Читать книгу Der Landdoktor Classic 39 – Arztroman - Christine von Bergen - Страница 3

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Mit wohligem Seufzer lehnte sich Ulrike Brunner zurück und genoss den Blick auf die bunten Wiesen und Tannenwälder, über denen sich ein tiefblauer Sommerhimmel spannte. Auch nach mehr als dreißig Jahren noch, die sie schon im Ruhweiler Tal lebte, konnte sie sich nicht satt sehen an der Landschaft, deren Anblick ihr jedes Mal aufs Neue Ruhe und Frieden schenkte. Mit versonnenem Lächeln schloss die Landarztfrau die Augen und lauschte den Vögeln in den Obstbäumen, deren Gesang für sie die schönste Musik war. Das war für sie Entspannung pur.

Die beschauliche Ruhe sollte jedoch nicht von langer Dauer sein. Ulrike schreckte jäh zusammen, als Lump, der vierbeinige Hausgenosse des Arztehepaares, plötzlich laut bellte. Er hatte bis jetzt faul zu Füßen seines Frauchens auf der Terrasse gelegen. Jetzt sprang er auf und jagte um das alte Schwarzwaldhaus herum. Wenn Lump so freudig bellte, war Besuch im Anmarsch.

Ulrike stand auf, strich den Rock glatt und folgte dem Jagdhund zur Vorderseite des Hauses.

»Charlotte!«, rief sie erfreut aus, als sie die junge hoch gewachsene Frau entdeckte, die gerade aus einem schwarzen Cabrio stieg. »Welch eine schöne Überraschung.«

Sie ging Charlotte Waldecker entgegen und dachte wieder einmal, wie schön die älteste Tochter der Waldeckers war. Der Sommerwind ließ deren rötlich schimmernde Locken wie eine lange Fahne hinter ihr her wehen.

»Hallo, Frau Brunner«, begrüßte Charlotte die Landarztfrau mit angenehm weich klingender Stimme und reichte ihr die Hand. »Störe ich?«

»Überhaupt nicht«, erwiderte Ulrike herzlich. »Im Gegenteil, ich freue mich, dich einmal wieder zu sehen.«

Sie hakte sich bei der Architektin unter und führte sie zur Terrasse auf der Hinterseite des Hauses. Lump lief den beiden laut bellend voraus, was ein Zeichen dafür war, dass auch er den seltenen Gast willkommen hieß.

»Ich war bei meinen Eltern zum Mittagessen und da dachte ich, ich schaue einfach mal kurz bei Ihnen vorbei«, sagte Charlotte.

»Bei deinen Eltern zum Mittagessen?« Ulrike sah sie erstaunt von der Seite an.

Das kam nicht oft vor, wie sie von ihrer Tochter Dorothee wusste. Die beiden jungen Frauen waren miteinander befreundet.

Sie zeigte auf den langen Teakholztisch, den eine Vase mit üppig blühenden, roséfarbene Gartenrosen schmückte. »Setz dich. Darf ich dir etwas anbieten? Kaffee, Apfelschorle, Wasser und vielleicht ein Stückchen Kuchen?«

»Danke, gar nichts.« Mit gequälter Miene hob die junge Frau abwehrend die Hände. »Ich bin noch satt vom Mittagessen.«

»Wie geht es deinen Eltern?«, erkundigte sich Ulrike aus Höflichkeit.

Spitzbübisch zwinkerte ihr Charlotte zu. »Wenn sie hier in ihrem Ferienhaus sind, kann man besser mit ihnen umgehen. Das macht wahrscheinlich die Ruhe im Tal, die selbst auf meine Eltern abfärbt. Dennoch …« Sie stöhnte leise auf und verdrehte dabei die großen seegrünen Augen, die so manches Männerherz höher schlagen ließen. »Na ja, Sie wissen ja, aber es war mal wieder an der Zeit, sie zu besuchen, und da ein Kunde von mir hier in Ruhweiler wohnt, habe ich das Geschäftliche mit dem Familienbesuch verbunden.«

»Familienbesuch? Das klingt wirklich so …«

»Meine Schwester ist seit ein paar Tagen hier«, unterbrach Charlotte den begonnenen Satz. »So waren wir alle wieder einmal schön zusammen«, fügte sie mit hörbarer Ironie hinzu.

Ulrike musste lachen. »Das klingt ja richtig begeistert.«

»War ich auch.« Die junge Frau stimmte in ihr Lachen ein. Dann verzog sie ihr apart geschnittenes Gesicht mit den hohen Wangenknochen zu einer gequälten Miene. »Es ist immer dasselbe, wenn wir zusammen sind. Mein Vater sprach nur vom Geld, meine Mutter von ihren Wohltätigkeitsveranstaltungen und Damentees und mein Schwesterherz hat zurzeit nichts anderes im Kopf als ihre Hochzeit.«

»Pauline heiratet?«

Die Architektin nickte bekräftigend. »Ich war auch so verblüfft wie Sie jetzt. Als ich dann aber hörte, wen sie heiratet, habe ich mich nicht mehr gewundert. Raten Sie einmal.«

Ulrike hob die Schultern. »Keine Ahnung. Du weißt, dass wir kaum Kontakt zu deiner Familie haben.«

»Was ich auch gut verstehen kann«, gab die junge Frau unumwunden zu. »Lothar Dudenhöfer ist der Glückliche, Paulines Jugendfreund, den sie vor einem halben Jahr wieder aus der Versenkung hervor geholt hat. Daraufhin haben die beiden sofort Nägel mit Köpfen gemacht und einen Hochzeitstermin festgelegt. Wahrscheinlich haben beide in den vergangenen Jahren festgestellt, dass sie nichts Besseres auf dem Heiratsmarkt finden können.«

Wieder lachte Ulrike belustigt auf.

Charlottes direkte Art war herzerfrischend. Ihre Familie jedoch schätzte diese weit weniger als Charlottes Freunde. Aus diesem Grund war sie auch gleich nach dem Abitur von zu Hause ausgezogen und hatte sich auf eigene Füße gestellt.

»Wann soll die Hochzeit sein?«, erkundigte sich die Arztfrau.

»In zwei Wochen. Natürlich in Baden-Baden. Und natürlich in unserer Villa. Es wird ein riesiges Fest werden, mit Presse und allem Pipapo, was dazu gehört.«

»Tatsächlich?«

Charlotte hob in gespielter Verwunderung die Brauen. »Wundert Sie das? Meine Eltern lassen es sich etwas kosten, wenigstens eine Tochter unter die Haube zu bringen. Und dann noch ihr geliebtes Kleines … Außerdem ist die Hochzeit für meine Mutter mal wieder eine Gelegenheit, unseren Namen in den Gesellschaftsteil der Zeitung zu bringen. Daran hat sie ihre helle Freude.«

Die Landarztgattin hatte ihrem Gast voller Vergnügen zugehört. Sie mochte die Freundin ihrer Tochter. Charlotte hatte das Herz am richtigen Fleck.

»Wie geht es Ihrem Mann?«, wechselte die junge Frau nun das Thema.

Sie hatte genug davon, über ihre Familie zu sprechen.

»Sehr gut«, antwortete Ulrike.

»Und Thorsten? Wie Dorothee mir erzählte, hat sie ein paar Wochen nichts von ihrem Bruder gehört.«

»Thorsten ist noch auf Konzerttournee in Australien. Übermorgen kommt er zurück. Dann muss er leider erst einmal für ein paar Tage in die Uniklinik. Er wird am Meniskus operiert. Das ist zwar keine große Sache, aber eine unangenehme.«

»Kann Ihr Mann das nicht hier in der Miniklinik machen?«

»Mein Mann ist ein sehr guter Arzt und er macht schon vieles, was über die Tätigkeit eines Landarztes hinaus geht, aber den Fachbereich Orthopädie überlässt er lieber seinen Kollegen in Freiburg«, fügte Ulrike zwinkernd hinzu.

»Dann werde ich Thorsten in der Uniklinik besuchen. Ich arbeite dort seit Kurzem einmal in der Woche als Vorleserin.«

»Als Vorleserin?«

»In der Kinderklinik. Diese Lesestunden sind ein ehrenamtliches Projekt, um den Kids ein bisschen Abwechslung und Trost zu bieten«, erklärte die junge Frau ihr.

»Das gefällt mir«, sagte Ulrike mit anerkennendem Blick.

In diesem Augenblick wunderte sie sich wieder einmal darüber, dass Charlotte so ganz anders war als der Rest ihrer Familie. Denn diese galt im Ruhweiler Tal als arrogant und neureich.

*

»Der nächste Patient ist Herr Waldecker«, kündigte Schwester Gertrud mit vielsagendem Blick an.

Der Landarzt wusste, dass der reiche Unternehmer seinem Praxisdrachen ein Dorn im Auge war. Johann Waldecker gehörte zu den Menschen, die glaubten, sich die Welt kaufen zu können. Bei seinem ersten Besuch in der Praxis, welcher zwei Jahrzehnte zurücklag, hatte er die Sprechstundenhilfe mit einem großzügigen Geldschein für die Personalkasse bestechen wollen, damit er nicht hätte warten müssen. Beim zweiten Besuch dann hatte er verstanden, dass bei Schwester Gertrud alle der Reihe nach aufgerufen wurden. Diese Einsicht hatte ihn jedoch in den Augen des Praxisdrachen nicht sympathischer gemacht.

»Waldecker?« Matthias hob die graumelierten Brauen. »Was fehlt ihm?«

»Keine Ahnung, Sie wissen doch, Herr Waldecker redet nicht mit dem Fußvolk«, lautete Gertruds bissige Antwort. »Blass sieht er aus, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« Dann drehte sie sich um und verließ das Sprechzimmer.

Ja, blass sieht er aus, dachte der Landarzt nur wenige Lidschläge später, als Johann Waldecker den Raum betrat. Er bemühte sich, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.

»Guten Tag, Herr Waldecker«, begrüßte er seinen Patienten. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich brauche irgendwelche Pillen, die mich wieder munter machen«, antwortete der Unternehmer, der sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet und dabei den Boden unten den Füßen verloren hatte.

»Pillen?« Matthias musste lachen. Noch bestimmte er selbst über die Therapiemethoden seiner Patienten. »Wie wäre es, wenn Sie mir erst einmal sagen, welche Beschwerden Sie haben.«

Mit einladender Geste zeigte er auf den Patientensessel vor seinem Schreibtisch, welcher Johann Waldecker dann auch stumm Folge leistete. Matthias setzte sich dem fülligen Mann mit frostweißem Haar gegenüber und sah ihn erwartungsvoll an.

»Ich bin überarbeitet«, legte der Unternehmer dann auch gleich los, in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. »Was kein Wunder ist. Ich habe ja keine Nachkommen, die mich in meinen Firmen unterstützen könnten. Meine älteste Tochter Charlotte meinte, sich als Architektin selbstständig machen zu müssen, um es ihrem Vater zu beweisen, und meine Jüngste, die Pauline …« Er winkte ab, was Matthias mehr verriet als weitere Worte.

In diesem Punkt musste er seinem Gegenüber sogar recht geben. Pauline Waldecker war eine verzogene wehleidige Person, die, wenn sie ihre Eltern in deren Ferienhaus im Ruhweiler besuchte, stets mit irgendwelchen Wehwehchen in seine Praxis kam.

»Dieser Stress in meinem Alter, in dem sich andere Männer längst zur Ruhe gesetzt haben, schadet mir natürlich«, fuhr sein Patient fort. »Seit einiger Zeit habe ich Schwindel, Kopfschmerzen und bin häufig erkältet, was auch für einen medizinischen Laien wie mich für ein schwaches Immunsystem spricht, was wiederum stressbedingt ist.«

Der Landarzt hatte dem schwergewichtigen Hünen schweigend zugehört, allerdings mit aufsteigendem Ärger im Bauch. Er liebte es, wenn Patienten mit ihrer selbst gebastelten Diagnose zu ihm kamen. Dass Johann Waldecker zu diesen gehörte, hätte er sich eigentlich denken können. Der Unternehmer war dafür bekannt, alles besser zu wissen als andere, und dafür, Befehle zu erteilen.

Aber nicht bei mir, sagte sich Matthias. Er unterdrückte ein feines Lächeln, bevor er ruhig erwiderte: »Die Symptome, die Sie gerade aufgezählt haben, sind Hinweise auf sehr viele Krankheitsbilder, nicht nur auf Überarbeitung.«

Da blitzte es in den steingrauen Augen Johann Waldeckers auf.

»Ich leide aber unter Überarbeitung«, beharrte er in hartem Ton. »Ich kenne schließlich meine Situation besser als Sie.«

Matthias biss sich kurz und fest auf die Lippe. Er war Arzt aus Leidenschaft und fühlte sich seiner Berufung verpflichtet. Wenn er seine medizinische Aufgabe lockerer genommen hätte, wäre jetzt der Zeitpunkt gewesen, seinen Patienten hinauszubegleiten. So jedoch unterdrückte er seine Verärgerung und sagte freundlich, jedoch bedeutend kühler: »Ich verschreibe meinen Patienten niemals Medikamente, ohne vorher selbst eine Diagnose aufzustellen. Wenn Sie möchten, dass ich Ihnen helfe, müssen Sie mir schon erlauben, Sie zu untersuchen.«

Ein Brummen war die Antwort, was er als Zustimmung auslegte, zumal sich Waldecker jetzt erhob und zur Untersuchungsliege marschierte, als würde er ins Gefecht ziehen.

»Muss ich mich ganz ausziehen?«, fragte er mürrisch.

»Ich horche erst einmal nur Ihren Oberkörper ab, Herz und Lunge, und messe Puls sowie Blutdruck.«

Diese Routineuntersuchung wies keinerlei Auffälligkeiten auf. Herztöne, Blutdruck und Puls waren normal. Auch beim Abhorchen der Lunge ergaben sich keine Geräusche, die ihn hätten aufhorchen lassen. Was ihm jedoch auffiel, waren drei große blaue Flecken. Zwei auf dem Rücken seines Patienten, einer auf der linken Brustseite. Er zeigte darauf.

»Woher haben Sie den?«

»Keine Ahnung. Ich muss mich wohl gestoßen haben. Ist mir jedoch nicht aufgefallen«, lautete die schnodderige Antwort.

»Leiden Sie manchmal unter Übelkeit?«

Sein Gegenüber hob die fleischigen Schultern. »Manchmal, in der letzten Zeit, was am fetten Essen liegen mag. Unsere neue Haushälterin …«

»Kopfschmerzen?«

»Auch.«

»Sie können sich wieder anziehen.«

Während sein Patient dieser Aufforderung nachkam, bereitete der Landarzt alles vor zur Blutabnahme. Er wollte ein großes Blutbild erstellen, in welchen sich viele Krankheiten niederschlugen.

»Was machen Sie denn da?«, fragte Waldecker da in entsetztem Ton, als er die Kanülen zur Blutentnahme wahrnahm.

Matthias erklärte ihm, was er vorhatte.

»Das kommt gar nicht infrage«, widersprach ihm da sein Patient rigoros. »Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich Medikamente brauche, damit ich möglichst bald wieder fit bin. Ich habe Ihnen doch gerade genau geschildert, worunter ich leide. Geben Sie mir ein Rezept mit ein paar chemischen Keulen, damit ich weiterarbeiten kann. Ich besitze ein Unternehmen mit mehreren tausend Mitarbeitern, die mich brauchen.«

Nicht nur diese Forderung und der rüde Ton, sondern auch das Ansinnen als solches verschlug Matthias zunächst die Sprache, jedoch nur drei, vier Sekunden lang. Dann suchte er den Blick seines Gegenübers und hielt ihn unbarmherzig fest.

»Jetzt will ich Ihnen etwas sagen, Herr Waldecker«, begann er ganz ruhig. »Ich werde Ihnen heute überhaupt nichts verschreiben. Zuerst will ich ein Blutbild von Ihnen machen. Ohne ein solches geht bei mir überhaupt nichts. Falls Ihnen das nicht passt, gehen Sie lieber zu einem anderen Arzt und versuchen Sie mit Ihrer charmanten Art dort Ihr Glück. Gern gebe ich Ihnen den Rat mit auf den Weg, erst einmal beruflich kürzer zu treten, jeden Tag eine Stunde zu ruhen und spazieren zu gehen sowie Ärger zu vermeiden. Vielleicht geht es Ihnen dadurch schon nach ein paar Wochen besser, vielleicht aber tragen Sie auch eine Krankheit mit sich herum, die nicht durch diese Maßnahmen zu bekämpfen ist. Für den Fall, dass Sie keine Besserung erfahren, lege ich Ihnen ans Herz, einen Kollegen aufzusuchen, der nach den Ursachen Ihrer Symptome sucht. Und nun wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.«

Der fassungslose Blick des Unternehmers sagte ihm alles. Johann Waldecker hatte es nun ebenfalls die Sprache verschlagen. Der weißhaarige Hüne war es gewohnt, anderen die Meinung zu sagen. Kaum jemand hatte wahrscheinlich bisher gewagt, ihm derart forsch und entschlossen entgegenzutreten.

Matthias bereitete es ein kleines Vergnügen, die Reaktion seines Patienten abzuwarten. Er war in diesen Augenblicken auf alles gefasst, sogar darauf, dass Johann Waldecker nun die Beherrschung verlieren würde. Doch weit gefehlt. Ein Zug von Verlegenheit machte sich nun vielmehr auf dem grob geschnittenen Gesicht breit, bevor ihm sein Patient hörbar kleinlauter als vorher gestand: »Ich habe höllische Angst vor einer solchen Blutentnahme. Nicht, weil es weh tun könnte, sondern vor dem Ergebnis.«

Diese Antwort überraschte ihn.

»Aber alles andere gleicht doch der sprichwörtlichen Vogelstraußpolitik, dem Kopf-in-den-Sand-Stecken«, erwiderte er erstaunt.

Der Unternehmer zog die Luft scharf ein. Während er durchs Fenster in den Sonnenschein blickte, sagte er leise: »Wenn man seine Krankheit kennt, ist nichts mehr wie vorher. Und das will ich nicht.«

»Wenn man seine Krankheit kennt, kann man sie bekämpfen«, verbesserte Matthias ihn ruhig.

»Nicht alle sind zu bekämpfen.«

Irgendwie passt diese Einstellung zu ihm, sinnierte der Landdoktor, während er den schwergewichtigen Mann betrachtete, der immer noch nach draußen schaute und mit einem Mal sehr verletzlich wirkte. Er ist gewohnt, alles zu steuern. Eine Krankheit dagegen würde ihn steuern, und damit käme er nicht klar. Er holte tief Luft, machte einen Schritt auf seinen Patienten zu und meinte in versöhnlichem Ton: »Lassen Sie unsere Unterhaltung auf sich wirken und besprechen Sie sich mit Ihrer Frau. Vielleicht stimmen Sie ja doch einer Blutentnahme zu. Ich würde mich freuen.« Er reichte Johann Waldecker die Hand, die dieser fest drückte. Er erwiderte: »Danke, Herr Doktor.«

*

An diesem Abend hielt der Tag, was er seit dem Morgen versprochen hatte. Die Brunners saßen auf der Terrasse und beobachteten, wie sich die Sonne hinter den Baumwipfeln versteckte und sich violette Schatten in den Talsenken ausbreiteten. Ganz langsam krochen sie die bewaldeten Hügel hinauf. Ein gläserner Himmel spannte sich über der Landschaft, an dem sich, einer nach dem anderen, die Sterne entzündeten. Zuerst nur wie schwache Punkte, doch je dunkler sich das Firmament färbte, desto leuchtender wurden sie.

»Welch ein Schauspiel«, sagte Ulrike in andächtigem Ton, während sie ihre Hand in die ihres Mannes schob.

So blieben die beiden eine Weile in harmonischem Schweigen sitzen und beobachteten den Einbruch der Nacht. Der laue Südwind wehte den Duft von Fichtenholz von oberhalb der Schwarzwaldpraxis herunter auf die Terrasse. Ein Käuzchen rief, und unter dem lang gezogenen Schindeldach kreuzten ein paar Fledermäuse. Am Ende der Veranda machte sich das Kätzchen, das zum Grundstück gehörte, auf den Weg zur nächtlichen Jagd. Lump, der zu Füßen seines Herrchens friedlich schlief, störte sich nicht an ihm. Er wusste, dass auf dem alten Schwarzwaldhof jedes Lebewesen in Frieden leben konnte.

»Heute Nachmittag war Johann Waldecker in der Praxis«, erzählte Matthias nach einer Weile seiner Frau.

Der Besuch des Unternehmers wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen.

»Ja?« Ulrike sah ihn überrascht von der Seite an. »Was hat er denn?«

Matthias schilderte ihr die Symptome seines Patienten.

»Und?«

»Nichts und. Er verweigerte die Erstellung eines großen Blutbildes. Aus Angst, er könnte etwas Ernstes haben.« Der Landarzt setzte sich aufrecht hin und sah sein Locken­köpf­le intensiv an. »Weißt du, wie man sich in solchem Fall als Arzt fühlt? Man kann nichts machen und weiß, dass man etwas machen müsste. Dieser Waldecker hindert mich daran, meiner ärztlichen Pflicht nachzukommen. Dabei befürchte ich, dass seine Symptome nicht nur Zeichen von Überarbeitung sind. Seine extreme Blässe, die blauen Flecken am Oberköper, seine Kurzatmigkeit … Ich brauche diese Blutuntersuchung, um ihm helfen zu können, und er arbeitet nicht mit.« Wütend schnaubte er durch die Nase.

»Mein Schatz …« Ulrike beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn liebevoll auf die Wange. »Du bist wirklich ein verantwortungsbewusster Arzt«, flüsterte sie zärtlich.

»Schlimm?«

Sie lachte belustigt auf. »Im Gegenteil. Dein Verantwortungsbewusstsein kommt mir ja auch zugute. Und nicht nur mir, sondern unseren Kindern, unserem Enkel und all deinen anderen Patienten, die es zu schätzen wissen.«

Er sah seine Frau an, wie sie so nah neben ihm saß ihr Blick selbst nach den vielen Jahren immer noch mit Liebe und Zärtlichkeit auf ihm lag.

Wie gut tat es doch, mit ihr über alles reden zu können. Sein Lockenköpfle gab ihm die Kraft, die er für seinen Beruf brauchte, wenn er jeden Patienten so behandeln wollte, als wäre er der beste Freund.

Langsam beugte er sich zu Ulrike hinüber, zog ihr Gesicht zu sich heran und küsste sie lange und innig auf den Mund. Genauso innig gab sie ihm den Kuss zurück. Danach gingen die beiden eng umschlungen ins Haus. Lump trottete müde hinter ihnen her. Anders als sein Herrchen und Frauchen würde er sofort auf seiner Decke, die vor der Schlafzimmertür der beiden lag, weiterschlafen.

*

Wenn es in Freiburg regnete, versteckte sich die Stadt unter grauen Schleiern, die von den Schwarzwaldbergen auf sie herunter fielen. Von der heiteren Lebenslust, die Freiburg an sonnigen Tagen ausstrahlte, war dann nichts mehr zu spüren. Für Benjamin Rosen hätte das Wetter an diesem Tag ruhig noch schlechter sein können. Blitz und Donner hätten seiner gegenwärtigen Gemütsverfassung noch mehr entsprochen.

Während der junge Mann auf der Ausfahrtstraße im Stau stand, trommelte er mit den Fingern aufs Lenkrad. Er war auf dem Weg in die Uniklinik, um seinen Freund Thorsten Brunner zu besuchen, und er konnte kaum erwarten, ihm zu erzählen, was ihm vor einer Stunde in der Zeitungsredaktion widerfahren war.

Endlich kam wieder Bewegung in die Wagenkolonne. Benjamin gab Gas. Jetzt war es nicht mehr weit. Fünf Minuten später stellte er seinen alten Sportwagen auf dem Besucherparkplatz ab, fragte den Pförtner nach der Zimmernummer seines Freundes und eilte die Treppe hinauf in den zweiten Stock, indem er zwei Stufen auf einmal nahm. Er traf den Sohn der Brunners auf dem Stationsgang an, wo Thorsten mit Hilfe zweier Krücken seine ersten Gehversuche nach der Operation unternahm.

»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Benjamin, während er in Thorstens Gesicht blickte, das sich bei jedem Schritt vor Schmerzen verzerrte.

»Na ja …«, erwiderte der Konzertdirigent mit einem tiefen Seufzer. »Die Operation ist gerade erst zwei Tage her. Aber ich will nicht klagen.« Er sah Benjamin an und zog die Stirn in Falten. »Aber so, wie du aussiehst, scheint es dir noch schlechter zu gehen als mir«, meinte er dann trocken. »Was ist passiert?«

»Du solltest dich setzen, bevor ich dir das erzähle«, erwiderte der Journalist mit düsterem Blick. »Sonst fällst du um, besonders in deinem jetzigen Zustand.«

Erstaunt hob Thorsten die dunklen Brauen und humpelte dann zurück ins Krankenzimmer. So aufgelöst hatte er seinen stets gelassenen und selbstbewussten Freund, der sich als Wirtschaftsjournalist einen Namen gemacht hatte, noch nie erlebt. Und die beiden kannten sich immerhin schon seit ihrer Zeit am Freiburger Gymnasium.

*

»Gekündigt? Dich?« Thorsten sah Benjamin ungläubig an. »Man hat dich gekündigt?«

»Ja, einfach so.« Benjamin nickte mit verbitterter Miene. »Zwar fristgerecht, aber gekündigt. Personaleinsparung heißt es. Ich jedoch weiß genau ...« Mit fest aufeinander gepressten Lippen schüttelte er den Kopf und sah Thorsten dabei bedeutsam an.

»Du musst nichts sagen. Der Fall liegt auch für mich klar auf der Hand«, stimmte dieser ihm zu. »Da hat Johann Waldecker seine Hand im Spiel gehabt.«

»Der Verdacht drängt sich auf. Vor einer Woche hat Waldecker die Hälfte der Anteile an der Zeitung gekauft, und heute habe ich die Kündigung auf den Tisch bekommen. Wenn da kein Zusammenhang besteht …«

»Was sagt denn dein Chef dazu?«

»Was soll er sagen? Er kann nichts daran ändern. Waldeckers Stimme zählt.«

»Vielleicht hast du dich vor einem Jahr doch etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt, als du über Waldeckers Unternehmen berichtet hast.«

»Hätte ich die Ungereimtheiten, auf die ich bei meinen Recherchen gestoßen bin, verschweigen sollen?«, fragte der Journalist aufgeregt. »Waldecker hat in den vergangenen Jahren Arbeitsrechtbestimmungen unterlaufen, gewerkschaftliche Tätigkeiten in seinen Werken unterbunden und bei der Produktion gegen Umweltschutzbestimmungen verstoßen. Als Journalist bin ich der Aufdeckung von Wahrheiten verpflichtet. Ich habe mir einen Namen in der Branche gemacht, gerade weil ich gesellschaftliche und politische Missstände ans Licht bringe.« Benjamin hielt erschöpft inne und schüttelte dann mutlos den Kopf.

Sein gut geschnittenes Gesicht mit dem markanten Kinn und den stahlblauen Augen, die unerschrocken in die Welt blickten, wirkte unter der Sonnenbräune grau. Niemals zuvor hatte Thorsten seinen Freund derart ratlos und niedergeschlagen erlebt, obwohl er breitbeinig vor seinem Krankenbett stand, wie im Boden verankert. Er schwieg eine Weile, genauso betroffen und bedrückt wie Benjamin.

»Mit deinem guten Namen und deinem Gespür für brisante und interessante Storys wirst du überall wieder eine Anstellung finden«, sagte er schließlich mit fester Stimme. »Wir haben in Deutschland ja nicht nur die eine Zeitung, die jetzt Waldecker gehört.«

»Stimmt, aber ich habe gern bei diesem Blatt gearbeitet. Außerdem hatte ich bis jetzt nicht vor, aus Freiburg wegzuziehen. Nun sieht es ja so aus, als müsste ich das tun, um wieder irgendwo in Deutschland bei einer anderen Zeitung arbeiten zu können.«

»Noch ist nicht aller Tage Abend«, sagte er in zuversichtlichem Ton.

Wie seine Mutter sah auch Thorsten das Leben stets positiv.

Da glitt ein verschmitztes Lächeln über Benjamins Gesicht.

»Es gibt jedoch noch etwas, was mir den Abgang bei Waldeckers Tageblatt versüßen wird«, sagte er mit wieder blitzenden Augen.

»Das wäre?«

»In zwei Wochen soll ich über die Hochzeit von Waldeckers jüngster Tochter berichten. Mein Kollege, der sonst solche Reportagen macht, ist zu dieser Zeit in Urlaub, und mein Chef, der Johann Waldecker auch nicht mag, hat mir den Auftrag gegeben, was diese eingebildete Unternehmerfamilie natürlich nicht weiß.« Jetzt lachte Benjamin schon wieder fröhlich in sich hinein. »Diese feine Gesellschaft wird Augen machen, wenn ich mit dem Kamerateam in ihrer Villa in Baden-Baden auftauchen werde. Und eines kann ich dir jetzt schon versichern. Meine Reportage wird ein schönes Hochzeitsgeschenk werden.«

*

Als sich Benjamin von seinem Jugendfreund verabschiedete, hatte sich der Himmel über Freiburg schon wieder gelichtet. Die Wolkendecke war aufgerissen, und hier und da warf die Sonne ein paar Strahlen auf das Münster.

Benjamin fühlte sich schon deutlich besser. Es hatte ihm gut getan, mit Thorsten über die Kündigung zu reden und über die Waldeckers so richtig abzulästern. Mit neuem Elan lief er die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Als er im ersten Stock angekommen war, hörte er fröhliches Kinderlachen. Er blieb auf dem Treppenabsatz stehen und lauschte. Er liebte Kinder. Er träumte davon, irgendwann einmal eine große Familie zu haben. Aus rein journalistischer Neugier betrat er nun den langen Gang und studierte die Aufschriften und bunten Bilder auf den Türen, die darauf hinwiesen, dass er sich auf der Kinderstation befand. Unwillkürlich musste er lächeln. Er hatte nicht erwartet, dass es dort so lustig zuging. Im nächsten Augenblick kam eine Krankenschwester aus einem der Zimmer heraus.

»Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte sie sich freundlich.

»Eigentlich nicht«, erwiderte er. »Ich bin nur überrascht, dass es hier so fröhlich zugeht«, bekannte er dann freimütig.

»Unsere Vorleserin ist gerade bei den kleinen Patienten«, erzählte sie ihm bereitwillig. »Sie kommt jede Woche einmal zu uns. Manchmal auch zweimal, um die Kinder hier und auf der Krebsstation mit schönen Geschichten aufzuheitern. Die Kids vergöttern sie und wir Schwester ebenfalls. Das alles macht sie sogar ehrenamtlich«, fügte die ältere Schwester mit bewundernder Miene hinzu. »Ohne Geld dafür zu bekommen.«

»Sehr beeindruckend«, antwortete er ebenfalls voller Anerkennung für die Vorleserin.

»Wenn Sie wollen, schauen Sie doch einfach mal ins Spielzimmer hinein. Selbst für Erwachsene sind ihre Vorträge hörenswert«, bot ihm die Krankenschwester an.

Zuerst zögerte er noch. Dann ging er den Gang hinunter, immer dem Kinderlachen nach, das ihm den Weg wies. In der Tür des Spielzimmers blieb er stehen.

Er sah in einen großen hellen Raum mit bunten Holzmöbeln, in dessen Mitte kleine Stühle zu einem Kreis aufgestellt waren. Leuchtende Kinderaugen waren auf die junge Frau gerichtet, die in dem Halbkreis saß.

Benjamin hielt unwillkürlich den Atem an. Das Bild berührte ihn tief im Herzen. Wahrscheinlich hätte ihm auch der Atem gestockt, wenn er diese Frau auf der Straße gesehen hätte. Wunderschön war sie. Auf eine ganz besondere Art. Ihre für eine Frau sehr tiefe Stimme empfand er wie ein Streicheln. Sie zog ihn sofort in ihren Bann. Genauso weich waren ihre sparsamen Gesten, mit denen sie ihre Sätze begleitete. Die langen schwarzen Wimpern lagen auf ihren Wangen, dunkelrote Locken umspielten ihr Gesicht, das wie aus Elfenbein gemeißelt wirkte. Er wusste, dass ihre Augen grün waren. Er wusste es einfach. Sie konnten gar keine andere Farbe haben. Und ihre Beine, die sie grazil übereinander geschlagen hatte, waren sowieso nicht von dieser Welt.

Wie angenagelt blieb er in der Tür stehen, die Kinder saßen mit dem Rücken zu ihm. Irgendwann war die Geschichte zu Ende. Die Vorleserin blickte von ihrem Buch auf und schenkte ihren Zuhörern ein Lächeln, das ihn verzauberte. Es erhellte ihre regelmäßig geschnittenen Züge und ließ ihre Augen, natürlich waren sie grün, aufleuchten. Und während die kleinen Hände begeistert klatschten, glitt der Blick aus diesen Frauenauen zu ihm herüber. Ein paar Atemzüge lang tauchte er in seinen, blieb in ihm liegen, mit einem Ausdruck des Erstaunens, der dann dem von Verwirrung Platz machte, bis er zurückkehrte zu den Kindergesichtern.

Er schluckte, sein Herz schlug schneller. Ihm wurde warm unter dem Kapuzenpulli. Und dann musste er sich umdrehen. Er empfand seine Situation, hier zu stehen und zugehört zu haben, als peinlich. Was hatte er hier zu suchen? Zumal die Kinder jetzt begannen, alle durcheinander zu reden.

Was für eine Frau, dachte er, als er langsam wie benommen den Gang zur Treppe hinunterging. Sie war nicht nur äußerlich schön. So selbstlose Menschen wie sie, denen es ein Anliegen war, andere zu erfreuen, gab es nur wenige. Vor dem Klinikausgang zögerte er.

Sollte er auf sie warten? Irgendwann musste sie ja auch kommen. Nein, sagte er sich dann. Er war nie ein Draufgänger gewesen. Das hatte er bis jetzt auch nie nötig gehabt. Die Frauen bemühten sich stets um ihn. So war er es gewohnt. Er biss sich auf die Lippen, überlegte noch. Schließlich trat er ins Freie und blickte nachdenklich zum Besucherparkplatz hinüber. Da entdeckte er sie.

Mit festem, dennoch elegantem Gang überquerte sie den Parkplatz. Bei jedem Schritt tanzten die roten Locken auf ihrem Rücken. Klopfenden Herzens beobachtete er, wie die schöne Vorleserin auf ein schwarzes Cabrio zuging und einstieg. Ein paar Sekunden später war sie aus seinem Blickfeld verschwunden.

Ob ich die Krankenschwester nach ihrem Namen fragen soll?, überlegte er einen Moment lang. Dann jedoch fiel ihm jäh wieder seine gegenwärtige berufliche Situation ein, und er schüttelte energisch den Kopf. Nein, zurzeit hatte er andere Sorgen. Mit der Kündigung in der Tasche und ohne eine neue Anstellung war jetzt ganz bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt, eine Beziehung zu beginnen. Erst einmal musste er seine wirtschaftliche Existenz sichern. Wenn ihm das gelungen war, konnte er sich wieder mit der Liebe beschäftigen.

*

Eine Woche nach dem Besuch Johann Waldeckers in der Landarztpraxis konnte Schwester Gertrud ihrem Chef den gleichen Patienten verkünden.

»Er will ein Blutbild machen lassen«, sagte der Praxisdrache zu Matthias mit verärgertem Blick. »Als ob er das so einfach bestimmen könnte, was hier bei uns gemacht wird. Darüber haben doch immer noch Sie zu entscheiden.«

»Ich hatte dies bereits entschieden«, erwiderte der Landarzt lächelnd. »Und ich freue mich, dass Herr Waldecker einsichtig geworden ist. Schicken Sie ihn bitte zu mir.«

Nur wenige Sekunden später hörte Matthias bereits schwere Schritte auf dem Gang, der von der Rezeption den Gang hinunter zum Behandlungszimmer und Büro führte. Ein kurzes hartes Klopfen folgte, und nach seinen »Herein» betrat sein Lieblingspatient den Raum. Er begrüßte den Unternehmer freundlich und bat ihn, Platz nehmen.

»Nein, danke«, erwiderte Johann Waldecker. »Ich bleibe lieber stehen, Wir müssen wahrscheinlich sowieso in Ihr Labor gehen.«

Matthias musste leise lachen.

Und wieder wollte Waldecker die Situation beherrschen.

»Nein, Herr Waldecker, wir bleiben hier im Behandlungszimmer«, widersprach er seinem Patienten in munter klingendem Ton. »Setzen Sie sich erst einmal, entspannen Sie sich und erzählen Sie mir, wie es Ihnen geht.«

Es folgte ein bedeutungsvolles Räuspern, Waldecker straffte sich und erwiderte immer noch im Stehen: »Nicht gut, Herr Doktor. Ich fühle mich immer noch müde und abgeschlagen, Trotz des Mittagsschlafes und der Spaziergänge. Was mich neuerdings zudem auch noch beunruhigt, sind die blauen Flecken auf meiner Haut. Ich weiß gar nicht, woher die kommen. Klar, dass man sich mal irgendwo stößt, aber so etwas habe ich früher danach nie bekommen.« Nun ging er auf den Patientensessel zu und ließ sich hinein fallen, sodass dieser unter seinem Gewicht unwillig ächzte.

»Ich habe im Internet recherchiert, was es mit diesen Flecken auf sich haben könnte, und bin darauf gestoßen, dass sie ein Anzeichen von…« Er hielt inne, biss sich so fest auf die Lippe, dass diese weiß wurde, bevor er weitersprach: »Bei Leukämie kommt so was vor.«

Matthias hatte ihm überrascht zugehört. Als sein Patient den schweren Kopf auf die Brust fallen ließ, räusperte er sich ebenfalls und sagte: »Bei ihrem ersten Besuch vor einer Woche habe ich Ihnen schon gesagt, dass einzelne Symptome wie Müdigkeit, Kurzatmigkeit oder auch blaue Flecken auf der Haut nicht eindeutig ein Krankheitsbild bestimmen. Um eine eindeutige Diagnose erstellen zu können, müssen viele Puzzleteile zusammengefügt werden, die dann ein einheitliches Bild ergeben.« Er legte eine Pause ein, beobachtete seinen Patienten, der ihn jetzt ansah und matt sagte: »Im Internet konnte ich selbst meine Diagnose erstellen. Es passt alles zusammen, um bei mir Leukämie zu diagnostizieren. Ich brauche nur noch das Blutbild, das meine Blutarmut beweisen wird, die die Ursache meiner auffälligen Blässe ist.«

Wie fast alle seine Kollegen hielt auch der Landdoktor nichts davon, wenn sich seine Patienten ihre Diagnose mit Hilfe des Internets in ihrem stillen Kämmerlein zusammenbasteln. Dies führte nur zur Belastung der Psyche. Andererseits zollte er Johann Waldecker jedoch einen gewissen Respekt, dass dieser sich nun ernsthaft mit seinen Beschwerden auseinandersetzte und seine Ängste vor der Wahrheit überwunden hatte, statt nach der chemischen Keule zu verlangen.

»Seit ein paar Tagen spüre ich einen Druck in der linken Seite«, sprach der Unternehmer weiter. »Zuerst dachte ich an Seitenstechen, aber inzwischen tut mir die ganze Brust weh.«

Geschwollene Milz?, fragte sich Matthias stumm.

»Wie sieht es mit Fieber aus?«, erkundigte er sich.

Johann Waldecker hob die Schultern. »Manchmal fühle ich mich, als ob ich eine Grippe bekommen würde. Leichte Temperatur, würde ich sagen.«

»Nachtschweiß?«

»Hat man den nicht immer, wenn man sich grippig fühlt?«

Da kommt ja eine Menge zusammen, dachte der Landdoktor bei sich. Er nickte entschlossen.

»Legen Sie sich bitte auf die Untersuchungsliege. Ich möchte Ihren Oberkörper abtasten.«

Tatsächlich spürte er deutlich eine Vergrößerung der Milz, welche viele Ursachen haben konnte, von Infektionskrankheiten angefangen bis zum Blutkrebs.

»Ihre Milz ist vergrößert, daher das Druckgefühl in der Brust«, sagte er knapp.

»Was auch ein Symptom von Leukämie ist«, murmelte sein Patient, während er das Hemd zuknöpfte.

»Krempeln Sie bitte den Ärmel hoch. Ich nehme Ihnen jetzt Blut ab«, sagte Matthias, ohne auf diese Bemerkung einzugehen.

Ohne mit der Wimpern zu zucken ließ der Unternehmer die Blutabnahme über sich ergehen, sodass Matthias problemlos all die Kanülen füllen konnte, die er zur Erstellung eines großen Blutbildes brauchte.

»Ich werde das Blutbild hier im Labor der Miniklinik auswerten und sage Ihnen morgen Bescheid«, teilte er Johann Waldecker mit aufmunterndem Lächeln mit. »Ich werde es eigenhändig erstellen«, fügte er mit vielsagendem Blick hinzu.

Da stand sein Patient auf. Ein Zucken lief über sein Gesicht, bevor er leise sagte: »Danke.«

Matthias blieb noch einige Sekunden im Behandlungszimmer stehen, nachdem der Unternehmer es verlassen hatte.

Johann Waldecker hatte Angst, Angst um sein Leben. Diese Angst machte ihn demütiger, nahm ihm die Arroganz, mit der er sonst den Menschen begegnete. Wie würde er auf die mögliche Diagnose Blutkrebs reagieren? Ein solcher Schicksalsschlag veränderte die Menschen. Manche zerbrachen, andere erstarkten daran. Er wagte im Fall des Unternehmers keine Prognose zu stellen. Oftmals waren gerade die Menschen, die nach außen hin stark erschienen, in Wirklichkeit schwach. Entschlossen schüttelte er den Kopf, um sich von diesen Gedanken zu befreien. Noch stand die Krankheit seines Patienten nicht fest. Nach der Nachmittagssprechstunde würde er sich ins Labor verziehen und das Blutbild manuell auswerten. Dann würde man weitersehen.

Er drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und wies seine Helferin an: »Bringen Sie mir bitte den nächsten Patienten.«

Den Rest des Nachmittags beschäftigte er sich wieder mit den alltäglichen Dingen wie Impfungen zu verabreichen, Aufzeichnungen von Herzkurven auszuwerten und Rezepte auszustellen. Dabei begleitete ihn jedoch das beunruhigende Gefühl, am Ende dieses Tages vor einer Aufgabe zu stehen, die jeder Mediziner nur ungern erledigte: Einem seiner Patienten ein Todesurteil überbringen zu müssen.

*

Charlotte und Pauline Waldecker hätten nicht gegensätzlicher sein können. Obwohl der beste Schneider in Baden-Baden seit Jahrzehnten für die Familie Waldecker arbeitete, wunderte er sich immer wieder, wie die Natur den beiden Schwestern ein derart unterschiedliches Aussehen hatte geben können.

Charlotte war rank und schlank und wunderschön, ihre drei Jahre jüngere Schwester dagegen klein und pummelig. Pauline hatte kirschgroße, eng zusammenstehende Augen, und um ihren schmallippigen Mund lag schon im jungen Alter ein missmutiger Zug. Dieser Zug mochte nicht allein daher rühren, dass sie schon von Kindheit an mit ihrem Aussehen höchst unzufrieden war. Nein, erst seit Kurzem hatte er sich besonders tief eingegraben. Denn noch nie hatte Pauline so viel über ihr Leben nachgedacht wie in den vergangenen Wochen. In ein paar Tagen würde sie einen Mann heiraten, der genauso unattraktiv war wie sie und darüber hinaus sogar noch ein bisschen dümmer. Zudem war Lothar Dudenhöfer von seinen reichen Eltern genauso abhängig wie sie von ihren. Und zu alledem liebte sie ihn noch nicht einmal. Wie oft schon hatte sie sich in ihren Träumen mit einem blendend aussehenden Helden vor dem Traualtar stehen sehen, der sie auf seinen muskulösen Armen in ein fernes Land trug, weit weg von ihrer Familie. Stattdessen zweifelte sie ernsthaft daran, ob ihr zukünftiger Mann, der genauso groß, jedoch sehr viel schmächtiger war als sie, es überhaupt zustande bringen würde, sie über die Schwelle der elterlichen Villa zu tragen. Nach der Hochzeit wollte das Paar dann zu den Waldeckers ziehen, oder besser gesagt, musste dort hinziehen. Nach langen hitzigen Diskussionen hatte sich Paulines Mutter schließlich der zukünftigen Schwiegermutter ihrer Tochter gegenüber durchgesetzt. Gerda Waldecker war nicht gewillt, auf ihre Jüngste zu verzichten.

»Meinst du, dass Kleid wäre wirklich richtig für … für dich?«, fragte Charlotte ihre Schwester ungefähr zur gleichen Stunde, als ihr Vater in der Landarztpraxis saß.

Eigentlich hatte sie sagen wollen ›für deine Figur‹, konnte sich aber gerade noch früh genug beherrschen.

»Du meinst, dass es zu eng ist?«, fragte Pauline spitz zurück. Dabei schossen ihre kleinen Augen Blitze ab.

»Na ja …« Charlotte warf dem Schneidermeister, bei dem ein Kleid genauso viel kostete wie ein Kleinwagen, einen forschenden Blick zu.

Der Meister wand sich sichtlich und hob dann hilflos die Schultern.

»Wir könnten es etwas weiter machen. Falls Sie wollen«, sagte er in gedehntem Ton und sah dabei die Braut unsicher an.

»Kommt gar nicht infrage«, erwiderte Pauline kurz angebunden. »Der Ausschnitt bleibt ebenfalls so tief, wie er jetzt ist. Ich habe das Kleid an einem Modell in einem amerikanischen Modejournal gesehen. An dem Mannequin sah es super aus. Genauso will ich es auch haben.«

Charlotte spitzte die Lippen. »Ich dachte nur …«, murmelte sie tonlos. Mehr sagte sie nicht, aber ihr Blick, den sie an Paulines unförmiger Figur hinunter gleiten ließ, sprach Bände.

»Bilde dir ja nichts auf dein Aussehen ein«, giftete Pauline nun ungeachtet der Anwesenheit des großen Meisters los, der unter ihrem aggressiven Ton sichtlich zusammenzuckte. »Ich bin trotzdem die erste von uns beiden, die heiratet.«

In einer unnachahmlichen Weise hob ihre Schwester die rechte Braue.

»Ja, du hast es tatsächlich geschafft, mir einen so tollen Mann wie Lothar vor der Nase wegzuschnappen«, konterte sie mit feinem Lächeln. »Das hätte ich nie für möglich gehalten. Ich weiß noch gar nicht, wie ich darüber hinwegkommen kann.«

Pauline schnappte nach Luft. Ihr rundes Gesicht, das ohne Makeup noch teigiger wirkte, bekam rote Flecke.

»Komm, lass uns nicht streiten«, lenkte Charlotte da hastig ein. Sie wollte Pauline ja eigentlich nicht verletzen.

Doch so schnell war diese nicht zu versöhnen.

»Schönheit geht, Reichtum bleibt«, konterte sie mit boshaftem Blick.

Jetzt verlor Charlotte die Geduld. Sie hatte sich Zeit genommen, um auf Wunsch ihrer Mutter mit Pauline zusammen das Brautkleid auszusuchen. Und nun gab es wieder Streit zwischen ihnen. Dabei bleiben in meinem Büro die Aufträge liegen, dachte sie erbost über so viel Undankbarkeit. Außerdem interessierte sie sich nun wirklich nicht dafür, wie Pauline auf ihrer Hochzeit aussehen würde. An der Seite von Lothar Dudenhöfer hätte selbst die Schönheitskönigin von Schweden eine schlechte Figur abgegeben.

Der Landdoktor Classic 39 – Arztroman

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