Читать книгу Der Landdoktor Classic 37 – Arztroman - Christine von Bergen - Страница 3
Оглавление»Chef?« Schwester Gertrud sah den Landarzt sichtlich genervt an. »Es ist wieder so weit.«
Dr. Matthias Brunner blickte vom Computerbildschirm auf. »Was ist wieder so weit?«
»Frau Ruben hat gerade angerufen und ihren Aufenthalt bei uns in der Miniklinik angekündigt.«
Matthias musste lachen. »Da schau an, unsere geliebte Patientin aus Baden-Baden.«
»So lustig finde ich das nicht«, erwiderte seine altgediente Sprechstundenhilfe trocken. »Dieses Mal kommt sie übrigens mit ihrer Nichte. Sie hat Semesterferien.«
»Wer? Mathilda Ruben oder ihre Nichte?«, scherzte der Landdoktor.
»Die Nichte natürlich«, gab Gertrud unwirsch zurück.
»Ist die Nichte auch krank?«
»Sie kennen die Ruben doch, Chef. Sie reist nie ohne Gefolge. Die beiden letzten Male hatte sie ihre Haushälterin dabei. Die Nichte wird übrigens in der Pension Waldfrieden wohnen, solange Madame bei uns logiert. Um die Unterbringung soll ich mich kümmern.«
Der Landdoktor hob mit amüsierter Miene die graumelierten Brauen. »Und? Werden Sie?«
Er kannte seinen Praxisdrachen seit Jahrzehnten und wusste, wie ungern Gertrud Befehle entgegen nahm. Und schon gar nicht von Mathilda Ruben.
»Ich werde Monika bitten, das zu regeln.«
Monika Hauser gehörte zu dem kleinen Team der Miniklinik. Sie war Nachtschwester und half aus, wenn sie gebraucht wurde.
Matthias lehnte sich im Schreibtischsessel zurück und schob die Brille ins Haar. »Diese Frau ist wirklich eine merkwürdige Person«, murmelte er, während er zum Fenster hinaus in den Sonnenschein blickte. »Sie war sehr reich verheiratet, aber auch sehr unglücklich, wie sie mir einmal in einer schwachen Stunde anvertraut hat«, fuhr er fort. »Diese unglückliche Ehe mag eine Erklärung für ihre Härte sein, die sie ihren Mitmenschen gegenüber walten lässt.«
»Vielleicht eine Erklärung, aber keine Entschuldigung«, erwiderte der Praxisdrache unbarmherzig.
»Ganz bestimmt nicht«, stimmte er Gertrud zu. »So meinte ich das auch nicht. Ich habe nicht vor, mir auf der Nase tanzen zu lassen, nur weil sie Geld hat. Hier werden alle gleich behandelt.«
»So soll es sein, Chef. Dafür werde ich sorgen, worauf Sie sich verlassen können.«
Der Landdoktor unterdrückte ein Schmunzeln.
Von einer reichen Industriellenwitwe ließ sich seine langjährige Helferin nicht tyrannisieren. O ja, diese Woche konnte ja mal wieder heiter werden. Mathilda Ruben war kerngesund, zumindest bislang. Sie litt jedoch ständig unter der Panik, in ihrem Körper könnte eine gefährliche Krankheit schlummern, der er auf die Spur kommen sollte. Einmal im Jahr kam sie in die Miniklinik zu einem großen Gesundheitscheck angereist und blieb oft auch länger als geplant, sofern dass Krankenzimmer nicht für einen wirklichen Kranken gebraucht wurde. Mathilda Ruben zog aus für ihn unerklärlichen Gründen den Aufenthalt in seiner kleinen Klinik auf dem Praxishügel dem in einem der vielen schönen Sanatorien in Baden-Baden und Umgebung vor. Nun gut, nun wusste er Bescheid. Er ahnte schon, was sein Lockenköpfle dazu sagen würde: »Freu dich doch, mein Schatz, dann bekommst du eine Woche lang von mir dein Lieblingsessen gekocht. Auch wenn du nicht die gleichen Marotten wie unsere Patientin hast, habt ihr den gleichen Geschmack. Madame mag es auch gern deftig.«
*
»Ich habe nie verstanden, wie du dich in einen solchen Jungen verlieben konntest«, sagte Mathilda Ruben mit strenger Miene, während sie ihren Blick über ihr parkähnliches Grundstück schweifen ließ, wo unter einem strahlend blauen Sommerhimmel üppig blühende Rosen- und Rhododendrenbüsche ihre Farben versprühten. Vögel sangen in der mannshohen Buchsbaumhecke, die die ausladende Terrasse vor fremden Blicken schützte.
Diese Idylle trog jedoch. Wieder einmal gab es Streit in der Villa, eine der schönsten im besten Wohnviertel von Baden-Baden.
»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nicht in Roman verliebt war?«, antwortete Liane Sauter hitzig. Dabei verdrehte die junge Frau genervt die großen nebelgrauen Augen. »Wir sind ein paar Mal ausgegangen, und es ist nichts passiert.«
»Aber die Leute haben dich mit ihm gesehen. Mit so einem«, fügte die Industriellenwitwe höhnisch hinzu. Sie setzte sich in dem tiefen, dick gepolsterten Terrassenstuhl aufrecht hin, nicht ohne dabei ihr Gesicht schmerzhaft zu verziehen. »Du bist meine Nichte, mein Kind. Du hast den guten Ruf unserer Familie zu vertreten. Und dann lachst du dir einen Klempner an.« Mit verbittertem Gesichtsausdruck, der ihre ohnehin schon harten Züge noch härter erscheinen ließen, fügte sie mit einer guten Portion Selbstmitleid hinzu: »Ich bin eigentlich viel zu gutmütig. Ich müsste dich mehr unter Druck setzen.«
Noch mehr?, fragte sich Liane stumm. Ihre sonst so sanft blickenden Augen blitzten auf. Sie wusste nur zu gut, auf welches leidige Thema ihre Tante gleich wieder zu sprechen kommen würde. »Nur damit du es weißt, Tante, ich werde selbst entscheiden, wen ich einmal heirate«, erwiderte sie in erregtem Ton. »Ich werde mich nicht verkuppeln lassen. Ob Klempner oder Müllmann, Hauptsache, ich liebe den Mann«, setzte sie trotzig hinzu. »Auch wenn ich erst zweiundzwanzig bin und noch studiere, kann ich mein Leben zur Not auch allein bestreiten. Immerhin habe ich von meinen Eltern ein bisschen Geld geerbt.«
Mathilda lachte kurz und schneidend auf.
»Wie du schon sagst. Zur Not und auf unterstem Niveau. Ja, diesbezüglich gebe ich dir recht, aber vergiss bitte nicht dabei, dass du seit dem Tod deiner Eltern, seit du bei mir lebst, ein anderes, sehr viel besseres Leben gewöhnt bist. Es ist schwer, den Lebensstandard herunterzuschrauben. Glaub mir das.«
Liane seufzte. Dann stand sie auf und sagte leise: »Ich sauge mal die Böden. Damit du nicht sagen kannst, ich würde nichts tun für das Geld, mit dem du mir dieses bessere Leben ermöglichst.«
»Das finde ich sehr lieb von dir«, antwortete Mathilda mit zuckersüßem Lächeln. »Jetzt, da meine Haushälterin krank ist, kann ich tatsächlich ein bisschen Hilfe gebrauchen. Übrigens, ich habe mich heute wieder im Ruhweiler Tal angemeldet. Und du begleitest mich dieses Mal. Du hast ja Semesterferien. Ich muss mich wieder einmal gründlich untersuchen lassen. Und brauche zudem auch ein bisschen Ruhe. Bei Dr. Brunner und seinem Team fühle ich mich diesbezüglich sehr gut aufgehoben.«
Die Kunststudentin unterdrückte ein belustigtes Lächeln.
Ihre Tante, die Hypochonderin. Sie bewunderte den Landdoktor und freute sich darauf, ihn kennen zu lernen. Jedes Jahr nahm der Landarzt die vielfältigen Beschwerden ihrer Tante aufs Neue ernst und erklärte ihr nach der einen Woche ihres Aufenthaltes wiederum aufs Neue geduldig, in welch guter körperlicher Verfassung sie sei, was diese jedoch nie glaubte.
*
Liane und ihre Tante hatten die verkehrsreiche Autobahn inzwischen hinter sich gelassen und befanden sich nun auf der Landstraße, die hinauf in die Schwarzwaldberge führte.
»Wunderschön ist es hier«, bewunderte Liane die Landschaft, die sich zu beiden Seite der Straße erstreckte.
Man sah nichts anderes als bunte Sommerwiesen, die bis zu den schwarz bewaldeten Hügeln reichten, und in den idyllischen kleinen Tälern Ansammlungen von Bauernhäusern mit tief hinunter gezogenen Schindeldächern. Sie drängten sich zusammen, als wollten sie sich gegenseitig vor den rauen Winterstürmen schützen, für die der hohe Schwarzwald bekannt war.
»Ja, hier ist es sehr schön«, antwortete ihre Tante in zufrieden klingendem Ton. »Ich fahre nicht umsonst schon seit Jahren in diese Privatklinik, um etwas für mein Asthma zu tun.« Mathilda seufzte mit bekümmerter Miene. »Hoffentlich können die Ärzte dieses Mal auch etwas für meine Beine tun«, fügte sie hinzu.
»Das hoffe ich auch«, erwiderte Liane.
Sie musste kurz überlegen, ob ihre Tante jemals Asthma gehabt hatte. Nein, das angebliche Asthma hatte sich vergangenes Jahr als schlichter Husten herausgestellt. Und ihr schweres Atmen lag an ihrem Übergewicht. Ob sie sich die Schmerzen in den Beinen auch einbildete oder zumindest übertrieb?
Die beiden schwiegen wieder eine Weile. Während Liane die große schwarze Limousine über die Straße steuerte, freute sie sich auf die Tage. Dass sie in einer Pension wohnte, war ein großer Lichtblick für sie. So konnte sie wenigstens abends machen, was sie wollte. Zu Hause in Baden-Baden war dies nicht der Fall. Stets fragte ihre Tante ihr Löcher in den Bauch. Mit wem sie verabredet war, wo, warum, wann sie zurückkommen würde. Das nervte.
Plötzlich unterbrach ein Geräusch, ein kurzer lauter Knall, die junge Frau in ihren Gedanken. Der Wagen wollte aus der Spur brechen. Instinktiv nahm sie den Fuß vom Gas und konnte die Limousine gerade noch am Straßenrand zum Stehen bringen.
»Was war das denn?«, fragte ihre Tante sie mit panischem Blick.
»Ich glaube, ein geplatzter Reifen«, murmelte Liane wie zu sich selbst, während sie ihren Sicherheitsgurt löste.
»Ein geplatzter Reifen?« Ihre Tante sah sie entsetzt an.
»Ich steige mal aus.« Liane öffnete die Tür und ging um das Fahrzeug herum.
Tatsächlich. Der hintere rechte Reifen war platt. Mathilda stand inzwischen an ihrer Seite.
»Ach, du meine Güte!«, rief sie aus. »Was machen wir jetzt?«
»Warten, bis jemand kommt und uns hilft«, lautete Lianes gelassene Antwort.
Sie hatte das ausgeglichene Gemüt ihrer Mutter geerbt, der Schwester ihrer Tante, und war das genaue Gegenteil von dieser.
»Warten, bis jemand vorbeikommt?«, fragte Mathilda und riss dabei voller Empörung die schwarzen Augen auf. »Du rufst sofort Hilfe. Ich will nicht zu spät in der Miniklinik ankommen.«
»Ich kann keine Hilfe rufen. Ich habe mein Handy nicht aufgeladen.«
»Wofür bezahle ich es dir denn, wenn du es in einem Notfall wie diesem nicht gebrauchen kannst?«
Liane verzichtete auf eine Antwort.
»Und jetzt?« Mathilda stemmte die Arme in die breiten Hüften und sah sie herausfordernd an.
»Setz dich am besten wieder in den Wagen. Denk an deine kranken Beine«, sagte sie ruhig. »Irgendwann wird bestimmt ein Auto vorbei kommen.«
Während sie sich suchend umschaute, hielt sie das Haar aus der Stirn, das der warme Sommerwind ihr ins Gesicht wehte. Ein paar tiefe Atemzüge lang genoss sie die reine Luft hier oben auf der Anhöhe. Sie duftete nach Harz, nach gesunder Erde und den Blüten der Wiesenblumen. Ganz anders als in Baden-Baden, das in einem Talkessel lag.
Weit und breit war niemand zu sehen, was sie nicht wunderte. Ihre Tante hatte über diese einsame idyllische Nebenstrecke fahren wollen statt auf direktem Weg nach Ruhweiler. Wenn kein Auto hier vorbeikommen würde, musste sie zu Fuß Hilfe holen.
Sie sah sich noch einmal um.
Nichts. Kein Auto, kein Fahrradfahrer, kein Pferdegespann.
Während ihre Tante nicht müde wurde, ihr Vorhaltungen wegen ihres Handys zu machen, lehnte sie sich an den Wagen und verschränkte die Arme vor der Brust. So stand sie eine Weile herum und wartete auf ein Wunder.
Was war das? Sie vernahm ein leises Brummen. Eindeutig Motorengeräusch. Da. Ein Auto kam aus dem Wald heraus. Ein dunkler Geländewagen, in gemächlichem Tempo. Als er sie erreicht hatte, bremste der Fahrer und parkte hinter der Limousine am Straßenrand. Die Fahrertür öffnete sich.
Als erstes fielen Liane die beeindruckende Größe und gute Figur des jungen Mannes auf. Dann erst sein attraktives gebräuntes Gesicht mit dem markanten Kinn und den blauen Augen, in denen sich die Farbe des Himmels über den Schwarzwaldhügeln spiegelte. Sie schätzte den Autofahrer auf Ende zwanzig.
»Entschuldigung«, sagte sie, während sie ihm entgegen eilte, »können Sie uns helfen?«
Liane ahnte in diesem Moment nicht, wie bezaubernd sie aussah. In ihren großen Augen stand ein hilfloser Ausdruck, und ihr Lächeln wirkte so verzagt, dass kein Mann ihre Frage mit einem Nein beantwortet hätte.
»Lassen Sie mich raten«, sagte der Fremde zu ihr. Dabei zwinkerte er ihr fröhlich zu. »Sie haben kein Benzin mehr. Stimmt's?« Sein Lachen klang belustigt und kam tief aus dem Bauch heraus.
Sie schüttelte den Kopf und musste ebenfalls lachen.
»Falsch geraten.«
Die beiden sahen sich an. Sie fanden sich gegenseitig sympathisch, das hätte jeder auf den ersten Blick erkannt. Nein, es war sogar etwas mehr als nur Sympathie. Sie gefielen einander. Das verrieten ihre Blicke, die jetzt miteinander zu tanzen begannen. Und plötzlich lud sich die glasklare Luft zwischen ihnen elektrisch auf. Die Sonne strahlte noch wärmer, das Licht begann zu flirren, die Insekten in der Luft summten und brummten lauter als vorher.
»Wir haben einen Platten, junger Mann«, durchschnitt nun die energisch klingende Stimme Mathildas das prickelnde Schweigen zwischen den beiden jungen Leuten.
Die Industriellenwitwe war inzwischen wieder ausgestiegen, um sich ins Geschehen zu bringen.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den Reifen wechseln könnten«, sagte sie zu dem Jeepfahrer, der Liane immer noch mit bewunderndem Blick anschaute. »Der Reservereifen liegt im Kofferraum.«
Der attraktive Fremde sah die Sechzigjährige an, als wäre sie gerade vom Himmel gefallen. Dann wanderte sein Blick wieder zu Liane, die schnell den Kopf senkte.
»Wollen Sie uns nun helfen oder nicht?«, fragte Mathilda in ungeduldigem Ton. »Wir haben es nämlich eilig.«
Manch einer wäre bei soviel Unhöflichkeit wieder in seinen Wagen gestiegen und hätte die beiden Frauen einfach stehen lassen. Doch dieser locker wirkende Autofahrer schien nicht sehr empfindlich zu sein. Er lachte Liane an, schob die aufgekrempelten Ärmel seines lichtblauen Sporthemdes noch höher und sagte in munterem Ton: »Na, dann wollen wir mal.«
Der Reifenwechsel dauerte nur wenige Minuten. Mathilda verfolgte ihn mit Argusaugen. Auch Liane beobachtete jede Bewegung ihres Retters in Not, der in ein paar Meter Entfernung von ihr auf der Erde kniete. Er strahlte eine Sicherheit aus, eine Unbeschwertheit, die sie faszinierte. Noch nie war sie einem Mann begegnet, der ihr auf den ersten Blick so gut gefallen hatte. Jetzt stand er auf, wischte sich die Hände an seiner Jeans ab und lachte sie an.
»Das wäre geschafft«, meinte er zu ihr.
Ihre Tante, die dicht neben ihm stand, schien er bewusst zu übersehen, was diese dazu bewog, sich vernehmlich zu räuspern.
»Danke«, sagte Liane und lächelte zurück.
Wieder verfingen sich ihre Blicke ein paar Herzschläge lang. Und beide spürten aufs Neue ganz deutlich das Knistern, das in diesen Augenblicken lag. Liane war es gewohnt, von Männern angesehen zu werden. Doch von Angesicht zu Angesicht mit diesem Fremden, der eine ganz besondere Ausstrahlung auf sie hatte, wurde sie unsicher. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass sie gerade durch diese Unsicherheit ganz besonders bezaubernd und anziehend wirkte.
»Tja, dann …« In einer unschlüssigen Geste hob sie die Schultern.
Wie gern hätte sie sich noch mit ihm unterhalten. Doch daran war im Beisein ihrer Tante ja nun wirklich nicht zu denken. Mathilda zerstörte dann auch prompt den Zauber, der dieser Situation inne lag, indem sie mit einem Geldschein vor der Nase des jungen Mannes hin und her wedelte, so dass dieser erschrocken ein paar Schritte zurücktrat und die ältere Frau verblüfft ansah.
»Bitte, für Ihre Dienste«, sagte Mathilda in deutlich herablassendem Ton. »Nehmen Sie es. Wir müssen jetzt weiter.«
Der Jeepfahrer zog die Brauen zusammen, so dass auf seiner gebräunten Stirn eine steile Falte entstand. Dann nahm seine Miene einen spöttischen Ausdruck an.
»Vielen Dank, gnädige Frau, aber ich nehme kein Geld an. Den Reifen habe ich Ihrer Enkelin zuliebe gewechselt.«
Mathildas vollwangiges Gesicht färbte sich dunkelrot. Dass jemand in diesem Ton zu ihr sprach, war eine Sache, die sie nicht kannte. Aber dass man sie für Lianes Großmutter hielt, war eine noch viel schlimmere. Tat sie nicht alles dafür, um jünger auszusehen?
So ein Flegel, dachte sie, während sie ihre vollschlanke Gestalt straffte.
»Dann eben nicht«, antwortete sie mit einer Stimme, die vor Kälte klirrte, während sie den Geldschein einfach wieder in ihre Krokohandtasche steckte. »Liane, komm!«
Dies war keine Bitte, sondern ein Befehl.
»Vielen Dank«, sagte Liane zu ihrem Helfer, schenkte ihm noch ein letztes Lächeln und stieg dann ein.
»Keine Ursache.« Er lächelte zurück. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
»Ich Ihnen auch«, erwiderte sie mit einem Anflug von Enttäuschung im Herzen, die sie sich jedoch nicht anmerken ließ.
»Ich sage ja immer, die jungen Männer heutzutage haben keinen Benimm mehr«, schimpfte Mathilda, während sie sich schwer atmend anschnallte.
»Er hat zumindest soviel Benehmen, dass er uns geholfen hat«, verteidigte Liane den Jeepfahrer kühl. »Und soviel, dass er dein Geld nicht wollte.«
Ihre Tante warf ihr einen prüfenden Seitenblick zu.
»Du wirst dich doch hoffentlich nicht schon wieder für Männer interessieren?«, lautete ihre barsche Antwort.
Liane schluckte schwer.
Nein, das hatte sie nicht vor. Außerdem gehörte sie nicht zu den jungen Frauen, die unbedingt eine Beziehung haben mussten. Dass ihre Tante jedoch wieder so deutlich durchblicken ließ, wie sehr sie auf ihr Leben Einfluss nehmen wollte, erzeugte in ihr einen Widerstand, der sie nach ein paar Sekunden schließlich schnippisch sagen ließ: »Auch wenn ich bei dir lebe und du mir mein Studium finanzierst, bin ich nicht deine Leibeigene, Tante Mathilda. Und es ist nichts Schlechtes dabei, wenn ich einen Mann sympathisch finde, wie gerade den, der uns den Reifen gewechselt hat.«
Die Industriellenwitwe blickte mit frostiger Miene durch die Windschutzscheibe, ohne ein weiteres Wort von sich zu geben.
*
Daniel Hoffmann fuhr weiter. Dabei hatte er nur die zierliche blonde Frau vor Augen, die ihn auf seltsame Weise berührt hatte. Was für Augen. Groß, nebelgrau, mit langen dunklen Wimpern. Ein verträumter Blick. Sie strahlte eine eigenartige Verwundbarkeit aus, aber genauso einen unbeugsamen Willen. Welch eine Mischung. Und ihr Lächeln, das Sonne und Wärme schenkte, wie auch ihre Figur waren sowieso nicht von dieser Welt. Ob sie hier Urlaub machte? Oder ob sie nur auf Durchreise war? Der Wagen hatte das Kennzeichen von Baden-Baden gehabt.
Er schaute auf die Uhr im Armaturenbrett.
Er musste sich beeilen. Um drei Uhr musste er wieder im Büro sein. Für einen Imbiss im Biergarten der Rottwälder Brauerei würde die Zeit nicht reichen. Also musste er seinen Hunger mit einem Hefeteilchen aus der Bäckerei in Ruhweiler stillen.
Als er in den Ort hinein fuhr, beglückwünschte er sich wieder einmal zu seiner Entscheidung, ins Ruhweiler Tal zurückgekehrt zu sein. Hier war er geboren, im Nachbardorf, und hier gehörte er hin. Das Steuerberaterbüro in Ulm, wo er gearbeitet hatte, lag mitten in der Stadt. Man hatte auf die umliegenden Häuser geblickt, auf eine Hauptverkehrsstraße sowie auf ein Industriegebäude. Auch jetzt fragte er sich wieder, wie er das Stadtleben so lange hatte aushalten können. Er war ein Landei, liebte Wiesen und Wälder und den Duft von Moos und Harz, den Duft des südlichen Schwarzwaldes, wo die Berge höher waren als im nördlichen, die Täler enger und verwunschener, die Wälder dunkler, wo es brausende Wasserfälle und geheimnisvolle Schluchten gab.
Daniel hielt vor der Bäckerei auf der Hauptstraße an, sprang aus dem Jeep und wollte gerade das Geschäft betreten, als eine Frauenstimme ihn im Laufschritt stoppte.
»Daniel!«
Er blieb stehen und drehte sich um. Da entdeckte er Silke.
Ihr Anblick traf ihn völlig unvorbereitet. Als er sich zur Rückkehr entschlossen hatte, war sie überhaupt nicht in seinem Kopf gewesen. Was nun?
Silke kam auf ihn zu, im blauen Kostüm, auf hohen Pumps, das rote Haar aufgesteckt. Ohne Zweifel war sie immer noch sehr attraktiv, aber sie war nie so richtig sein Frauentyp gewesen, obwohl er einige Jahre mit ihr liiert gewesen war. Eine Jugendsünde, wie er sich später eingestanden hatte.
»Hey.« Silke blieb vor ihm stehen, strahlend. Die Freude über dieses Wiedersehen sprang ihr aus den grünen Katzenaugen. Sie hauchte ihm einen Kuss auf beide Wangen und sagte: »Ich habe schon gehört, dass du dich hier in dem Steuerberaterbüro eingekauft hast. Darüber hat das ganze Tal geredet. Wie lange bist du schon wieder da?«
»Erst eine Woche«, erwiderte er und lächelte sie an. »Und du? Was machst du?«
»Ich arbeite im Wiesler an der Rezeption«, erzählte sie ihm stolz. »Das ist ein toller Job. Viele interessante Gäste, auch aus dem Ausland. Geschäftsleute. Im Wieseler atme ich wenigstens ein bisschen internationales Flair.«
Er wusste, dass sie das Tal immer hatte verlassen wollen.
»Und? Bist du allein zurückgekehrt oder hast du einen Anhang mitgebracht?«, fragte sie mit eindeutig verführerischem Blick.
Diese direkte Frage berührte ihn unangenehm. Silke schien sich nicht verändert zu haben. Was sollte er sagen? Er ahnte, aus welchem Grund sie ihm diese Frage stellte. Wahrscheinlich war auch sie noch solo. Nachdem er damals, in seinem zweiten Semester in Ulm, mit ihr Schluss gemacht hatte, war ihm von seinen Freunden zu Ohren gekommen, wie sehr sie darunter gelitten hatte.
»Allein«, antwortete er wahrheitsgemäß, woraufhin sie ihm umgehend strahlend mitteilte: »Ich bin auch noch solo.«
Na bestens, dachte er sich. Hoffentlich würde sie sich keine Hoffnungen darauf machen, dass aus ihnen beiden wieder etwas werden könnte.
Er blickte auf seine Armbanduhr und sagte: »Sei mir nicht böse, ich muss zurück ins Büro. Ich wollte mir nur gerade etwas zum Essen kaufen.« Er machte einen Schritt auf den Bäckereieingang zu und hob die Hand. »Also dann, mach's gut.«
Natürlich bemerkte er die Enttäuschung auf ihrem aparten Gesicht. Und es tat ihm auch leid, dass er sie so schnell abfertigte, nachdem sie sich viele Jahre nicht gesehen hatten. Gleichzeitig jedoch meldete sich ein unangenehmes Gefühl im Bauch. Er kannte dieses Spiel, die Signale mancher Frauen, die auf Eroberung aus waren. Ihr Traum war es, sich einen Mann mit sicherer Existenz zu angeln, um dann an dessen Seite ein gutes Leben zu führen.
O Mann, bitte nicht, dachte er bei sich, als er sich in die Kundenschlange vor der Theke einreihte. Er wollte zurzeit keine Beziehung. Er wollte erst einmal in seiner Heimat beruflich Fuß fassen und seine Arbeit tun. Möglichst ohne unangenehmen Partnerstress. Und der würde programmiert sein, wenn er Silke auch nur einen kleinen Finger reichen würde. Er kannte sie. Er wusste, wie besitzergreifend sie war und wie eifersüchtig.
*
Bevor die beiden Frauen zur Miniklinik fuhren, wollte Mathilda Ruben noch in der kleinen Kreisstadt einkaufen. Zeitschriften, Bücher und ein paar Musik-CDs mit flotter Volksmusik. So kamen Tante und Nichte dann schließlich doch viel zu spät in der Privatklinik an.
Dr. Matthias Brunner begegnete seiner Patientin völlig unfreiwillig auf dem Gang, der von der Miniklinik zur Landarztpraxis führte.
»Herr Doktor!«, hörte er ihre tiefe Stimme hinter sich rufen. Natürlich blieb er stehen und ging auf sie zu. Die ältere Frau schenkte ihm ein charmantes Lächeln, wodurch er sich jedoch nicht täuschen ließ. Er wusste ja, welcher Drache in Wirklichkeit hier gerade Einzug nahm.
»Meine Nichte«, stellte die Industriellenwitwe die zartgliedrige Blondine an ihrer Seite hörbar stolz vor. »Sie wissen hoffentlich noch, dass ich dieses Mal auch wegen meiner Beine bei Ihnen bin«, erinnerte sie ihn danach umgehend mit strenger Miene, als hätte sie in ihm ihren höchst persönlichen Leibarzt vor sich.
Matthias lächelte sie an. »Natürlich, Frau Ruben. Ich habe für Sie heute um sechzehn Uhr Zeit. Dann werden wir alles besprechen. Aber zuerst sollten Sie Ihr Zimmer beziehen. Schwester Gertrud wird Ihnen dabei behilflich sein.«
»Schwester Gertrud?« Mathilda runzelte die Stirn.
Sie schien zu wissen, dass sie in der resoluten Krankenschwester eine ebenbürtige Gegnerin hatte.
Sie straffte sich und lächelte ihn an, bevor sie in säuselndem Ton sagte: »Ich hätte da noch ein Anliegen, das in Ihrem Ermessensbereich liegt.«
Matthias hob die Brauen.
Was kam denn jetzt?
»Wäre es möglich, dass meine Nichte ein Zimmer hier in der Klinik haben könnte? Vielleicht sogar neben meinem? So hätte ich sie immer an meiner Seite.«
Er blinzelte verwirrt und bemerkte, wie die junge Frau den Atem anhielt und ihre Tante ansah. Ihr entsetzter Blick sprach für sich.
»Tut mir leid«, erwiderte er in verbindlichem Ton. »Meine Klinik ist ausgebucht. Wie Sie wissen, verfügen wir ja nur über zwei Krankenzimmer. Und die Notzimmer brauchen ich, wie der Name schon sagt, für Notfallpatienten.«
»Aber für einen Aufpreis lässt sich doch sicher etwas machen, oder?« Mathildas Blick bekam einen lauernden Ausdruck.
»Als Klinik brauchen wir unsere Zimmer für unsere Patienten«, antwortete er freundlich, aber energisch. »Angehörige unserer Patienten können wir leider nicht unterbringen. Wir sehen uns um vier Uhr. Sie entschuldigen mich bitte jetzt …«
Er deutete eine Verbeugung an, drehte sich um und ging den Gang hinauf zur Praxis. Dabei lächelte er vergnügt vor sich hin.
Die junge Frau atmete doch bestimmt jetzt innerlich auf, dachte er bei sich und freute sich, dieser sympathisch wirkenden Person eine Freunde gemacht zu haben.
*
Matthias empfing Mathilda Ruben Punkt sechzehn Uhr in seinem Büro. Meistens besprach er sich mit Neuzugängen auf deren Krankenzimmern, die so gemütlich wie Hotelzimmer eingerichtet waren. In dieser angenehmen Atmosphäre fühlten sich die Patienten freier und ungezwungener als in einem ihnen fremden Büro. Doch bei Mathilda Ruben schien es angebracht zu sein, ein wenig Autorität walten zu lassen. Er kannte sie als eingebildete und rechthaberische Person, die davon ausging, sich mit Geld alles erkaufen zu können.
Nachdem er mit ihr die üblichen Höflichkeitsfloskeln zur Begrüßung gewechselt hatte, sah er die ältere Frau, deren schwarz gefärbtes Haar die Gesichtszüge noch härter erschienen ließ, intensiv an.
»Seit wann haben Sie Ihre Beinbeschwerden?«, erkundigte er sich.
»Schon fast ein Jahr lang«, begann sie zu erzählen, sichtlich zufrieden, dass man sich sofort ihrer Leiden annahm. »Ziemlich schnell nach meinem letzten Aufenthalt bei Ihnen. Als sie immer schlimmer wurden, bin ich von einem Arzt zum anderen gelaufen. Keiner konnte mir bisher richtig helfen. Ich glaube, ich hatte auch im Winter eine Venenentzündung. Sie waren ganz geschwollen am Abend.«
»Haben die Ärzte bei Ihnen eine Venenentzündung diagnostiziert?«
Er bemerkte, wie sie unsicher wurde. »Nicht direkt, aber die waren ja auch völlig unfähig. Ich kenne meinen Körper. Ich hoffe …«, sie bedachte ihn mit einem scharfen Blick, »dass ich hier bei Ihnen an der richtigen Stelle bin.«
Er lächelte sie an. »Wir werden alles tun, um Ihnen zu helfen, Frau Ruben. Dafür müssen Sie natürlich mit uns Hand in Hand arbeiten«, fügte er dann ernst hinzu.
»Zum Sport werden Sie mich bestimmt nicht bewegen können«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.
Er unterdrückte ein Lachen.
Die Vorstellung, diese Matrone auf einem Trimmgerät sitzen zu sehen, belustigte ihn.
»Wie äußern sich Ihre Beinbeschwerden?«, erkundigte er sich.
»Abends sind sie immer geschwollen und so unruhig. Ich kann sie im Bett nicht still halten. Ich kann nur mit Schlaftabletten einschlafen.«
»Sie könnten unter einem Magnesiummangel leiden. Wie sieht es mit dem Trinken tagsüber aus?«
»Halten Sie mich etwa für eine Alkoholikerin?«
»Ich meine Mineralwasser. Trinken Sie tagsüber genug Wasser? Eineinhalb bis zwei Liter sollte man zu sich nehmen.«
Sie räusperte sich. »Na ja …«
Also nicht, sagte er sich und stand auf.
»Ich möchte Sie jetzt untersuchen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen …«
Nach einer guten Viertelstunde war er mit der Untersuchung fertig.
»Das Blutbild werde ich heute Abend noch auswerten. Morgen kann ich Ihnen das Ergebnis mitteilen«, sagte er. »Feststeht schon jetzt, dass wir für die arterielle Durchblutung Ihrer Beine etwas tun müssen«, teilte er seiner Patientin ruhig, aber energisch mit. »Dazu gehört auch, dass Sie zukünftig ohne diese dicken Binden um Ihre Beine auskommen müssen, die der Erschlaffung des Gewebes nur noch Vorschub leisten. Des Weiteren müssen wir Ihr Übergewicht abbauen. Unsere deftige Schwarzwälder Küche werden wir in dieser Woche streichen.«
Während er sprach, wurden die schwarzen Augen der Industriellenwitwe immer größer. Er wusste nur zu gut, dass er mit dem Übergewicht ein heikles Thema angesprochen hatte. Schließlich schnaubte Mathilda Ruben durch die Nase, setzte sich kerzengerade hin und erwiderte: »Heißt das, dass ich mich fortan nur noch von Salaten und Brühe ernähren soll?«
»So ähnlich«, musste er zugeben. »Aber ich habe Sie doch richtig verstanden, dass Sie hier sind, um Ihre Beine zu heilen. Oder?«
Die ältere Frau sank in sich zusammen und nickte nur stumm.
»Unsere homöopathische Therapie wird begleitet durch Wechselwaschungen und kalte Aufgüsse bei der Physiotherapeutin in Ruhweiler«, fuhr er sachlich fort. »Weiterhin verordne ich Ihnen tägliche Spaziergänge, bei denen Ihre Nichte Sie anfänglich begleiten sollte.«
Mathilda hob den Kopf.
»Apropos meine Nichte«, wechselte sie nun das Thema. »Ich hätte sie wirklich gern hier bei mir.« Ihre Worte klangen jetzt schon eher nach einer Bitte.
Mit bedauernder Miene hob er die Schultern. »Wie schon gesagt, es tut mir leid, aber wir können die Angehörigen unserer Patienten nicht unterbringen. Aus Platzmangel«, fügte er geduldig hinzu.
Mathilda rückte auf die Sesselkante vor. »Meine Nichte ist krank. Labil«, begann sie zu erzählen.
»Labil?« Er horchte auf.
»Nun ja, sie war immer schon ein Problemkind. Sie ist jetzt zweiundzwanzig und hat mir in der letzten Zeit viel Kummer bereitet.«
»Wie drückt sich denn die Labilität Ihrer Nichte aus?«
Mathilda straffte sich in dem Sessel, während sich ihre Miene verschloss. »Das ist eine Familienangelegenheit. Sozusagen ein dunkles Geheimnis.«
Matthias runzelte die Stirn.
Dunkles Geheimnis?, wiederholte er in Gedanken. Wie dramatisch das klang. Ob Mathilda Ruben in diesem Fall wieder einmal übertrieb oder ob Liane Sauter tatsächlich etwas Schlimmes erlebt hatte?
»Ich kann nicht darüber reden«, fuhr seine Patientin mit tragischer Miene fort. »Ich dachte daran, dass Liane sich in meiner Nähe sicherer fühlt als in einer fremden Pension. Vielleicht könnten Sie nervenstärkende Bäder, Massagen oder so etwas verschreiben. Dafür braucht sie ein Zimmer hier.«
Matthias glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
»Frau Ruben …«, begann er mit erzwungener Ruhe unvermindert freundlich, »wir sind kein Wellness-Tempel, sondern eine Klinik. Sollte Ihre Nichte tatsächlich ein Leiden haben, ein Nervenleiden, ist ein solches übrigens nicht durch Bäder zu beheben. Sie sollte sich dann erst einmal untersuchen lassen. Natürlich muss dieser Wunsch von Ihrer Nichte ausgehen. Ich bin gern bereit, ein Gespräch mit ihr zu führen.«
Mathilda Ruben schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre Wangen hin und her wackelten.
»Ich werde mit Liane reden«, entschied sie dann mit abweisender Miene. »Und ich möchte Sie bitten, über dieses Gespräch Stillschweigen zu bewahren.«
»Als Arzt stehe ich unter Schweigepflicht, Frau Ruben. Ganz gleich, über wen ich rede. Und mit wem.«
*
»Überlege es dir, Kind«, sagte Mathilda in strengem Ton. »Ein Checkup schadet nicht. Kürzlich noch hast du über Kopfschmerzen geklagt. Außerdem tut dir manchmal der Nacken weh, wenn du zu lange vor dem Computer sitzt. Wenn du Patientin hier bist, bekommst du vielleicht ein Zimmer hier auf dem Gang. Dann musst du nicht jeden Tag hin und her fahren.«
»Bitte, Tante …« Liane konnte es nicht mehr hören. Schon seit zwei Tagen hing Mathilda ihr nun schon mit diesem Vorschlag in den Ohren. Sie wusste nur zu gut, warum. Dabei war sie glücklich, wenigstens in den Nächten in dem einfachen, aber gemütlichen Pensionszimmer ihre Ruhe zu haben.
»Ich brauche keine Untersuchung«, fuhr sie energischer fort. »Ich bin nicht krank. Wenn du nicht ständig auf mich einreden würdest, hätte ich auch keine Kopfschmerzen. Und zum Ausgleich zu meiner Computerarbeit mache ich Sport.«
Ihre Lippen bebten vor Verzweiflung und Wut. Das waren immer die Momente, in denen sie am liebsten weggelaufen wäre. Doch konnte sie ihre Tante allein lassen? Mathilda hatte nur sie. Keine Kinder, keine anderen Verwandten. Sie fühlte sich für ihre Tante verantwortlich. Schließlich hatte sie sie nach dem Unfalltod ihrer Eltern bei sich aufgenommen und ihr ein schönes Zuhause geboten. Ohne die Schwester ihrer Mutter wäre sie im Waisenhaus gelandet.
Diese Gedanken jagten einander in Lianes Kopf, während die junge Frau mit den Tränen kämpfte.
»Denk noch einmal darüber nach«, hörte sie ihre Tante nun in weicherem Ton sagen. »Und jetzt könntest du ins Dorf fahren und mir eine Tageszeitung kaufen.«
Liane wandte sich zur Tür, wurde dann aber wieder zurückgerufen. »Ja, Tante?«
»Bring mir noch eine Tafel Schokolade mit. Und beeil dich bitte, ich habe heute Nachmittag einen Termin bei Dr. Brunner.«
Die junge Frau seufzte leise und verließ das Zimmer.
*
Als Liane aus dem Zeitungskiosk trat, kündigten die Glocken der kleinen Kirche gerade mit dreizehn Schlägen die Uhrzeit an. Sie blieb auf dem schmalen Bürgersteig stehen und sah sich um.
Wie idyllisch es hier war. Der goldene Wetterhahn auf dem Kirchturm blitzte in der Sonne. Die schmale gepflasterte Hauptstraße wurde zu beiden Seiten von kleinen Geschäften gesäumt. Unter dem großen Lindenbaum im Biergarten des Gasthauses saßen ein paar Dörfler beim Glas Wein, und die Leute standen am Gartenzaun zusammen und plauderten mit dem Nachbarn. In Ruhweiler herrschte eine beschauliche Ruhe, die allein schon von großem Erholungswert war, ganz abgesehen von der schönen Landschaft und der guten Luft.
Liane konnte nicht anders, sie schlenderte die Straße hinunter, betrachteten die Auslagen in dem Souvenirladen, in der kleinen Boutique und dem Geschäft, das deftige Schwarzwälder Schmankerln anbot.
»Hunger?«, fragte da eine Stimme hinter ihr.
Sie erkannte die sympathische tiefe Männerstimme auf Anhieb, und ihr Herz machte den sprichwörtlichen Sprung. Als sie sich umdrehte, blickte sie in zwei Augen, die die Farbe des Sommerhimmels besaßen.
»Sie?«, fragte sie erfreut und erstaunt zugleich.
»Ja, ich.« Vor ihr stand der Mann, der vor zwei Tagen den Reifen gewechselt hatte. Er lächelte sie so an, als würde er sich ebenfalls über dieses Wiedersehen freuen.
»Das ist ja …« Plötzlich fühlte sie sich ganz verlegen, was bestimmt an seinem tiefen Blick lag, der ihren viel zu lange festhielt.
»Das ist wirklich ein Zufall«, sprach er ihren begonnenen Satz zu Ende. »Ich habe dich von hinten zuerst gar nicht erkannt.«
Sie räusperte. »Was machst du denn hier?«, fragte sie, wobei sie das Du gern annahm.
»Ich arbeite hier in Ruhweiler.« Er zögerte kurz, streckte ihr dann mit einem jungenhaften Lächeln die Hand entgegen und stellte sich vor: »Daniel. Daniel Hoffmann.«
Gern schlug sie in seine Hand ein. Sie fühlte sich warm und angenehm trocken an.
»Liane Sauter.«
Sein Händedruck war fest und kräftig. Er vermittelte ihr ein Gefühl von Zuverlässigkeit und Stärke.
Daniel lächelte fröhlich und sagte: »Ich habe gerade Mittagspause. Trinken wir einen Kaffee zusammen?«
Nur kurz dachte sie daran, dass ihre Tante auf die Zeitung wartete, und auf die Schokolade. Trotzdem nickte sie entschlossen.
»Sehr gern«, antwortete sie.
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Nach den ersten Minuten, in denen sie beide etwas unsicher miteinander umgingen, kam zwischen ihnen schnell eine entspannte Unterhaltung in Gang. Sie knüpften daran an, welche Zufälle es doch im Leben geben würde, dass sie sich nach dem Reifenwechsel in Ruhweiler noch einmal wiedergesehen hatten.
»Machst du hier Urlaub?«, erkundigte sich Daniel neugierig.
Eine andere Möglichkeit konnte er sich nicht vorstellen.
»Nein, meine Tante ist Patientin in der Miniklinik auf dem Praxishügel«, lautete die Antwort der schönen jungen Frau. »Bei Dr. Brunner. Kennst du den?«
Da musste er lachen. »Klar kenne ich unseren Landdoktor. Den kennt jeder hier im Tal und weit darüber hinaus.« Er zögerte und sah sie an. »Was fehlt deiner Tante denn? Auf mich hatte sie eigentlich …« Er verstummte.
Da lachte Liane hellauf. »Ich weiß, was du sagen willst. Ich weiß auch nicht, was sie richtig hat. Zurzeit sind es ihre Beine. Sie hat ständig Angst um ihre Gesundheit«, fügte sie mit einer wegwerfenden Geste hinzu.
»Und was machst du in der Zeit, während sich deine Tante therapieren lässt?«, erkundigte er sich.
»Ich bin bei ihr. Tante Mathilda braucht mich.« Der Seufzer, dem sie ihrer Antwort folgen ließ, verriet ihm, dass diese Gesellschaft nicht gerade zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehörte.
»Gefällt es dir hier?«, erkundigte er sich.
»Sehr.« Das eine Wort kam ihr aus dem Herzen. Ein Leuchten trat in ihre Augen, das sie noch wundervoller machten.
»Und du? Kommst du von hier?«, wollte sie nun wissen.
»Aus dem Nachbarort. Nach dem Abitur bin ich zum Studium nach Ulm gegangen, habe danach dort in einer Steuerberaterkanzlei gearbeitet, die Prüfung gemacht und bin erst seit einer Woche wieder zurück. Ich habe hier ein Steuerberaterbüro übernommen.«
Und sogleich hatten sie wieder ein neues Thema. Sie sprachen über Ulm, übers Allgäu, das hinter Ulm lag, und stellten fest, dass sie viele gleiche Interessen hatten. Irgendwann fiel Lianes Blick auf ihre Armbanduhr. Sie erschrak.