Читать книгу Der Landdoktor Classic 40 – Arztroman - Christine von Bergen - Страница 3

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»Grüß dich, mein Bester. Hast du gerade a bissl Zeit für mich?«

»Genau fünf Minuten«, antwortete Dr. Matthias Brunner. »Dann beginnt meine Nachmittagssprechstunde.«

Er lächelte vor sich hin, während er Gernot Lugner im Geiste vor sich sah: Das volle Gesicht, auf dem der viel zu hohe Blutdruck des Konzertveranstalters geschrieben stand, die Krawatte in grellen Buntstiftfarben, sein chaotischer Schreibtisch …

»Ich hab a Anliegen an dich«, sprach Gernot mit seiner dröhnenden Stimme wie ein Wasserfall weiter. Auch nach den vielen Jahren, die sein ehemaliger Kommilitone bereits in Freiburg lebte, hörte man ihm immer noch den Wiener Akzent an.

»Ich habe endlich die Sibyll unter Vertrag bekommen. Sibylle Bachmann heißt sie als Privatperson. Für den Baden-Badener Sommer, du weißt schon, die bekannte Open-Air-Veranstaltung. Ihr Agent hat mir vor ein paar Minuten den unterschriebenen Vertrag zugefaxt. Aber wie die meisten großen Stars hat auch diese Madame ein paar Bedingungen gestellt, unter denen sie in Baden-Baden nur auftreten will. Also hör zu, mein Freund …«

Während sich der Landarzt das Anliegen seines ehemaligen Kommilitonen, der nach nur vier Semestern das Medizinstudium abgebrochen hatte, um sich in der Welt der Stars zu tummeln, aufmerksam anhörte, schweifte sein Blick durch das offen stehende Fenster des Sprechzimmers nach draußen.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Praxishügels, wie die Ruhweiler die Anhöhe nannten, auf der sein Wohnhaus, die Praxis und die Miniklinik standen, zogen sich blühende Wiesen hinauf zu den tiefschwarzen Wäldern, die ihre schlanken Wipfel in den tiefblauen Sommerhimmel streckten.

»Wirst mir den Gefallen tun?«, fragte Gernot schließlich schnaufend. »Aber wie gesagt, die Angelegenheit muss äußerst sensibel behandelt werden. No publicity. Sonst springt die Bachmann mir wieder ab. So steht es im Vertrag.«

»Ich werde mit Ulrike überlegen, welche Unterkunft infrage kommen könnte, und mein Bestes tun«, versprach Matthias ihm.

»Sag mir Bescheid, wenn du die Sache unter Dach und Fach hast«, bat Gernot und verabschiedete sich alsbald wieder in der für ihn so typischen atemlosen Art.

Der Landdoktor stieß die Luft hörbar aus. Ihm war zumute, als wäre gerade ein Orkan über ihn hinweg gefegt. O je, das konnte ja noch heiter weiter. Hoffentlich hatte er Gernot nicht zu viel versprochen.

*

»Die Sibyll? Die Sängerin?« Ulrike Brunner machte große Augen. »Das ist doch einer der bekanntesten Schlagerstars, die wir zurzeit haben.«

»Ja, eben.« Ihr Mann nickte. »Deshalb will Gernot auch keinerlei Aufsehen. Die junge Dame hat ein Burnout hinter sich. Das heißt, sie hat sich immer noch nicht ganz davon erholt und will sich hier irgendwo in der Abgeschiedenheit der Natur auf ihren ersten Auftritt nach ihrer Pause vorbereiten. Zur Ruhe kommen, gute Luft …« Er seufzte und hob die Schultern. »Na ja, wer weiß, was sich Frau Bachmann darunter vorstellt. Auf alle Fälle sucht Gernot ein Hotel, das luxuriös ist und doch nicht überlaufen. Eine Oase, wie er sich ausdrückte. Er meint, hier bei uns im Ruhweiler Tal fündig werden zu können.«

»Wenn nicht bei uns, wo dann?«, meinte jetzt auch sein Lockenköpf­le. »Das renommierte Wiesler kommt da natürlich nicht infrage, obwohl deren Wellnessbereich ja super ist, aber da verkehrt zu viel andere Prominenz.« Sie legte den Zeigefinger an die Nasenspitze, was ein Zeichen dafür war, dass sie überlegte.

In Ruhweiler gab es viele Gasthöfe und Pensionen, die jedoch verfügten alle nicht über den Luxus, der in diesem Fall verlangt wurde. Nach ein paar Sekunden lichtete sich ihre Miene.

»Roland«, sagte sie mit fester Stimme. »Ja, das ist es.« Sie nickte entschlossen.

»Ich weiß nicht«, widersprach ihr Matthias. »Roland hat erst vor Kurzem sein Hotel eröffnet.«

»Was nur dafür spricht, dass es das richtige ist. Dann ist alles noch neu und unversehrt.«

»Hat er denn überhaupt die nötige Erfahrung als Hotelier, um den hohen Ansprüchen eines bekannten Stars gerecht werden zu können?«

»Da bin ich sicher. Roland hat immerhin mehrere Jahre in den besten Häusern Europas gearbeitet. Außerdem ist er im Gastronomiegewerbe groß geworden. Als kleiner Junge hat er schon im Gasthof seiner Eltern geholfen.« Ulrike nickte entschlossen. »Glaub mir, sein Hotel ist genau richtig. Es ist zwar klein, aber fein. Es besitzt eine hervorragende Küche, sehr individuell eingerichtete Zimmer und eine piekfeine Wellnessabteilung mit allem, was man sich wünscht.«

»Und sein Personal?«

»Alle sind bestens ausgebildet. Das habe ich noch vor ein paar Tagen bei Marta Biechle im Laden gehört. Ein paar Ruhweilerinnen haben darüber gesprochen.«

»Dann muss es ja stimmen«, erwiderte Matthias trocken und lachte.

»Lach nicht. Die älteren Frauen hier tratschen lieber über Skandale als über Erfolge. Wenn sie so viel Lob über Rolands Hotel ausschütten, ist es bestimmt mehr als begründet. Weißt du was?« Sie beugte sich über den Terrassentisch, an dem die beiden das Abendessen eingenommen hatte. »Wir überzeugen uns selbst vom Ruhweiler Hof. Was hältst du davon? » Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und schenkte ihrem Mann das liebreizende Lächeln, dem der Landarzt selbst nach mehr als dreißig Ehejahren nicht widerstehen konnte. »Ich räume schnell ab. Statt den Abend auf der Terrasse zu beenden, spazieren wir mit Lump zum Ruhweiler Hof und trinken dort ein Glas Glottertaler. Dann kann uns Roland sein Hotel zeigen, und wir entscheiden, ob es eines Stars wie Sibylle Bachmann würdig ist und ihren Wünschen nach Ruhe und Inkognito entspricht.«

*

»Bitte, Susi«, sagte Roland Meister zu der rothaarigen jungen Frau in genervtem Ton. »Das haben wir schon hundertmal besprochen. Ich mag dich, aber ich liebe dich nicht.«

»Das erwarte ich ja auch gar nicht. Wenn du mich nur ein bisschen lieb hast, ist dies doch schon eine gute Voraussetzung für eine Ehe. Ich habe keine hohen Ansprüche an dich. Ich würde es dir immer danken.«

Roland fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das dunkle, dichte Haar.

Wie hatte er sich nur auf diese kurze Affäre vor einem Jahr einlassen können?

Er sah Susi ernst an.

»Wie lange kennen wir uns schon?«, fragte er im Ton eines Vaters, der mit seiner uneinsichtigen Tochter spricht. »Seit der Schulzeit«, beantwortete er seine Frage selbst, um dann eindringlich hinzuzufügen: »Ich mag dich wie eine gute Bekannte, aber nicht als die Frau, die ich einmal heiraten werde. Lass uns ehrlich zueinander sein. Wir passen doch gar nicht zusammen.«

Susis grüne Augen blitzten auf. »Nur weil du aus einer reichen Familie stammst und ich ohne Vater aufgewachsen bin, nicht wahr? Das meinst doch?« Herausfordernd sah sie den attraktiven Hotelier an.

»Nein, das meine ich nicht, Susi«, erwiderte Roland mit dem letzten Rest an Geduld.

Wie oft schon hatte er diese Unterhaltung mit ihr geführt. Niemals hätte er gedacht, dass Susi ihm derart nachstellen würde, nachdem er mit ihr Schluss gemacht hatte. Er ahnte jedoch, dass es ihr hauptsächlich um sein Geld ging. Sie war im Tal dafür bekannt, eine gute Partie machen zu wollen. Mit ihrer Karriere als Schlagersängerin hatte es bis jetzt nicht so geklappt, wie sie es sich wünschte.

»Wir haben nicht die gleiche Wellenlänge«, fuhr er fort. Als Susi aufbegehren wollte, fügte er mit fester Stimme hinzu: »Dabei sollten wir es belassen, sonst machst du auch noch unsere Freundschaft kaputt.«

Unter seinem warnenden Blick zuckte sie jetzt sichtlich zusammen. Sie öffnete den Mund. Doch dann schien sie sich zu besinnen. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und rauschte aus seinem Büro.

O Mann, dachte er. Dabei raufte er sich erneut die Haare. Das konnte ja noch heiter weiter. Zu dumm aber auch, dass ihre letzte Affäre mit einem vermögenden Banker ein so jähes Ende gefunden hatte. Nun hatte sie sich wieder auf ihn besonnen. Wie sollte er nur aus dieser Nummer herauskommen, ohne sie zu sehr zu verletzen? Das Los, das sie seit dem Tod ihrer Mutter zu tragen hatte, war ohnehin schon schwer genug.

*

»Guten Abend, Helene«, sagte Matthias zu der jungen Frau hinter der Rezeption. »Ist der Chef zu sprechen?«

»Hallo, Frau Brunner, hallo, Herr Doktor.« Die hübsche Hotelangestellte verneigte sich leicht und schenkte dem Arztehepaar ihr schönstes Lächeln. »Herr Meister ist in seinem Büro. Gehen Sie ruhig durch.«

Die beiden bedankten sich und bogen in den langen Gang ein, der von der elegant eingerichteten Eingangshalle nach rechts abzweigte.

»Na?« Erwartungsvoll sah Ulrike ihren Mann von der Seite an. »Sagte ich doch. Roland hat aus dem Gasthof ein super chices Hotel gemacht. Klein und fein.«

Auf halbem Weg kam den beiden Susi Hüberle über den Flur entgegen gerannt. Tränen liefen ihr über die Wangen. Die roten Locken hingen ihr in die Stirn. Ohne das Ehepaar überhaupt wahrzunehmen, eilte sie schluchzend vorbei auf den Ausgang zu.

»Nanu«, murmelte Matthias, während beide der jungen Frau verblüfft nachsahen. »Die hat es aber eilig.«

Auch Lump, der brav an der kurzen Leine ging, drehte den Kopf zurück und gab einen unterdrückten Laut von sich. Er wusste, dass er in fremden geschlossenen Räumen nicht bellen durfte.

»Und glücklich sah sie auch nicht gerade aus«, meinte Ulrike mit besorgter Miene.

Die beiden kannten die junge Frau natürlich. Der Landarzt hatte Susis Mutter bis zu deren Tod behandelt und begleitet.

»Guten Abend, Roland«, begrüßte Matthias wenige Sekunden später den Besitzer des Luxushotels, der ihn erstaunt und erleichtert zugleich ansah.

Wahrscheinlich hat er Angst gehabt, Susi wäre noch einmal zurückgekommen, dachte Ulrike bei sich.

»Hallo, ihr beiden«, antwortete Roland und atmete hörbar aus. »Ihr seid es.« Er lachte nervös. »Das ist ja eine Überraschung. Setzt euch doch.«

»Warst du draußen?«, fragte Matthias mit einem Blick auf die grüne Latzhose, die der junge Mann an diesem Abend noch trug.

»Unser Gärtner ist krank. Da habe ich selbst Hand angelegt.«

»Ich weiß, ich weiß …« Der Landarzt lachte. »Dein Traumberuf. Wie geht es denn deinen Eltern?«, wechselte er das Thema, nachdem er und seine Frau in der Besucherecke Platz genommen hatten.

»Super. Zurzeit sind sie in Mexiko. Danach geht es weiter in die Karibik und dann …« Roland öffnete die Schreibtischschublade und nahm einen Kauknochen heraus, den er seinem vierbeinigen Gast reichte. Danach hob er die breiten Schultern und sah das Landarztehepaar wieder an. »Ich weiß gar nicht genau, wohin sie noch fahren«, fuhr er fort. »Auf alle Fälle werden sie erst in zwei Monaten von ihrer Weltumrundung zurückkommen und sich dann in ihrem neuen Haus hier zur Ruhe setzen.«

»Was sie auch verdient haben«, pflichtete Ulrike ihm bei.

Matthias schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück.

»Wir haben etwas mit dir zu besprechen«, begann er, nachdem ihn seine Frau mit einem auffordernden Blick bedacht hatte.

»Schießt los.«

»Du kennst doch bestimmt die Schlagersängerin Sibyll.«

Der Hotelerbe lehnte sich ebenfalls zurück und schob beide Daumen hinter die Träger seiner Latzhose. »Wer kennt die nicht? Kein anderer deutscher Schlagerstar hat in den vergangenen drei Jahren so viele Preise gewonnen wie sie.«

»Sie tritt anlässlich des Baden-Badener Sommers auf dem Open-Air-Konzert auf«, erzählte Matthias ihm nun. »Ein guter Bekannter von mir, der Veranstalter, hat Sibylle Bachmann, wie sie eigentlich heißt, mit viel Überredungskunst für einen Abend engagieren können. Allerdings unter der Auflage, dass die junge Dame sich vorher eine Woche lang in abgeschiedener Natur und angenehmem Luxus völlig inkognito von einem Burnout erholen kann. Ulrike fiel dazu dein Hotel ein.«

Roland sah die beiden erstaunt an. »Das ehrt mich sehr, aber …« Ein skeptischer Ausdruck legte sich auf sein männlich geschnittenes Gesicht, das von großen dunklen, eindringlich blickenden Augen beherrscht wurde. »Aber ganz ehrlich, mir sind normale Gäste lieber als die prominenten. Und dann eine so berühmte Sängerin …« Mit zweifelnder Miene wiegte er den Kopf hin und her. »Abgesehen davon bereiten solche Künstler dem Personal meistens viele Probleme, was ich meinen Leuten eigentlich nicht zumuten möchte. Darüber hinaus kann ich natürlich nicht dafür garantieren, dass wir Frau Bachmann absolute Anonymität bieten können. Sie wird den meisten Gästen doch bekannt sein.«

Ulrike beugte sich nach vorn und zwinkerte dem jungen Mann verschwörerisch zu. »Daran habe ich auch gedacht. Und ich habe auch schon eine Idee, wie dies zu verhindern wäre.«

Roland lachte sie an. »Tante Ulrike … Sie hat für alles immer eine Lösung. Das hätte ich mir denken können.«

»Du könntest Sibylle Bachmann dein Privathaus zur Verfügung stellen«, schlug die Landarztgattin ihm nun mit leuchtenden Augen vor. »Das steht auf dem Hotelgelände, ist aber weit genug vom Hotelbetrieb entfernt, sodass sie niemandem von den anderen Gästen begegnen muss.«

Der junge Mann legte den Kopf in den Nacken und strich sich mit beiden Händen das Haar aus der gebräunten Stirn.

»Das ist keine schlechte Idee«, meinte er schließlich nach ein paar Atemlängen in nachdenklichem Ton. »Ja, das wäre eine Lösung.«

»Frau Bachmann will ihre absolute Ruhe haben«, fuhr Matthias fort. »Keinerlei Aufhebens wegen ihrer Person. Wie mein Bekannter sagte, sollten höchstens zwei deiner Angestellten von ihrer Anwesenheit bei uns im Tal Bescheid wissen. Die müssen natürlich absolut zuverlässig sein.«

»Das kann ich euch versichern«, antwortete der Hotelier. »Und ich wüsste auch schon, wen ich einweihen würde.« Er lachte. »Ich gehe jedoch davon aus, dass unser Star den Hotelbesitzer selbst gar nicht erst kennen lernen muss, oder?« Er zwinkerte den beiden verschmitzt zu. »Ihr wisst ja, ich bin nicht so für die Glitzerwelt zu haben.«

»Zumindest nicht, wenn du so ausschaust wie heute«, konterte der Landarzt.

»Okay, dann werde ich die junge Dame unserem Hotelmanager und dem Oberkellner überlassen.«

*

»Ob sie arrogant ist?«, fragte Ulrike.

»Ich weiß es nicht. Wenn man als junger Mensch schon eine solche Karriere macht …« Matthias hob mit zweifelnder Miene die Schultern.

»Du meinst, dass dies manchem zu Kopf steigt.«

»Hm.«

Die beiden schwiegen, schauten voller Neugier zum Fenster hinaus. Vor ein paar Minuten hatte Gernot Lugner über Handy seine Ankunft und die seines Schützlings Sibyll angekündigt.

»Da kommen sie, Lump«, sagte Matthias schließlich zu ihrem vierbeinigen Hausgenossen. Er hob den Zeigefinger und sah Lump ermahnend an. »Ich will, dass du dich gut benimmst. Einer so schönen Frau gegenüber zeigt man sich als Kavalier. Nicht anspringen, nicht knurren. Hast du gehört?«

Der Deutsche Drahthaar warf seinem Herrn einen Blick zu, der so viel besagte wie: »Keine Sorge, ich blamiere euch nicht.«

Ulrike lachte, streichelte ihn und sah ihren Mann an. »Komm, wir begrüßen den Besuch draußen.«

*

»Mein Bester!«, rief Gernot Lugner aus, noch während er sich aus der schwarzen Limousine hievte. Dann ging er um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür.

Die Frau, die nun ausstieg, wirkte wie ein zartes, ja, fast dünnes Mädchen von achtzehn Jahren, obwohl der bekannte Star sieben Jahre älter war. Gernot führte Sibyll am Ellbogen über den gepflasterten Patientenparkplatz auf das alte Schwarzwaldhaus zu, so vorsichtig, als hätte er ein Porzellanpüppchen am Arm.

Der Landdoktor und seine Frau hatten Mühe, ihr Erstaunen zu verbergen. Dieses zierliche Geschöpf in der Jeans und dem schlichten weißen Shirt sollte der international bekannte Schlagerstar sein? Die Künstlerin, die auf der Bühne wie eine Hollywoodschönheit glitzerte und mit kraftvoller Stimme und ebenso kraftvollen Bewegungen ihr Publikum zu Standing Ovations brachte?

»Das ist sie, die berühmte Sibyll«, verkündete Gernot so stolz wie ein Vater. »Deutschlands Superstar in der Unterhaltungsbranche«, fügte er mit dröhnender Stimme und ausladender Geste hinzu, als würde er Sibyll auf der Bühne ihrem Publikum ankündigen. Dann schlug er Matthias zur Begrüßung auf die Schulter und küsste Ulrike in galanter Manier die Hand.

Der Landarzt lächelte die junge Frau an. »Brunner – meine Frau. Willkommen im Ruhweiler Tal.«

Während er die junge Künstlerin ansah, bemerkte er, wie blass deren Haut war. Ihre großen Augen, die die tiefblaue Farbe eines Sees an einem wolkenlosen Sommertag besaßen, schauten müde in die Welt. Nur die schneeweißen makellosen Zähne, die Sibylls zaghaftes Lächeln jetzt zeigte, und das glänzende blonde Haar erinnerten an die Bühnenschönheit.

Die Sängerin reichte zuerst der Landarztfrau und dann Matthias eine eiskalte Hand.

»Grüß Gott«, begrüßte sie die beiden mit melodisch klingender Stimme. »Nennen Sie mich doch einfach Sibylle.«

»Gern, Sibylle«, antwortete Ulrike und schenkte ihr ein warmherziges Lächeln.

»Und wer bist du?«, fragte die Sängerin in liebevollem Ton, während sie sich zu Lump herunter beugte, der so bewegungslos wie eine Statue neben seinem Herrchen saß.

Er ließ die Streicheleinheiten über sich ergehen, wie man es von ihm erwartete. Normalerweise ließ er sich nicht von Fremden streicheln. Doch in diesem Fall machte er großzügig eine Ausnahme. Zudem empfand er die Hand dieser Unbekannten als sehr sanft. Und sie roch sehr gut.

»Lump ist ihr Mitbewohner hier auf dem Hügel«, schaltete sich jetzt Gernot ein. Dann erklärte er Sibyll: »Meine Freunde haben sich sehr darum bemüht, für Sie das richtige Hotel zu finden. Sie haben …«

»Bevor wir die Einzelheiten besprechen, sollten wir zur Begrüßung doch erst einmal ein Kirschwässerli trinken«, unterbrach Ulrike nun den Redeschwall ihres Bekannten, der sich wieder einmal an Dienstbeflissenheit überschlug.

»Ein Kirschwässerli?« Gernot warf ihr einen geradezu empörten Blick zu.

Ulrike hob die Brauen. »So ist es bei uns im Schwarzwald Brauch. Natürlich können wir auch eine Flasche Champagner öffnen«, fügte sie in leicht ironischem Ton hinzu.

»Ein Schnaps ist sehr gut«, mischte sich nun der Schlagerstar lächelnd ein. »Ich stamme aus Bayern. Aus dem Raum Miesbach. Dort ist ein Begrüßungsschnapsl genauso Brauch.«

Mit einer Mischung aus Verblüffung und Entsetzen im Blick sah Gernot die junge Frau an.

Das sagte der Superstar, der auf der Bühne so viel Glamour versprühte?

*

Gernot hatte wie stets nur wenig Zeit. Nach dem Begrüßungstrunk sah man ihm an, dass er wie auf den sprichwörtlich heißen Kohlen saß.

»Wir sollten vielleicht jetzt zum Hotel fahren«, sagte er mit aufforderndem Blick zu der Sängerin.

»Jetzt schon?« Sibylle Bachmann schaute sich auf der Terrasse des Schwarzwaldhauses um. »Es ist so schön hier in der Sonne. Und diese Ruhe hier oben …« Ihr Blick bekam einen träumerischen Ausdruck.

»Ich möchte mich von der Qualität des Hotels überzeugen«, meinte der Konzertveranstalter mit wichtiger Miene. »Und in einer Stunde muss ich schon in Baden-Baden sein.«

»Wenn Sibylle noch bleiben möchte, kann ich sie ja zum Ruhweiler Hof bringen«, bot Ulrike sich an. »Ich habe heute nichts mehr vor. Dann könnten wir noch etwas plaudern, wenn es Ihnen hier gefällt«, wandte sie sich an den Star. »Mein Mann muss auch gleich wieder hinüber in die Praxis.«

»Ja, ich würde gern noch etwas sitzen bleiben«, erwiderte Sibylle sofort. »Hier ist es genauso schön wie in meiner Heimat. Der Blick von oben über die Hügel …« Sie lächelte versonnen. Dabei streichelte sie Lumps Fell.

»Na ja, letztendlich ist es in der Heimat immer noch am schönsten«, sagte der Landarzt. »Dort leben die Menschen, die einem vertraut sind. Und es braucht nicht viele Worte, um sich zu verstehen.«

Sibylle sah ihn erstaunt und lange an. Dabei legte sich plötzlich ein feuchter Schimmer über ihre Pupillen, der Matthias in seiner Lebenserfahrung bestätigte, dass Reichtum und Erfolg für denjenigen, der damit gesegnet war, nicht immer auch zugleich Glück bedeuten mussten.

Er räusperte sich und wandte sich seinem Bekannten zu. »Und? Willst du fahren?«

»Wenn ich darf«, sagte Gernot mit einer Verbeugung zu Sibyll.

»Machen Sie sich keine Sorgen um mich«, beruhigte die junge Frau ihn. »Ich bin sicher, dass Dr. Brunner und seine Frau die richtige Unterkunft für mich ausgesucht haben.«

»Ich rufe Sie heute Abend im Hotel an, auf Ihrem Handy«, versicherte Gernot ihr. Dann verabschiedete er sich und ließ sich vom Hausherrn hinaus geleiten.

»Unser Gernot, immer im Stress«, sagte Ulrike lächelnd, während sie dem Konzertveranstalter nachsah. Dann fuhr sie ernst fort: »Im Hotel werden Sie sich völlig unbehelligt von den anderen Gästen erholen können. Und falls Sie ein bisschen Unterhaltung brauchen sollten, rufen Sie uns gern an.«

»Danke.« Sibylle schenkte ihr ein Lächeln. »Momentan ist mir mehr danach zumute, mich auszuruhen, zu lesen und das schöne Wetter zu genießen.«

»Das Wetter soll auch erst einmal noch so bleiben, und die gute Luft sowie die Ruhe haben wir immer hier.«

»Ich weiß nicht, ob Sie es wissen, aber ich hatte einen Burnout«, erzählte die Sängerin nun. »Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, muss ich sagen, dass ich mich noch nicht vollständig davon erholt habe, aber als Herr Lugner mich anrief, wollte ich ihm keine Absage geben. Dann würde es schnell heißen, die Sibyll ist nicht mehr zu buchen, die ist weg von der Bühne. Und so etwas kann man sich nicht erlauben, wenn man weiter singen will.«

Ulrike hatte sie während des Sprechens näher betrachtet. Nur zu deutlich waren die Spuren der Müdigkeit auf dem blassen, ebenmäßig geschnittenen Gesicht der Künstlerin zu sehen. Erholt und gesund sah anders aus, sagte sie sich.

»Sie sind sehr berühmt und singen schon lange«, begann sie in vorsichtigem Ton. »Haben Sie nach dem Burnout daran gedacht, mit dem Singen aufzuhören? Ich meine …« Sie verstummte, suchte nach den richtigen Worten.

Sibylle lächelte sie vertrauensvoll an. »Sie meinen, ich habe genug verdient, dass ich mich mit Mitte Zwanzig schon zur Ruhe setzen kann, gelt?«

»Ja, das meinte ich.«

»Ohne arrogant oder angeberisch wirken zu wollen, das könnte ich auch. Leute wie ich verdienen viel Geld. Das kann man überall lesen. Ich habe mein Geld zudem einem guten Verwalter in die Hände gegeben, der es arbeiten lässt, aber es geht ja nicht nur ums Geld. Was sollte ich ohne meinen Beruf machen?«

»Ein schönes Leben, irgendwo auf der Welt, wo Leute wie Sie sich zur Ruhe setzen und ihren Reichtum genießen.«

»Nein.« Sibylle schüttelte den Kopf so energisch, dass ihr hellblonder Pferdeschwanz, der ihr etwas Mädchenhaftes gab, hin und her schaukelte. »Das wäre nichts für mich. Ich stamme aus einfachen Verhältnissen. Nach der ­Trennung von meinem Vater musste meine Mutter hart arbeiten, um für mich und sich den Lebens­unterhalt zu verdienen. Ich habe früh gelernt mitzuhelfen. Ein Leben in Müßiggang ist für mich nichts.«

»Sie könnten heiraten und eine Familie gründen«, schlug Ulrike ihr vor, um gleich darauf dafür ein hartes kurzes Lachen zu ernten.

»Wen denn? Männer aus meinem Umfeld will ich nicht.« Sibylle beugte sich nach vorn und vertraute ihr mit treuherzigem Blick an: »Künstler sind merkwürdige Typen. Selbstgefällig, in sich selbst verliebt. Zumindest die meisten. Ausnahmen gibt es natürlich immer«, fügte sie mit schelmischem Lächeln hinzu. »Und normale Männer lerne ich heute nicht mehr kennen. Ich kann mich doch nicht mehr in einer Stadt in der Öffentlichkeit zeigen. Jeder erkennt mich. Das ist eine der vielen Schattenseiten meines Berufes.« Sie seufzte.

Die Landarztfrau spürte, dass ihr Gegenüber nicht nur erschöpft aussah, sondern sich auch so fühlte. Jetzt griff sich der Star sogar mit schmerzverzogener Miene an die Brust.

»Geht es Ihnen schlecht?«, erkundigte sie sich besorgt.

Wie aus einem Traum aufwachend sah Sibylle sie an. »Ach, nichts Schlimmes. Manchmal tut es hier nur weh. Alles Erschöpfung«, tat sie ihre Beschwerden betont munter ab.

»Vielleicht sollten Sie sich noch einmal untersuchen lassen, bevor Sie in Baden-Baden auftreten. Das sage ich nicht, weil mein Mann Arzt ist«, fügte sie rasch hinzu.

Die junge Frau lachte. »Falls ich mich in den Tagen hier schlechter fühlen sollte, suche ich Ihren Mann selbstverständlich auf. Nicht, weil er der einzige Mediziner vorort ist, sondern vielmehr, weil ich ihn sehr sympathisch finde. Anders als die Ärzte in den Großstädten, für die die Kranken nur eine Nummer sind, falls sie weder Geld noch Namen haben.«

*

Das kleine restaurierte Bauernhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert lag wie ein Schmuckstein im grünen Tannengrund, etwa zweihundert Meter entfernt vom Hotel. Ein in allen Farben blühender Garten, den ein weißer Zaun von dem übrigen Gelände abgrenzte, gab dem Häuschen seinen ganz besonderen Charme. Die Inneneinrichtung, die aus Bauernantiquitäten bestand, erzählte vom guten Geschmack seines Eigentümers, der – wie Sibylle Bachmann vom Hotelmanager erfuhr – auch der des Hotels war. Die heimelige Atmosphäre des Hauses unterschied sich für die berühmte Schlagersängerin wohltuend von den vielen luxuriös eingerichteten Hotelsuiten, in denen sie auf ihren Tourneen wohnte. Es überraschte sie selbst, aber sie fühlte sich hier von der ersten Minute an wie zu Hause.

Am Abend ihrer Ankunft konnte sie von der beschaulichen Ruhe und der guten Luft um sich herum nicht genug bekommen. Während sie beobachtete, wie die Dämmerung aus dem Tal hinauf über die bewaldeten Höhen schlich, überhauchte die untergehende Sonne die Tannenspitzen mit dunklem Purpurrot. Hinter den Schwarzwaldhügeln, am weiten Horizont, sah man noch einzelne lang gezogene Wolkenstreifen, mit lichtem Gold gesäumt. Keine Hochhäuser, keine Telegrafenmasten, kein Flugzeuglärm, der die Stille der Natur gestört hätte. Fasziniert beobachtete sie, wie die Farben um sie herum verblassten. Dann tauchte im Osten der Mond auf. Das vielstimmige Geläut der Kuhglocken verklang, und die Steinache, die hinter dem Haus vorbei plätscherte, schien leiser zu fließen als noch am Spätnachmittag.

Die Sängerin lächelte versonnen vor sich hin.

Wie gut tat diese Idylle ihrem ausgebrannten Körper. Selbst während ihres mehrwöchigen Sanatoriumsaufenthalts hatte sie sich nicht so wohl gefühlt wie an diesem Abend im Ruhweiler Tal.

*

Am nächsten Morgen wurde Sibylle von dem vielstimmigen Konzert der Vögel geweckt. Auf ihrem Gesicht lagen warme Sonnenstrahlen. Mit geschlossenen Augen blieb sie noch einige Minuten liegen, um den gefiederten Sängern zu lauschen. Die süße Melodie drang tief in ihr Herz. Sie konnte sich nicht erinnern, in letzter Zeit jemals so gut geschlafen zu haben wie in diesem breiten weichen Bauernbett, über das sich ein zartblauer Baldachin spannte, so zartblau wie der Himmel an diesem Morgen.

Nach einem deftigen Frühstück, das der Hotelmanager ihr höchstpersönlich servierte, beschloss sie, ihre erste Wanderung zu machen. In Jeans, Wanderschuhen und einem Rucksack auf dem Rücken marschierte sie los. Wie in Schulzeiten, wenn sie am Wochenende mit anderen Jugendlichen auf Freizeit in den österreichischen Bergen unterwegs gewesen war. Da sie sich im Ruhweiler Tal nicht auskannte, schlug sie einfach eine beliebige Richtung ein.

Mal sehen, wohin mich dieser Weg führen wird, sagte sie sich voller Neugier und Unternehmungsgeist. Wie ungewohnt war es, seit Jahren wieder einmal ganz allein unterwegs zu sein. Wenn sie auf Tournee war und Ausflüge in der jeweiligen Gegend machte, wurde sie stets von mindestens zwei Bodyguards begleitet. So wollte es ihr Agent haben.

Sibylle atmete tief durch. Nur kurz verspürte sie wieder den Schmerz in der Mitte ihrer Brust. Das dieser kein Anzeichen für einen Herzinfarkt sein konnte, beruhigte sie. Für einen Infarkt war sie noch zu jung, so hatte ihr der Arzt in der Rehaklinik gesagt.

Die Luft duftete nach frisch gemähtem Gras und den Blumen, die am Wegesrand standen. Brunellen, Seidelbast und Frauenschuh, Sibylle kannte sie alle. Sie blieb stehen, um die kunstvoll gestalteten Blüten, diese bunten Wunder der Natur, zu betrachten. Von hier oben aus hatte sie auch einen traumhaften Blick auf die Bauernhäuser im Tal, den goldenen Wetterhahn auf dem Kirchturm, der ihr wie zum Gruß entgegen blinkte, und all die Hügelketten des südlichen Schwarzwaldes, die sich bis zum Horizont hintereinander aufstellten.

Flotten Schrittes wanderte sie trotz ihrer Schmerzen in den Tannenwald hinein, in dem eine angenehme Kühle herrschte. Über ihr fächelten die Äste im lauen Wind. Vögel sangen auch hier um die Wette. Dazwischen erklang immer wieder das Gekrächze eines Eichelhähers, des Wächters des Waldes, der dessen Bewohner auf die einsame Wanderin aufmerksam machte.

Sibylle schritt zwischen den hohen, gerade aufragenden Tannen dahin. Dabei ließ sie den Blick über den Boden gleiten, immer auf der Suche nach besonderen Pflanzen. Moos wuchs zu ihrer Linken und lud zum Sitzen ein. Dieser Versuchung konnte sie nicht widerstehen, zumal sie sich schon wieder erschöpft fühlte. Sie setzte sich, legte die Handflächen auf den samtweichen Boden und schließlich legte sie sich ganz hin. Mit hinterm Kopf verschränkten Armen blickte sie nach oben in das dunkle Grün der Tannen, zwischen dem hier und da der Himmel durchblitzte. Wenn die Äste im Wind schaukelten, drang auch ein vorwitziger Sonnenstrahl zu ihr herunter, der sie zwang, die Augen zu schließen. Irgendwann schlummerte sie ein.

*

Sibylle wurde wach durch ein Geräusch. Was war es gewesen? Ein Knacken in den Zweigen, der Ruf eines Eichelhähers? Sie öffnete die Lider und bemerkte den Schatten, der über sie fiel. Jäh sprang sie auf, wich erschrocken vor dem jungen Mann in grünem Overall zurück, einem sehr gut aussehender Mann mit dunklen, eindringlich blickenden Augen. Sein kantiges gebräuntes Gesicht verlieh ihm eine männliche Ausstrahlung. So, wie er da stand, groß, breit, mit einem Strahlen auf dem Gesicht, umgab ihn eine Aura von Stärke.

»Grüß dich«, sagte er ganz selbstverständlich.

Inzwischen hatte sie sich von der Überraschung erholt und lächelte zurück.

»Grüß dich«, wiederholte sie seine Worte.

»Ein toller Tag, gelt?« Blanke weiße Zähne blitzten sie an, genauso wie diese großen Männeraugen. »Hier kannst du nicht liegen bleiben«, erklärte ihr der Dunkelhaarige. »Wir wollen in der Nähe holzen. Nicht, dass du noch erschlagen wirst.«

»Okay«, erwiderte sie.

Was für ein toller Typ, was für Augen. Sie schienen ihr direkt in die Seele zu blicken. Seine Ausstrahlung, seine Nähe machten sie ganz nervös. Er passte hierhin, in diese noch unberührte urwüchsige Natur, ohne hinterwäldlerisch zu wirken. Er strahlte etwas Wildes aus, etwas Unbezähmbares. Und er hatte sehr schöne Hände, wie ihr jetzt auffiel, als sie seinem Blick auswich. Große Hände, denen man ansah, dass sie zupacken und bestimmt auch beschützen konnten.

»Okay, danke, dann werde ich jetzt mal weitergehen«, sagte sie betont locker.

»Wohin willst du denn?«, erkundigte er sich.

Sie lachte verlegen. »Ach, das weiß ich auch nicht so genau. Nur in die Natur«, fügte sie dann hinzu.

»Da bist du jetzt. Schöner kann es nirgendwo sein.«

»Doch, in den bayrischen Alpen«, erwiderte sie spontan, was sie gleich darauf bereute.

Wie kam sie dazu, sich mit diesem ihr Wildfremden ins Gespräch zu begeben und dazu auch noch zu verraten, woher sie stammte?

»Ich höre es, du stammst aus Bayern«, sagte er augenzwinkernd. »Ich mag euren Dialekt.«

Sie räusperte sich, wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Wie ungeübt war sie doch in ganz normalen Gesprächen mit ganz normalen Menschen geworden.

»Wenn du eh kein genaues Ziel hast, schlage ich dir das Hexenhäusle vor. Es liegt etwa drei Kilometer von hier entfernt auf einer herrlichen Hochebene mit Blick über den südlichen Schwarzwald. Die Schwarzwälderkirschtorte ist dort hervorragend.«

Sie sah zu ihm hoch und lachte ihn an. »Danke für den Tipp. Also dann …«

Verwirrt blieb sie stehen. Der Blick aus den Männeraugen hielt ihren fest. Sie las in ihm, dass sie ihrem Gegenüber gefiel. Und zwar sie selbst, nicht der Schlagerstar. Dieser Holzfäller hatte sie ohne Schminke und in ihrer jetzigen Aufmachung nicht erkannt. Dessen war sie sich sicher. Das hätte sie bemerkt. Wenn er überhaupt wusste, wer Sibyll war. Sein bewundernder, ja, flirtender Blick galt eindeutig der ganz normalen Bergwanderin. Wie lange war es her, dass ein Mann mit ihr und nicht dem Star geflirtet hatte?

Diese Erkenntnis mochte eine besondere Wärme in das Lächeln der jungen Frau zaubern. Sie ließ ihre Augen strahlen und weckte in ihr alle längst ermüdeten Lebensgeister.

»Machst du Urlaub hier bei uns im Tal?«, fragte der junge Mann in dem grünen Overall.

»Ja«, antwortete sie mit belegter Stimme. Sie fühlte sich befangen, ja, sogar ein wenig unsicher.

»Und? Gefällt es dir bei uns?«

»Sehr«, antwortete sie mit einer Begeisterung, die aus ihrer melodisch klingenden Stimme deutlich herauszuhören war.

Die beiden sahen sich an, lächelten einander zu, schwiegen.

»Dann wünsche ich dir was«, verabschiedete sich der Waldarbeiter schließlich und hob lässig die Hand. »Ich muss die anderen holen, damit wir heute rechtzeitig mit unserer Arbeit fertig werden.«

»Ich dir auch«, erwiderte sie mit dem Anflug leichten Bedauerns, hob ebenfalls zum Abschied die Rechte und drehte sich um.

Wie gut tat es, sich nach langer Zeit wieder einmal ganz normal mit einem Mann zu unterhalten, dachte sie. Und wie eine ganz normale Frau behandelt zu werden.

Während sie so in Gedanken weiterging, spürte sie deutlich, wie sich ihre Brust weitete, wie sich ihr Herz öffnete. Und sie fühlte sich mit einem Mal innerlich so frei wie die Schwalben, die über den Tannenwipfeln am azurblauen Himmel ihre Kreise zogen.

*

Roland Meister blickte der Urlauberin nach.

Was für eine Frau, dachte er wie verzaubert. Eine Elfe, voller Anmut. Und diese wunderschönen tiefblauen Augen, denen der dichte Kranz langer schwarzer Wimpern noch mehr Tiefe schenkte. Wie ein geheimnisvoller See. Nur sehr blass hatte sie ausgeschaut. Richtig erholungsbedürftig. Vielleicht sogar ein bisschen zu dünn. Aber nach ein paar Tagen in der guten Tannenluft würde sie schnell wieder zu Kräften kommen.

Der Hotelerbe blinzelte ein paar Mal ungläubig vor sich hin und schüttelte dabei lächelnd den Kopf.

So etwas war ihm noch nie passiert. Noch nie zuvor hatte eine Frau einen solch intensiven Eindruck bei ihm hinterlassen. Sie hatte eine Aura gehabt, die ihn, ohne dass er sich hatte wehren können, in ihren Bann gezogen hatte. Merkwürdig. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Wie eine Seelenverwandte. Oder hatte er sie schon einmal gesehen? Aber wo? Ihre Stimme … So weich, melodisch, singend …

Er sah das ebenmäßig geschnittene, blasse Frauengesicht vor sich. Die schneeweißen, makellosen Zähne, dieses Lächeln … Da durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Eine Vermutung kam in ihm auf. War diese bezaubernde Person etwa der bekannte Schlagerstar Sibyll, die zurzeit in seinem Haus wohnte?

Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Das würde er nach getaner Arbeit hier im Wald schnellstens herausfinden. Er machte kehrt und ging in Gedanken versunken zu den Holzfällern zurück. Diese zierliche Gestalt mit dem roten Rucksack auf dem Rücken sollte die berühmte Schlagersängerin sein, die zurzeit im cremeweißen Paillettenkleid, mit gestyltem Haar und verlockend schimmernden Lippen von den Plakaten in Baden-Baden und Umgebung auf ihre Fans hinunter strahlte? Wenn dem so sein würde, dann hatte er gerade den Menschen kennengelernt, der in dieser glitzernden Hülle steckte. Und dieser Mensch war ihm als ganz natürliche, ganz normale und bescheidene Frau ohne jegliche Starallüren vorgekommen. In der Presse dagegen wurde die erfolgreiche Sängerin als launisch, zickig und anspruchsvoll beschrieben.

Roland schüttelte noch einmal ziemlich fassungslos den Kopf.

Ihm war zumute, als hätte ihm das Schicksal gerade ein ganz besonderes Geschenk gemacht. Noch heute würde er das Geheimnis um die blonde Wanderin lösen. Auch wenn sie nicht Sibyll hieß, würde er sie näher kennenlernen wollen. Tief im Herzen wünschte er sich sogar, dass dieses bezaubernde Wesen eine ganz normale Urlauberin war und kein Star.

*

Der sympathische Waldarbeiter begleitete Sibylle in Gedanken bis zu dem Hexenhäusle und ließ sie alle körperlichen Beschwerden vergessen. Da auf der Terrasse der kleinen Hütte alle Plätze besetzt waren, wie sie schon von Weitem erkennen konnte, machte sie kehrt. Den vielen Menschen dort oben wollte sie sich nicht zeigen.

Auf dem Rückweg zu ihrer Unterkunft meldete sich wieder der Brustschmerz. Dieses Mal ungewohnt heftig und bis in die Schulter hinein. Zum ersten Mal kam Panik in ihr hoch. Ob es sich bei den Schmerzen vielleicht doch um die Ankündigung eines Herzinfarktes handelte? In ihrem Alter?

Denk an dein Burnout, warnte sie da eine innere Stimme, die der Vernunft.

Der Landdoktor Classic 40 – Arztroman

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