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02 Maloja – kein Pass für schwache Nerven von Daniel Badraun
ОглавлениеErlauben Sie mir, dass ich Ihnen meinen neuen Chef kurz vorstelle. Steffen Schmidt ist 48 Jahre alt, im besten Alter und glücklicher Single. Seit zwei Monaten ist er Eventmanager im Maloja Palace. Sein Auftrag ist es, die Geschichte des Hauses, erbaut zwischen 1882 und 1884, weiterzuschreiben. Die glamouröse Anfangsphase des Hotels endete leider bereits nach wenigen Monaten, weil in Italien die Cholera ausbrach und die Grenzen geschlossen wurden. Der belgische Graf Camille de Renesse erlitt mit seinem Unternehmen Schiffbruch und verlor sein ganzes Vermögen.
Für die New-Palace-AG soll Schmidt eine Tradition weiterführen und den einen oder anderen Traum des Barons wahr werden lassen. Das ist eine Herausforderung, die ganz nach seinem Geschmack zu sein scheint. Und ja, ich, Gregor Lüscher, bin natürlich mit dabei als erster Assistent des Chefs. Vorerst jedenfalls. Es würde uns freuen, wenn wir Sie schon bald zu unseren neuen Gästen zählen dürften.
*
Ein Alpenpass hat zwei Seiten. Normalerweise startet man auf der einen Seite und fährt hoch bis zum Hospiz, bis zum höchsten Punkt mit der Tafel, auf der die Höhe über Meer angegeben ist. Dann geht es auf der anderen Seite hinunter in ein neues Tal, in eine neue Region. Eine Passfahrt ist für viele Flachländer etwas Besonderes, sowohl für Motorradfans, die das ultimative Kurvengefühl suchen, als auch für Automobilisten. Umgeben von einer schützenden Blechschicht erleben diese die Bergwelt aus einer sicheren Distanz.
Im Engadin sind Passfahrten eine Notwendigkeit. Um das Tal zu verlassen, müssen Bewohner und Gäste über die Berge. Steffen als Zugezogener ärgert sich jedes Mal, wenn ihm der Weg in den Süden versperrt wird. Das Hindernis versucht er möglichst schnell hinter sich zu lassen, mit einer ordentlichen Ladung PS unter der Haube.
Etwas langsamer geht es bei den Radfahrern, die für eilige Automobilisten ein weiteres Ärgernis sind. Aus eigener Muskelkraft überwinden sie mit energischen Kurbeldrehungen Höhenmeter um Höhenmeter. Es gibt die Tourenfahrer mit schwer bepackten Rädern, die schwitzend ihre Routenwahl verfluchen und sich später ganz oben stolz in den Armen liegen, ein Foto für ihren Social-Media-Account schießen und danach die Abfahrt in Angriff nehmen.
Wer mit dem Mountainbike am Berg herumkurvt, befährt das einsame Tal, als hätte er es selber entdeckt, und springt über Steine wie ein Zicklein, das zum ersten Mal aus dem Stall darf. Die Mountainbikerin und der Mountainbiker fahren gerne auf rauen Wegen, je wilder, desto besser. Wenn sie am Abend schmutzbespritzt nach Hause kommen, war es ein guter Tag für sie, von dem sie noch lange erzählen können. Für Steffen ist das nichts, er schwitzt lieber im hoteleigenen Fitnessstudio oder in der Sauna spätabends, wenn die Gäste längst an der Bar sitzen.
»Wenn du hier im Tal so richtig ankommen, Wurzeln schlagen und die Berge spüren willst«, sagt Greg, sein engster Mitarbeiter, immer mal wieder, »musst du sie selber erobern.«
Mitarbeiter ist eigentlich falsch, Greg ist der Untergebene, der Assistent, doch Steffen will nicht, dass ein zu großes Gefühl der Hierarchie aufkommt, denn Greg hatte sich ebenfalls für die Führungsstelle beworben, die Steffen als Fremder mit besten Qualifikationen nun innehat. So bemüht er sich um einen kollegialen Ton, lässt aber nie Zweifel aufkommen, dass er am Ende das letzte Wort haben würde.
Greg gehört zu den harten Mädels und Jungs, die das Rennrad für ihre Passfahrten nehmen. Sie legen keinen Wert auf Firlefanz, was sie brauchen, findet in den Rückentaschen des Trikots Platz. Die behelmten und in den Farben ihrer Lieblingsteams gekleideten Rennradfahrer sind die Musketiere der Pässe. Auf ihren Leichtgewichträdern, die oft mehr kosten als ein Kleinwagen, fahren sie die steilsten Rampen hoch, vergleichen dann auf dem Handy ihre Leistung mit anderen und stürzen sich wagemutig den Berg hinunter, oft schneller als die ortsunkundigen Automobilisten, die sie auch in engen Tunnels überholen. Zu Hause duschen sie und sind bereit für den Alltag. Sie werden von der Lust am Leiden und von der unstillbaren Suche nach den eigenen Grenzen angetrieben.
Wie gesagt, erst fährt man hinauf, dann wieder hinunter. Erst kommt die Anstrengung, dann das Vergnügen. Bei einem normalen Pass wie dem Bernina, dem Flüela oder dem Albula ist das so.
Als Greg Steffen anbietet, zusammen den Malojapass unter die Räder zu nehmen, willigt dieser ein. Zu schnell, wie ihm jetzt bewusst wird. Der Maloja ist tückisch. Wenn man vom Engadin her kommt, erlebt man eine gemütliche Anfahrt, vorbei an tiefblauen Seen. Wer am Morgen in Richtung des Ortes Maloja radelt, muss nicht mal gegen den Wind ankämpfen, der fast täglich ab 11 Uhr vom Comer See her aufkommt, zur Freude der Windsurfer und Segler auf den alpinen Gewässern.
Steffen hat nur eine kurze Anfahrt. Vom Hotel Maloja Palace, in dem er eine Suite bewohnt, ist es nicht weit bis zum Parkplatz am südlichen Ende des Dorfes, wo ihn Greg erwartet. Einige Reisende machen Fotos und fahren dann weiter Richtung Italien. Steffens Rennrad ist knallrot, ein Schnäppchen. Sehr bequem zum Fahren, findet er nach einer Proberunde. Das Wenige, was man für eine kurze Passfahrt braucht, hat er in die Taschen seines Trikots gesteckt. Er fährt in den Farben eines belgischen Teams, das ist er dem Hotelgründer schuldig. Greg und er würden wie Profis unterwegs sein. Wie Profis, jedoch mit einer Bankkarte für die gehobene Küche in einem südlichen Ristorante.
Sie fahren bei schönstem Wetter mit tiefblauem Engadiner Himmel los, von der Frische des Alpentales hinunter in die feuchte Hitze von Chiavenna, und verbringen dort hinter dicken Mauern mit Blick auf die Mera zwei gemütliche Stunden.
Das üppige Essen nach der leichten Abfahrt ist ein Genuss, angereichert mit Gregs Erzählungen.
»Eine Fahrt den Pass hinauf ist eine Fahrt durch die Geschichte«, erzählt er und hebt lachend sein Glas. »Uns wird ganz schön viel Blut entgegenfließen.«
Da nickt Steffen noch unternehmungslustig.
Nach dem Essen schwingen sich die Männer auf die Sättel, klicken die Schuhe in die Pedale ein und fahren ohne Eile über das Kopfsteinpflaster der Altstadt. So müsste die weitere Tour sein, denkt Steffen. Langsam an den stattlichen Häusern der wohlhabenden Familien vorbeirollen, die einst viel Geld mit dem Handel über die Alpenpässe gemacht haben. Ab und zu einen Blick in die schattigen Innenhöfe werfen, um die Tische der Straßencafés kurven, auf denen große Gläser mit kühlen Getränken stehen.
Als sie den Aufstieg in Angriff nehmen, eine ausgiebige Mahlzeit im Magen, Veltliner Pizzoccheri mit reichlich Käse und Butter überbacken, danach ein gutes Stück Fleisch mit Kroketten, davor ein großes Bier gegen den Durst, zum Essen ein sonnendurchfluteter Wein und Grappa zum Kaffee, merkt er, dass die 36 Kilometer zurück ins Engadin, zurück ins Hochtal, nicht einfach werden. Denn im Gegensatz zu den anderen Alpenpässen beginnt der Maloja auf 1.800 Metern und führt hinunter bis ins italienische Chiavenna, mit gerade mal 333 Metern über Meereshöhe. Was in einer guten Stunde genussvoller Abfahrt erledigt ist, wird umgekehrt zu einer fast nicht enden wollenden Qual.
Die Sonne brennt mit gefühlten 40 Grad auf die Dächer der Stadt. Zwischen den Gipfeln über ihnen braut sich ein Gewitter zusammen, dunkle Wolken kleben an den steilen Felswänden, die sich rund um die italienische Kleinstadt am Alpenrand erheben.
Erst geht die Fahrt an eintönigen Betonbauten vorbei durchs Stadtrandgebiet. Gleich außerhalb von Chiavenna beginnt die erste Steigung, die nicht ohne ist. Steffen konzentriert sich auf Gregs Hinterrad und versucht, die Atmung zu kontrollieren. Vier Umdrehungen einatmen, vier ausatmen. Lisa, Lara, Lisa, Lara. Lisa hatte darauf bestanden, dass ihre Tochter ähnlich heißen sollte wie sie, was er lächerlich fand. Jetzt aber passen die Namen zum Rhythmus.
Das Tempo ist eine Herausforderung, die er annehmen muss. Nicht schlapp machen, keine Blöße bieten, schon gar nicht am Anfang. Greg wird schon sehen, wie er beißen kann. Er wird Asphalt und Höhenmeter fressen, so wie er die Spezialitäten vertilgt hat. Im Hotel ist Steffen als energischer Macher bekannt. Diese Straße wird ihn nicht in die Knie zwingen.
Die Beine schmerzen von Anfang an, wohl eine Folge der Haltung am engen Tischchen in der Osteria. Das gibt sich, denkt Steffen, sobald die Muskeln in Bewegung sind, sobald das Blut zirkuliert, das Herz ordentlich pumpt und die gesamte Maschinerie mit Sauerstoff versorgt wird.
Piuro, die Straße wird noch etwas steiler, sie ist von mächtigen Felsbrocken gesäumt. Erste Tropfen fallen auf den nassen Asphalt und verdampfen in der Nachmittagshitze, der Geruch nach Reifengummi und Staub nimmt ihm fast den Atem. Dann größere Tropfen, die um ihn herum zerplatzen, seine verschwitzten Arme nässen, über Brillengläser und Wangen laufen, Staub und Salz wegwaschen. Plötzlich öffnet sich der Himmel. Prasselnder Regen, sie sind sofort bis auf die Haut durchnässt. Vor ihnen ein Parkplatz mit Unterstand. Anhalten, ausschnaufen, die Beine ausstrecken.
»Dort oben am Conto«, Greg deutet auf einen Berg rechts über ihnen, »löste sich im September 1618 nach tagelangem Regen eine gewaltige Gesteinsmasse und begrub das antike Plurs samt seinen 2.000 Bewohnern unter sich.«
Sie stehen schweigend da. Nach einigen Minuten beginnt Steffen im feuchten Trikot zu frösteln. »Warten bringt nichts«, sagt er und steigt auf sein rotes Rad. Greg übernimmt wieder ungefragt die Führung.
Um sie herum kühle, tropfende Nässe. Die Brillengläser sind angelaufen, mit den feuchten Handschuhen versuchen sie, etwas Klarheit zu schaffen. Immer wieder schaut Steffen zum gegenüberliegenden Hang hinauf. Nebelschwaden ziehen über die Baumwipfel. Wenn jetzt der Berg käme, was dann? Nach vorn schauen, über den Lenker gebeugt, Gregs Hinterrad nicht verlieren. Das Hinterrad ist sein Ein und Alles. Die Mittelachse zwischen Gregs muskulösen Waden.
Auf der Straße fließt das Wasser wellenförmig abwärts, die vorbeirauschenden Autos bespritzen die nassen Männer immer und immer wieder. Dann tauchen plötzlich Gesichter auf, schimmern durch den Asphalt. Nasen und Ohren und Fratzen im Wasser, die schreien.
»Hast du das gesehen, Greg?«
Keine Antwort. Nur das Zischen der Reifen auf dem Asphalt.
Wir sind die Vergessenen, die im Stein Versunkenen, verurteilt zu ewiger Verdammnis. Wir sind verborgen in der Tiefe, erstickt im Schlamm. In den großen Vorratsräumen unserer Häuser lagern Reichtümer, Seidenstoffe aus fernen Ländern, Edelmetalle und Specksteintöpfe aus heimischer Produktion. Doch was haben die uns genützt? Ein weiteres Leben konnten wir uns nicht kaufen, sosehr wir auch bitten und beten. Wenn es regnet, erinnern wir uns an jene Nacht, als der Berghang kam, ins Tal hinunterrauschte, alles mitriss und unter sich begrub. Gierig und unberechenbar.
Wenn es regnet, kommen wir herauf und holen uns müde Wanderer, unvorsichtige Kinder beim Beerensuchen, gierige Pilzsammler. Und natürlich auch mal einen Rennradfahrer, der seine Kollegen verloren hat und alleine unterwegs ist. Ihnen allen zeigen wir unsere Schätze, führen sie hinunter in unsere Häuser und lassen sie nie mehr gehen.
Nicht hinsehen, denkt Steffen, nicht hinsehen, das ist der Alkohol, das Cholesterin im Blut. Er darf Gregs Hinterrad nicht aus den Augen verlieren und alles ist gut. Doch dann ist der Reifen nur noch verschwommen zu sehen hinter einem Regenschleier, aus dem ihn feurige Augen anstarren. Auf der Straße zerfließende Gesichter, Wangen, die blutrot aufspritzen, wenn er darüberfährt. Nasses Frauenhaar, das achtlos im Schmutz liegt, wickelt sich um seine Speichen, verklemmt die Gangschaltung, blockiert das Tretlager, sodass Steffen kaum vorwärtskommt. Wenn er stürzt, dann wird er in den offenen Mäulern landen, verschwinden im Schlund der Vergessenen.
Ich pfeife auf euch, denkt Steffen, er will es laut herausschreien, auch wenn nur ein Gurgeln aus seiner Kehle kommt, ein heiseres Krächzen. Mich kriegt ihr nicht, nicht mich und nicht mein rotes Fahrrad, das feuerrot und nicht blutrot ist.
Ein himmelweiter Unterschied, den Männer oft nicht kennen, denn Farben sind ja nicht ihr Ding, das sagte auch Karin, als er sie auf ihren Lippenstift ansprach. »Das ist nicht blutrot, sondern feuerrot, feuerrot wie die Liebe.« Und dabei hatte sie ihm zugezwinkert. Eine eindeutige Einladung, wie er fand. Was sie aber nicht gemeint hatte.
Karin, denkt Steffen, feuerrot wie die Feuerwehr. Er drückt die Beine durch, spürt, wie die Kraft in seine Muskeln schießt, und sieht, wie sein Vorderrad fast wie von selbst durch das Wasser pflügt. Endlich. Die Straße wird flacher. Und plötzlich ist das Hinterrad von Greg weg. Nach rechts abgebogen auf einen Parkplatz.
»Komm!«, ruft der Untergebene seinem Chef zu, der viel hilfloser ist, als er es gerne zugeben möchte, und zieht ihn mit zu einem Haus auf der anderen Straßenseite. Ein Grotto. Wärme, Licht und Leute. Summende Geschäftigkeit. Die Regale voller Flaschen für Kunden aus der benachbarten Schweiz. Steffen überlässt Greg die Verhandlungen und stellt sich neben einen Elektroofen, der angenehme Wärme verbreitet.
Sie trinken Espresso und Grappa, stecken sich noch eine kleine Flasche Kräuterschnaps für später in die Trikottasche und verlassen das Lokal.
Das Unwetter hat etwas nachgelassen und ist in einen erträglichen Landregen übergegangen. Die Straße ist nun wieder besser befahrbar. Der Grappa wärmt den Bauch, der Kaffee gibt dem gesamten Organismus einen Kick, sodass sie nun wieder besser vorwärtskommen. Bald erreichen sie die Grenze. Weiter hinauf geht die Fahrt gegen Bondo, den Ort, an dem sich am 23. August 2017 ein enormer Bergsturz mit Murgang ereignete. Steffen hatte das Ereignis und seine Folgen am Fernseher verfolgt, sah, wie große Baumaschinen die Geröll- und Schlammmassen beiseite räumten, wie verängstigte Anwohner um ihre Sicherheit fürchteten.
Bei der Talfahrt am späten Vormittag war ihm die lange Betonbrücke über das Auffangbecken nicht aufgefallen, sie waren auf der alten Straße durch Promontogno gefahren und hatten im Garten beim Hotel Bregaglia einen Kaffee getrunken. Das Hotel sei, erklärte Greg, eine Zwischenstation für die erholungssuchenden Feriengäste auf dem Weg ins Engadin gewesen. Ein Ort, um sich zu akklimatisieren. Das würde Steffen jetzt auch gerne. Sich ein Zimmer nehmen und sich akklimatisieren. Stattdessen fährt er weiter aufwärts und hofft, dass die Schinderei irgendwann vorbei sein würde.
Eine Verbotstafel am Straßenrand weist darauf hin, dass diese Strecke für Fahrräder gesperrt ist. Greg kümmert sich nicht darum. Im Nieselregen wirkt das Betonband wie eine Hängebrücke, die über einem Meer von Händen schwebt, die nach ihr greifen. Als Steffen aus dem Sattel geht, um besser sehen zu können, hört er die Klagen der toten Wanderer, die weit oben im Tal von den Schlammmassen mitgerissen und nie gefunden wurden. Er sieht, wie die Hände aufsteigen, das Geländer der Brücke packen und sie hin- und herschwingen, sodass eine Pendelbewegung entsteht. Hin und her, dass sich die gesamte Fahrbahn verdreht und ihm schlecht wird davon.
Steffen würde am liebsten absteigen und über das Geländer kotzen, doch da ist Greg, der regelmäßig kurbelnd an der Spitze fährt, ungerührt auf seinem Rennrad sitzt, als würde er sich an einer großen Rundfahrt für den Schlussspurt bereitmachen. Vor diesem Mann kann und darf er keine Schwäche zeigen. Natürlich sollte auch Karin nicht erfahren, dass er die Nerven verloren hat wegen ein paar Toten, die bei schönstem Wanderwetter hinweggefegt wurden. Euer Pech, denkt Steffen und weicht einer Hand aus, die auf der Fahrbahn liegt und nach seinem Rad greift.
Wieder macht die Brücke eine Pendelbewegung, er muss ausweichen, um nicht zu stürzen. Ausweichen nach links auf die Gegenfahrbahn, weil es eben nicht anders geht, sonst ist ein Sturz über die Leitplanke ins Meer der Hände nicht abzuwenden.
Da, Hupen, ein dunkler Wagen, der auf ihn zurast, von oben herunter aus dem Tunnel geschossen kommt, als hätte ihn ein Riese hinaus in den Regennachmittag katapultiert. Das Gesicht einer Frau, verkrampfte Hände am Steuer, wehendes Haar. Die Scheinwerfer strahlen in seine Richtung. Sie will ihn erwischen, unter dem vielen Blech begraben, denn sie ist die Rächerin, die sich die herumstreunenden Opfer holt. Lisa, Lara, denkt er, das war es also mit uns. Und mit Karin und all den anderen Frauen.
Im letzten Moment schwingt die Brücke zurück, zwingt ihn zu einer Lenkbewegung nach rechts, die ihm das Leben rettet, was die Frau mit einem wütenden Hupen quittiert. Greg schaut zurück, macht eine Handbewegung und schüttelt den Kopf. Ist er wütend, weil er so unkonzentriert fährt? Oder einfach nur froh, dass ihm ein Haufen Scherereien erspart geblieben sind?
Eigentlich dürften sie mit ihren Rädern auch nicht durch den Tunnel, doch es ist der schnellste Weg in den oberen Teil des Bergells. Durch die Betonröhre zieht und pfeift es, ein Lied, das die Toten zurückruft und die Lebenden auffordert, sich im Zwischenreich zu ihnen zu legen. Steffen würde sich nur allzu gerne zu Lisa legen, die ihm aus dem Feuer zuwinkt. Er möchte Lara umarmen, die lachend über einen Knochenhaufen springt. Ja, seine beiden Weiber treiben es bunt, seit er nicht mehr da ist. Trieben es damals auch schon, als er noch das Sagen hatte in der Dachwohnung mit Seeblick, nur dass er es nicht mehr sah mit seinen Scheuklappen.
»Du bist für mich gestorben«, sagte Lisa, als er auszog, gezwungenermaßen mit eingezogenem Kopf. »Viel Spaß im Fegefeuer!« Nun muss allerdings sie in der Hitze herumtanzen nach diesem tragischen Autounfall.
Tunnelende. Klare Sicht. Frische Luft. Zwei Kurven, dann sind sie beim steinernen Kuss, bei zwei Felsblöcken, die gegeneinanderlehnen und einen Durchgang für die Autos bilden.
»Küss mich mit deinen feuerroten Lippen!«, hatte er zu Karin gesagt, oder es gedacht, als er sie berührte, ihre Wärme spürte, ihre Hüften, was ihm einen Schauer durch den Körper jagte. »Küss mich und bleib ewig nah bei mir!«
Der Moment war flüchtig, eigentlich wie zufällig, wenn auch durch ihn herbeigeführt im engen Durchgang zwischen der Rezeption und den Büros dahinter. Steffen hatte gewartet, bis Karin ihm die Post brachte, ging an ihr vorbei hinaus, entschuldigte sich, als hätte er sie erst jetzt bemerkt, atmete den Geruch ihres Parfums und ihrer Haare ein. Eine kurze Berührung, knisternder Stoff und die Härte, die sich augenblicklich in seinem Schritt bildete. Wohin mit all diesen Empfindungen? Die Hand an ihrer Hüfte, kurz und brennend. Ihr Blick. Verzweifelt oder lustvoll? Und was spielte das für eine Rolle, wenn er sie begehrte?
Stampa und Borgonovo bemerkt Steffen kaum, so rasend ist der Schmerz. Es zieht ihn innerlich zusammen, seine Rippen werden von Drähten zugeschnürt, sodass er kaum atmen kann, so als verwandelte er sich Zentimeter für Zentimeter in eine der mageren Figuren des Bildhauers Alberto Giacometti, der hier geboren wurde und auf dem Friedhof liegt, an dem sie vorbeiradeln. Ein lang gezogener Kopf, die Wangen eingefallen, das Kinn spitz und Finger, die kaum von Fleisch bedeckt sind und sich voller Angst an den Lenker krallen.
Steffen greift nach hinten, da ist die Flasche mit dem wohltuenden Kräuterschnaps. Medizin, bitter und stark. Ein erster Schluck treibt die Geister in die Wiesen hinaus, ein zweiter holt die roten Lippen zurück und ein dritter hilft gegen die Verzweiflung an diesem nie enden wollenden Pass.
»Wir fahren durch Vicosoprano«, entscheidet Greg und biegt von der Kantonsstraße ab.
Es ist kaum zu glauben, dass es in diesem Tal auch ebene Flächen gibt. Die Häuser des Dorfes stehen eng zusammen, beugen sich über sie und bilden enge Schluchten. Das Kopfsteinpflaster schüttelt sie durch. Greg erzählt von Hexen, über die hier gerichtet wurde, zeigt ihm den Pranger und beschreibt die Schmerzen, die die Verurteilten unter der Folter spürten.
»Das Tal ist verflucht«, sagt Greg am Ortsausgang. Vielleicht denkt das Steffen auch nur, als sie endlich das freie Feld erreichen und den Abhang vor sich sehen.
»Verflucht ist nur die nächste Steigung«, versucht Steffen, einen Scherz zu machen. Seine Stimme klingt nach Schnaps und hohlen Phrasen.
Wieder einige lang gezogene Kehren, erst an Maiensäßen vorbei, dann führt die Straße durch den Wald. Die Rampe, die hinauf nach Casaccia führt, erkämpft Steffen mit leerem Blick. Es ist der Versuch, ohne jeden Gedanken an irgendwas und irgendjemanden aufwärtszufahren, weil der Alkohol hilft oder betäubt oder stumpf macht. Lisa, Lara. Lisa, Lara. Lisa, Lara. Ich vermisse euch! Ich wollte nicht, dass euch etwas passiert.
Der Regen hat aufgehört. Weit oben der fast wolkenlose Abendhimmel. Ein kalter Wind bläst von den Gipfeln talabwärts, trocknet ihre Trikots, kühlt die Haut und das darunter liegende Fleisch. An eine Jacke hatte Steffen nicht gedacht, er wollte nur schnell den Pass runterfetzen, essen und dann zurückkehren ins Oberengadin, wo er sich einigermaßen sicher und geborgen fühlt. Hier unten ist das Tal eng und voller Schatten, die über die Straße kriechen, nach den Herzen der Fröhlichen greifen und kräftig zudrücken.
Darum treibt es die Leute schon seit Jahrhunderten hinauf an die Seen, ans Licht, das Rilke beschrieben und Segantini gemalt hat. Von der stickigen Hitze der Poebene suchten viele den Weg hinauf zum Licht, das die St. Moritzer und Silser Hotelpioniere zu reichen Leuten machte. Baron Camille de Renesse mit seinem Palace wollte alles bisher Gebotene in den Schatten stellen. Sein Maloja Palace sollte das größte und mondänste Hotel in den Alpen werden, gebaut für den gelangweilten Hochadel und die Industriellen, die ihren Reichtum unter die Leute bringen wollten.
Das Bergell diente damals und dient auch heute als Durchgangstal, als düsterer Gegenpart zur Weite der Oberengadiner Seenlandschaft. Findet jedenfalls Steffen. Greg scheint fasziniert zu sein von der Passstraße, vom engen Tal und den Dörfern voller Geschichte und von den Geschichten, die einfach so am Wegrand herumliegen. Steffens Assistent erzählt gerne, das ist auch bei der Arbeit so. Daneben kann man sich wirklich nicht konzentrieren. Karin hingegen scheint Gefallen zu finden am jugendlichen und humorvollen Greg, der sie oft zum Lachen bringt. Diese Schwatzhaftigkeit, das beschließt Steffen keuchend, wird er gleich morgen zum Gesprächsthema machen. Es wird Zeit, dass er durchgreift. Auch wird er das Bergell – wenn überhaupt – nur noch alleine befahren.
Jede Steigung geht einmal vorbei. Auch die Rampe oberhalb von Vicosoprano. Eine letzte weite Ebene vor dem Talabschluss. Vor dem Aufstieg Casaccia, der Ort, an dem zur Römerzeit die Straße über den Septimer abbog. Greg, das wandelnde Lexikon. Steffen ist froh, dass der andere neben ihm fährt und für Ablenkung sorgt, von einem Gaudenzio von Novara erzählt, der im vierten Jahrhundert das Christentum ins Tal brachte und von den undankbaren Heiden geköpft wurde. Jahreszahlen zum Bau der Wallfahrtskirche, die in der Reformation geplündert wurde und seither als Ruine oberhalb des Dorfes steht. Die Geschichten helfen ihm über die Krämpfe hinweg, die abwechslungsweise die Waden und die Oberschenkel befallen und die er bekämpft, indem er die Beine ganz durchstreckt. Kurz vor dem Ort trinkt er den letzten Rest Kräuterschnaps zur Stärkung, das muss für die restlichen 350 Höhenmeter reichen.
»Wir sehen uns oben«, ruft ihm Greg zu und nimmt die Straße hinter dem Dorf in Angriff.
Steffen versucht mitzuhalten. Vergeblich. Der Kopf bringt die Beine nicht mehr zum Drehen, sodass er Greg ziehen lassen muss. Morgen, denkt er, morgen im Büro ist die Situation eine andere, da mache ich dich so richtig zur Schnecke, kleiner Greg.
Denkt er und kämpft sich hinauf. Links oben das Gerippe der Kirche, von der Greg vorhin gesprochen hat. Hinter sich ein Keuchen. Ein weiterer Rennradfahrer, der die Schlusssteigung in Angriff nimmt, denkt Steffen und spannt die Muskeln etwas an, dich lasse ich nicht so schnell vorbei. Es gelingt ihm, das Keuchen in Schach zu halten. Was, denkt er, wenn das Greg ist? Vielleicht musste er austreten und ist jetzt hinter ihm. Oder er ist selber am Rand der Erschöpfung. Diese Vorstellung gefällt ihm. Mal schauen, was passiert, wenn er einen Zwischenspurt einlegt. Steffen geht aus dem Sattel und drückt die Kurbeln. Lisa, Lara. Lisa, Lara. Habt ihr gesehen, wie ich das mache? Mit links, meine Lieben, mit links.
Einige Meter geht das so. Steffen voraus, doch das Keuchen bleibt an ihm dran. Dann der Hammer. Ein Wadenkrampf, den er nicht kontrollieren kann und der sein Bein völlig blockiert. Keine Möglichkeit, um zu reagieren. Eine Umdrehung noch, dann geht gar nichts mehr. Er versucht vergeblich, den Fuß vom Pedal zu lösen, und verliert das Gleichgewicht. Das Rad kippt samt Fahrer nach links, mit Hüfte und Schulter kracht er auf den Asphaltbelag. Der Schmerz zuckt heiß und hell durch seine Gelenke.
Als Steffen aufblickt, steht ein Mann neben ihm. Das Keuchen kommt vom Kopf, der aber nicht auf dem Hals sitzt. Den trägt der Mann locker unter dem Arm.
»Dumm gelaufen«, sagt der Kopf, als Steffen ächzend aufsteht und den Schaden an seinem Körper begutachtet wie die Karosserie eines beschädigten Fahrzeuges.
»Kann man sagen«, brummt er. »Scheißtag und Scheißtal!«
»Mich haben sie auch drangenommen«, sagt der Geköpfte und lächelt, »wenigstens wurde ich heiliggesprochen, was man von dir nicht sagen kann.«
Steffen will etwas erwidern, doch der Mann steigt nun die Straßenböschung hinauf und verschwindet zwischen den Bäumen.
Mit zitternden Beinen steigt Steffen wieder auf sein rotes Rennrad. Der Lenker ist nicht mehr ganz gerade, das Fahren geht aber einigermaßen. Er wählt den kleinsten Gang, fährt nun ganz langsam aufwärts, nimmt Kehre um Kehre, fast in Zeitlupe geht es an den Leitplanken entlang. Ich verstehe dich, Graf de Renesse, denkt Steffen, der wollte mit diesem Tal hier unten nichts zu tun haben. Das Hotel dreht dem Pass und dem Bergell den Rücken zu, schaut auf den See hinaus, auf die großen Wiesen. Ein Golfplatz sollte die Gäste anlocken und Bootsfahrten auf dem Silsersee würden die Herzen erfreuen.
Das Hotel müsste etwas für Verliebte sein, denkt er, etwas für Karin und mich. Die Ohrfeige, das möchte er ihr gleich morgen sagen, die war nicht gerechtfertigt. Natürlich hätte er sie nicht in diesen Putzraum hineindrängen sollen, ihr an den Hintern greifen und versuchen, den engen Rock hochzuziehen. Irgendwie war es ein Notfall. Ein nicht mehr zu kontrollierender Drang nach Nähe, nach Befriedigung. Und dann diese Klatsche. Sie schob ihn zur Seite, ordnete ihre Kleider und war weg, bevor er sich erklären konnte. Er will das nachholen. Wird ihr sagen, dass er an jenem Morgen den Anruf bekommen hatte wegen Lisa und Lara. Der Wagen ausgebrannt. Ein stinkendes Gerippe. Und von seinen beiden Liebsten blieb nur verkohltes Material übrig. Das alles musste er Karin sagen, wenn er morgen zur Arbeit kam.
Für Leute, wie er selbst einer war, wollte Steffen Träume wahr werden lassen. Die Ideen des Grafen weiterdenken. Es gab diese Geschichte vom Speisesaal, den er unter Wasser gesetzt haben soll, damit die Gäste mit Gondeln zum Buffet fahren konnten. Irgend so etwas sollte doch möglich sein. Der direkte Seeanschluss mittels eines Kanals steht auch ganz oben auf seiner Wunschliste. Ein Haus, in dem Träume wahr werden, so etwas schwebte ihm vor. Illusionen wecken, die Gäste erlösen, wie er sich selber erlösen muss aus diesem Albtraum. Neue Bilder an die Stelle der alten setzen.
Lisa, Lara, Lisa, Lara. Tränen laufen Steffen über das Gesicht. Er wollte doch nicht weggehen, wollte sie beschützen, doch das war nicht mehr möglich. Und so ging alles in Flammen auf, er hätte es verhindern können, denkt er, wenn er dabei gewesen wäre, wäre das nicht passiert.
Wie der Graf musste auch er Träume erfüllen, Glück bringen, Schuld tilgen. Doch was hatte es Camille gebracht? Ich darf dich doch so nennen, fragt er, als schon der Turm Belvedere oben am Pass sichtbar wird, den der Graf als persönliche Residenz gebaut hatte. Um sich gegen das Bergell und die Geister zu schützen, denkt Steffen, eine Burg, die das Böse abwenden soll. Auch das war ein Traum, den Renesse nicht realisieren konnte.
Steffen spürt, wie das Dunkle den Pass hinaufkriecht und ihm auf den Fersen bleibt, lauert, um zuschlagen zu können, wenn er eine Schwäche zeigt. All die verschütteten Menschen, die verbrannten Hexen und der enthauptete Heilige, sie sind hinter ihm her, und plötzlich weiß er, dass ihm nur der Turm des Grafen Sicherheit geben kann. Diese Gewissheit gibt ihm Kraft, hilft ihm, die Straße zu meistern und den Kulminationspunkt des Passes zu erreichen, bevor ihn die Welle von Blut, die die Straße heraufschwappt, einholt und wegschwemmt.
Von Gregor keine Spur. Das ist Steffen nur recht. Er fährt hinüber zum Turm Belvedere, lehnt sein Rennrad gegen die Mauer und nimmt die Champagnerflasche, die neben dem Eingang steht.
»Danke, Camille«, sagt er und steigt langsam die Treppe zum obersten Stockwerk hinauf.
*
Der belgische Graf, sagt man, habe sich im Champagnerrausch vom Turm Belvedere oben am Pass ins Bergell gestürzt, in den Tod. Andere Quellen berichten, dass er 1904 in Nizza gestorben sei, wo er christliche Literatur verfasst haben soll. Das ist fast zu wenig dramatisch.
Steffen Schmidt, unser ehemaliger Eventmanager, muss die Geschichte gekannt haben. Möglicherweise wollte er, weil er seiner Aufgabe nicht gewachsen war, dem Grafen nachfolgen. Bei seinem Sturz in die Tiefe erlitt er schwere Verletzungen, die nun in einer Zürcher Privatklinik behandelt werden und, wie man hört, nur langsam ausheilen. Was an seelischen Narben zurückbleibt, kann niemand sagen. Den Stresstest, den ich mit ihm durchgeführt habe, hat er jedenfalls nicht bestanden. Als sein Vertrauter und engster Mitarbeiter bin ich selbstverständlich bereit, all seine Funktionen zu übernehmen.
Ach ja, noch etwas: Karin und ich werden bald heiraten, meinen Antrag hat sie schon angenommen.