, fragte Ulrike Brunner ihren Mann beim Abendessen.
Der Landarzt hob die graumelierten Brauen. »Nein.«
Ulrikes blaue Augen glitzerten geheimnisvoll. »Sebastian.«
»Das gibt es doch nicht!«, rief Matthias erstaunt aus. »Nach so vielen Jahren?«
»Ja, nach so vielen Jahren«, erwiderte sein Lockenköpfle mit versonnenem Lächeln. »Ich habe mich riesig über sein Lebenszeichen gefreut. Und denk dir. Er kommt nach Ruhweiler.« Verzückt verdrehte sie die Augen. »Sebastian Kerner, der inzwischen international bekannte Künstler. Heute Morgen noch habe ich eine Besprechung über seine derzeitige Ausstellung in Hamburg gelesen. Er fragt an, ob er uns besuchen kann.«
»Klar kann er das«, sagte der Landdoktor sofort. »Vielleicht sollten wir auch Dorothee und ihren Mann einladen. Und Thorsten. Unsere Kinder würden sich bestimmt auch freuen, Sebastian wiederzusehen.«
»Thorsten wird nicht kommen können. Er ist noch zwei Wochen lang auf Tournee, aber Dorothee und Jan kommen bestimmt.«
Matthias fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Hat Sebastian etwas dazu geschrieben, warum er sich acht Jahre lang nicht mehr hier hat blicken lassen?«
Statt einer Antwort sah seine Frau ihn drei Lidschläge lang bedeutungsvoll an. Dann fragte sie: »Ahnen wir nicht beide den Grund?«
»Ich weiß nicht. Wir könnten in unserer Vermutung auch völlig falsch liegen.«
Ulrike hob die Schultern »Möglich. Auf jeden Fall lag es bestimmt auch daran, dass er in den vergangenen Jahren keine Zeit dafür gefunden hat. Seine Eltern leben nicht mehr, damit hat er auch keine enge Bindung mehr hierher. Außerdem wurde er über Nacht berühmt, was ja sehr selten ist in dieser Branche. Eine Ausstellung jagte die andere, wie wir in der Presse verfolgt haben. London, New York, ja sogar Japan, wo er auch zeitweise gelebt hat.«
Matthias lächelte sein Lockenköpfle an. »Wie dem auch sei. Ich freue mich auf ein Wiedersehen.« Er schmunzelte in sich hinein. »Ein so bekannter Maler in unserem bescheidenen Heim … Diese Vorstellung gefällt mir. Ich rufe morgen unsere Tochter an. Übrigens …«, fiel ihm da ein. »Ich habe auch eine Neuigkeit für dich. Heute hat mir eine Patientin erzählt, dass Michaela wieder da ist. Sie will sich hier bei uns im Tal als Hebamme selbstständig machen.«
Ulrike hob ihr Glas. »Darauf stoßen wir an. Diese Neuigkeiten versprechen spannend zu werden.«
*
»Hallo, Herr Bach«, begrüßte Schwester Gertrud am nächsten Morgen in kühlem Ton den großen sonnenbankgebräunten Mann im Nadelstreifenanzug. Dem dunkelhaarigen Mädchen an seiner Seite schenkte sie ein warmherziges Lächeln. »Na, mein Schatz, wie geht es dir denn heute?«
Bevor die Achtjährige antworten konnte, sagte Philip Bach in der gehetzten Art, die jeder im Ruhweiler Tal kannte: »Sie hatte heute Morgen wieder einen Anfall. Der Doktor soll sie noch einmal untersuchen. Ich kann leider nicht warten. Meine Schwiegermutter kommt gleich und holt sie wieder ab. Ich muss zum Flughafen.«
»Wohin geht’s denn diese Woche?«, erkundigte sich Schwester Gertrud spitz.
Sie machte keinen Hehl aus ihrer Antipathie, die sie dem Geschäftsmann entgegenbrachte.
»Nach Singapur«, lautete die knappe Antwort.
»Na dann, guten Flug«, erwiderte die altgediente Sprechstundenhilfe der Landarztpraxis trocken und wandte sich an die Kleine, die mit ihren großen dunklen Augen zu ihr hoch sah.
»Mach’s gut«, sagte Philip Bach zu dem Kind, strich ihm ungelenk über den Kopf und verließ dann mit einem »Ade« den Praxisvorraum.
Schwester Gertrud atmete tief durch und kam hinter der Rezeption hervor. Sie streckte Patricia die Hand entgegen, die diese vertrauensvoll ergriff.
»Weißt du was?« Sie schenkte dem Mädchen ein liebevolles Lächeln. »Wir beide schauen mal nach, ob der Doktor Zeit für dich hat. Normalerweise geht es hier ja der Reihe nach, aber bei dir mache ich jetzt eine Ausnahme«, flüsterte sie ihrer kleinen Patientin zu. »Damit du nicht so lange warten musst. Außerdem bist du ja ein Notfall, wenn du heute Morgen wieder einen Anfall hattest.«
»Omi wollte nicht, dass mein Vater mich zu Ihnen bringt, aber er hat sich einfach ihr gegenüber durchgesetzt«, vertraute Patricia ihr an. »Omi kennt meine Anfälle und weiß, was sie dann tun muss. Und ich weiß es auch«, fügte Patricia mit kindlicher Entschlossenheit hinzu, während die beiden Hand in Hand den langen Gang zum Sprechzimmer hinunter gingen. »Mein Vater sagte, dass wäre er mir schuldig. Wie hat er das gemeint?«
Idiot, sagte sich Gertrud im Stillen. Er sollte besser mal seiner Tochter ein bisschen Zeit widmen, statt sie hier einfach abzuladen.
»Erwachsene reden manchmal dummes Zeug«, erwiderte sie rasch, bevor sie an die Sprechzimmertür klopfte.
*
Während Dr. Matthias Brunner mit der Kassenärztlichen Vereinigung telefonierte, hatte er Philip Bach und dessen Tochter aus dem Fenster des Sprechzimmers ankommen sehen und auch, dass der Unternehmer nur eine Minute später in seinem weißen Porsche wieder gefahren war. Voller Unverständnis hatte er den Kopf geschüttelt. Armes Kind …
Als das Mädchen jetzt vor ihm stand, ließ er sich von dem Mitgefühl, das er für die Kleine empfand, nichts anmerken.
»Grüß dich, Patricia«, sagte er fröhlich und strich ihr über die dunklen Locken.
Er ahnte, dass sie wieder einen neuen Anfall gehabt hatte. Seit ihrem zweiten Lebensjahr litt sie unter allergischem Asthma, dessen Ursache eine Pollenallergie war. Seit drei Jahren jedoch, seit dem Tod ihrer Mutter, hatten sich ihre Anfälle deutlich vermehrt, was psychisch bedingt war. Patricia litt sehr unter dem Verlust. Die geröteten Augen seiner kleinen Patientin verrieten ihm auch heute wieder, dass sie eine schlechte Nacht gehabt haben musste. Sie weinte oft im Schlaf und rief nach ihrer Mutter. Wie konnte er der Kleinen helfen außer mit Medikamenten und Atemtechnikübungen, die die Anfälle verkürzten und erleichterten? Wie gern hätte er ihre Lebenssituation verändert, genauso wie ihre Großmutter. Doch mehr als Liebe konnte Elisabeth Söntker ihrer Enkelin auch nicht geben. Und diese konnte die Liebe von Mutter und Vater nicht ersetzen.
Noch während ihm diese Gedanken in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf gingen, wurden Schritte auf dem Gang laut. Dann erschien eine blonde sportlich wirkende Frau mit klaren Gesichtszügen in der immer noch offen stehenden Sprechzimmertür.
»Entschuldigen Sie bitte, Herr Doktor, mein Auto sprang nicht an.« Sie trat auf Patricia zu und legte beschützend den Arm um deren schmale Schultern. »Ich wollte euch sofort hinterher fahren, nachdem Philip …« Sie verstummte, schenkte dem Kind ein zärtliches Lächeln und sah dann Matthias an. Dabei verdrehte sie sichtlich genervt die Augen. »Mein Schwiegersohn meinte, sich kümmern zu müssen«, fügte sie mit beredtem Blick hinzu.
»Das habe ich mir schon gedacht«, erwiderte Schwester Gertrud. »Er würde sich besser mal anders kümmern.«
»Du kennst ihn ja …« Elisabeth lächelte verzagt. Mehr sagte sie nicht.
Die beiden Frauen kannten sich seit langem und verstanden sich.
»Was machen wir jetzt mit dir?«, fragte Matthias. Dabei zwinkerte er seiner kleinen Patientin verschwörerisch zu.
»Ich möchte mit Omi wieder nach Hause« antwortete Patricia. »Es geht mir doch wieder besser.«
Der Landarzt nickte. »Dann machen wir das auch so. Was habt ihr zwei denn heute vor?«
»Wir fahren nach Freiburg in den Zoo«, erzählte Elisabeth.
»Und danach gehen wir Eis essen«, fügte Patricia jetzt schon wieder mit freudig glänzenden Augen hinzu.
»Toll, ihr macht mich ja richtig neidisch«, sagte Matthias und lachte.
Inzwischen standen die vier auf dem Gang, der Behandlungszimmer und Rezeption miteinander verband. Der Landarzt wollte sich gerade von seiner kleinen Patientin verabschieden, als Schwester Gertrud erstaunt ausrief: »Wen haben wir denn da?«
Alle blickten in Richtung Rezeption, vor der eine junge Frau stand, die sich suchend umschaute. Auf ihrem ebenmäßig geschnittenen Gesicht zeigte sich ein Strahlen, als sie Matthias und seine Helferin entdeckte. Auf ein einladendes Zeichen des Landarztes hin kam sie leichtfüßig auf die vier zu.
»Hallo, Michaela«, begrüßte Matthias die zierliche Dunkelhaarige mit den sanftmütig blickenden Augen. »Das ist ja eine Überraschung.« Er reichte der jungen Frau die Hand und sagte dann zu Elisabeth: »Ihr kennt euch bestimmt durch Monika, oder?«
»Nur flüchtig«, erwiderte Elisabeth. Sie lächelte Michaela Lehmann an. »Ich hätte Sie nicht mehr erkannt nach all den Jahren. Ihre Schwester dagegen sehe ich ja oft im Dorf.«
Michaela war die jüngere Schwester von Monika Hauser, der Nachtschwester aus der Miniklinik.
»Ich war auch lange weg«, erwiderte Michaela leise. Sichtlich verlegen blickte sie in die Runde. »Ich möchte auch nicht stören. Ich wollte mich nur in Erinnerung bringen und mich als frisch examinierte Hebamme hier in Ruhweiler bei Ihnen vorstellen«, sagte sie an den Landarzt gewandt. Ihr Lächeln ließ an diesen Sommermorgen die Sonne gleich noch einmal aufgehen. »Hebamme und Arzt arbeiten ja eng zusammen. Und da dachte ich …«
»Keine Sorge, ich habe dich noch in bester Erinnerung«, unterbrach Matthias sie in seiner charmanten Art. »Als ich von deiner Schwester erfuhr, dass du dich für diesen Beruf entschieden hast, war ich begeistert. Eine Hebamme hat im Ruhweiler Tal schon lange gefehlt. Manchmal wird die Zeit für die werdenden Mütter knapp, und der Weg bis zum nächsten Krankenhaus mit Geburtsabteilung ist zu weit«, sagte er an Elisabeth gewandt.
»Außerdem entschließen sich immer mehr Frauen zur Hausgeburt«, fügte Michaela mit weich klingender Stimme hinzu, die allein schon den Zuhörer entspannte.
»Hebamme?«, flüsterte Patricia ihrer Großmutter zu. »Was ist das?«
Michaela hatte die Frage der Kleinen gehört. Wieder erschien dieses herzliche Lächeln auf ihrem Gesicht, bevor sie antwortete: »Eine Hebamme hilft den Frauen, ihre Babys zur Welt zu bringen.«
In den Kinderaugen stand Unverständnis, und auf Michaelas Gesicht konnten alle ablesen, dass sie nach einer kindgerechten Erklärung suchte. Schließlich fragte sie Patricia: »Hast du schon einmal gesehen, wie ein Kälbchen geboren wird?«
Mit ernster Miene schüttelte das Mädchen den Kopf. Dabei hing ihr neugieriger Blick am Mund der jungen Frau.
»Würdest du das gern einmal sehen?«
Patricia nickte eifrig.
»Wenn deine Eltern es erlauben, kannst du mich in den nächsten Tagen besuchen«, fuhr sie fort. »Ich wohne im Nachbarort auf einem Bauernhof. Elsa, eine der Kühe, wird bald ein Kälbchen bekommen.«
»Helfen Sie ihr dabei?«, fragte Patricia mit runden Augen.
Die junge Frau lachte. »Nein, das wird der Tierarzt machen oder der Bauer. Die können das besser als ich. Ich habe nur gelernt, Babys auf die Welt zu bringen und sie in den ersten Minuten ihres Lebens zu versorgen, weil ihre Mütter dann meistens noch zu schwach sind von der anstrengenden Arbeit.«
Patricia zupfte an dem Jackenärmel ihrer Großmutter. »Omi, darf ich bei der Geburt des Kälbchens zuschauen?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Elisabeth sichtlich unsicher.
»Das ist okay«, sagte Michaela lächelnd zu ihr. »Mein Onkel hat bestimmt nichts dagegen. Wenn es so weit ist und zeitlich passt, rufe ich Sie gern an. Wenn Sie wollen …«
»Bitte, Omi, sag ja«, bettelte Patricia.
»Wir werden sehen, Schatz«, machte ihre Großmutter diesem Thema nun ein Ende und verabschiedete sich schnell. »Vielen Dank, Herr Doktor, und auch dir, Gertrud. Wir sehen uns.« Dann wandte sie sich an Michaela und meinte mit aufmunterndem Blinzeln: »Vielleicht sehen wir uns ja auch bald wieder. Ich habe auch noch nie bei der Geburt eines Kälbchens zugesehen.«
»Rufen Sie auch bestimmt an?«, fragte Patricia die junge Frau besorgt.
»Ganz großes Indianerehrenwort«, erwiderte Michaela mit fester Stimme.
*
Als Michaela vom Patientenparkplatz der Landarztpraxis fuhr, war sie voller neuer Eindrücke. Der herzliche Empfang Dr. Brunners hatte ihr gut getan. Der Arzt hatte sich nicht verändert. Er besaß immer noch diese menschliche Wärme und auch den Charme, der ihn alle Menschen gewinnen ließ. Sie freute sich schon auf die Zusammenarbeit mit ihm, zu der es bestimmt in Zukunft kommen würde.
Während sie den Wiesenweg hinauf fuhr, der vom Praxishügel auf die Landstraße führte, sah sie wieder das Gesicht Patricias vor ihrem inneren Auge. Die Begegnung mit dem Mädchen hatte sie innerlich berührt. Sie kannte sein Schicksal durch ihre Schwester, die früher mit Patricias Mutter bekannt gewesen war. Nach dem Tod seiner Mutter wuchs es bei seiner Großmutter auf. Philip Bach kümmerte sich kaum um seine Tochter. Patricia besaß nur noch die Liebe ihrer Großmutter. Aus diesem Mitleidsgefühl heraus hatte sie auch die Einladung zur Geburt des Kälbchens ausgesprochen. Sie wusste von den Kindern ihrer Freundinnen, wie sehr diese sich für Tierbabys begeisterten.
Während Michaela all diese Gedanken durch den Kopf gingen, fuhr sie zurück ins Nachbardorf von Ruhweiler, wo sie nach ihrer Rückkehr auf dem Bauernhof ihres Onkels eine schöne Wohnung bezogen hatte. Seit drei Tagen war sie zurück in ihrer Heimat, die ihr in den vergangenen Jahren der Ausbildung so sehr gefehlt hatte. Natürlich hatte sie in dieser Zeit ihre Eltern und ihre Schwester besucht, aber das war nicht das Gleiche gewesen wie hier wieder zu leben. Sie war kein Stadtmensch, das hatte sie erkannt. Zum Glücklichsein brauchte sie den Anblick der blaugrünen Wälder, die die Schwarzwaldhügel überzogen, den der sattgrünen Wiesen, der braunweißen Kühe, der alten Schwarzwaldhöfe mit ihren tief gezogenen Schindeldächern, von denen jeder seine eigene Geschichte hatte, die klare frische Luft, deren Duft nach Harz und Erde, den Sonnenglanz und die Lebensfreude der Bewohner hier im Tal. Hier wollte sie leben und arbeiten, in Harmonie und Einklang mit der Natur. Sie wollte die Frauen ermuntern, ihre Kinder in den eigenen vier Wänden zu bekommen statt in sterilen Kreisssälen. Diese Vision bestimmte ihre Arbeit.
In langsamem Tempo fuhr Michaela über die Landstraße, erfüllt von großer Ruhe und Dankbarkeit dafür, dass das Schicksal es so gut mit ihr meinte. Nun gut, manchmal fehlte ihr etwas. Die Liebe. Die Liebe eines Mannes und die für einen Mann. Gab es etwas Schöneres als zu lieben? Dieses Gefühl, das einen von innen wärmt, das einen dem Himmel so nah bringt. Gab es dieses Gefühl überhaupt im wirklichen Leben? Sie hatte bisher nur in Romanen davon gelesen.
Michaela blinzelte. Sie fuhr gerade durch ein Waldstück, in das die Sonne ihre goldenen Strahlen schickte und bizarre Muster auf den Asphalt malte. Als sie am anderen Ende wieder heraus kam, sah sie zu ihrer Rechten einen kleinen Weiher in den Wiesen liegen, versteckt hinter einer Gruppe filigraner Birken. Sie kannte den kleinen See, in dem sie früher oft mit ihrer Schwester und ihren Freundinnen geschwommen war. Einem unwiderstehlichen Drang folgend bog sie in den unbefestigten Weg ein, parkte vor der Baumgruppe und stieg aus.
Für ein paar Augenblicke sog sie die vom Duft der Gräser und Wiesenblumen erfüllte samtweiche Luft tief ein. Insekten summten um ihre nackten Beine herum auf der Suche nach Nektar. Inzwischen stand die Sonne hoch am Himmel, der sich in einem tiefen Blau über ihr spannte. Zirruswolken zogen ihre Strähnen nach Süden. Über der Senke lag eine brütende Hitze. Die Luft stand still, als würde sie auf etwas warten. Da entdeckte sie den Mann. Im Delfinschwimmstil durchschnitt er den See. Auf seinem gebräunten Oberkörper perlte das Wasser, wenn dieser bei seinen rhythmischen Stößen immer wieder an der Oberfläche sichtbar wurde.
Wie gebannt blieb sie stehen. Sie konnte den Blick nicht von dem sportlichen Schwimmer losreißen. Jetzt hatte er das Ufer erreicht, richtete sich auf und strich sich mit beiden Händen das Wasser aus den blonden Locken. Er schien sich völlig unbeobachtet zu fühlen, allein mit sich und der idyllischen Umgebung. Unbehagen bemächtigte sich ihrer. Sie kam sich vor wie eine Spannerin. In dem Moment, als sie sich umdrehen und den Rückzug antreten wollte, entdeckte er sie. Über das schimmernde Wasser hinweg fanden sich ihre Blicke. Sie konnte seine Augenfarbe nicht erkennen, aber sie war sich sicher, dass sie blau waren. So blau wie der Sommerhimmel an diesem Mittag.
Und während sie den Blick des Fremden erwiderte, tauchte ihr Leben plötzlich in eine andere Dimension ein, eine andere Farbe. Von jetzt an würde nie wieder etwas so sein, wie es gewesen war. Das wusste sie. Einfach so, tief im Herzen. Der Mann, den sie um die Dreißig schätzte, trat jetzt aus dem Wasser und kam auf sie zu. Sie fühlte sich unfähig sich zu bewegen. Wie angenagelt blieb sie stehen, konnte sich seiner Anziehungskraft, die sie selbst auf diese Entfernung spürte, nicht entziehen. Er war groß und schlank und ging mit langen federnden Schritten am Ufer vorbei. Er machte den Eindruck, als würde er genau wissen, wohin er wollte. Sie schluckte. Ihr Herz schlug schneller.
Kam er wirklich auf sie zu? Sie hatte den Eindruck. Was mochte er von ihr wollen? Oder lagen seine trockenen Sachen nur irgendwo in ihrer Nähe?
Diese Gedanken schossen ihr durch den Kopf, während sie dem Fremden entgegen sah. Nur noch wenige Meter, dann hatte er sie erreicht. Ihr Herzschlag beschleunigte sich noch einmal. Sie erwartete, dass er an ihr vorbeigehen würde, im Abstand von zwei, drei Metern, vielleicht ein freundliches »Hallo« dabei murmelnd. Aber er blieb stehen, drei Schritte von ihr entfernt, und schenkte ihr ein Lächeln, das ihr weiche Knie machte.
»Hey«, sagte er mit einer Stimme, die sehr dunkel, sehr weich klang.
Jetzt erkannte sie, dass um seine tatsächlich tiefblauen Augen ein Kranz von Fältchen lag. Auch zu beiden Seiten seines sensibel geschnittenen Mundes zogen sich zwei scharfe Linien hinunter, die von einem ereignisreichen Leben erzählten.
»Hey«, antwortete sie und lächelte zurück. Sie konnte gar nicht anders. Ihr Mund lächelte ganz von selbst, und sie war sich sicher, dass sich dieses Lächeln auch in ihren Augen widerspiegelte.
Er gefiel ihr. Nein, es war viel mehr. Er faszinierte sie.
»Ein schöner Tag«, sagte er leichthin. Dabei schien er es als ganz natürlich zu empfinden, dass er nur Badeshorts trug. Er verhielt sich so natürlich, als wäre er ein Stück dieser Natur.
»Und so warm«, erwiderte sie mit belegter Stimme.
Ihre Antwort hörte sich in ihren Ohren dümmlich an, aber ihr war nichts anderes, nichts Sinnvolleres eingefallen, obwohl sie sonst nicht auf den Mund gefallen war.
»Das Bad war erfrischend«, führte er das Geplänkel fort, wieder mit diesem Lächeln, das sie gänzlich gefangen nahm. Dann schüttelte er den Kopf und warf sein Haar zurück. Schließlich ließ er sich ganz unbekümmert im Gras nieder, neben seinem Kleiderbündel, das sie übersehen hatte.
»Erst mal abtrocknen«, sagte er wie zu sich selbst. Er schaute zu ihr hoch. »Setz dich doch. Der See ist für alle da.«
Wie hypnotisiert folgte sie seiner Einladung, mit zwei Meter Abstand zwischen ihnen. Er blickte über die Wasserfläche, auf die die Mittagssonne funkelnde Reflexe warf.
Mit hämmerndem Herzen folgte sie seinem Blick. Unbehagen machte sich in ihr breit, eine Gefühl von Beklemmung. Sie schwiegen, und dieses Schweigen mit einem ihr völlig unbekannten Menschen machte sie nervös.
»Die kleinen Wellen zu beobachten ist faszinierend, gell?«, sagte der Fremde nun.
Sie räusperte sich, um ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.
»Ja. Es hat so etwas Beruhigendes an sich«, antwortete sie, ohne ihn anzusehen. »Etwas Elementares. Das Wasser wird sich auch noch in Jahrhunderten bewegen.«
Was rede ich denn da für einen Schwachsinn, schalt sie sich den Bruchteil einer Sekunde später. Sie spürte, wie ihr vor Peinlichkeit über diesen verbalen Müll die Röte in die Wangen stieg. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass er sie von der Seite ansah.
»Das hast du gut ausgedrückt«, sagte er zu ihrer großen Überraschung ernst.
Wieder schauten sie auf die Wasserfläche und wieder schwiegen sie. Sie bemerkte, wie er in die Tasche seiner zusammengelegten, abgewetzten Jeans griff und eine zerdrückte Zigarettenpackung sowie Streichhölzer herausnahm. Die Streichholzpackung trug die Aufschrift eines der teuersten Hotels im Tal, was sie verwunderte. Die verfärbten Turnschuhe neben der Hose wie auch das lappige schwarze T-Shirt sahen nicht gerade danach aus, als könnte er sich eine Übernachtung in dieser Nobelherberge leisten.
Er bot ihr eine Zigarette an. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
»Stört es dich, wenn ich …?« Unsicher sah er sie an.
Sie lächelte. »In dieser Weite schadet der Rauch niemandem.«
Beim Anzünden der Zigarette fielen ihr seine schön geformten Hände auf. Sie waren groß, schlank, mit flachen gepflegten Nägeln. Sensible Hände. Am Handgelenk trug er eine Sportuhr. Er steckte Zigaretten und Streichhölzer zurück in die Jeans und rauchte mit entspannter Miene.
»Wohnst du im Wiesler?« Sie konnte sich diese Frage nicht verkneifen.
In seinem Blick lag Erstaunen. »Wie hast du das denn erraten?«
Sie musste lachen. »Die Streichholzpackung …«
Da schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und lachte auch. »Klar. Wäre ich ein international gesuchter Verbrecher, hättest du mich jetzt schon dingfest gemacht.«
»Wahrscheinlich wärst du nicht so dumm, um mit deinem richtigen Namen dort einzuchecken, oder?« Sie warf ihm einen belustigten Blick zu.
»Was ich in diesem Fall aber getan habe«, antwortete er augenzwinkernd.
»Dann bist du auch kein international gesuchter Verbrecher. Zumindest kein besonders cleverer.«
»Wer weiß?« Er sah sie intensiv an. »Womöglich bin ich so clever, dass ich dich jetzt hier gleich aus dem Weg räume, weil du mich verraten könntest.« Der Ausdruck in seinen blauen Augen wechselte plötzlich. Der gerade noch belustigte machte einem ernsten Platz, einem Blick voller Intensität.
Sie schluckte, sah sich instinktiv um.
Weit und breit war niemand zu sehen. War das jetzt Ernst oder Spiel?
Eine Gänsehaut kroch ihr den Rücken hinauf. Sie stellte sich schon im Geiste die Schlagzeile in der Zeitung vor: Weibliche Leiche an einem Weiher im Ruhweiler Tal gefunden. Vom Täter fehlt jede Spur.
Da hörte sie das angenehm klingende Lachen des Fremden, das tief aus dem Bauch kam.
»Keine Angst, ich bin ganz harmlos«, beruhigte er sie, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er streckte ihr die Hand entgegen und stellte sich vor: »Sebastian Klerner.«
Sie blinzelte.
Sebastian Klerner? So hieß einer ihrer Lieblingsmaler. Nein, das konnte unmöglich sein.
»Michaela Lehmann«, entgegnete sie und drückte seine Hand, die sich trocken und warm anfühlte. Eine Hand, die Vertrauen einflößte.
»Bist du von hier oder machst du hier Urlaub?«, erkundigte er sich, nachdem er an seiner Zigarette gezogen hatte.
»Ich lebe und arbeite hier. Vor drei Tagen erst bin ich zurückgekommen.«
»Warum?« Offen lag sein Blick auf ihrem Gesicht.
»Warum?« Die Frage verwirrte sie. »Nun, weil ich die Gegend liebe, weil ich mich entschlossen habe, hier zu leben.«
»Was machst du beruflich?«
»Ich bin Hebamme.«
Er nickte mit anerkennender Miene. »Ein seltener Beruf, aber ein schöner. Er hat etwas mit Leben zu tun.«
Sie nickte.
Genau dies war der Grund, warum sie Hebamme geworden war. Sie erfreute sich an jedem Baby, das sie ans Licht der Welt bringen durfte.
»Und du? Bist du auf der Durchreise?« Voller Neugier sah sie ihn an.
»Sind wir das nicht alle?« Sein tiefer Blick irritierte sie genauso wie diese philosophisch anmutende Frage.
»Irgendwie schon«, stimmte sie ihm zu und schwieg.
Sebastian Klerner schien ein ernsthafter Mensch zu sein, der sich Gedanken über das Leben machte.
»Ich stamme aus Ruhweiler, war jedoch seit acht Jahren nicht mehr hier.«
Mit geschärftem Blick sah sie ihn an.
Nein, sie hatte ihn früher noch nicht gesehen. Die Alten im Tal kannten sich, bei den Jungen war dies inzwischen anders.
Wie gern hätte sie mehr über ihn erfahren. Seine verschlossene Miene riet ihr jedoch, keine weiteren Fragen mehr zu seiner Person zu stellen. Ob dieser Mann neben ihr vielleicht doch der berühmte Maler Sebastian Klerner war? Sie hatte schon einige Fotos von dem Künstler gesehen. Er war ebenfalls blond, groß und schlank, aber auf diesen Fotos hatte er kurzes Haar gehabt und eine Brille getragen. Außerdem waren es keine Nahaufnahmen gewesen. Der bekannte Maler stammte jedoch auch aus dem Süden Deutschlands.
Sie räusperte sich und drückte entschlossen den Rücken durch.
Jetzt wollte sie es wissen.
»Sag mal, bist du etwa Sebastian Klerner, der Maler?«
Zuerst wirkte er überrascht, dann lachte er. »Bingo.« Sein Blick lag mit belustigtem Ausdruck auf ihr. »Interessierst du dich für Malerei?«
»Sehr. Du hast doch gerade eine Ausstellung in Hamburg oder irre ich mich?«
»Du irrst nicht.«
»Warum bist du dann hier und nicht dort?«
»Weil ich meine Ausstellungen hasse. Wenn ich sie besuche, dann nur in Verkleidung. Ich mag es nicht, von den Leuten angesprochen zu werden. Gefragt zu werden, warum ich den Baum blau und nicht rot gemalt habe und welcher Sinn hinter dieser Farbwahl steckt.«
Sie lachte.
Sie konnte ihn gut verstehen. Sie war auch kein Typ für die Öffentlichkeit. Sie mied Partys oder Großveranstaltungen. Sie liebte die Zurückgezogenheit, die Natur und den Austausch mit nur wenigen Menschen, das Gespräch in kleiner Runde.
»Ich habe mich hier in den Schwarzwald abgesetzt, weil ich dem Trubel entfliehen wollte«, hörte sie Sebastian weitererzählen. »Aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich noch nicht, ob diese Entscheidung richtig war.«
Verblüfft über diese Bemerkung sah sie ihn an. »Warum nicht?«
»Weil es nicht immer gut ist, nach vielen Jahren der Abwesenheit an den Ort zurückzukehren, an dem man noch Träume hatte.«
»Aber deine Träume sind doch wahr geworden«, stellte sie erstaunt fest. »Du bist ein bekannter Künstler.«
»Zumindest meine beruflichen.« Seine Stimme enthielt einen verbitterten Unterton, der ihr den Mut nahm, weitere Fragen zu stellen. Stattdessen vertiefte sie sich in den Anblick der Schwalben, die über dem kleinen See ihre Runden drehten.
»Mir wird kühl«, sagte Sebastian in ihr Schweigen hinein und stand auf.
Sie stand ebenfalls auf. Sie standen sich gegenüber, sahen sich an, beide unsicher, beide abwartend und beide innerlich zitternd, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
»Okay, nett, dich kennen gelernt zu haben«, verabschiedete sich Sebastian. »Vielleicht sehen wir uns noch einmal.« Er zuckte mit den Schultern, was für sie so viel hieß wie: »Vielleicht auch nicht.«
»Ja, das wäre nett«, antwortete sie betont leichthin, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte, als ihn wiederzusehen.
*
Am nächsten Tag erreichte Dr. Brunner in der Vormittagsstunde ein alarmierender Ruf.
»Patricia hat einen schweren Anfall«, teilte ihm Schwester Gertrud durch die Gegensprechanlage mit. »Sie müssen sofort zu ihr. Elisabeth ist völlig hilflos. Das Spray zur Erweiterung der Bronchialen zeigt keine Wirkung mehr.«
»Sagen Sie den Patienten im Wartezimmer Bescheid«, wies der Landarzt seine Sprechstundenhilfe an.
»Ist schon geschehen. Ihre Notfalltasche steht auch schon bereit.«
Ein paar Minuten später hielt Matthias vor Elisabeths kleinem schmuckem Haus. Die Holztür stand offen. Er kannte sich im Haus aus und fand seine kleine Patientin sowie deren Großmutter im Kinderzimmer.
Elisabeth Söntker zitterte am ganzen Leibe. Patricia saß gekrümmt und zuckend im Bett. Sie nahm ihn gar nicht wahr. In den dunklen Kinderaugen stand Panik. Willig ließ sie sich von ihm das Spray in den Rachen sprühen. Doch selbst die doppelte Dosis brachte keine Linderung des Anfalls. Elisabeth hielt ihre Enkelin im Arm und sprach beruhigend auf sie ein. Doch auch die liebevolle Zuwendung spendete keine Besserung. Im Gegenteil, Matthias gewann den Eindruck, als würde sich der Anfall stetig verschlimmern.
»Ich werde ihr Aminophyllin spritzen«, sagte er zu Elisabeth, die daraufhin nur stumm nickte.
Trotz des Aminophyllins steigerte sich Patricias Atemnot. Immer schneller schnappte sie nach Luft. Ihr Puls lag jetzt bei hundertzwanzig. Matthias strich seiner kleinen Patientin die feuchten Haare aus der Stirn.
»Pscht, ganz ruhig«, sagte er sanft, obwohl er wusste, dass diese Worte in einer solchen Situation nicht halfen. Jetzt blieb nur noch eine Chance, Patricia zu helfen. Er musste einen Tubus einführen für den Fall, dass ihre Luftröhre bald gänzlich blockierte. In einer solchen Situation würde er die Hohlsonde, die zur Sicherung der Atemwege diente, nicht mehr eingeführt bekommen. Und dann würde es bis zum Erstickungstod nur noch ein kleiner Schritt sein.
Ganz vorsichtig bog er Patricias Kopf nach hinten und öffnete ihren Mund. Patricias bereits apathischer Zustand kam ihm zu Hilfe, ganz behutsam den Endotrachealtubus durch die verengten Atemwege schieben zu können. Er arbeitete hoch konzentriert. Er durfte keinen Fehler machen. Eine Fehlintubation in die Speiseröhre hätte den Tod für das Mädchen bedeutet. Nachdem der Endotrachealtubus die engste Stelle passiert hatte, seufzte er erleichtert auf. Nun konnte Patricia ausreichend beatmet werden. Schon nach ein paar Atemzügen verbesserte sich ihr Zustand.
Elisabeth sah ihn mit feuchten Augen an. Ein dankbares Lächeln zitterte um ihre Lippen. Beide beobachteten, wie sich der Anfall abschwächte. Endlich konnte Matthias seine Patientin von dem Tubus befreien.
»Ich möchte sie mit in die Miniklinik nehmen«, sagte er zu ihrer Großmutter. »Zur Beobachtung.«
Elisabeth nickte. »Ich packe ein paar Sachen ein.«
*
Michaela hatte ein ganz schlechtes Gewissen. Das Kälbchen war geboren worden, während sie zur Entbindung in der Kreisstadt gewesen war. Als sie am Spätnachmittag nach Hause gekommen war, hatte ihr Onkel stolz von dem neuen Familienzuwachs berichtet.
Schade, dachte Michaela voller Bedauern. Sie war sich sicher, dass Patricia auf ihren Anruf wartete, und nun musste sie das Mädchen enttäuschen. Da war sie wohl zu voreilig bezüglich ihrer Versprechungen gewesen. Einige Zeit überlegte sie hin und her. Schließlich rief sie Elisabeth Söntker an und erklärte ihr die Situation.
»Machen Sie sich keinen Kopf«, beruhigte Patricias Großmutter sie. »Wir haben zurzeit andere Sorgen. Patricia liegt seit heute Vormittag in der Miniklinik. Drei Tage soll sie dort zur Beobachtung bleiben. Sie hatte einen schweren Asthmaanfall.«
»Das tut mir leid«, kam es Michaela aus vollem Herzen über die Lippen. Und plötzlich kam ihr eine Idee. »Wissen Sie was, Frau Söntker? Ich werde Patricia dort besuchen und ihr persönlich sagen, dass das Kälbchen inzwischen geboren ist.«
»Da wird sie sich bestimmt freuen. Jetzt, da es ihr besser geht, ist ihr natürlich langweilig. Ich bin zwar bis eben bei ihr gewesen und wir haben Spiele gemacht, aber ein bisschen Abwechslung wird ihr gut tun. Zumal sie heute auch noch Geburtstag hat.«
Nach dem Telefonat blickte Michaela auf die Uhr. Nein, jetzt war es schon zu spät für einen Krankenbesuch. Sie würde sofort am nächsten Morgen in die Miniklinik fahren. Vorher jedoch wollte sie noch eine Kleinigkeit kaufen. Kinder freuen sich immer über Geschenke.
*
Die Überraschung stand Patricia auf dem Gesicht geschrieben, als Michaela das gemütlich eingerichtete Krankenzimmer der Miniklinik betrat.
»Wird das Kälbchen heute geboren?«, lautete die erste Frage des Mädchens.
Michaela lächelte es an. »Tut mir leid, aber das ist gestern schon zur Welt gekommen. Ich wusste nichts davon. Es ist viel zu früh gekommen.«
Das blasse Kindergesicht verzog sich zur bedauernden Miene.
»Sei nicht traurig«, sagte sie rasch. »Auf dem Hof werden immer wieder Tierkinder geboren.« Sie ging auf Patricia zu, deren zierliche Gestalt in dem tiefen Sessel ganz verloren schien. »Du hattest gestern Geburtstag. Ich wollte dir gratulieren. Schau mal, ich habe dir auch ein kleines Geschenk mitgebracht.«
Mit großen Augen nahm die Kleine das Päckchen entgegen und packte es vorsichtig aus. Als das kleine weiche Plüschkälbchen zum Vorschein kam, begann Patricia zu strahlen.
»Wie süß!«, rief sie aus und drückte das Tier zärtlich an sich. »Ich habe ganz viele Stofftiere«, verriet sie Michaela. »Aber ein Kälbchen ist nicht noch nicht dabei.«
»Da bin ich aber erleichtert«, erwiderte diese. »Ich freue mich, dass es dir gefällt.«
»Und wie.«
Michaela setzte sich an den niedrigen Tisch, auf dem noch andere Geschenke lagen, und fragte: »Geht es dir wieder besser?«
Die Kleine nickte, während sie mit versonnenem Lächeln ihr neues Stofftier streichelte.
»Du hast ja viele schöne Geschenke bekommen«, fuhr sie fort.
Sie entdeckte ein paar Rollschuhe, ein hübsches T-Shirt, ein Buch und Malsachen. Neben dem Tisch auf dem Boden stand ein übergroßes Paket in Geschenkpapier, auf dem sich weiße Eisbären tummelten. Unter der riesigen rosa Schleife lugte ein Geldschein hervor.
»Warum hast du das noch nicht ausgepackt?«, fragte sie erstaunt.
Patricia sah sie ernst an. »Ich weiß nicht.«
»Mach es doch mal auf.«
»Nö.« Die Kleine schüttelte den Kopf.
»Ich an deiner Stelle wäre neugierig, was da drin sein könnte«, sagte sie in aufmunterndem Ton.
»Ich nicht. Es ist von meinem Vater. Er hat es gestern vorbei gebracht und ist dann wieder gefahren. Er hatte keine Zeit.« Der traurige Ton in der Kinderstimme schnitt Michaela ins Herz.
Sie ahnte, aus welchem Grund Patricia das Geschenk ablehnte. Sie wollte weder Spielsachen noch Geld von ihrem Vater. Sie wollte seine Liebe.
Sie räusperte sich.
»Malsachen?«, fragte sie dann und zeigte auf die bunten Kreidestifte und den Zeichenblock.
»Die sind von Dr. Brunner und seiner Frau.«
»Dann malst du also gern?«
»Und wie.« Die braunen Kinderaugen begannen zu leuchten. »Meine Lehrerin sagt, dass ich im Zeichenunterricht die Beste bin.«
»Super. Kannst du mir ein paar deiner Bilder zeigen?«
»Die sind alle zu Hause, aber du kannst mich ja zu Hause besuchen.«
Michaela lächelte das Mädchen an, zu dem sie sich auf eine ganz besondere Weise, die sie sich selbst nicht erklären konnte, hingezogen fühlte.
»Da ist eine gute Idee«, stimmte sie Patricias Vorschlag zu.
Da bemerkte sie, wie sich die Miene des Kindes verdunkelte.
»Mein Vater hatte mir versprochen, mit mir in den Zirkus zu gehen. Das hatte ich mir zum Geburtstag gewünscht. Jetzt ist er wieder weg, und der Zirkus ist nur noch ein paar Tage hier.«
»Wollen wir beide zusammen dorthin gehen?«, kam es ihr da ganz spontan über die Lippen.
Sie hielt den Atem an, erschrocken über diesen Vorschlag. Wie kam sie dazu? Sie kannte Patricia doch kaum.
Als sie jedoch das Strahlen auf dem Kindergesicht sah, warf sie alle Bedenken über Bord. Patricia freute sich. Und darüber wiederum freute sie sich. Also, warum sollte sie nicht mit ihr in den Zirkus gehen? Patricia war die Tochter einer guten Bekannten ihrer Schwester. Demnach bestand doch eine erklärbare Verbindung zwischen ihnen. Außerdem liebte sie Kinder.
»Wann gehen wir?«, fragte Patricia jetzt in erwartungsvollem Ton in ihre Gedanken hinein.
Sie musste lächeln. »Sobald Dr. Brunner es dir erlaubt.«
*
Drei Tage nach Michaelas Besuch in der Miniklinik hielt Patricia beim Anblick der Tiger, die mit lautlosen und geschmeidigen Bewegungen wie schwerelos durch die Feuerreifen sprangen, den Atem an. Ihre Hand lag fest in der von Michaela.
»Tun die sich nicht weh?«, flüsterte sie aufgeregt.
»Nein, sonst würden sie diese Übung ganz bestimmt verweigern«, beruhigte Michaela sie. »Sie scheinen sogar Spaß daran zu haben.«
Mit riesengroßen Augen verfolgte Patricia die Darbietung der sechs Raubkatzen. Weniger aufregend, dafür aber umso lustiger wurde es dann, als der Clown die Manege betrat. Patricia bog sich vor Lachen, als dieser sich wie ein Steh-Auf-Männchen immer wieder rücklings in den Sand fallen ließ. Und als schließlich eine Schimpansenfamilie das Publikum zu einem Lied anregte, sang die Kleine fröhlich und aus voller Kehle mit.
Michaela hatte ihre helle Freude daran, wie unbeschwert und glücklich Patricia war. Mit vor Aufregung geröteten Wangen verließ sie schließlich an ihrer Hand die Manege.
»Hast du Lust auf eine heiße Schokolade?«, fragte Michaela ihre kleine Freundin. »Ich kenne hier ein Café, da schmeckt sie besonders gut.«
Mit leuchtenden Augen stimmte Patricia begeistert zu.
So schlenderten die beiden ein paar Minuten später Hand in Hand über die Hauptstraße der kleinen Kreisstadt. An diesem Tag war es kühler als an den vorhergehenden. Es wehte ein frischer Wind, sodass der heiße süße Kakao besonders gut schmeckte. Die beiden saßen in dem Café an einem Fenstertisch, auf dessen Bank eine Kiste mit Malblöcken und Malstiften stand. Wie hätte Patricia da widerstehen können?