Читать книгу Sunshine - Wo Himmel und Erde sich berühren - Christof Wolf - Страница 7
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ОглавлениеEs war Samstag, der vierte Februar.
Der Wecker klingelte gegen 7 Uhr 30. Johanna erschrak. Hatte sie vielleicht gestern Abend, so ganz aus Gewohnheit, den Alarmknopf des Funkweckers gedrückt?
‚Puh, noch einmal Glück gehabt!‘, dachte sie, Benjamin schien das Signal nicht gehört zu haben und tief und fest zu schlafen. Hm, doch sie irrte sich!
Benjamin war schon seit geraumer Zeit hellwach. Eigentlich hätte er gar keinen Wecker benötigt, viel zu aufgeregt war er. Doch zur Sicherheit und aus Angst, sie könnten beide heute Morgen verschlafen, war er es gewesen, der gestern Abend heimlich die Alarmzeit eingestellt und den Knopf am Wecker gedrückt hatte.
Vorsichtig wandte er sich Johanna zu. Sie hatte sich anscheinend noch einmal auf die andere Seite gedreht, um weiterzuschlafen. Sie atmete gleichmäßig und ruhig. Heimlich still und leise glitt er aus dem Bett und verschwand im Bad. Beim Zähneputzen grinste er sich schelmisch im Spiegel an und konnte es nicht glauben: Der Tag der Tage war gekommen. Morgen würden zehn Jahre vergangen sein, wo sie sich das erste Mal geküsst hatten. Ein wenig mulmig wurde ihm schon, beim Gedanken an sein Vorhaben. Hoffentlich funktionierte alles so, wie er es geplant und sich vorgestellt hatte.
Nach seiner Morgentoilette, schlüpfte er – wiederum möglichst lautlos – in seine vorher bereits parat gelegten Klamotten. Als er fertig war, kniete er sich auf Johannas Bettseite und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange: „Guten Morgen, Schatz!“ Johanna öffnete ihre Augen und erschrak. Was um alles in der Welt war los? Benjamin kniete ausgehfertig vor ihr.
„Schatz, wir haben doch Samstag! Du musst heute nicht zur Arbeit. Tut mir Leid, ich habe wohl gestern versehentlich den Wecker gestellt. Komm lege dich ganz einfach wieder hier zu mir ins Bettilein!“
„Nix da, Mausezahn, ich fahre jetzt mal eben zur Tankstelle und hole dich in zirka 15 Minuten ab. Ich denke, in der Zeit könntest du es schaffen, dich fertig zu machen, oder?“
Johanna war nun hell wach und verstand nur ‚Tankstelle‘ Was war denn in ihren Schatz gefahren? Dafür, dass er sonst nur äußerst schwer aus dem Bett zu werfen war und er es gerade samstags vorzog, genüsslich bis halb zehn liegen zu bleiben, war er heute richtig putzmunter. Irgendetwas konnte da nicht stimmen!
Doch bevor sie erneut nachfragen konnte, war er auch schon nach unten verschwunden. Schließlich hörte sie, wie er die Haustür aufschloss.
‚Anscheinend war das wohl wirklich sein Ernst!‘, dachte sie bei sich, sprang auf und verschwand schnell unter der Dusche. ‚Sollte er ihren zehnten Jahrestag doch nicht vergessen haben?‘
Johanna hatte ihn vor ein paar Wochen gefragt, was sie wohl an diesem denkwürdigen Wochenende so anstellen sollten. Doch Benjamin schien dem Ganzen irgendwie nicht diese große Bedeutung zuzumessen, wie sie es tat.
„Lass’ uns doch an dem Samstagabend etwas Leckeres essen gehen“, war seine müde Reaktion. Gut, nicht dass sie etwas außergewöhnlich Großes, etwas ganz Besonderes erwartet hätte, aber irgendwie schon ein wenig mehr als nur ein gemeinsames Abendessen. Und nun stand sie da unter der Dusche und wusste eigentlich gar nicht, was ihr blühen würde. Was sollte sie bloß anziehen?
Die Zeit verstrich sehr schnell. Sie zog gerade ihre dicke Wollstrumpfhose an, da sie sich für den braunkarierten Rock aus etwas dickerem Stoff und einen passenden beigefarbenen Lambswool-Rolli entschieden hatte, als sie hörte, wie Benjamin die Haustür aufschloss.
„Wie sieht es aus, Hanna? Bist du fertig?“
„Ja, zumindest fast. Sag mir doch bitte schnell mal, wo wir hin wollen, damit ich weiß, ob ich richtig angezogen bin!“
„Das bist du doch immer, Schatz!“, rief Benjamin die Treppe hoch.
‚Hm, das hilft mir ja jetzt auch nicht weiter‘, dachte Johanna und beschloss es bei ihrer ersten Wahl zu lassen.
„Toll siehst du aus!“ Benjamin drückte sie, als sie die Treppe hinunter kam. Schnell hatte sie sich noch das Haar hochgesteckt und dezent etwas Kajal aufgetragen. Auch heute kam ihr der Vorteil zu Gute, dass sie über einen ganz natürlichen und leicht gebräunten Teint verfügte und auf zeitraubende Schminkaktionen verzichten konnte. Benjamin liebte es, wenn sie ihre rehbraunen Augen mit einem sanft gezogenen Strich mit dunklem Kajal betonte und sich ihre Haare hochsteckte.
„Dann kann es ja losgehen!“
„Aber was ist denn mit dem Frühstück?“
„Können wir doch unterwegs einnehmen, oder?“
„Ja und wo ist ‚unterwegs‘?“
„Sei doch nicht so neugierig!“ Johanna grinste, war sie sich doch sicher, es sowieso in null Komma nix herauszubekommen. Schließlich kannte sie ihren Ben. Wenn sie nur lange genug bohren würde, wäre es nur eine Frage der Zeit, wann er endlich ihr Ziel – wenn auch widerwillig – preisgeben würde.
Sie verließen Hachenburg in Richtung Süden. Johanna überlegte, welche möglichen Ziele sie in dieser Richtung erwarten konnte. Limburg könnte als Ziel in Frage kommen.
„Fahren wir nach Limburg, Schatz?“
Benjamin sah sie mit groß aufgerissenen Augen an und tat so, als hätte sie gerade ein ganz wichtiges Geheimnis gelüftet: „Woher weißt du das! Ich wollte dich doch überraschen!“
Johanna grinste und fühlte sich der Wahrheit schon ein großes Stück näher. Sicher plante Benjamin mit ihr in die Domstadt zu fahren und in diesem gemütlichen kleinen Café in der Altstadt lecker zu frühstücken. ‚Eine gute Idee!‘, dachte sie still und leise in sich hinein. Johanna blickte triumphierend aus dem Beifahrerfenster. Doch ihr Blick fror ein, als sie plötzlich das Geräusch des Blinkers hörte und Benjamin die Bundesstraße B54 verließ und auf die Autobahn A3 in Richtung Frankfurt abbog.
„Wo willst du denn jetzt hin?“, fragte sie ihn voller Erstaunen.
„Du, ich fahre ein kurzes Stück auf der A3 bis zur Ausfahrt Limburg-Süd.
Dann kommen wir von der anderen Seite in die Stadt und umgehen so den Stau am Ortseingang. Außerdem ist das auch der einfachste Weg, um das Parkhaus in der Altstadt zu erreichen.“
Johanna stellte Benjamins Antwort nicht in Frage. Sie lauschte der Musik aus dem Radio, schaute verträumt in die Landschaft und achtete nicht weiter auf die Straße. Nach einiger Zeit wunderte sie sich jedoch über das Autobahnschild, das auf die nächste Ausfahrt hinwies. Es stand allerdings alles andere darauf als Limburg-Süd.
„Hätten wir nicht längst abfahren müssen. Eben auf dem Schild stand doch schon irgendetwas von Bad Camberg!“
„Ach du Schande, jetzt war ich so in die Musik vertieft, da habe ich doch wohl glatt die Ausfahrt verpasst!“
Johanna konnte Benjamins Grinsen entnehmen, dass es sich keineswegs um ein Versehen gehandelt hatte. Nun also ging das heitere Ratespiel weiter. Wohin könnte sie Benjamin bringen wollen? Ah, vielleicht würden sie die ‚Hesselbachs‘ besuchen fahren!
* * *
Bei den ‚Hesselbachs‘ handelte es sich um zwei Jungs, die sie in einem Urlaub auf Ibiza kennengelernt hatten. Andreas und Markus hießen sie, wohnten in Wiesbaden und waren Studenten. Der Name ‚Hesselbach‘ war natürlich nicht ihr wahrer Nachname, und sie waren weder Brüder noch irgendwie miteinander verwandt. Nein, sie verband seit Jahren eine sehr intensive Freundschaft.
Ihren Spitznamen ‚Hesselbachs‘ verliehen ihnen Benjamin und Johanna aufgrund des hessischen Akzents. Somit erinnerten sie das Westerwälder Pärchen an die ‚Familie Hesselbach‘, einer hessischen Fernsehfamilie aus den Siebzigern.
Während ihres Hotelaufenthaltes auf Ibiza hatte man die vier jungen Leute zu den Mahlzeiten an einen gemeinsamen Tisch gesetzt. So lernten sie sich in dieser Woche ganz gut kennen und hatten viel Spaß miteinander. Allerdings begaben sich Andy und Markus allabendlich auf die Piste und machten in Ibiza-Stadt die Nacht zum Tag, von daher beschränkte sich das Kennenlernen zunächst auf die Essenszeiten. Doch am vorletzten Abend vereinbarten die Vier, dass sie sich am letzten Abend ihres Urlaubs am Strand treffen wollten, um noch gemeinsam etwas zu trinken.
Gemeinsam kauften sie sich nach dem Abendessen drei Flaschen Rotwein an der Hotelbar und schlenderten durch den Hotelgarten hinab zum hoteleigenen Strand. Sie schnappten sich Sonnenliegen, trugen sie zum Meer und erzählten und erzählten. Der Wein ging dabei natürlich komplett drauf. Zu allem Überfluss steuerte Andy dann auch noch zum krönenden Abschluss ihres Urlaubs für jeden – gut Johanna verzichtete freiwillig – eine richtig dicke Zigarre bei.
Es wurde ein äußerst lustiger Abend, der sich auch am nächsten Morgen noch in Form eines dicken Brummschädels in Erinnerung rief – wie würde Benjamins Schwester Ann-Kathrin wieder sagen: „Ich honn jo ne Kopp, de es su dick, ich könnt en met der Mestgobel kratze!“
An diesem besagten letzten Abend gaben Johanna und Benjamin auch preis, dass sie die beiden Jungs schon die ganze Woche als die ‚Hesselbachs‘ bezeichneten. Natürlich konnten Andreas und Markus dies nicht so einfach auf sich beruhen lassen und nahmen sich vor bis zum nächsten Morgen ihrerseits einen Beinamen für das junge Pärchen zu finden. Und prompt präsentierten sie beiden zum Frühstück voller Stolz ihren Favoriten: ‚Die Applemuffins‘
Sie wählten diese Bezeichnung, da Johanna und Benjamin in ihren abendlichen Erzählungen des Öfteren erwähnt hatten, dass zu ihren kleinen kulinarischen Highlights auf den Reisen nach Amerika – und von denen hatten sie ja nun schon vier hinter sich – immer diese kleinen ‚süßen Schweinereien‘ gehörten.
Erwartungsvoll schauten die ‚Hesselbachs‘ die ‚Applemuffins‘ an diesem Morgen an und warteten auf eine Reaktion. Schließlich brachen alle vier ziemlich gleichzeitig in lautes Gelächter aus und taten sich schwer dieses wieder einzudämmen. Seit ihrem gemeinsamen Ibiza-Urlaub verstanden sich die vier richtig gut und somit blieb auch der Kontakt bis heute bestehen. Mittlerweile hatten Markus und Andy sogar bereits ein Wochenende in Hachenburg verbracht.
* * *
Natürlich bestärkte dies Johanna folgendes anzunehmen: ‚Ah, sicher haben die drei Jungs heimlich ein Treffen in Wiesbaden organisiert, um mich zu überraschen!‘ Aber nach der Pleite bezüglich Limburg wollte Johanna diesmal nichts sagen, schließlich war sie ja auch keine Spielverderberin. Sich in Sicherheit wiegend, wohin die Reise gehen würde, legte sie den Kopf zurück und genoss die Musik.
Mittlerweile hatte Benjamin eine Kassette eingelegt und Johanna wusste, dass auch er gedanklich in der Zeit vor zehn Jahren war.
Billy Joels Greatest Hits – Volume I & Volume II, Benjamin hatte ihr diese Doppellangspielplatte zu ihrem 19. Geburtstag geschenkt. Noch an diesem Abend hatte sie sich von Wolfgang – ihrem damaligen Freund – getrennt, als sie erfuhr, dass dieser schon seit geraumer Zeit ein Verhältnis zu ihrer Klassenkameradin Kathrin hatte. So tat sie endlich den längst fälligen Schritt und folgte ihrem Herzen, das sie zu Benjamin führte.
Die Erinnerungen an jenen Abend kehrten zurück, als sie der Musik von damals im Auto lauschte. Ob es Benjamin genauso ging? Mit Sicherheit! In Gedanken dankte sie Gott, dass er sie zu ihm geführt hatte und auch für die tollen Jahre, die sie bisher miteinander verbringen durften. Ach, es tat einfach nur gut, nach so langer Zeit die Lieder von damals zu hören und sich in die Zeit, in der sie sich kennengelernt hatten und näher gekommen waren, zurückversetzen zu lassen. Zunächst summte sie die Lieder nur mit, doch dann als ihr Lied kam, stimmten beide unisono ein:
„Sing us a song, you’re the piano man,
sing us the song tonight,
well, we’re all in the mood for a melody
and you’ve got us feeling alright …“
Benjamin betätigte den rechten Blinker und der Wagen begab sich auf eine Autobahnausfahrt. Johanna versuchte zu erkennen, um welche Ausfahrt es sich handelte. Da sie aber seit einiger Zeit etwas kurzsichtig war und sich zu den Brillenträgern zählte, erkannte sie nicht gleich wohin ihre Reise nun letztendlich ging. Schnell kramte sie in ihrer kleinen braunen, schon langsam etwas abgegriffenen Ledertasche und suchte nach ihrer Brille. Es war selbst für sie nicht einfach, sich in ihrer eigenen Tasche zurechtzufinden. Immerhin enthielt sie neben den unzähligen Hilfsmitteln, die eine Frau stets bei sich zu tragen pflegt, auch noch diverse Überlebensutensilien in Form von Kreislauftropfen, Johanniskrautkapseln sowie eine Plastiktüte zur Vermeidung einer Hyperventilation.
Seit einem einschneidenden Erlebnis in Griechenland, vor nunmehr fast acht Jahren, gehörten diese Sachen zu ihren ständigen Begleitern. In diesem Urlaub, ihre erste Flugreise, war sie ob der großen Hitze bei einer Wanderung kollabiert und hatte durch die Panik, die sie in diesem Moment überkam, in kürzester Zeit zu viel Sauerstoff eingeatmet, was in der Regel aber absolut nichts Schlimmes ist und mit einem ganz einfachen Trick behandelt werden kann. Dazu reicht eine normale Plastik- oder Papiertüte aus, die man dem ‚Patienten‘ über Nase und Mund stülpt und in die dieser dann hineinatmet. Anschließend nimmt dieser seine eigene Ausatmung wieder durch das Einatmen in die Atemwege auf und reguliert so nach kurzer Zeit die Überversorgung des Körpers mit Sauerstoff auf ein Normalmaß.
Also ganz einfach und deshalb führte Johanna auch stets seit diesem Erlebnis auf Kreta eine Tüte mit sich. Sie gab ihr ein sicheres Gefühl, wenngleich sie weder den Beutel noch das Johanniskraut seitdem wieder benötigt hatte.
Endlich Johanna hatte ihre Brille gefunden und setzte sie schnell auf. Mist, die Ausfahrtschilder hatte sie schon verpasst, also sollte es für sie weiterhin spannend bleiben.
„Sag schon Benny, wo geht die Reise hin?“
Benjamin, der es sichtlich genoss, Johannas Spannung weiterhin aufrechtzuerhalten, grinste nur. Dann endlich war es so weit. Ein gelbes Verkehrsschild tauchte auf und löste Johannas Spannung mit großen schwarzen Lettern auf: WÜRZBURG!
„Ah, jetzt weiß ich, wo du hin willst: Würzburg! Oh Schatz, das ist ja eine tolle Idee. Ich habe schon so viel von der Stadt gehört. Sie soll ganz toll sein. Meine ehemalige Kollegin Steffi war schon öfter dort und hat immer so davon geschwärmt. Ich freue mich darauf heute mit dir durch das Städtchen zu bummeln!“
Johanna beugte sich zu Benjamin hinüber und drückte ihm einen dicken Schmatzer auf die Wange. Dieser grinste einfach nur und zeigte ihr nicht, wie sehr er sich auf den Verkehr und die Straßenschilder konzentrierte. Schließlich war sein Ziel alles möglichst zufällig erscheinen zu lassen.
Auch für ihn war es der erste Besuch der Frankenmetropole. Gleichwohl steuerte er das Auto zielsicher von einer Ampel zur nächsten, setzte wie ferngesteuert schon lange vor der nächsten Ausschilderung den Blinker zum Abbiegen.
„Schatz, bist du schon einmal hier gewesen?“, fragte Johanna völlig verwundert, da ihr dessen sichere und äußerst zielstrebige Navigation auffiel.
„Nö, wieso?“, versuchte Benjamin die Situation herabzuspielen. „Hier ist doch alles bestens ausgeschildert. Immer nur Richtung Zentrum halten, so einfach ist es!“
Was Benjamin ihr verschwieg war, dass seine bis ins Detail gehende Vorbereitung auch das Auswendiglernen der Straßennamen umfasst hatte. Schon Tage zuvor hatte er sich von Niklas den günstigsten Weg durch die Stadt erklären lassen und sich anschließend hingesetzt, um die Straßennamen zu verinnerlichen. Das kam ihm natürlich jetzt zugute. Ganz selbstverständlich, für Johanna natürlich zufällig, bog er in eine kleine Seitenstraße ein und stand sofort auf einem Parkplatz.
„Na, das passt ja gut. Ich glaube, hier können wir das Auto abstellen. Da vorne steht ein Schild welches zur historischen Innenstadt zeigt. Also liegt dieser Platz hier wohl ziemlich zentral.“
Johanna strahlte und war glücklich, dass ihr Schatz ihren morgigen Jubeltag anscheinend doch nicht vergessen hatte. Wahrscheinlich würden sie heute schön durch die Stadt bummeln, abends lecker irgendwo etwas essen und alles so timen, dass sie bis Mitternacht wieder zu Hause wären, um dort das Ereignis entsprechend mit einem Glas Schampus, den hatte sie nämlich schon vorsorglich in den Kühlschrank gestellt, und was noch so dazu gehörte, zu feiern. ‚Toll, einfach toll. Mein Ben halt‘, dachte sie.
Die Februarsonne schien und die Luft war kalt, aber angenehm. Würzburg strahlte und die beiden Verliebten auch. Benjamin schloss gerade das Fahrzeug ab, als Johanna ihn auf etwas aufmerksam machte.
„Du Benny, schau mal, da ist eines dieser Maritim-Hotels. Die sollen recht schön sein, wenngleich auch schweineteuer!“
Mittlerweile fanden sich beide, aufgrund ihrer exzessiven Reiselust, bestens in der Tourismusbranche zurecht und somit war ihnen auch der Name dieser deutschen Hotelkette ein Begriff. Und da sie sich auch im Ausland immer wieder gerne große internationale Hotels anschauten, es liebten sich in den Lobbys aufzuhalten, den Menschen zuzuschauen und das Geschehen insgesamt zu beobachten, schlug Benjamin vor: „Hm, das Hotel sieht ja ganz nett aus. Sollen wir mal hineingehen und uns in der Halle umsehen?“
„Au ja, lass uns mal reinschauen!“
Die Hotelhalle war sehr schön und vermittelte dem eintretenden Gast sogleich das Gefühl, hier ist alles etwas feiner. Leise Pianomusik umschmeichelte das Gehör und der kristallene Kronleuchter illuminierte den mit Marmor ausgelegten Raum perfekt.
„Wow, das Hotel ließe ich mir auch einmal gefallen!“, stellte Johanna sichtlich begeistert und beeindruckt ob der noblen Eingangshalle fest. „Aber so ein Hotel ist einfach zu teuer.“
Benjamins Gesicht blieb derweil völlig unbeeindruckt. Er schlug Johanna vor, einfach an der Rezeption zu fragen, was der betuchte Gast so hinblättern müsste, um sein Haupt in solch noblem Hause betten zu dürfen. Gemeinsam gingen sie zur Rezeption. Ein adrett gekleideter Herr mittleren Alters und mit einem breiten Grinsen im Gesicht wartete auf sie, um den potenziellen Kunden Rede und Antwort zu stehen.
Johanna und Benjamin schauten sich kurz an, um per Blickkontakt abzustimmen, wer die Frage nach dem Zimmerpreis stellen sollte. Da Benjamin diesmal die Aufgabe übernehmen wollte, zwinkerte er – für einen Dritten kaum zu registrieren – Johanna zu, die wiederum sein Zwinkern mit einem kurzen Nicken ihrerseits bestätigte.
„Grüß Gott die Herrschaften, was kann ich für Sie tun?“, begrüßte sie der Mann an der Rezeption mit entsprechend professioneller Höflichkeit. Benjamin wandte sich dem Mann zu und setzte sein Sonntagslächeln auf.
„Guten Tag“, erwiderte Benjamin selbstbewusst. „Mein Name ist Benjamin Michels. Ich hab ein Doppelzimmer reserviert.“ Johanna zuckte zusammen. Das war nicht die Frage mit der sie gerechnet hatte. Fragend blickte sie Benjamin an, unfähig auch nur ein Wort zu sagen.
„Ja, Herr Michels, hier habe ich Ihre Reservierung. Ich darf Sie auf das Herzlichste in unserem Hause begrüßen. Ihr Zimmer befindet sich im dritten Stock, Raum 393. So, nun noch Ihre Keycard und dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in unserem Hotel und natürlich auch hier in Würzburg!“ Triumphierend nahm Benjamin die Schlüsselkarte entgegen und bedankte sich.
„So Schatz, sollen wir ans Auto gehen und schnell noch unsere Sachen auf das Zimmer bringen?“
Johanna war nicht in der Lage auch nur ‚Piep‘ zu sagen. Ungläubig schaute sie ihren Ben an und verstand die Welt nicht mehr. Benjamin nahm sie an die Hand und musste sie förmlich nach draußen führen.
„Jetzt sag nicht, du magst nicht hier bleiben, Schatz!“
Johanna sammelte ihre Gedanken und brabbelte irgendetwas vor sich hin, das wie „Ich kann es nicht glauben!“ anhörte. Außerdem machte sich so allmählich ein Lächeln auf ihrem zuvor eingefrorenen Gesicht breit. Benjamin hob seine Augenbrauen und bedeutete ihr mit einem Schulterzucken und einer seitlichen Kopfbewegung ihm nach draußen zu folgen.
„Das gibt es doch nicht, du hast hier einfach ein Zimmer reserviert. Wahnsinn!“ Kaum aus der Drehtür getreten, fiel sie ihm um den Hals und drückte ihn so fest sie nur konnte an sich.
„Hey, wenn du mich erwürgst, dann hätte es ja auch ein Einzelzimmer getan!“
Sie küssten sich überschwänglich. Anschließend packte Johanna ihn bei den Händen und sprang, sich und ihn vor Freude drehend, um ihn herum.
„Du hättest mir aber ruhig andeuten können, dass wir über Nacht bleiben werden, dann hätte ich doch noch ein paar Klamotten und Unterwäsche mitgenommen!“
„Keine Angst Schatz, du musst nicht zwei Tage in deinen Kleidern bleiben und schon gar nicht in ihnen schlafen!“ Benjamin öffnete den Kofferraum und zeigte auf einen kleinen Reisekoffer, der sich darin befand. „Ich habe natürlich vorgesorgt!“
Wieder entgleisten Johanna einige Gesichtszüge vor Begeisterung.
„Du hast wirklich schon Sachen gepackt, aber doch nicht heute Morgen, oder?“
„Nö, natürlich nicht. Ich habe die Klamotten – von denen du ja weiß Gott genügend hast und es somit nicht auffällt, wenn einige Teile plötzlich verschwinden – vor ein paar Tagen so nach und nach eingepackt. Selbst neue Zahnbürsten und Zahncreme habe ich besorgt, damit du keinen Verdacht schöpfen kannst!“
„Das gibt es doch nicht!“ Johanna war – was äußerst selten vorkam – sprachlos.
„Ich habe immer nur gehofft, dass du nicht gerade die Klamotten anziehen wolltest, die sich schon im Koffer befanden. Aber ich hatte Glück!“
Wieder fiel Johanna ihrem Schatz um den Hals und küsste ihn. „Komm, lass uns hineingehen und die Sachen auspacken!“
Das Zimmer war sehr schön hell und geräumig. Schnell packten sie ihren Koffer aus und verstauten alles in den Schränken. Johanna war froh, einen Mann als Freund zu haben, der nicht nur ihren Kleidergeschmack kannte, sondern auch in der Lage war, die Sachen passend zueinander zu kombinieren. So fühlte sie sich, was das Outfit betraf, für den nächsten Tag perfekt ausgestattet. Sie war glücklich und das Bedürfnis überkam sie, ihren Schatz zu spüren. Ben war gerade dabei ein Sakko, welches er sich als Abendrobe mitgenommen hatte, im Schrank zu verstauen, als er plötzlich eine warme Hand fühlte, die ihren Weg zunächst unter sein Hemd und anschließend unter sein T-Shirt suchte. Gefolgt von zärtlichen Küssen an seinem Nacken, spürte er wie die Leidenschaft Johanna überkam. Langsam drehte er sich zu ihr um und seine Lippen suchten die ihren.
„Wolltest du dich nicht eh noch umziehen, Schatz? Dann kann ich dir ja schnell dabei helfen!“ Bevor er sich versah, stand Benjamin mit nacktem Oberkörper da und Johanna begann ihn zu küssen. Nichts konnte sie nun noch aufhalten und sie ließen ihrer Liebe freien Lauf.
Würzburg traf voll Johannas Geschmack. Viele kleine malerische Gassen mit historischen Häusern und einladenden Weinlokalen. Zum Glück blieb bei der Bombardierung durch die Briten 1945 einiges verschont, insbesondere die vielen Kirchen. Sie bummelten gemütlich durch die verwinkelten Gassen, suchten das ein oder andere Geschäft auf, gönnten sich zwischendurch auch mal eine Pause bei einem italienischen Cappuccino und einem schönen Stück Apfelkuchen. Alles in allem wurde es ein wunderschöner und sehr romantischer Nachmittag. Höhepunkt, da waren sich beide einig, einmal abgesehen vom körperlichen, war die Führung durch das imposante Gebäude der Residenz. Sie liebten es, sich alte Bauwerke anzuschauen und zu mutmaßen, welch ein Leben sich wohl früher darin abgespielt haben musste.
Das vor fast genau zehn Jahren wiedereröffnete Spiegelkabinett strahlte ein faszinierendes und beruhigendes Licht aus. Dieser Raum gehörte zu den schönsten, die sie je gesehen hatten. Die unzähligen kleinen und größeren Spiegel, die sich sogar in den von der Decke schwer herabhängenden, durchgehend vergoldeten und aus Stuck bestehenden Behänge wiederfanden, waren genauso überwältigend, wie die zahlreichen eingearbeiteten Motive in Form floraler Elemente, Köpfe, Drachen, Vögel und Putten.
„Apropos, Putten, mein Engelchen“, Benjamin sah Johanna während der Führung durch das Kabinett herausfordernd an und lachte. „Nenn mich jetzt bloß nicht wieder dein Püttchen!“
Johanna hieb ihm leicht auf die Schulter, hatte sie doch seine Anspielung bezüglich ihres Kirchenbesuchs während der Klassenfahrt nach Luzern nicht vergessen.
Durch das ‚Gründamastene Zimmer‘ dessen Gesamtfarbton ganz in lichtgrün erstrahlte, gelangten sie zum so genannten ‚Napoleonzimmer‘.
„In diesem Raum übernachtete Kaiser Napoleon, insgesamt zweimal: 1806 und 1812“, wusste ihr Guide Franz auf äußerst sympathische Art zu berichten, nachdem sie vor einem rot- und goldfarbenen Himmelbett mit riesigem Baldachin stehengeblieben waren.
„Schade Schatz, dieses putzige Bettchen hier wäre für uns ein wenig zu klein“, stellte Benjamin fest, als sie sich langsam auf den Weg ins nächste Zimmer machten. Franz, der Benjamins Bemerkung mitbekam, stimmte dem doch recht groß gewachsenen Pärchen zu, dass das Bettchen für ein spontanes Schäferstündchen etwas zu klein geraden sei. „Doch man hat damals auch mehr oder weniger im Sitzen geschlafen, da man das Liegen viel lieber den Toten überlassen wollte!“
Das von Balthasar Neumann konstruierte, fast monumentale Treppenhaus der Residenz zählte natürlich zum absoluten Höhepunkt der Führung. Ehrfürchtig stiegen sie die steinerne Treppe hinauf, vorbei an den auf der Balustrade stehenden mythologischen und allegorischen Figuren. Unter dem größten Fresko der Welt, von Giovanni Battista Tiepolo auf 30 mal 18 Meter gemalt, blieben sie stehen. Johanna ließ ihren Blick stumm staunend durch das tolle Treppenhaus und zur überwältigenden Decke schweifen. Sie verlor sich in Gedanken und ihre Fantasie trug sie weit zurück in die Vergangenheit:
Die prunkvoll mit Spiegeln und prächtigen Kristalllüstern ausstaffierten Säle erstrahlen im flackernden Kerzenschein. Überall stehen Blumenvasen mit den schönsten und exotischsten Gewächsen. Es riecht nach Lavendel und Rosenöl. Bunte Samtvorhänge oder schwerer Brokat mit eingewebten Gold- oder Silberfäden hängen an den großen Fenstern der Räume. Das erhabene Lilienmuster, als Zeichen des Adels, ziert den Stoff.
Neben der tatsächlichen weißen Blume – übrigens Johannas Lieblingsblume –, faszinierte sie schon immer auch das Symbol der französischen Lilie. Ohne dem jedoch eine besondere Bedeutung beizumessen, zierte das Abbild der Wappenlilie auch bei ihr zu Hause immer wieder Kissenbezüge oder Tischdecken, sogar eine Fußmatte trug das Konterfei der sogenannten fleur-de-lis. Vielleicht war es ihr aber auch von ihrer Großmutter in die Wiege gelegt worden. „Darum sehet die Lilien auf dem Feld …“, pflegte ihre Oma Marie-Susanna, die alle ‚dat Schneidersch Sannche‘ nannten, immer zu sagen, wenn sie auf irgendetwas mahnend hinweisen oder ermunternd Rat geben wollte.
Die livrierte Dienerschaft huscht vorsichtig und möglichst unauffällig durch den Saal. Emsig erfüllt sie den bereits anwesenden Gästen jeden Wunsch oder räumt eilig hinter ihnen die Spuren des zügellosen Feierns weg. Stimmengewirr, Lachen und das leise Klirren der kristallenen Gläser, in denen man den besten Wein für die Herren und Portwein für die Damen serviert, ist zu hören. Draußen im riesigen, hell erleuchteten Treppenhaus stehen uniformierte Diener und warten auf die ankommende hochwohlgeborene Gesellschaft. An den Wänden strahlen Pechfackeln und Kerzen. Pferdekutschen fahren klappernd vor. Aus den Nüstern der Pferde steigt warme nebelartige Atemluft und erinnert an den Dampf eines Schornsteins. Mehr oder weniger grazil entsteigen weißgepuderte Gäste ihren Prunkkutschen. Würdevoll und langsam – bedingt durch ihre schweren, aufwändigen Roben oder ist es gar ihrer schwer zu tragenden Selbstherrlichkeit wegen – schreiten sie die marmorne Treppe hinauf. Je nach Rang und Namen, empfängt der über alles erhabene Hausherr Großherzog Ferdinand III. von Toskana die Herrschaften entweder bereits auf dem Umkehrpodest oder – wenn der Gast von geringerer Wichtigkeit – erst im Ballsaal.
Das Orchester auf der Empore im Ballsaal spielt derweil auf seinen glänzenden Instrumenten: Zimbeln und Trommeln sind zu vernehmen und geben den Tanztakt an. Die einer Vogelsstimme gleichenden Töne einer Holzflöte ergänzen die Taktinstrumente um eine Melodie. Unterstützt wird sie durch plötzlich virtuos einsetzende Violinen. Nun erklingen Cembalo und Spinnett. Kräftige Stimmen tragen ein Madrigal vor, ein fünfstimmiges Lied in lyrischer Gedichtform.
Plötzlich hört man den Stab des in grünen Samt gekleideten Zeremonienmeisters zweimal auf den blanken Marmorboden schlagen. Gespannt drehen sich alle Gäste zu ihm um. Die Musik verstummt. Nun soll ihr eigener Auftritt folgen. Mit getragener und gleichwohl kraftvoller Stimme kündigt der Zeremonienmeister die neuen Gäste an: „Es treten nun ein, Ihre Majestät die Königin von Hachenburg, Johanna die Erste, und Ihre Durchlaucht Graf Don Benjamino de Michelangelo!“
Trompeten erschallen und die zweiflügelige, riesige Holztür, deren Türgriff sich fast auf Kopfhöhe befindet, wird synchron von zwei nubischen Dienern, die wiederum in glanzvollen Gala-Fantasie-Uniformen stecken, geöffnet. Ehrfurchtsvoll senken die im Saal anwesenden Herren langsam ihr Haupt, ohne zu riskieren, dass sich ihre Perücken verselbstständigen, während sich die aufgekratzte Damenwelt in die auf Dauer sicher unbequemere Knickshaltung begeben. Langsamen Schrittes und bedächtig nach links und rechts schauend treten Königin Johanna I. und Graf Don Benjamino de Michelangelo ein.
„Ist dieses Gebäude nicht einfach klasse, Schatz?“ Benjamin riss Johanna wieder in die Gegenwart zurück. „Wie gut, dass wir uns der Führung angeschlossen haben, sonst hätten wir von all dem nichts erfahren!“
„Hmm“, mehr brachte sie als Zustimmung noch nicht heraus. Zu sehr war sie noch mit den Bildern ihres geistigen Auges beschäftigt. Sie reichte ihm die rechte Hand. Benjamin begriff schnell was Johanna vorhatte. Vornehm nahm er ihre Hand, täuschte einen Handkuss an und hob sie anschließend bis auf Schulterhöhe. Beflügelt von ihrer Fantasie schritten sie majestätisch, die mit Putten und anderen Skulpturen verzierte Treppe hinab. In ihrer Vorstellung schien das klappernde Geräusch einer nahenden Pferdekutsche, die sie – als hochherrschaftliche Gäste des Balls – abholen würde, zum Greifen nah. Es war einfach fantastisch!
Nach der spannenden und fantasiereichen Führung durch die Residenz, bummelten sie den Rest des Tages durch die Würzburger Innenstadt. Zwischendurch gönnten sie sich eine erholsame Auszeit in einem schmucken Café. Das Wetter spielte mit und beide waren glücklich wie am ersten Tag. Johanna war so froh, den Tag in vollen Zügen auskosten zu können. Am späten Nachmittag schlenderten sie zurück zum Hotel.
„So Ben, und jetzt ist Wellness angesagt!“
„Wie schon wieder?“
„Nein, nicht das, was du jetzt schon wieder befürchtest. Wir gehen jetzt nach unten und da wirst du schwitzen – und zwar in der Sauna. Dein Hannilein dreht derweil ein paar Runden im Pool und liest ein wenig in dem Buch, das du mir dankenswerterweise auch eingepackt hast. Du hast ja wirklich an alles gedacht!“
Benjamin grinste und dachte sich: ‚Wenn du wüsstest!‘
Sie ließen es sich richtig gut gehen. Der Wellnessbereich war sehr ansprechend und beide genossen es, den Tag noch einmal Revue passieren zu lassen. Benjamin gesellte sich in seinen Ruhepausen nach jedem Saunagang zu Johanna, die ihrerseits den Pool und die Liegestühle einer Sauna vorzog.
„Tut das guuut!“ Beide waren total happy.
Völlig entspannt fuhren sie zwei Stunden später mit dem Lift nach oben.
Dort machten sie sich ausgehfertig. Was die Auswahl ihres Lokals betraf, so wählten sie für ihren heutigen Jubiläumsabend eine kleine nette Weinstube, die sie bei ihrem Bummel am Nachmittag entdeckt hatten. Heute war ihnen irgendwie nach klein, rustikal und gemütlich zu Mute.
„Meinst du, wir sollten einen Schirm mitnehmen, Hanna?“
„Wäre vermutlich nicht schlecht!“
„Gut, aber eigentlich habe ich keine Lust ihn dauernd in der Hand zu tragen. Ach, weißt du was, ich steck ihn hier hinein, pack deine Handschuhe gleich dazu und ich nehme den Rucksack einfach auf den Rücken.“
Johanna stimmte den Kopf nickend zu, kommentierte aber Benjamins Absicht seinen Rucksack mitzunehmen nicht weiter. Warum auch?
Sie schlenderten ganz gemächlich durch die Würzburger Straßen bis zu dem kleinen Weinlokal mit dem spektakulären Namen ‚Weinstube Schmidt‘. Sie wussten auch nicht genau, wieso sie sich gerade für dieses Lokal entschieden hatten. Zumal sich fast nebenan ein weiteres, mit dem außergewöhnlichen Namen ‚Das Krokodil‘, was ja nun wesentlich spannender klang, befand. Aber irgendwie sollte es diese kleine schlichte Weinstube sein.
Sie traten ein. Die Einrichtung wirkte wirklich sehr rustikal. Sie nahmen an einem schweren Holztisch Platz und warfen sogleich einen Blick auf die Speisekarte und natürlich auch auf die Weinkarte.
„Also, allzu viel Hunger habe ich nach dem Cappuccino und Kuchen von heute Nachmittag nicht.“
„Komm Hanna, da musst du jetzt durch. Eine Kleinigkeit wirst du schon finden. Also, ich muss sagen, so ein Saunabesuch ist doch sehr anstrengend. Hast du gesehen, wie ich geschwitzt habe?“
„Ja Schatz, du hast ja so Recht. Nachdem du dich heute – und nicht nur in der Sauna, hohoho – so verausgabt hast, hast du dir wirklich ein kräftigendes Dinner verdient!“
Beide lachten. Benjamin nahm Johannas Hand und drückte sie zart.
Die Kellnerin war bereit ihre Getränkebestellung aufzunehmen. Benjamin beschloss eine Flasche roten Frankenweins zu ordern. Während Johanna sich mit einer deftigen Kartoffelsuppe und einem kleinen Salat zufrieden gab, schöpfte Benjamin aus dem Vollen und orderte einen Rostbraten mit Zwiebeln und Bratkartoffeln.
Es gab so viel zu erzählen, zu lachen und auch vieles, was sie nachdenklich machte. In den nunmehr ziemlich genau zehn Jahren war so viel passiert: Nachdem sie ihr Abitur bestanden hatten, sollte ja der nächste Ernst des Lebens auf sie warten. Während Benjamin gleich in die Lehre zum Bankkaufmann gegangen war, versuchte Johanna sich zunächst an einem Studium in Siegen. Doch nach einem Semester Wirtschaftswissenschaften für das Lehramt, entschied sie sich für eine Lehre zur Industriekauffrau.
„Ich ärgere mich noch immer, dass ich damals das Studium nicht durchgezogen habe. Nur weil ich Angst hatte am Ende ohne Job dazustehen, habe ich es einfach aufgegeben; aufgegeben für eine Lehre zur Industriekauffrau bei der Firma Krüger.“ Johanna schüttelte den Kopf und setzte fort: „Geh zu Krüger und du wirst klüger! Ha ha, wenn ich mich an diesen Spruch erinnere, dann kommt mir jetzt noch die Galle hoch. Ja, klüger bin ich auf jeden Fall geworden und habe erkannt, dass ich in so einen Betrieb wie diesen nie wieder meinen Fuß setzen möchte!“
„Gut, der Beruf Industriekauffrau ist aber schon ganz okay. Leider hast du dich halt für den falschen Ausbildungsbetrieb entschieden.“
„Weißt du noch wie ich nach meinem ersten Tag bei Krügers nach Hause gekommen bin? Mensch, war das ein schrecklicher Tag!“
* * *
Sie erinnerte sich daran, wie sie am Tag X – ihrem ersten Arbeitstag – erschrak, als sie ihr Wecker mehrmals aufgeforderte, überpünktlich aufzustehen. Da sie sich am Vorabend bereits für die Garderobe des heutigen Tages entschieden und sich alles sorgfältig auf ihrem Korbstuhl im Schlafzimmer zurechtgelegt hatte, genoss sie noch einige Minuten neben Benjamin im Bett, um sich zu sammeln.
Sie wusste, dass Benjamin ein Mann war, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte. So lag er auch heute noch in den tiefsten Träumen versunken neben ihr. Sie nahm sich noch ein paar Minuten und betrachtete ihn, wie er gleichmäßig atmend fest schlief. Ein vertrautes wohliges Gefühl durchzog ihren Körper. Sie liebte ihn und fühlte sich in seiner Nähe sehr geborgen. Es war schön mit anzusehen, wie an diesem Morgen die ersten Sonnenstrahlen, die ins Zimmer fielen, langsam über sein markantes Gesicht zogen und den Raum in ein warmes Licht tauchten. Am liebsten hätte sie ihn gleich noch verführt und wäre anschließend mit ihm den ganzen Tag im Bett geblieben, aber ‚no way‘, sie musste ja nun gleich aufstehen und sich für ihren ersten Arbeitstag fertig machen.
Begleitet von einem leisen Stöhnen schlüpfte sie aus dem warmen wohligen Bett, schlenderte gedankenverloren ins Bad und nahm eine ‚Guten-Morgen-Dusche‘. Sie verzichtete auf ein ausgedehntes Wasservergnügen, denn es wurde bereits langsam Zeit, schließlich benötigte sie mindestens eine halbe Stunde, um ihr langes Haar zu trocknen. Fluchs schlüpfte sie in ihre Klamotten und war froh, dass ihr Timing stimmte. Ein abschließender Blick in den Spiegel bestätigte ihr, sie sah verdammt gut aus! Bevor sie nun aus dem Zimmer verschwinden und mit ihrem Auto zur ersten Arbeitsstelle ihres Lebens fahren würde, einmal abgesehen von ihrem Job als freie Mitarbeiterin der Westerwälder Zeitung, weckte sie Benjamin vereinbarungsgemäß mit einem dicken Kuss auf die Wange.
Benjamin räkelte sich und konnte es kaum glauben, dass die Nacht schon wieder zu Ende war. Er schaute auf die Uhr und hörte wie Johanna gerade die Haustür hinter sich zuzog. Schnell sprang er auf und rannte zum Fenster. Gerade als sie in ihren grünen Polo einsteigen wollte, den sie sich, nachdem sie sich von Wolfgang getrennt hatte, mit großzügiger Unterstützung ihrer Großeltern väterlicherseits zugelegt hatte, schaffte er es noch, ihr aus dem geöffneten Fenster viel Glück hinterher zurufen. Am liebsten wäre sie zurück ins Haus gelaufen und in seine Arme gefallen. Aber das war heute auf keinen Fall drin, denn sie musste jetzt schleunigst los, um nicht gleich am ersten Tag zu spät zu kommen. Sie musste nun alleine dadurch, komme was wolle; aber bestimmt würde der erste Arbeitstag so schlimm nicht werden. Was könnte man schon Großartiges von ihr erwarten: Zunächst würde man ihr die Kollegen vorstellen und ihr dann wahrscheinlich einige Informationen über den Betrieb geben. Aber vielleicht traute man ihr ja auch schon zu, die eine oder andere Aufgabe zu lösen. Sie war gespannt. Zum Glück wusste sie aus einem ersten Telefonat mit dem Personalchef der Firma, Herrn Paletti, dass außer ihr noch eine Auszubildende anfangen würde.
‚Geteiltes Leid ist halbes Leid!‘, dachte sie. Johanna startete den Wagen und fuhr, Benjamin noch einen Handkuss zuwerfend, los.
Die Fahrt nach Rennerod verbrachte sie wie in Trance. Unzählige Gedanken schossen ihr, wie kleine wildgewordene Atome, durch den Kopf. An Ort und Stelle angekommen, parkte sie ihr Auto auf dem weitläufigen firmeneigenen Parkplatz. ‚Jetzt noch einmal tief Luft holen und bloß ganz ruhig bleiben!‘ Sie stieg aus, zupfte ihre Klamotten zurecht und schnappte sich ihre Handtasche. Noch einmal atmete sie tief durch und öffnete die Tür, ihre Tür zum Erfolg!?
In der Eingangshalle des Bürotraktes empfing sie zunächst eine ungefähr gleichaltrige, adrett gekleidete Frau und begrüßte sie: „Sie müssen Frau Sonderberg sein! Willkommen in unserer Firma. Mein Name ist Frau Schäfer, wir können uns aber auch duzen, wenn das okay ist?“ Johanna nickte froh. „Also, ich bin die Simone!“ Freudestrahlend hielt sie der neuen Azubine ihre Hand hin. Johanna freute sich, denn so einen Einstieg hatte sie sich zwar gewünscht, aber nicht unbedingt erhofft. Auf Anhieb war ihr diese Frau Schäfer, oder besser Simone, sympathisch.
Doch für große Vorreden oder ausschweifendes Kennenlernen blieb keine Zeit und Simone führte ihre neue Kollegin in das sogenannte Personalbüro. Während der Vorraum sehr gepflegt und aufgeräumt erschien, wirkte das Büro in das sie nun eintraten ziemlich chaotisch. Überall stapelten sich Ordner kreuz und quer. Die Papierkörbe schienen schon seit Tagen nicht mehr geleert worden zu sein. Auf der Fensterbank lagen neben schmierigem Butterbrotpapier haufenweise Schokoriegel, beziehungsweise deren Verpackung. Wollmäuse jagten einander unter den Schreibtischen. Die Luft war zum Schneiden! Das heißt, den Begriff ‚Luft‘ irgendwie in gedankliche Verbindung zu Sauerstoff zu bringen, wäre wohl keinem, der diesen Raum erstmals betrat, in den Sinn gekommen. Der Raum hatte nur zwei große, einflügelige Fenster zur Fabrikhalle und somit konnte keine Frischluft von draußen hereinkommen. Doch damit der Restsauerstoffgehalt in diesem Raum nicht allzu groß werden sollte, gaben sich die in diesem Raum beschäftigten Mitarbeiterinnen alle Mühe; davon zeugten die überfüllten Aschenbecher.
Am Fenster zur Halle standen zwei Schreibtische aneinander. Hier erwarteten Johanna zwei Damen. Nun ‚erwarten‘ im Sinne einer ‚freudigen Erwartung‘ traf nicht gerade auf diese beiden Herrschaften zu. Nun gut, der Begriff ‚Damen‘ im eigentlichen Sinne auch nicht! Den ersten Eindruck, den Johanna von ihrem neuen Arbeitgeber gewonnen hatte, machten diese beiden und der Raum mit einem Schlag zunichte.
Eine der Damen, vermeintlich die jüngere, hatte wohl am Morgen vergebens versucht, ihre bleiche Haut und die dunklen Augenringe mit übermäßigen und unkontrollierten Make-up-Kapriolen, manche nennen es auch Bauern- oder naive Malerei, auf das Schlimmste zu verunstalten. Wahrscheinlich richtete sie auch deshalb beim Eintreten von Johanna und Simone demonstrativ ihren Blick auf den Computerbildschirm vor ihr. Die andere, außergewöhnlich schwergewichtige, die dies mit einem unvorteilhaften großkarierten Faltenrock zu vertuschen versuchte, zu dem sicher beim Kauf ein Satz Zeltheringe mitgeliefert wurde, musterte den zu gut aussehenden Neuankömmling mit strafenden Blicken. Hier in diesem Raum erwartete Johanna das genaue Gegenteil von Frau Schäfer – und das gleich zweimal!
Simone versuchte ihren Kolleginnen die neue Mitarbeiterin vorzustellen, konnte ihnen aber kein Lächeln oder ähnliche Freundlichkeitsbekundungen abringen. Mehr oder minder ‚begeistert‘ erhoben sie sich von ihren Plätzen und reichten Johanna fast widerwillig die Hand. Kaum für einen anderen zu verstehen, murmelten sie nacheinander ihren Nachnamen. Also, mit ‚Willkommen im Team‘ oder ähnliches hatte ihr Verhalten nichts zu tun. Somit trat genau das ein, was Johanna zwar befürchtet, sich aber nie gewünscht hatte. ‚Na, das kann ja heiter werden!‘
Während Johanna sich noch mit ihren Zweifeln beschäftigte, ob sie sich tatsächlich für den richtigen Ausbildungsbetrieb entschieden hatte, wurde die Tür zum Nachbarzimmer aufgerissen. Ein Mann, klein gewachsen, Mitte 50 und wider Erwarten in einem recht auffallend schicken royal-blauen Anzug gekleidet, betrat den Raum und stellte sich als Herr Paletti vor, der Personalchef.
Im Schlepptau führte er den zweiten Neuankömmling hinein. Auch sie versuchte vergeblich den Damen ein Lächeln abzuringen, in dem sie sich freundlich als „Martina, ihre neue Kollegin!“ vorstellte. Beide Giftspritzen schauten zunächst auch diese definitiv zu hübsche, junge Frau an, um sich dann – ohne eine weitere Mine zu verziehen und sie ignorierend – wieder an ihre Computer zu setzen. Nun, so schlug auch Johannas neuer Kollegin Martina die eisige Kälte ins Gesicht. Martina schien ebenfalls irritiert und in ihrem Inneren nachzuforschen, was sie bei ihrem Auftritt wohl falsch gemacht haben könnte. Doch bevor sie zu sehr in sich gehen konnte, wurde sie von der Bemerkung der kräftigeren Dame wieder zurück ins wahre Leben gerufen. Rasch erkannte sie, es lag nicht an ihr, sondern sie war hier auf einen Schlag Menschen getroffen, den sie vorher anscheinend noch nie hatte kennenlernen müssen. „Na, dat is ja toll. Da ham wir ja zwo neue Putzen, die uns erst mal de Lade auf Vordermann bringe könne!“ Simone Schäfer erschrak und schaute Herrn Paletti fragend an. Dieser schien ebenfalls nicht ‚very amused‘.
„Also meine Damen, ich erwarte von Ihnen, dass sie sich vertragen und arrangieren werden!“ Simone schaute noch einmal skeptisch, hatte sie doch von ihrem Chef energischere Worte erwartet.
„Allet Paletti, Paletti!“, brachte die andere heraus und starrte sogleich wieder in ihren Computer. Herr Paletti schien für diese beiden Furien nicht wirklich eine Respektperson und somit künftig auch keine große Hilfe. Die neuen Azubis bekamen den Mund nicht mehr zu. Sollten sie jetzt wirklich diesen Weibern ausgeliefert werden!?
Johanna und Martina standen sich das erste Mal gegenüber und schauten sich fragend, ja Hilfe suchend, an. Der Funke der Sympathie sprang auf Anhieb auf beide über. Johanna schmunzelte, denn Martina hatte irgendwie witzige blaugrüne Augen und eine blonde Löwenmähne. Mit ihren Haaren wirkte sie wild, doch bei genauem Hinsehen bemerkte Johanna ihre sehr feinen, lieben Gesichtszüge und ihre lustigen dicken Wangen. Mit ihren dunklen rehbraunen Augen und ihrem südländischen Teint verkörperte Johanna das genaue Gegenteil von Martina. Doch es sollte sich später noch herausstellen, dass dies nur äußerlich der Fall war, denn es gab doch sehr viel was beide gemeinsam hatten und diese Gemeinsamkeiten sollten sie in den nächsten drei Jahren zusammenschweißen und eine Freundschaft entstehen lassen, die sie ihr ganzes Leben miteinander verband.
Nachdem die Musterung der Neuankömmlinge abgeschlossen war, stand nun ein weiterer Höhepunkt auf dem Programm: Die Audienz beim Chef des Unternehmens. Vorsichtig klopfte Herr Paletti an die Bürotür von Herrn Krüger. „Joouu!“, was anscheinend soviel heißen sollte wie ‚Ja bitte!‘, war von drinnen zu vernehmen. Herr Paletti öffnete wiederum sehr bedacht, als könne ihm etwas entgegenfliegen, die schwere Holztür. Martina und Johanna traten ein und wurden vom ihrem Personalchef vorgestellt. Ähnlich der Dame im Personalbüro, war auch Krüger äußerst fettleibig. Wie ein Bulle in einem viel zu kleinen Stall wirkte er in seinem Raum. Mächtig und gleichzeitig schwerfällig, saß er in seinem Chefsessel. Aus diesem hätte er sicher nur noch mit Hilfe eines überdimensionalen Schuhlöffels aufstehen können. Die beiden Auszubildenden traten scheu vor ihn. Zum Glück trennte der schwere dunkelbraune Schreibtisch den Bullen von den armen kleinen Kälbchen, die nun zu ihm geführt wurden.
Plump begrüßte er das gerade gelieferte Frischfleisch im Sitzen. Er befand es nicht für nötig sich von seinem Thron zu erheben. Viel mehr als ein „Na dann, viel Spaß!“, brachte er sowieso nicht hervor und bedeutete Herrn Paletti, die beiden Neulinge zu ihren Arbeitsplätzen zu bringen. Sichtlich erleichtert bat Paletti die beiden Frauen wieder hinaus und veranlasste, dass Simone ihnen die künftigen Büros zeigen sollte.
Leider wurden Johanna und Martina auf zwei unterschiedliche Büros in der oberen Etage des Gebäudes verteilt. Martina verschwand gleich als Erste in einem der Büros am Anfang des Gangs, während Johanna bis zur letzten Tür rechts weitergehen sollte. Sie verabschiedeten sich voneinander mit einem kurzen, von einer Spur Angst begleiteten Lächeln: „Bis später! Sehen wir uns in der Mittagspause?“
„Gerne“, antwortete Johanna und schlenderte weiter bis an das Ende des Gangs, wo sie auf der linken Seite durch kleine Fenster in die riesige Fabrikhalle schauen konnte. Auf der rechten Seite des Gangs lag das Büro, das ihr von Simone zugewiesen worden war.
Bevor sie die Tür des Raumes öffnete, richtete sie nochmals ihren Rock und strich sich über das Haar. Tief einatmend klopfte sie schließlich an. Nichts tat sich. Sie klopfte erneut. Nachdem sie immer noch nichts hörte und niemand sie herein bat, stieß sie vorsichtig die Tür auf. Eine blonde Frau saß am Schreibtisch und wirkte irgendwie lustlos oder gar genervt. Ihre Haare schienen wohl irgendwann einmal dauergewellt und hingen nun strähnig bis zu den Schultern.
„Guten Tag, mein Name ist Johanna und ich bin die neue Auszubildende“, stellte Johanna sich mit ihrer natürlichen Freundlichkeit vor.
‚Wo bin ich denn hier nur hingeraten?‘
Johanna wusste, dass sie nichts falsch gemacht haben konnte. Anscheinend war nur ihre Anwesenheit ausreichend, um sämtlichen Kolleginnen in diesem Betrieb den Tag zu versauen. Denn auch diese Dame musterte die Neue stumm von Kopf bis zu den Füßen und nuschelte dann, ebenfalls für normale Ohren kaum zu verstehen, ihren Namen. Auch sie schien nicht besonders begeistert zu sein, eine neue Kollegin im Büro zu haben und ließ sie dies auf ganz perfide Art spüren.
Wortlos bedeutete sie, Johanna solle sich auf den leeren Stuhl am anderen Ende des Schreibtisches setzen. Von Worten, wie „Schön, dass ich Sie als neue Kollegin willkommen heißen und Ihnen Ihren allerersten Arbeitsplatz präsentieren darf!“, war noch nicht einmal im Ansatz etwas zu vernehmen.
Johanna war enttäuscht, hatte sie sich ihren ersten Arbeitstag doch ganz anders vorgestellt. Diese Art und Weise, wie sie hier und heute empfangen wurde, das war allerunterste Schublade! Nun gut, sie fand sich mit dem Schicksal ab, schließlich waren ‚Lehrjahre keine Herrenjahre‘. Doch sie konnte sich nur schwerlich an den Gedanken gewöhnen, von nun an Tag für Tag, in diesen Betrieb, ja in dieses Gruselkabinett, zu fahren.
Johanna nahm Platz und schaute nach, ob sich in der oberen Schublade etwas zu Schreiben befand oder ob sie sich dies irgendwo organisieren müsste. Letzteres war natürlich der Fall!
Plötzlich öffnete sich die Tür und die fettleibige Frau aus der unteren Büroetage füllte sie fast vollends aus. Sie trug ein Tablett in den Händen und ignorierte Johanna. Sie war gekommen, um mit Johannas Zimmergenossin die Frühstückspause – die anscheinend täglich in diesem Büro stattfand – zu zelebrieren. Der gegenseitigen herzlichen Begrüßung entnahm Johanna, dass es sich bei ihrer dauergewellten Kollegin um Karina und bei der kräftigen um Rita handelte.
Die beiden Frauen schenkten Johanna keine weitere Beachtung, geschweige dass sie sie zur Teilnahme am Frühstück einluden. Nach wenigen Augenblicken stürzten sie sich auf die Mettwürste und Tatarbrötchen, die Rita mit dem Tablett transportiert hatte. Es war einfach nur furchtbar, mit anzusehen, wie eklig sich die beiden über das Essen hermachten und sich auf unterster Sprachschiene über irgendwelche Männer, die sie am Wochenende wohl abgeschleppt hatten, was sich Johanna ganz und gar nicht vorstellen konnte und mochte, unterhielten.
Es war einfach ekelhaft, wie menschenverachtend sich die beiden Damen über Gott und die Welt unterhielten und dabei auch nicht mit Namen sparten. Namen von Menschen beziehungsweise Kollegen, die Johanna in der nächsten Zeit noch kennenlernen sollte. Zwischendurch warf Rita Johanna mit abschätzenden Blicken und abwertenden Gesten ein paar Akten hin, deren Inhalt sie – ohne ein ‚Bitte‘ dabei zu erwähnen – mit dem Reißwolf in der anderen Ecke des Büros vernichten solle. Nach der Frühstücksorgie verabschiedete sich Rita und wünschte ihrer Busenfreundin: „Na, dann noch viel Spaß mit deiner neuen Leibeigenen!“
Der erste Arbeitstag in Johannas Berufsleben endete gegen 16 Uhr 30. In ihrem Polo sitzend wusste sie nicht so richtig, was sie von ihrem allerersten Tag halten sollte. Würde so etwa ihr künftiges Berufsleben aussehen? ‚Was heißt Berufsleben?‘, dachte sich Johanna. ‚Schließlich verbringe ich künftig mehr Zeit meines Lebens mit diesen lieben Kolleginnen als mit meinem Schatz!‘
Nein! Never ever! Es war einfach ein grauenhaftes Gefühl diesen Leuten ausgeliefert zu sein. Johanna schluckte ihren Ärger runter. Doch sie nahm sich vor – ja, sie wusste – in weniger als ein, zwei Monaten, wenn sie abgecheckt hatte, wie der Laden lief, dann würde sie in die Offensive gehen. Die Spielregeln dieses miesen Spiels, das die beiden Damen und auch der Rest der Tussis heute hier gespielt hatten, würde sie schnell drauf haben und dann wären sie es, die sich warm anziehen müssten. Wenn sie auch sonst nicht so schnell vorverurteilte, doch heute war ihr sehr schnell bewusst geworden, sie konnte auf die Menschen, die sie hier und heute in den Büros kennengelernt hatte und die fortan zu ihrem beruflichen Umfeld gehören sollten, gut und gerne verzichten! Das Einzige, das zählen würde, wäre das Bestehen der Abschlussprüfung. Diese, das wusste sich gleich am ersten Tag, würde sie auch ohne ihre Kolleginnen bestehen können. Doch dann fiel ihr wieder Simone von der Anmeldung und Herr Paletti, der Personalchef, ein, die beide durchaus sehr nett zu ihr und Martina gewesen waren. Ja, und natürlich Martina selbst, mit ihrem sympathischen Lächeln, kam ihr plötzlich wieder in den Sinn. Also, so ganz alleine schien sie ja nun dann doch nicht zu sein.
Johanna startete den Wagen und fuhr auf direktem Weg nach Hause. Nur der Gedanke an einen gemeinsamen Abend mit Benjamin hatte sie den Rest des Tages überstehen lassen.
‚Mein Gott, es war doch nur ein läppischer Tag!‘
Sie hatte trotzdem solch eine Sehnsucht nach ihm und seiner wohltuenden Art. Sie wollte ihm alles erzählen und er wusste bestimmt, sie wieder aufzubauen und zu motivieren.
Da Benjamin immerhin schon ein Jahr Vorsprung in Sachen Berufserfahrung vorweisen konnte, tröstete er sie am Abend mit seiner sanften Stimme: „Früher oder später gewöhnt man sich an alles, Hanna. Denke daran, du musst ja nicht auf immer und ewig da arbeiten. Sieh doch nur, du hast dich ja auch an mich gewöhnt. Obwohl mit mir solltest du schon auf immer und ewig zusammen bleiben! Du wirst sehen, mit der Zeit kannst du dir einen Tag ohne Arbeit gar nicht mehr vorstellen und die Kolleginnen, die du jetzt noch als Hyänen siehst, sind vielleicht gar nicht so schlimm. Aber wenn ja, dann schlage sie auf deine Art und Weise. Wie du die geschildert hast, sind die doch recht einfach gestrickt. Mit deinem Selbstbewusstsein und deinem Intellekt wirst du die Tussis doch in null Komma nix in die Tasche stecken! Ich denke deine Waffeln sind die besten!“
„Waffeln? Wie meinst du das Ben?“ Johanna war sich nicht ganz sicher, was er meinte.
Er nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. „Ja, Hanna, heißt es nicht: Mit den Waffeln einer Frau?“ Er grinste. Johanna boxte ihm auf die Schulter. „Auuutsch! Ist ja schon gut, ich weiß es heißt ‚mit den Waffen einer Frau‘. Also die Weiber können schon einmal mit dem Aufrüsten beginnen, denn ich denke gegen dich haben die so schnell keine Chance!“
Doch so richtig überzeugen konnte er Johanna nicht: ‚Er hat leicht reden, bei ihm auf der Bank sind alle total nett und man nimmt ihn einfach wie er ist. Na ja, er ist aber auch wirklich süß! Vielleicht hat Ben ja Recht und der erste Eindruck täuscht‘, sinnierte sie, als sie im Bett lag. ‚Aber Benjamin hat halt auch einen entscheidenden Vorteil: Er ist ein Mann und keine Frau …!‘