Читать книгу Katie - Christine Wunnicke - Страница 8

III

Оглавление

Am 5. Dezember 1870 lief das Panzerschiff HMS Urgent aus dem Hafen von Portsmouth aus, besetzt mit Wissenschaftlern, die nach Oran in Algerien reisten, um dort die totale Sonnenfinsternis zu studieren. Geleitet wurde die Expedition von Mr. Huggins, einem Privatmann aus dem Brauereigewerbe, der sich als astronomischer Spektroskopist einen Namen gemacht hatte. Mit von der Partie waren der Physiker und Alpinist John Tyndall, Mr. Gladstone vom Observatorium in Greenwich, Reverend Howlett, der geschickt mit dem Zeichenstift war, der Instrumentenmacher Ladd, eine Gruppe junger Studenten aus Oxford, die ein wertvolles Polariskop bewachten, sowie William Crookes, der zwar zu Recht als Virtuose der chemischen Spektrographie galt, von Sonnenstrahlen indes eher wenig verstand; er berichtete für die Times und das Echo.

Crookes trat die Reise mit gemischten Gefühlen an: Seit Philips Tod graute ihn, unter anderem, vor Schiffen. Eine Ahnung von Seekrankheit und ein leichter Schwindel hatten ihn befallen, noch bevor er einen Fuß auf die Urgent gesetzt hatte, und nun, an Bord, stellte er fest, dass er einen Großteil seiner Papiere zuhause vergessen und stattdessen allerlei Nutzloses eingepackt hatte: eine Vakuumröhre, Unmengen Magnesiumdraht, den Faraday’schen Indikator aus Newmans Laden in der Regent Street, zwei Feze und genügend Zigarren, um drei Monate damit zu überdauern. Er würde die Hilfe von Professor Tyndall und Mr. Huggins in Anspruch nehmen müssen, um sich auf der Überfahrt genügend Wissen über Eklipsen anzueignen; das gefiel ihm nicht. Auch seine Kajüte gefiel ihm nicht. Dichter Nebel hing über Portsmouth. Crookes löste Seidlitzpulver in Wasser und nahm es mit Chlorodyne.

Daheim in London las Mrs. Crookes den Daily Telegraph. Hier wurde über die Expedition ausführlich und poetisch berichtet. »Um eine Corona zu erobern«, las sie, »lohnen sich, ganz wie für eine Krone, die größten Strapazen. Und sollte uns Neptun noch grollen, weil wir mit Telegraphenkabeln seine Fluten und Gestade entweihten, so bitten wir ihn um Gnade für unsere wackeren Händler himmlischer Herrlichkeit, unsere Strahlenjäger und Fischer des Lichts, deren einziger Lohn das Gold der Sonne und das Silber makrokosmischer Schönheit ist. Kein ›Narrenschiff‹ ist dies, wie die Deutschen sagen, sondern ein ›Schiff der Philosophen‹; und wäre Horaz mit an Bord, er würde eine Ode verfassen, sic te diva potens Cypri …«

Nelly Crookes ließ die Zeitung sinken. Das Schiff war wohl eben erst ausgelaufen. Nichts wusste der Leitartikler über das Schicksal der Expedition.

Mrs. Crookes trug schon wieder Trauer, diesmal für eine Tante, und erwartete in großer Bälde ihr achtes Kind. Sie seufzte, stieß auf, seufzte noch einmal und nippte an ihrem Likör. Eine Schwangere in Trauer, fand Mrs. Crookes, war ein trauriger Anblick. Wieder einmal fiel ihr ein, dass sie ihren jungen Schwager nie hatte leiden können, Philip mit seinen roten Wangen und seinem leicht verschwitzten Haar, den ›kleinen Philip‹, wie er in der Familie hieß, mit seinem Gerede von Guttapercha und Pferderennen. Und die Tante hatte sie auch nicht gemocht. Mrs. Crookes sank tiefer ins Sofa, ein Privileg der werdenden Mütter, und hörte matt und ein wenig weinerlich dem hellen Summen zu, das von Ferne aus der Kinderstube zu ihr drang; keine Wand, kein Treppenhaus vermochte es ganz zu verschlucken. Wenigstens erforderten Tanten kein Krepp, dachte Mrs. Crookes, und konnten in Seide betrauert werden. Doch dann käme der nächste Tod. Und das nächste Kind. Es gab ein blaues Kleid in ihrem Schrank, das sie seit Jahren gerne getragen hätte. Nun war es längst aus der Mode und sie immer noch schwanger und immer noch schwarz. Was für ein Trauerspiel.

William Crookes war 38 Jahre alt und noch immer Herausgeber der Chemical News. Eine magnetische Spaltung der Streifen im Flammenspektrum war ihm noch immer nicht geglückt und er wusste noch immer nicht, warum sie ihm so sehr am Herzen lag. Seit Philips und Faradays Tod hatten Ärgerlichkeiten ihn heimgesucht, lauter kleine Rückschläge und Missgeschicke, die er zunehmend schlechter verdaute. Der Royal Society hatte sein binokulares Spektrum-Mikroskop nicht gefallen. Die Ärztekammer hatte seinen Entwurf zur verbesserten experimentellen Ausbildung von Medizinstudenten zuerst verspätet und knapp beantwortet und dann nicht umgesetzt. Das lukrativste Projekt, eine Verbesserung des Natriumamalgamverfahrens zur Extraktion von Edelmetallen, stockte seit Jahren, verschmutzte das Hauslaboratorium und hinterließ auf Crookes’ Zahnfleisch unansehnliche blassgraue Quecksilberflecken. Seine Gesundheit war angegriffen. Er litt unter bösen Träumen und zuweilen auch unter Lücken im Intellekt. Größer und größer, grauer und grauer wurde der Gelehrtenbart in seinem Gesicht. Zagheit hatte sich in seine Leidenschaft für die Wissenschaft eingeschlichen, sein guter Humor war verkrampft und dieser Bart, fand Crookes, als er neben dem Waschtisch in seiner Kajüte vor dem Spiegel stand, wuchs hemmungslos wohin auch immer er wollte, in beliebigen schwächlichen Büscheln.

Draußen zog die Isle of Wight vorüber, die man wegen des Nebels nicht sah. Ein lebhaftes Schiff, hatte der Kapitän gesagt; Crookes wurde übel, sobald er nur daran dachte. Er zog sich um fürs Souper. Die Urgent lag ruhig und doch schienen Wände und Boden zu schwanken, Crookes brauchte drei Anläufe, um seine Krawatte zu binden, und selbst dann saß der Knoten noch schief. Eine gewisse Beruhigung fand er nur darin, dass auch Mr. Huggins und Mr. Gladstone, ja selbst der Alpinist Tyndall und die meisten jungen Studenten das Nachtmahl nur in kleinen Bissen und unter sichtbaren Qualen verspeisten.

Man sprach über die Höhe der Chromosphäre, die bei verfinsterter Sonne wohl gut zu vermessen sei, über die Sauerstofflinien im Spektrum der Corona, die vielleicht von vielen anderen interessanten Linien gestört würden, über Mr. Ladd, der zu Bett lag und sich zuvor lange und lautstark übergeben hatte, über türkische Bäder, über vermutete Frauen in solchen, über die Schönheit der englischen Seefahrt und über den Spiritismus; ohne dieses Thema kam derzeit kaum eine Gelehrtenrunde aus. Während Gladstone noch über badende Orientalinnen spekulierte, war Huggins schon längst dort gelandet. Ein Medium seiner Bekanntschaft, so Huggins, sprühe Funken wie eine Leidener Flasche, sobald es in Trance fiele, und dies beweise unzweifelhaft, dass es sich bei den sogenannten spiritistischen Kräften schlicht um Elektrisches handle.

»Elektrisch«, sagte Professor Tyndall. »So einfach ist das nicht.«

Gladstone, der länger schon auf einem Stück Braten kaute und von den Frauen gerade nicht lassen mochte, erlaubte sich einen Scherz über das funkensprühende Medium, der nicht ganz hasenrein war, was Huggins ärgerte und Reverend Howlett aus einem schwindligen Dösen weckte. William Crookes, in etwas sinnloser Stimmung, trat leicht gegen ein Tischbein, das im Boden der Messe verschraubt war, und wies darauf hin, dass Tischdrehen, Tischklopfen, Tischrücken und ähnliche Experimente auf dem Ozean wohl durchaus erschwert seien; um hier etwas auszurichten, müssten die Geister an Werkzeugen geschult oder stark wie die Bären sein.

»Geister? So einfach ist das nicht«, sagte Professor Tyndall.

»Die Winterstürme in der Biskaya …«, begann der Kapitän der Urgent, der gerne das Thema gewechselt hätte.

»Halluzinationen, Mesmerismus oder Reichenbach-Kraft«, warf einer der Studenten ein.

Crookes merkte, wie sein Hals zu schwellen begann. Dies geschah ihm in letzter Zeit öfter. Er wusste nicht, ob es Zorn war oder ein inneres, ängstliches Abdrücken der Luft. Er schätzte den Spiritismus nicht sehr. Nur wenig hatte er bislang darin dilettiert, kaum drei-, viermal selbst gesessen. Doch in Gelehrtenkreisen war ihm nicht zu entkommen.

Er entfernte ein Stück Kartoffel, das längst kalt war, von seiner Gabelspitze. »Goethe«, sagte er, »in seiner schlechten Farbenlehre, spricht statt eines ›Spektrums‹ dauernd vom ›Gespenst‹ des Lichts. Gespenst. Auf Deutsch. Das deutsche Wort für ›Gespenst‹.«

»Die Biskaya im Winter …«, versuchte der Kapitän sein Glück.

»Es folgt Gesetzen«, murmelte Huggins. Die Urgent lag ruhig wie in stehendem Wasser. »Elektrisch«, wimmerte Huggins, dann sprang er auf und lief fort, um sich gemeinsam mit Mr. Ladd zu erbrechen.

»Nicht so einfach«, sagte Tyndall.

»Mit dem Tod hat es nun ganz und gar nichts zu tun«, sagte Crookes.

»Die Reichenbach-Kraft …«, wiederholte der Student schwach, in der Hoffnung, dass ihm einfallen möge, worum es sich dabei handelte.

»Ich weiß nicht recht, was mich dazu verleitet hat, ihn einzupacken«, fuhr Crookes fort, »doch habe ich den Faraday’schen Indikator im Koffer, den Prototypen aus der Regent Street, und wenn Sie Lust verspüren, Gentlemen, und wenn uns die Langeweile in der Biskaya allzu sehr plagt: So könnten wir ihn doch einmal ausprobieren.«

Die Urgent begann sachte zu rollen.

Mrs. Crookes ging in ihrem Haus umher. Da sie es nicht schicklich fand, in gesegneten Umständen sich überall in der Welt zu zeigen, hatte sie die letzten dreizehn Jahre vor allem in diesem verbracht. Es war ein schönes Haus in der Mornington Road, weiß und rot und ein wenig griechisch, das Mr. Crookes von den Früchten der Wissenschaft und seinem väterlichen Erbe, vor allem letzterem, für die Familie gekauft hatte.

Oft ging Mrs. Crookes sehr lange und ziellos im Haus umher. Dem Personal wurde es zuweilen sauer, weil sie überall auftauchte, wo man nicht mit ihr rechnete, weil sie stehen blieb, schaute und schaute, ohne ein Anliegen zu haben. Mit langsamen, langen Schritten schob sie sich durch die Zimmer. Sie besichtigte die Wirtschaftsräume im Souterrain, warf einen Blick in die Spülküche, betrat dann sogar vorsichtig den Kohlenkeller und schaute länger hinauf in den schwarzen Einfallschacht, durch den vom Trottoir her ein wenig nebeliges Tageslicht drang. Sie ging in die Küche. Die Köchin zeigte ihr etwas, Mrs. Crookes sagte »ja, ja« und »schön, schön«, aber sie konnte sich nicht aufraffen, das Gezeigte anzuschauen. Man kochte für die Kinder seit einer Weile nach einem medizinischen Buch, das bestimmte Nahrung in einem bestimmtem Rhythmus empfahl, damit sie auch im Winter gut gediehen und der Katarrh sie verschonte. Mrs. Crookes konnte sich nicht erinnern, wer das angeordnet hatte, sie selbst, Mr. Crookes oder die Kinderfrau; nur vage erinnerte sie sich an eine vornehmlich blasse Kost, viel Hafer, gekochten Pudding, Blumenkohl und Brustfleisch vom Huhn. In bestimmten Monaten jeder Schwangerschaft verwirrte sich zuweilen ihr Kopf. In diesen Zeiten, so der Arzt, bilde sich das Gehirn des Kindes aus, weshalb es – und an diese Wendung erinnerte sie sich genau – ›sehr an der Mutter partizipiere‹.

»Du armes Ding«, murmelte Mrs. Crookes und strich über ihren Bauch. Langsam erklomm sie die Stufen zum Erdgeschoss und zwei Tränen stahlen sich aus ihren Augen.

In elegischer Stimmung durchwanderte sie Garderobe, Vorzimmer, Familienspeisezimmer und Speisesalon. Sie nahm die gute und die bessere Stube in Augenschein, öffnete und schloss ein Fenster, klimperte auf dem Klavier, dann verweilte sie in der Bibliothek und schob die Trittleiter, die auf Rollen lief und die Mr. Crookes erst letzthin erworben hatte, eine gute Weile hierhin und dorthin. Sie besuchte den Abtritt. Auch dort stand sie länger, schaute und lauschte. Wie die rollende Leiter, so hatte Mr. Crookes auch den Abtritt erst letzthin erworben, ein neues, kompliziertes, patentiertes, Nelly Crookes nicht geheures Wasserklosett. In den Rohren rauschte und gluckerte es, und es roch sehr nach Seife. Auch der Magd war das Klosett nicht geheuer, weshalb sie den Linoleumboden und sogar die Wände dauernd mit nassen Bürsten schrubbte. Und für das Porzellan hatte Mr. Crookes Karbolsäure und Chlorzink verordnet. Auch ihm war das Klosett nicht geheuer. Eine Hand auf der Klinke, die andere in den Rücken gestemmt, verharrte Nelly reglos, den Blick auf den Deckel des Abtrittsitzes geheftet, und überlegte, wie viel Furcht generell wohl in diesem Hause herrsche: Sehr viel, normal viel oder noch viel zu wenig. Vergäße man den Chlorzink, bevor man die Abtrittgrube räumen lasse, hatte Mr. Crookes zur Haushälterin gesagt, so zöge man sich die Cholera zu. Und wenn man bei Gaslicht mit Chlorzink hantiere, setze man giftige Gase frei und stürbe an der Bronchitis. Auch explodiere wahrscheinlich das Licht. Das Licht im Haus war ebenfalls neu, alles sehr modern und gefährlich. Nelly Crookes lächelte. Sie erinnerte sich, wie sie ein kleines Mädchen gewesen war, furchtlos, nicht schwanger, und im Trauerfall immer nur weiß gekleidet. Oh, die goldenen Jahre in Durham … Lächelnd verließ sie den Abtritt und stieg die Treppen hinauf, um nach ihren Kindern zu schauen.

Alice war dreizehn, Henry elf, Joseph neun, John sieben, Bernard fünf, Walter drei. Alle ähnelten eher dem Vater. Alice trug Walter im Arm. Henry ließ Bernard auf seinen Schultern reiten. Sie drängten sich um die Mutter. Die Kinderfrau zeigte ihr etwas, Mrs. Crookes sagte »schön, schön«, aber sie konnte sich nicht aufraffen, das Gezeigte anzuschauen; eine Bastelarbeit vielleicht oder ein Buchstabenspiel? Das Kind in ihrem Bauch trat um sich. Es würde leben. Die meisten lebten. Nur das letzte war gestorben. Mrs. Crookes konnte sich nicht erinnern, wie sehr das letzte getreten hatte. Sie strich allen über die Haare, küsste die kleinsten und sagte »brav«. Wieder schmeckte sie Magensäure. Sie sehnte sich nach dem Sofa, nach Fencheltee und Chlorodyne.

Zuvor warf sie jedoch noch einen Blick in Mr. Crookes’ Laboratorium. Dort traf sie den Lehrling, Mr. Pratt, einen fleißigen, schweigsamen Burschen, der Röhren evakuierte. Er trug eine Haube mit einem Schirm daran, einem Schutzschirm wahrscheinlich, gegen splitterndes Glas, und strahlte in dieser Verkleidung etwas sehr Einsames aus. Auf eigenen Wunsch nahm Mr. Pratt alle Mahlzeiten mit den Kindern ein, aus Schüchtern- oder Bescheidenheit. Mrs. Crookes, die sich angeschlichen hatte, sah ihm eine Weile unbemerkt zu, wie er an der großen, lauten Aspiratorpumpe mit Manneskräften zugange war, und stellte sich vor, wie er tagaus, tagein diese blassen Speisen verzehrte, all den ermüdenden Blumenkohl, und beschloss, falls sie es sich denn merken konnte, diese Situation zu beenden.

»Schön, Mr. Pratt«, flüsterte Nelly. Sie hatte den Lehrling erschreckt. Die Pumpe stockte und schnaufte und der Saugschlauch sprang vom Ventil. Mrs. Crookes entschuldigte sich. Mr. Pratt entschuldigte sich sehr. Er riss sich die Schirmhaube vom Kopf, als habe ihn die Hausfrau bei Unrechtem ertappt. »Ich spuke hier ständig durchs Haus«, sagte Mrs. Crookes, »und richte nur Unheil an.« Sie lächelte schwach. Mr. Pratt drückte die nicht fertig evakuierte Röhre unruhig in ihre Halterung. Vielleicht drohte sie zu zerspringen. »Wie seltsam ist ein Vakuum«, sagte Mrs. Crookes. »Sehr seltsam, von der Vorstellung her. Leere in einem Glas.«

Der Lehrling murmelte etwas, das wie »aber nicht doch« klang, und schob einen Finger der freien Hand in den Kautschukschlauch. Er hatte ein angenehmes Gesicht, belebt, gewitzt, mit feinen Zügen; man konnte in der Tat nur bedauern, dass er so wenig aus sich machte.

»Dann überlasse ich Sie nun Ihrem Schicksal, Mr. Pratt«, sagte Mrs. Crookes und machte sich auf den Weg zum Sofa.

Michael Faraday, der ein erklärter Feind des Spiritismus war, hatte den sogenannten Indikator entworfen, um die Kräfte zu analysieren, die beim Tischrücken zwischen Mensch und Möbel wirkten.

Zwischen Holzbrettchen, die über mehrere mit Gummi gepolsterte Glaswalzen gegeneinander glitten, waren zwei glatte Pappen gelegt, wozwischen ein Gemisch aus Wachs, Pomade und Terpentin gestrichen war. Es musste gelegentlich, bevor es eintrocknete, erneuert werden. In der Mitte des oberen Brettchens war ein Heustängel aufgesteckt, dessen Schwanken und Beben die Bewegungen des Indikators besser sichtbar machte. Insgesamt erinnerte das kleine Gerät an ein flaches Boot oder Fahrzeug. Man platzierte es zwischen die Tischplatte und die Hände der Sitzenden. Dort glitt es los, so denn der Tisch zu rücken, zu klopfen oder zu springen begann. Dank seiner Leichtgängigkeit, seinem schlüpfrigen Innenleben und dem zitternden Stängel konnte der Indikator nun zweifelsfrei zeigen, ob schlicht Lateraldruck ausgeübt wurde, sprich, ob die Sitzenden selbst den Tisch bewusst oder unbewusst in Bewegung versetzten, oder ob andere Kräfte hier wirkten, seien sie elektrischer, tierisch-elektrischer, magnetischer, elektromagnetischer, Reichenbach’scher oder sonstiger Art. Im Familienkreis hatte Faraday nur vom Humbug-Indikator gesprochen. Allerdings hatte er ihm im Athenaeum einen langen Artikel gewidmet.

Das Gerät war nie in Serie gegangen. Lange hatte der Prototyp unbeachtet im Laden des Instrumentenmachers Newman gestanden, bis William Crookes, dessen Bewunderung für Faraday auch nach dessen Umnachtung und Tod nie erlahmte, ihn eines Tages erwarb. Nun war er in die Messe der Urgent gelangt und stand auf einer Anrichte neben einem kleinen runden Tisch. Mit roher Gewalt hatte man die Schrauben herausgehebelt, die den Tischfuß im Boden fixierten. Draußen brauste über der Biskaya ein Wintersturm. Das Schiff schwankte, rollte, stampfte. Im Geschirrschrank klirrten die Teller. Vorhin war der Achtersteven gebrochen. Die Ruderseile knirschten. Längst drang Wasser ein. Kohlen, Eimer, Schaufeln, Werkzeug, Unrat kollerte über Deck. Der Kapitän, der sich zuvor lautstark übergeben hatte, schrie nach dem Bootsmann.

Währenddessen tranken die Mitglieder der Eklipsenexpedition in der Messe Wein. Sie hatten bereits ein wenig zu viel getrunken. Von Schwindel und Übelkeit waren auf einen Schlag alle erlöst gewesen, sobald das Grauen der Biskaya über sie hereingebrochen war. Man fühlte sich, wie Mr. Huggins verwundert festgestellt hatte, plötzlich ganz wohl und zuhause wie in einem Sitzungszimmer der Royal Society. Seit Tagen schlief man in Hängematten. Lustig war das Souper verlaufen, mit schwappender Suppe und fliegendem Braten, der in seiner ganzen Pracht auf Mr. Gladstones Schoß gelandet war. Blitze zuckten, der Regen peitschte das Deck. Das meiste Licht war längst erloschen. Reverend Howlett hütete ein zitterndes Kerzchen.

»Nun, Gentlemen«, fragte William Crookes lachend, »wollen wir unser Glück versuchen?«

Die Herren drängten sich um den runden Tisch. Reverend Howlett mit seiner Kerze blieb, sichtlich ungern, in einigem Abstand stehen, da er nicht wusste, ob sich dieses Spiel für einen Geistlichen schickte. Man nahm Platz, nicht ohne Albernheiten, ein wenig verlegen und sehr amüsiert. Es gab viel Genestel an Ärmeln und Manschetten, doch endlich waren die Hände in einer Kette rund um die Tischkante aufgereiht. Man wusste nicht recht, wohin man schauen sollte. Alles starrte bald auf den Tisch. Ein Student hatte keinen Platz mehr gefunden und blieb bei Mr. Crookes, der den Indikator nun vorsichtig in beiden Händen hielt. Ob es denn ein Medium in dieser Runde gebe, fragte der Student mit einer gewissen Ehrfurcht. Crookes lachte: »Alle, alle!«

In kurzen, heftigen Stößen rückten Tisch, Stühle und Sitzende durch die schwankende Messe. Crookes, der Student und der Pastor folgten der Gruppe in breitbeinigem Seemannsgang. Der nötige Ernst blieb aus. Jemand erwähnte die Argonauten und quälte sich länger mit einem Zitat. Jemand anderes, wohl ein Student, verkündete mehrfach, wie furchtlos der englische Seeheld in Geschichte und Gegenwart sei. Das Kerzchen war erloschen. Etwas krachte. Vielleicht war das Ruder gebrochen. Von der nassen Treppe her fiel ein wenig Licht ein, fahlgrünes Gewitterlicht.

»Konzentration, meine Herren!«, rief Crookes. »Nutzen Sie Ihr Gewicht! Die Gravitation ist unser! Machen Sie sich schwer! Machen Sie Ihre Hände schwer!«

Wirklich kam nach einer Weile alles ein wenig zur Ruhe. Hatten Huggins und Tyndall zuvor noch ihre kleinen Finger ineinander gehakt, um nicht den Kontakt zu verlieren, reichte es nun plötzlich, die Handflächen auf den Tisch zu drücken. Die gespreizten Finger auf der Mahagoniplatte bildeten einen schönen Kreis.

»Gewicht«, wiederholte Crookes. »Gewicht … Gewicht …«

Die Sitzenden verstummten. Der Kreis stand still. Er stand plötzlich erstaunlich still.

Crookes wusste nicht recht, wie es nun weiterging. Nie hatte er ein Sitzen geleitet. Was sagte man? Man rief doch wohl nicht die Geister an. Was rief man an? Die Physik? Die Chemie? Die imponderablen Kräfte? Sollte Howlett ein Kirchenlied singen, wegen der Atmosphäre?

»Gewicht«, psalmodierte Crookes, »schwere Hände …« Er verspürte ein Blähen im Hals, ein Kribbeln. Irgendetwas geschah ihm, gelang ihm, und er wusste nicht, was das war. »Das Auge des Sturms«, hauchte Howlett. In der Tat stand der Kreis nun ein wenig allzu still.

Crookes beugte sich über Gladstones Schulter und platzierte den Indikator zwischen Gladstone und Ladd. Der Tisch schien in der Tat im Boden, in einem festen Boden vernagelt und die Sitzenden schwer und in sich gekehrt. Da weder Gladstone noch Ladd auf seine geflüsterte Bitte reagierten, löste Crookes ihre Finger einzeln vom Tisch, legte sie auf den Indikator und stellte dann den Kontakt der Kette wieder her. Der Indikator stand regungslos. Der Heustängel bewegte sich nicht. Der Sturm heulte und pfiff. Im Geschirrschrank splitterten die letzten noch heil gebliebenen Gläser.

»Huggins?«, fragte Crookes, »Gladstone? Tyndall? Ladd?«

Er bekam keine Antwort. Vielleicht war die Biskaya zu laut. Crookes zog den Indikator nicht ohne Schwierigkeiten unter Gladstones und Ladds Händen hervor und platzierte ihn zwischen Tyndall und Huggins. Die Sitzenden saßen wie Wachsfiguren, wie Spezimen einer zoologischen Sammlung. Crookes dachte an Faraday. Faradays Indikator maß nichts, weil nichts zu messen war. Dies war philosophisch bemerkenswerter, als man zunächst annehmen mochte. Ein Geniestreich, der Indikator. Crookes dachte an Faradays eisernen Rollstuhl, an Faradays Tod, an Philips Tod, an den Tod seines letzten Kindes, an den künftigen Tod seiner Frau, seiner selbst. Es tangierte ihn nicht. Der stille Tisch, der durch die laute Biskaya trieb, war ein Faraday-Käfig gegen den Tod. Hier bleibe ich, dachte Crookes. Er strich Gladstone über die Schulter, Tyndall über den Bart, berührte Ladds Nase. Keine Regung. Mesmerismus?

»Ist jemand anwesend?«, rief plötzlich der Student an Crookes Seite. »Eine Präsenz? Eine Wesenheit? Eine Elektrizität?« – und dann, nach tiefem Luftholen, laut und gepresst: »Mama?«

Der Tisch machte einen Satz. Faradays Heustängel bewies Lateraldruck. Alles schwankte, stampfte, rollte. Es gab ein großes Gelächter. Alle lachten den Studenten aus. Dann kondolierten sie. Dann lachten sie wieder. Man suchte nach intakten Weingläsern. Mr. Ladd fand einen Hammer, der zuvor über die Treppe hereingepoltert war, und nagelte den runden Tisch wieder auf den Boden. Alle wünschten sich, dass der Student die Messe verließe und man sich umständlich ausmalen könnte, was für ein Drachen seine selige Mutter wohl gewesen sei.

»Wir wurden soeben Zeuge eines inversen Tischrückens«, sagte Crookes. »Eines Tischverankerns. Eines Befriedens des Mobiliars.«

Hiermit wusste niemand recht viel anzufangen und am wenigsten Crookes. Man befingerte den Indikator. Man zupfte am Stängel, bis er schließlich zerbrach. Man lachte, rauchte Zigarren und trank aus der Flasche wie die Piraten, weil man keine heilen Gläser mehr fand.

Allmählich legte sich der Sturm.

Als die HMS Urgent am 13. Dezember in den Hafen von Cadiz einlief, brachte Mrs. Crookes in London ein gesundes Mädchen zur Welt. Nur eine knappe Stunde lang hatte sie sich plagen müssen. Des Arztes hätte es kaum bedurft. »Hallo, hallo«, sagte Nelly Crookes zu ihrer Tochter, die man ihr rosig, atmend, lebendig in die Arme legte. Dann gab sie die Tochter der Amme zurück, sprach ein stilles Gebet und schlief ein.

Am Strand von Gibraltar spektroskopierte William Crookes das Glitzern der See. Mr. Huggins neckte die Affen.

Am 16. Dezember erreichten sie Oran. »Ein schmutziger Abklatsch einer französischen Kleinstadt«, schrieb Crookes in sein Reisetagebuch. Er kaufte sich bestickte Pantoffeln und einen Burnus für zwanzig Francs. Man besichtigte das arabische Viertel. »Sehr orientalisch«, schrieb Crookes in sein Tagebuch. Die Gentlemen betranken sich im französischen Stil, mit Sherry, Rheinwein, Bier, Curaçao und Cognac in wildem Durcheinander. Reverend Howlett predigte sehr schön aus Amos 8, spricht der Herr, will ich die Sonne am Mittag untergehen und das Land am hellen Tage lassen finster werden.

Am 20. Dezember schlug man auf der destinierten Anhöhe die Zelte auf und begann die Instrumente vorzubereiten. Mr. Ladds Sechszoll-Äquatorial wurde mit einem Spektroskop verschraubt. Mit dem Zweizoll-Altazimut kombinierte man das beste Polariskop. Reverend Howlett spitzte seine Bleistifte. Professor Tyndall baute neben einem Grubb-Teleskop den Lichtbildapparat auf. Schön war der Sternenhimmel zu sehen. William Crookes hatte alles über die Eklipse gelernt und träumte von Fraunhofer-Linien.

Am 22. Dezember um halb elf Uhr früh war alles bereit. Immer wieder schlossen die Gentlemen die Augen, um ihre Sehkraft zu schonen. Dann schob sich allmählich der Mond vor die Sonne. Eine große Wolke schob sich vor alles und verharrte dort. Nichts war zu machen. Die Eklipse war unsichtbar. Die Expedition war gescheitert.

Katie

Подняться наверх