Читать книгу Sunset - Darum sehet die Lilien - Christof Wolf - Страница 6
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ОглавлениеJohanna und Benjamin waren nun seit zwei Jahren verheiratet. Würden sie gefragt, wie sie selbst ihren Ehealltag oder ihr Verhältnis zueinander beschreiben könnten, antworteten sie sicher unisono: „Wir beide sind glücklich und führen nach unseren Vorstellungen fast ein Bilderbuchleben!“ Und ein Bilderbuch, nebst unzähligen Zeilen, könnten sie bestimmt füllen. Spannende und weniger aufregende Erlebnisse, lustige und tragische Geschichten, die das Leben schrieb, bewahrten sie in unvergesslichen Bildern in ihrem geistigen Lebensalbum; aber eben nur dort. Deshalb manifestierte sich in ihnen die Idee und der Wunsch, trotz ihres ‚jugendlichen‘ Alters, Benjamin war 31 und Johanna würde im August gerade einmal 33, dass sie sich zwischendurch Zeit dafür nehmen wollten, hin und wieder einige ihrer Erinnerungen niederzuschreiben – sei es auch nur in Stichworten. Die Hauptsache war, dass ihre Anekdoten und Erlebnisse irgendwo weiter existieren würden. Somit könnten sie sicherstellen, sofern sie einmal nicht mehr sein sollten, dass ihre Geschichten nicht mit ihnen verschwinden würden – diesen Gedanken fanden sie erschreckend.
So aber würde vielleicht irgendwann einmal irgendjemand ihr kleines Häuschen erben oder kaufen und beim Entrümpeln des Dachbodens auf diese Aufzeichnungen aus alten Tagen stoßen. Vielleicht würde diese Person sich dann die Zeit nehmen, alles zu lesen. Vielleicht würde sie oder er ihre Geschichte interessant finden und die Unterlagen einem Verlag schicken, der sie dann in Form eines Buches herausbrächte. Auch wenn ihnen bewusst war, dass es Memoiren von Liebesgeschichten – größerer und kleinerer Persönlichkeiten – ohne Ende gab und ihre Story so nur eine von vielen wäre. Benjamin hatte bereits während ihrer Flitterwochen mit dem Festhalten von Erinnerungen begonnen und ausführliche Notizen bezüglich der Vorbereitungen und Geschehnisse ihrer traumhaften Hochzeit angefertigt. Doch ob ihre Geschichte, die er in seinem Aeroflot-Büchlein niederschrieb, und die er die Legende von BenJo – eine Lovestory nannte, wirklich einen Dritten interessieren würde, daran konnten sie nicht glauben – zumal er nicht zur Gilde der Schriftsteller gehörte. Dennoch inspiriert und begeistert von seinen Notizen – sie ließ sich des Öfteren einzelne Passagen von ihm vorlesen – fühlte sich auch Johanna fortan dazu berufen, ebenfalls einen Teil schriftlich festzuhalten; gerade nach den doch sehr drastischen und vor allem dramatischen Wendungen ihrer beider Leben zu Beginn dieses Jahres, das Jahr 1998. In grausamster Form wurde ihrer eigenen – bis dato äußerst harmonischen – Lebensgeschichte eine Dramaturgie aufgebürdet, die für beide kaum auszuhalten und durchaus mit Erich Segals Love Story aus den Siebzigern vergleichbar schien.
Es war ein schöner sonniger Tag. Völlig entspannt saß Johanna in ihrem Liegestuhle auf der Terrasse ihres kleinen Häuschens. Schon vor Tagen kaufte sie sich ein gelbes DinA5-Heft, um sich gegebenenfalls ein paar Notizen für spätere ausführlichere Aufzeichnungen anzufertigen. Eine Tasse Kaffee stand neben ihr und dampfte vor sich hin, während sie überlegte, wie und wo sie mit ihrer Erzählung beginnen sollte. Schließlich fing sie an, ganz einfach aufzuschreiben, was ihr so in den Sinn kam.
„Seit zwei Jahren sind wir nun verheiratet und trotzdem hatte der Ehealltag, auf den wir so gewartet und vor dem uns so viele gewarnt hatten, sich noch nicht eingestellt. Gleichwohl blieb auch unser Leben nicht völlig konfliktfrei und ein Punkt, der immer einmal wieder aufs Tablett gebracht wurde, war die Frage: Wollen wir Nachwuchs haben und eine Familie gründen, oder wollen wir das nicht?
Nach langem Hin und Her entschlossen wir uns dazu, dass ich keine Kinder bekommen sollte – und das war eher meine Entscheidung. Ehrlich gesagt und nach heutigem Kenntnisstand, vor allem nach den Erfahrungen der letzten Monate, war meine Abneigung sicherlich lachhaft. Nein, ich wollte nicht etwa keine Kinder bekommen, weil ich Kinder nicht mochte; eigentlich trifft eher das Gegenteil zu! Der einfache Grund für meine Entscheidung, die letztendlich auch Benjamin respektierte, lag einzig und allein darin, dass ich tierische Angst vor dem Geburtsvorgang hatte. Panik überkam mich bereits, wenn ich an die grauenvollen Schmerzen dachte, die mit einer Geburt verbunden sind. Zahlreiche Freundinnen und Bekannte hatten mir ihre Erfahrungen in schrecklichster Detailtreue beschrieben. Heute indes lache ich darüber, denn das, was ich in den letzten Monaten erlebte, war mit Sicherheit nicht weniger schmerzhaft als die komplizierteste Geburt eines Kindes.
Wir suchten uns eine andere Art und Weise, unser Leben mit Freude zu füllen. Unser Lebensinhalt wurde das Verreisen. „Nur wer die Welt kennt,“, sagte Benjamin manchmal theatralisch, wenn wir uns wieder einmal für eine Reise entschieden hatten und dafür nicht gerade wenig Geld hinblättern mussten, „nur der, kann sie auch verbessern!“ So lebten wir für uns und von einer Traumreise bis zur nächsten. Urlaub war das, was uns beide sehr erfüllte. Es schärfte unseren Blick und ließ uns erkennen, wie gut es uns in unserem schönen, sauberen und gemütlichen Hachenburg ging. Dennoch liebten wir das Abenteuer und die Ferne weit ab von unserem schönen Zuhause, wenngleich sich das nun ein wenig widersprüchlich anhört – doch das eine schließt das andere nicht aus. Vielmehr hielt sich die Freude nach Hause, in die heimeligen vier Wände zu kommen und sich dort wohlzufühlen, stets die Waage mit dem Fernweh.
Mehrere Wochen im Jahr, sofern unsere Arbeitgeber mitspielten, zog es uns in die Ferne – insbesondere in die Gebiete unserer Erde, die vom Massentourismus noch weitestgehend verschont geblieben waren. Deshalb oblag uns, die wir alles auf eigene Faust arrangierten, auch die große Aufgabe der Planung. Hatten wir uns endlich auf ein Reiseziel geeinigt – letztendlich zählte dies immer zum zeitraubendsten Teil unserer Planungen, denn es gab noch so viel, was wir sehen wollten – begann Benjamin sofort mit dem Austüfteln der Routen.
Die Entscheidung für ein bestimmtes Reiseziel fiel uns manchmal so schwer, dass wir – man sollte es kaum glauben – sogar schon einmal eine Münze warfen, die uns die Entscheidung zwischen zwei Zielen abnehmen sollte. Zum Glück spielte das Werfen einer Münze in unserem Leben ansonsten keine Rolle. Stand also das Land endlich fest, erarbeitete Benjamin die Stationen und Ziele der Reise und recherchierte die möglichen Sehenswürdigkeiten, die sich entlang einer potenziellen Route boten. Im Anschluss daran übernahm ich die Aufgabe, die Logistik abzustimmen; das hieß, die günstigsten Flüge oder Flugverbindungen zu finden und die passenden Hotels herauszusuchen. Im Laufe der Jahre bauten wir uns somit ein richtig gutes Wissen in Sachen fremde Kulturen und Tourismus auf, aber auch über Geographie und Meteorologie. Deshalb konnten wir auch so manch einem Fachmann – oder auch Fachfrau – der Reisebranche mittlerweile Paroli bieten.
Wenn wir nach unseren oftmals wochenlangen Exkursionen wieder zurück nach Good-Old-Germany kamen, brannten unsere Familien und Freunde förmlich darauf zu hören, was uns diesmal wieder so passiert war. Es war schon fast Tradition, dass wir Freunde oder Familie zu einem gemütlichen – oftmals dem Reisethema angepassten – Abendessen einluden, um von unseren Trips zu erzählen. Schließlich gab es ja auch kaum eine Reise, auf der uns nicht irgendetwas Außergewöhnliches passierte. Spektakuläres, wie in Hollywood, als uns Straßenräuber an der Melrose Avenue unser Auto aufbrachen und sämtliche Sachen gestohlen hatten oder weniger Spektakuläres, wie eine Reifenpanne auf dem Weg zum Flughafen. Ob im einfachen Urlaub auf unserer Lieblingsinsel Mallorca, die wir immer wieder besuchten, oder irgendwo im Outback Australiens, immer passierte irgendetwas, was sich zu erzählen lohnte. Reisen war einfach nur schön und wir genossen es!
Aber auch zu Hause in unserem kleinen mittelalterlichen Städtchen fühlten wir uns wohl. Im Sommer saßen wir oft vor unserem Lieblingseiscafé. Wir schlürften Milchshakes und ließen es uns gut gehen. Das war finanziell nie eine Frage, da wir beide berufstätig waren und somit zu den DINKs gehörten, also ‚double income no kids‘ (doppeltes Einkommen, keine Kinder). Auch das Haus, das wir nach dem Tod meiner Großeltern vor rund sechs Jahren kauften und ein Jahr lang auf unsere Vorstellungen hin umbauten, war mittlerweile bezahlt. Zunächst war es auch für uns nicht so ganz einfach gewesen: Ich befand mich noch in der Ausbildung und konnte lediglich auf ein kleines Sparkonto zugreifen, während Benjamin damals gerade ein Studium begonnen hatte. Zugute kam ihm, dass er seit seinem Berufseinstieg – und selbst während des Grundwehrdienstes – immer einen Notgroschen zur Seite gelegt hatte. So steckte er seinerseits sein Erspartes ins Haus.
Wenn es eine Zeit gab, die unser sonst so perfektes Leben jemals auf die Probe stellte, dann war es in diesem Baustellenjahr. Doch selbst diese Probleme und Nervenanspannungen überstanden wir. Bereits nach kurzer Zeit erholten wir uns finanziell und konnten uns wieder das leisten, was wir wollten – im Rahmen unserer Möglichkeiten natürlich. Wir lebten mit- und füreinander und liebten uns nach all den Jahren wie am ersten Tag. Natürlich gab es auch bei uns hier und da Meinungsverschiedenheiten, doch könnte ich die wenigen Male, an denen wir uns so richtig zofften, an beiden Händen abzählen. Einen Tag ohne ein Happy-End ließen wir einfach nicht zu.
Schön war zudem, dass unser anscheinend außergewöhnliches Verhältnis auch von anderen Menschen wahrgenommen wurde. Voller Bewunderung hörten wir des Öfteren, welch tolles Paar wir doch seien. Unsere Nachbarschaft, die uns immer mit allem was der Garten hergab versorgte und bei der nicht nur die Rezepte, sondern auch ganze Kuchen über den Zaun getauscht wurden, bezeichnete uns immer als ‚die Turteltäubchen‘! Süß, oder!?
Ja, wir passten zueinander. Zudem verband uns, neben der Liebe natürlich, auch das Vorhandensein gleicher Interessen. Manchmal zweifelten wir selbst und dachten, wir seien nicht ganz normal. So verspürte keiner von uns jemals den Wunsch, für längere Zeit etwas ohne den anderen zu unternehmen. Meine Freundin Claudine brachte es einmal sogar auf den Punkt und meinte bei einem gemeinsamen Abendessen: „Also, Jo, für euch beide müsste eigentlich noch ein Doppelklo erfunden werden!“ Wir lachten damals, aber wo sie Recht hatte, hatte sie Recht! Wir genossen unsere Zeit und heute bin ich sehr dankbar dafür. Natürlich haben wir das alles nicht als selbstverständlich angesehen. Nein, wir wussten schon sehr genau, welches Glück uns zuteil wurde: Zum einen, dass wir uns gefunden hatten und andererseits, dass es uns so gut ging. Wie vergänglich alles sein konnte, mussten wir ja bereits selbst einmal in einem einschneidenden Erlebnis erkennen; und zwar im Sommer 1988:
* * *
Benjamin und ich befanden uns in der Ausbildung und flogen nach Griechenland; wohlgemerkt unsere allererste gemeinsame Flugreise! Die drei Jahre zuvor fuhren wir stets mit dem Auto in den Urlaub und hatten dann unser Zelt dabei. Diese Zeit, in der wir ja noch Schüler – und somit vom Taschengeld der Eltern und Großeltern oder auch von den Einkünften des Ferienjobs – abhängig waren, hatte auch seinen Reiz; ich wollte sie nie wieder missen. Wir fanden es toll, ungezwungen und unverplant einfach draufloszufahren; konnten wir dem Land doch im wahrsten Sinne im Zelt auf der Luftmatratze liegend ganz nahe kommen. Außerdem hatte Ben weder Frankreich und Italien, noch Spanien, zuvor zu Gesicht bekommen. Ich weiß noch, wie aufgeregt er vor jeder Grenzüberquerung war – seine Augen leuchteten stets wie die eines kleinen Kindes kurz vor der Öffnung des Weihnachtszimmers. Wir genossen jeden Moment!
Doch dann war es an der Zeit endlich einmal eine Flugreise zu machen, zumal es Benjamins lang gehegter Traum war, einmal mit dem Flieger abzuheben. Ich muss noch oft daran denken, wie er mir damals, während unserer Tagesfahrt nach Mainz, wo ich ihn erstmalig in der Studentenklause neben mich lotste, von seinem Wunsch erzählte, Pilot der Lufthansa zu werden. Doch letztendlich kam ja alles doch ganz anders.
Jeder von uns legte ein Jahr lang etwas von der schmalen Ausbildungsvergütung zur Seite. Nach langem hin- und herrechnen, schließlich mussten wir als Azubis in der Hauptferienzeit fliegen, waren dann zwei Wochen Urlaub auf Kreta möglich. Die Pauschalreise erschien uns preiswert und wir waren froh etwas gefunden zu haben. Dass es sich bei der Reisezeit Anfang August nicht gerade um den idealsten Termin handelte, um ins heiße Griechenland zu fliegen, war uns nicht wirklich bewusst. Und es wurde verdammt heiß! Seit Wochen plagte eine Hitzewelle mit Temperaturen von permanent über 40 Grad Celsius das Land. Selbst die sonnengewöhnte griechische Bevölkerung bekam mittlerweile ihre Probleme. Internationale Zeitungen und selbst das deutsche Fernsehen berichtete, wie viele Menschen, insbesondere die Älteren, in Folge der Hitzewelle an Herz- und Kreislaufproblemen litten. Selbst von Todesfällen wurde berichtet. Unerfahren wie wir damals waren, traten wir diesen Meldungen ziemlich blauäugig entgegen. Wir sahen nicht ein, unsere Reise zu stornieren, schließlich hatte uns Hitze bisher nie etwas ausgemacht. „In Spanien war es auch stets heiß gewesen, oder?“, beruhigten wir uns gegenseitig. Wie heiß Luft und Sonne tatsächlich werden konnten, war uns bis dahin jedoch nie bewusst gewesen. Die Natur zeigte sich unbarmherzig. Sie zwang uns, unsere Aktivitäten in den kommenden 14 Tagen überwiegend auf das Pendeln zwischen Pool und Sonnenschirm zu beschränken. Doch unser Tatendrang wollte sich nicht so einfach geschlagen geben. So liehen wir uns an einem Tag doch noch einen offenen Jeep und erkundeten den Süden der Insel, während wir zwei Tage später an einem geführten, halbtägigen Ausflug in die Lassitti-Hochebene teilnahmen, um uns das Tal der tausend Windmühlen anzusehen. Da schließlich alles recht gut funktioniert hatte, entschieden wir uns fatalerweise noch dazu, am drittletzten Tag an einer organisierten Wanderung durch die Samaria-Schlucht teilzunehmen. Und hier schlug das Schicksal dann gnadenlos zu:
Ganz früh am Morgen, gegen halb sechs, holte uns der Bus am Hotel ab. Nach einem kurzen Frühstückszwischenstopp, der nach einer Stunde irgendwo unterwegs eingelegt wurde, fuhren wir mindestens weitere zwei Stunden quer über die Insel. Schließlich erreichten wir kurz nach zehn den Einstieg zur Schlucht. Nun wartete ein Fußmarsch von 18 Kilometer auf uns.
Gleich auf der ersten Etappe von fast fünf Kilometern führte ein Trampelpfad ziemlich steil nach unten; es galt einen Höhenunterschied von über 1200 Metern zu überwinden. Der kühle Morgennebel verzog sich sehr schnell, allerdings belebte uns der ätherische Duft des noch dicht bewachsenen Pinienwaldes. Die Sonne stand schon relativ hoch, doch das Schattendach der Pinien und der bergabführende Pfad ließen die Tour zu einem gemütlichen Spaziergang werden. Von der mörderischen Hitze, die sich einem Backofen gleichend, bereits in der Mitte der Schlucht aufbaute, bekamen wir nichts mit. Erst als wir diese gegen Mittag erreichten, und die Sonne senkrecht über uns stand, registrierten wir, dass das Thermometer eines Mitwanderers eine Temperatur von 60 Grad anzeigte. Ja, 60!
Während Benjamin unterwegs immer wieder aus den zahlreichen natürlichen Brunnen Wasser trank und somit seinen Flüssigkeitshaushalt ausgeglichen hielt, verzichtete ich von dem kühlen Nass zu nehmen. Ich dachte, dieses sei mit Sicherheit nicht besonders sauber und ungesund. Doch gerade das stellte sich als ein fataler Fehler heraus, weil ich ansonsten nur noch eine kleine Halbliterflasche Wasser eingepackt hatte – sonst nichts.
Wir überquerten gerade eine Holzbrücke, die uns zu einem verlassenen Dorf in der Mitte der Schlucht führen sollte, als plötzlich meine Beine wegsackten. Mein Kreislauf versagte. Benjamin konnte mich gerade noch reflexartig auffangen, sonst wäre ich ungebremst auf den Boden der Schlucht geknallt. Unter den größten Anstrengungen, schließlich machte auch ihm mittlerweile die Hitze zu schaffen, nahm er mich auf seine Schulter und trug mich in den rettenden Schatten. Ich war bewusstlos.
Ein deutscher Arzt, der zufällig auch gerade seine Pause zwischen den fast zerfallenen Häusern machte, sah uns und kam sofort angelaufen. „Sie hat wahrscheinlich einen Kreislaufkollaps und muss jetzt sehr viel trinken. Ich habe hier auch noch eine Salztablette für sie, die den Mineralienhaushalt unterstützt!“ Ich kam wieder zu Bewusstsein und spürte sogleich, dass Leute um mich herum waren, Menschen die mir helfen wollten. Aber auch Wanderer, die einfach nur gafften. Hilfesuchend blickte ich mich um. Ich wäre in Panik geraten, wenn ich nicht gleich meinen Ben erkannt hätte. Er kniete neben mir, hielt meine Hand und streichelte mir ganz sanft über die Wangen. Eine Frau kam mit einem Gefäß voll kaltem Wasser. Immer wieder tauchte sie ein rotkariertes Baumwolltuch hinein und legte es mir anschließend auf die Stirn. Ich spürte nach geraumer Zeit, wie meine Lebensgeister wieder zurückkamen. Alsbald gelang es mir mich aufzusetzen, wenngleich an ein Aufstehen nicht zu denken war, geschweige an einen Marsch von neun weiteren Kilometern. Die Panik brach nun doch durch. Sollte nun mein letztes Stündlein geschlagen haben? Benjamin suchte nach einem Weg, mich aus der Schlucht zu schaffen. Ambulanzen gab es nicht. Per Funkverbindung einen Hubschrauber anzufordern, wäre super gewesen, doch auch das war nicht möglich – Mobiltelefone waren noch nicht weit verbreitet. Schließlich offenbarte sich ihm nur eine einzige Möglichkeit: Mehrere ältere Männer warteten täglich mit stoischer Gelassenheit beim Teeschlürfen und Kartenspielen darauf, dass einer der Sandalenhelden oder Unbehüteten, also Tourist ohne Kopfbedeckung, erschöpft und völlig verausgabt ihre Hilfe benötigte. Sie bauten ihr Geschäft darauf, dass es Leute wie mich gab, die sie auf dem Rücken ihrer Esel aus der Schlucht heraustransportieren konnten; tot oder lebendig!
Sogleich lief Benjamin zu den sonnengegerbten Männern. Diese hatten es sich im Schatten auf ihren bunten Eselsdecken gemütlich gemacht, rauchten genüsslich ihre Zigaretten und verspeisten dazu frische Feigen. Mit Händen und Füßen versuchte Ben ihnen zu schildern, was passiert war. Völlig unbeeindruckt stand schließlich einer von ihnen auf, folgte dem deutschen Touristen, um sich zunächst sein Lastgut anzuschauen. Stirnrunzelnd betrachtete er das Häufchen Elend, das da vor ihm im Schatten lag, und mir schien es, als hätte er alsbald den Ernst der Lage erfasst. Schnell wurden Ben und er sich über den Preis einig. Allerdings riet er, wir sollten noch ein wenig warten bis mein Zustand sich stabilisiert hätte, da der Weg noch lang und die Schlucht an manchen Ecken sehr eng sei. Zirka eine halbe Stunde später erhob ich mich mit weichen Knien. Ich versuchte mich erst einmal sicher auf meinen Beinen zu halten. Dann sollte der schwierige Moment kommen, in dem ich den Rücken des Esels erklimmen sollte. Zum Glück gehörte das Reiten ja zu meinen Lieblingshobbys, sodass mir dies gerade heute zugute kam.
Als ich endlich mehr oder weniger fest im Sattel saß, wurde mir bewusst, dass ich das Ende der Schlucht erst nach neun Kilometern erreichen würde. ‚Aber dann hast du es geschafft und bist draußen!‘ dachte ich so bei mir. Eine mir unbekannte Frau tauchte ein Handtuch in das kalte Quellwasser des kleinen Baches und hängte es mir anschließend über den Kopf. Eine ausgezeichnete Idee, die mich vor der sengenden Sonne schützte.
Wie der Eselsführer uns gesagt hatte, wurde die Schlucht tatsächlich nach einigen hundert Metern immer enger. Erneut stieg Panik in mir auf. Als ich jedoch sah, die Sonne hatte ihren Zenit überschritten und bekam kaum noch die Chance bis zum Boden hinab zu scheinen, verschwand die Attacke wieder. Die Temperaturen wurden von nun an wesentlich erträglicher und ich erholte mich ein wenig. Ben, dem die Wanderung durch die Schlucht anscheinend überhaupt nichts ausmachte, ging mal vorne mit dem alten Mann und mal neben mir. Einmal mussten wir sogar über uns lachen, als Ben meinte, wir – er mit dem Esel und ich mit meinem Schleier um den Kopf – würden irgendwie wie Maria und Josef aussehen, die sich in Bethlehem auf der Suche nach einer Herberge befanden.
Ich weiß nicht mehr wie lange der Ritt dauerte, aber es war bereits später Nachmittag, als wir den Ort am Ausgang der Schlucht erreichten. Die Sonne zeigte mittlerweile Erbarmen und so ließen sich die Temperaturen ertragen. Benjamin kaufte schnell ein paar Flaschen Wasser am kleinen Kiosk vor der Fähranlegestelle. Gerettet war ich noch lange nicht. Nach meinem wackeligen Eselsritt – wobei ich diesem Tier und seinem Eigner von ganzem Herzen ewig dankbar sein werde – stand nun eine schauklige Fährfahrt von gut einer Dreiviertelstunde auf dem Programm.
Das Schiff lief pünktlich im kleinen Hafen ein. Nachdem die Fahrzeuge und Passagiere von Bord waren, durften auch wir zusteigen. Schnell suchten wir uns ein schattiges Plätzchen und atmeten durch. ‚Geschafft!‘ Die Fähre legte kurz darauf ab und folgte der Küste.
Urplötzlich wurde mir wieder schwarz vor Augen. Ich kippte einfach rechts zur Seite und trat erneut komplett weg. Benjamin saß total erschrocken und wie gelähmt neben mir. Völlig perplex ob dem was soeben geschehen war, dauerte es einen kurzen Augenblick bis er sich neben mich kniete und versuchte, mich wach zu bekommen. Wie er mir anschließend erzählte, gelang ihm dies nicht gleich, weshalb Panik in ihm aufstieg und ihm, obwohl wir uns im kühlen Schatten befanden, der Angstschweiß aus allen Poren rann. Hilfesuchend blickte er sich wohl um und winkte einen Fährmitarbeiter herbei. Wie bereits beim Eseltreiber am Nachmittag, so versuchte er auch hier sich mit Händen und Füßen zu verständigen. Mit Erfolg! Der junge Mann schien schnell zu kapieren, dass es sich um einen Notfall handelte und setzte trotz einiger Kommunikationsprobleme die Informationskette in Gang. Langsam kam ich wieder zu Bewusstsein, bewegen konnte ich mich jedoch nicht. Ein weiterer Fährmitarbeiter kam mit einer Wasserflasche angelaufen und kühlte mir mit dem kalten Nass die Stirn, während einige Passagiere ihm stumm zusahen.
Der Kapitän reagierte prompt, verließ seinen Kurs und steuerte den nächstgelegen Hafen an. Per Funk informierte er einen Arzt. Damals kam mir das alles so unendlich lange vor, doch Benjamin meinte – er musste mir die Geschehnisse im Nachhinein haarklein berichten – es wäre alles sehr schnell gelaufen.
Das Schiff legte an und ein junger Arzt kam an Bord. Sofort begann er damit meinen Puls zu messen. Mir ging es gleich besser als ich realisierte, medizinische Hilfe hatte mich erreicht. Mein Herz, das mir zuvor fast bis zum Hals geschlagen hatte, beruhigte sich. Als der Arzt sah, dass ich wieder ansprechbar war, meinte er etwas entnervt – vielleicht hatte ich seinen Feierabend gestört – und in gebrochenem Englisch: „Stellen Sie sich doch nicht so an, Sie sind doch so ein junges Ding! Man muss einfach mehr Wasser trinken!“
‚Hahaha!‘, dachte ich, ‚das hilft mir aber jetzt auch nicht auf die Beine.‘ Ich hatte den Gedanken noch nicht ausgedacht, da reichte er mir auch schon sein Wundermittel in Form einer Tablette. Während ich mich zunächst noch schwach wehren wollte, schließlich war es mir nicht geheuer mal eben so eine von einem Fremden verabreichte Chemiekeule zu schlucken, beharrte er darauf, dass ich sie in seiner Anwesenheit mit Wasser hinunterspülte. Um ganz sicher zu gehen, reichte er Ben zwei weitere Tabletten: „Geben Sie ihr eine davon, wenn sie sich wieder aufregt!“ Während ich noch dachte: ‚Gut, dann haben wir wenigstens ein Beweismittel, falls ich irgendwie anders als erwünscht auf das Mittel reagiere.‘ ging es mir tatsächlich kurz darauf schon etwas besser. Nach seiner Blitzbehandlung verließ der junge Mediziner schnellen Schrittes die Fähre und unsere Fahrt wurde ohne weitere Unterbrechung fortgesetzt.
Im Endstationshafen angekommen war unsere Odyssee noch nicht beendet. Immerhin stand eine dreistündige Busfahrt auf dem Programm – drei Stunden kreuz und quer über die Insel. Ich legte mich sogleich auf die hintere Sitzbank und schlief sehr schnell ein. Dies hatte ich dem Medikament zu verdanken, denn wie ich später erfuhr, hatte mich der Arzt mit einer Valium-Tablette beruhigt.
Am späten Abend erreichten wir endlich unser Hotel Aphrodite in Gouves. Ich war froh endlich in meinem Bett zu liegen und zu schlafen. Den ganzen nächsten Tag verbrachte ich auf dem Zimmer und Benjamin kümmerte sich rührend um mich. Abends hatte ich das Gefühl, es würde mir wesentlich besser gehen.
„Lass’ uns schnell etwas essen gehen, Schatz!“, schlug ich vor, da ich richtigen Kohldampf verspürte. Also machten wir uns auf und gingen in die kleine Gartentaverne, die sich gleich neben unserem Hotel befand. Wir waren in den vergangenen Tagen des Öfteren dort zum Abendessen gewesen, weshalb der Kellner uns auch bereits überschwänglich per Handschlag begrüßte und uns sogleich ein Schälchen mit Peperoni und Oliven auf den Tisch stellen ließ. Kaum hatten wir jedoch Platz genommen und damit begonnen die Speisenkarte zu durchstöbern, passierte es schon wieder: Ohne Vorankündigung wurde mir schwarz vor Augen und ich sackte zusammen. Benjamin sprang reflexartig auf und verhinderte, dass ich ungebremst vom Stuhl fiel. Auch der nette Kellner lief sofort herbei und bot seine Hilfe an. Er half Ben mich zu packen. Erst im Hotel kam ich wieder zu Bewusstsein. Die Dame an der Rezeption, die sah, dass Ben mich durch die Halle trug, verständigte sofort den Hotelarzt. Dieser suchte uns nach einiger Zeit auf, hörte mich gründlich mit seinem kühlen Stethoskop ab, fühlte meinen Puls und maß meinen Blutdruck.
„Ich kann nichts Beunruhigendes feststellen.“, diagnostizierte er in fast akzentfreiem Deutsch. Doch um sicher zu gehen – schließlich sah er, dass ich immer noch benommen im Bett lag – ließ er uns über die Dame an der Rezeption ein Taxi kommen; dieses sollte uns nun ins städtische Krankenhaus nach Heraklion bringen.
Die Fahrt zum Krankenhaus war mit Sicherheit noch einmal so gefährlich wie die Wanderung vom Vortag. Benjamin wurde ganz flau im Magen und seine sonnenverwöhnte Gesichtsfarbe wechselte in ein blasses Beige, als er die riskanten Überholmanöver unseres griechischen Kamikazetaxifahrers vom Rücksitz aus beobachten musste. Heute bedauere ich ihn für diesen misslungen Abend. Auf der einen Seite saß seine Freundin, die laufend körperlich schlapp machte. Auf der anderen Seite stand er fast, aufgrund der Fahrkünste unseres tollkühnen Fahrers, der sich uns als Nikos vorstellte, mit einem Fuß im Grab. Dennoch erreichten wir sicher – und bestimmt in der Hälfte der sonst üblichen Zeit – die Klinik.
Wir betraten die Notaufnahme. Ben schnappte sich sofort einen der klapprigen Rollstühle, die im Flur herumstanden und setzte mich sanft hinein. Dann versuchten wir die Aufmerksamkeit einer Schwester oder eines Arztes auf uns zu lenken. Aufgrund der Hitzekatastrophe befand sich das Krankenhaus förmlich im Ausnahmezustand. Überall auf den Gängen standen mit Patienten belegte Betten und zahlreiche Menschen, die ihre Angehörigen besuchen wollten. Diese Besucher warteten natürlich damit bis in die Abendstunden, da zuvor die mörderischen Temperaturen jegliches Alltagsleben lähmten. Die engen stickigen neonbeleuchteten Flure quollen über mit stöhnenden Patienten, entnervten Schwestern, überforderten Ärzten und wild gestikulierenden Besuchern; es herrschte ein einziges Chaos. Wir waren schon fast wieder im Begriff zu gehen und unser Schicksal durch Nikos’ Fahrkünste besiegeln zu lassen, als eine junge Schwester forsch auf uns zukam und uns nach unserem Begehren fragte. Zu unserem Erstaunen sprach sie sehr gut Englisch und brachte uns sogleich vom Flur in ein ruhiges – wenngleich nicht gerade beruhigendes – Behandlungszimmer.
Die Fensterscheiben des Zimmers waren entweder völlig verdreckt oder zerbrochen. Auch der Rest des Interieurs konnte nicht wirklich überzeugen. Ben lehnte sich an die Wand, seine Nerven schienen bis zum Bersten gespannt. Später erzählte er mir, er habe selbst fast einen Zusammenbruch erlitten – heute kann ich mir das sehr gut vorstellen.
Ein großer dunkelhaariger Mann betrat den Raum. Sein nicht mehr ganz so weißer Kittel war bis zum Bauchnabel geöffnet. Eine massive Goldkette hing um seinen Hals, ein goldenes Kreuz pendelte auf der behaarten Brust. Nachdem er die Formalitäten mit uns besprochen hatte – zum Glück sprach auch er Englisch – schlug er zunächst vor, ein EKG durchzuführen. Er bat mich meine Bluse auszuziehen, was mir ein wenig peinlich war, da ich in aller Eile vergessen hatte, mir einen BH anzuziehen. Aber die Untersuchung ging vor und so saß ich einfach barbusig vor ihm. Dr. Dimitris nahm zunächst noch einmal meine Hand und fühlte meinen Puls. Ich spürte, wie seine Blicke an seiner Uhr vorbei und auf meinen Busen glitten. ‚Hauptsache, er hilft mir‘, dachte ich damals.
Dann bedeutete er mir, ich möge mich rücklings auf die Liege legen. Seine großen behaarten Hände glitten zunächst über meinen Bauch und drückten mal hier, mal da. Schließlich arbeitete er sich nach oben. Seine Finger tasten sich seitlich an meinem Brustkorb entlang. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob seine Handballen meine Brust nur zufällig streiften und dabei mehr oder weniger die Brustwarzen berührten. Als sich die Tür öffnete, beendete Dr. Dimitris seine Voruntersuchung. Eine Arzthelferin trat ein und legte mir mit geübten Handgriffen die Gerätschaften in Form von nicht mehr allzu neuen Saugnäpfen an. Diese verband sie mit den Kabeln aus einem doch sehr antiquiert wirkenden EKG-Gerät, das vielmehr einem Volksempfänger ähnelte. Auch der Pfeifton, der ertönte als der Doktor das Unikum anschaltete, hätte von einem alten Radio stammen können. Während ich nun so da lag und dem kleinen weißen Papierstreifen zusah, der Stück für Stück aus dem Volksempfänger rauskam, klopfte es kurz an der Tür. Nikos, unser Taxifahrer, trat ein.
Seinen aufgerissenen Augen und dem glückseligen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er anscheinend schon lange keine nackte Frau mehr gesehen. Immer wieder versicherte er uns, dass er, obwohl zu Hause seine Familie auf ihn wartete, uns wieder nach Gouves fahren würde. Benjamin gab sich alle Mühe, Nikos höflich davon zu überzeugen, draußen auf uns zu warten.
Wenige Minuten später schaltete sich der Volksempfänger ab. Der Zettel mit der Sinus-Kurve, oder was immer dieses Gerät auch aufgezeichnet haben mochte, hing schlaff herab. Die durchaus hübsch anzusehende Arzthelferin, die zu Benjamins Leidwesen leider zugeknöpfter war als ihr Boss, riss vorsichtig den Streifen ab. Sie reichte ihn Dr. Dimitris.
„Alles in Ordnung!“, bestätigte dieser mit seiner rauchigen Stimme. So konnte er die Untersuchung mit einem für mich beruhigenden Ergebnis beenden. „Gleichwohl schlage ich vor, dass wir Sie über Nacht im Hospital behalten.“ Ich war geschockt, wollte ich doch keine Minute länger als notwendig in diesem Haus verbringen. Ich flehte Benjamin an, da ich mich selbst nicht in der Lage fühlte mit dem Arzt zu diskutieren. Ben widersprach somit Dr. Dimitris’ Vorschlag mit aller Vehemenz und erklärte, dass wir bereits morgen wieder nach Hause fliegen würden. Der griechische Doktor schaute skeptisch drein, doch als Ben ihm versprach, sich um mich zu kümmern, musste ich ihm lediglich eine Erklärung unterschreiben, wonach man mich zwar darauf aufmerksam gemacht habe, dass es besser sei im Krankenhaus zu bleiben, ich es aber vorziehen würde zum Hotel zurückzufahren. Natürlich zögerte ich keinen Moment, unterzeichnete den Schrieb und zahlte den ebenfalls bereits ausgewiesenen Betrag per Euroscheck. Anschließend ließen wir uns von Nikos zurück zum Hotel bringen. Am nächsten Tag flogen wir, Gott sei Dank, ohne Probleme nach Hause.
* * *
Mensch, wenn ich nun bedenke, was ich in der Zeit unmittelbar nach dem Urlaub alles mitgemacht habe, dann graust es mir heute noch davor. Von einem Arzt zum anderen bin ich gelaufen. Zig Kreislaufkollapse ereilten mich, gefolgt von Angstattacken während Autofahrten, Einkaufsbummeln in mehr oder weniger vollen Shoppingcentern beziehungsweise Fußgängerzonen. Und das mir, wo ich doch eigentlich immer – sprichwörtlich – dem Teufel vor die Tür gegangen bin, also ein selbstbewusster Springinsfeld war.
Nach unzähligen Untersuchungen stellte schließlich eine Neurologin fest, dass ich in dieser Schlucht auf Kreta einen Kreislaufkollaps verbunden mit einem lebensbedrohlichen Hitzeschlag erlitten hatte. Kein Wunder, dass ich somit noch etwas länger davon hatte.
Die Zeit nach unserem Griechenlandurlaub wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Damals lief alles ab wie in einem schlechten Film. Heute weiß ich, dass ich damals – mit 23 Jahren – fast nicht mehr lebendig nach Hause gekommen wäre und dem Tod quasi von der Schippe gesprungen bin. Umso mehr freute ich mich darauf, ein zweites Leben beginnen zu können. Doch leider sollte auch meine second chance ihre Tücken aufweisen.
Die Unternehmensleitung des Betriebs, in dem ich zu dieser Zeit meine Ausbildung absolvierte, brachte nicht soviel Verständnis für meine Angst- und Kreislaufattacken auf. Während Personalchef Paletti, samt Empfangsdame und Belegschaft der Produktion, von Anfang an hinter mir standen, witterten meine ‚tollen‘ Kolleginnen im Office, die meine Kollegin Martina und mich eigentlich ausbilden und nicht tyrannisieren sollten, ihre große Chance. Fortan nutzten sie meine körperlich veranlasste und an der Psyche nicht vorbeigehende Schwäche zu ihren Gunsten. Ein weiteres Jahr – aufgrund meines Abiturs konnte ich zum Glück meine Prüfung zur Industriekauffrau vorzeitig absolvieren – sollte ich, als Azubi und somit ‚letztes Glied in der Nahrungskette‘, nichts mehr zu lachen haben. Meine Kolleginnen fuhren alle Geschütze eines modernen und infamen Intrigenspiels gegen Martina und mich auf. Jeden Abend stieg ich den Kopf schüttelnd ins Auto und fuhr nach Hause. Stets fragte ich mich, wie ich es über Nacht nur schaffen sollte, mich zu motivieren, um am nächsten Tag wieder dieses Kasperletheater – oder war es vielmehr ein Gruselkabinett – in Form eines Ausbildungsbetriebs aufzusuchen.
Gerade in dieser Zeit fraß ich sehr viel in mich hinein und bedauerte es in diesem Umfeld gelandet zu sein. Zum Glück gab Benjamin mir den Halt, den ich brauchte. Er stand ja selbst schon seit zwei Jahren im Berufsleben und wusste wovon er redete, wenngleich er wesentlich positivere Erfahrungen während seiner Bankkaufmannausbildung bei einer ortsansässigen Bank machte als ich.
Eigentlich wollte ich, frisch von der Schule, das Abitur in der Hand, Lehrerin werden. Ich kümmerte mich rechtzeitig um einen Studienplatz an der Universität in Siegen und begann tatsächlich mit dem Lehramtsstudium. Dann jedoch hörte ich, es gäbe derzeit und in den folgenden Jahren eine dermaßen große Lehrerschwemme und arbeitslose Akademiker ständen zu Tausenden auf der Straße. Ein jeder riet mir davon ab, Lehrer zu werden. Schon damals überkam mich eine Panik und zwar in Form der Angst nach meinem Studium ohne Job dazustehen. Fatalerweise beendete ich mein Studium bereits nach zwei Semestern und bewarb mich um einen Ausbildungsplatz zur Industriekauffrau – zu allem Überfluss auch noch bei dieser unmöglichen Firma. Heute weiß ich, ich hätte den ersten, den für mich wahrscheinlich richtigen Weg, niemals verlassen dürfen! Lehrer zu werden war immer mein Traum und es hätte mir egal sein sollen, ob es diese Lehrerschwemme gab oder nicht. Aber ich verließ meinen Pfad.
Nach Beendigung der Ausbildung lehnte ich dankend ein Übernahmeangebot meines Ausbildungsbetriebs ab und fand auch sogleich eine gute Anstellung bei einem eingetragenen Verein, der sich mit der Sicherheit von Automobilen befasste. Endlich durfte ich erkennen, dass die Arbeitswelt durchaus auch aus netten, zuvorkommenden und hilfsbereiten Menschen bestehen konnte. Manko dieses ersten richtigen Jobs nach der Lehre war, er machte mir keinen Spaß. Aber ich war froh den Einstieg ins wahre Berufsleben gefunden zu haben und verblieb dort anderthalb Jahre, bevor ich erneut die Stelle wechselte.
Bei meinem neuen Arbeitgeber handelte es sich um ein überregional bekanntes und international agierendes Unternehmen, das rund 1100 Mitarbeiter beschäftigte und als eine der größten Firmen unserer Region galt. Da Benjamin und ich zwischendurch unsere Ausbildereignungsprüfung bei der Industrie- und Handelskammer abgelegt hatten, war ich befähigt, dort nicht nur als Industriekauffrau, sondern auch als Ausbilderin zu agieren. Ich freute mich damals tierisch über die Zusage, kam der neue Job doch mit Blick auf die Ausbildertätigkeit quasi einer Lehrtätigkeit sehr nahe. Ich nahm mir vor, mich ausgiebig um meine Auszubildenden zu kümmern und ihnen den Berufseinstieg so positiv wie möglich zu gestalten – auf jeden Fall ganz anders, als es Martina und ich damals erfahren mussten.“
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Johanna wunderte sich, wie leicht ihr das Schreiben von der Hand ging. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, nur Stichworte über ein paar Sachen aus ihrem Leben zu notieren. Nun aber stieg das wohlige Gefühl in ihr auf, dass es richtig gut tat, einmal aufzuschreiben, was ihr vielleicht schon seit langem auf dem Herzen lag.
Sie verschwand kurz in der Küche, trank einen Schluck Mineralwasser und kehrte auf die Terrasse zurück. Ihr gelbes Heft lag noch aufgeschlagen und so las sie noch einmal den letzten Absatz durch, bevor sie ihre Aufzeichnungen fortsetzte.
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„Mein Job machte mir von Anbeginn Spaß und ich ging auf in meiner Rolle als Ausbilderin. Die Intrigen, die ich während meiner eigenen Ausbildung erleben musste, schob ich deshalb im Nachhinein auf die damals für mich zuständigen Mitarbeiter. Ich ging davon aus, dass ich Pech bei der Unternehmenswahl hatte, womit diese mehr oder weniger betriebsbedingt gewesen wären. Doch leider sollte ich eines Besseren belehrt werden.
Natürlich kommt es überall vor, dass Reibereien zwischen Kollegen auftreten können, sonst wäre das Berufsleben stinklangweilig. Aber häufig manifestiert sich sehr schnell eine Struktur, die geknüpft wird durch ungezügelten Ehrgeiz, Neid oder gar Gier. Besonders auffällig finde ich diese Verhaltensmuster immer dann, und ich darf es als Beteiligte auch so schreiben, wenn mehrere Frauen miteinander oder besser gesagt gegeneinander arbeiten. Anscheinend gehört zum normalen Berufsleben, dass sich Kolleginnen – und natürlich auch Kollegen – immer wieder in den Rücken fallen und innovativ Gemeinheiten entwickeln, nur um einander aus der Fassung zu bringen. Ist es nicht bereits soweit gekommen, dass wir uns kaum noch vorstellen können, ohne diese kleinen Schweinereien überhaupt noch einen Schritt in Richtung Karriere machen zu können? Anscheinend!
Allerdings habe ich schon immer ein Problem mit solchen Verhaltensweisen gehabt. Nicht selten wurden sie auch mir gegenüber an den Tag gelegt. In den seltensten Fällen gelang es mir, diese Dinge an mir und meinem Selbstbewusstseins-Schutzschild abprallen zu lassen. In der Regel nahm ich die Vorfälle, die häufig auf mein eigentlich tadelloses Äußeres oder meine Anerkennung, die ich bei meinen Vorgesetzten genoss, abzielten, sehr persönlich. Äußerst selten vorkommende Entschuldigungen, nahm ich zwar äußerlich an, aber in meinem Inneren fühlte ich mich meist immer noch verletzt; es nagte an mir und tat weh. Insbesondere dieses Getuschel hinter dem Rücken der anderen machte mich verrückt. Zu oft, und dafür könnte ich mich heute noch ohrfeigen, habe ich solche Vorfälle erlebt und auf sich beruhen lassen. Lieber schluckte ich meinen Kloß im Hals, als die Probleme die diesen verursachten, direkt vor Ort klärend anzusprechen. Zu oft nahm ich Probleme – nicht selten auch die der anderen – abends mit nach Hause. Dort konnte ich sie kaum, wie ein getragenes Kleidungsstück, am geistigen Garderobenständer abhängen. Nein, ich behielt sie bei mir und bewegte sie immer und immer wieder tief in meinem Inneren. Mein armer Ben musste so oft die Ventilfunktion übernehmen. Schier stoisch hörte er sich Tag für Tag meine aufgestauten Emotionen und mein Gejammer an. Aber ich brachte es auch nicht fertig, einfach einmal einen Schlussstrich zu ziehen. Erneut das Unternehmen wechseln wollte ich aber auch nicht, zumal die Arbeit selbst mir ja viel Spaß bereitete und die Mehrzahl meiner Kolleginnen und Kollegen voll okay und super nett waren; aber leider nur die meisten und nicht alle.
Letztendlich gestaltete es sich für mich bequemer – und das über sechs Jahre – in dieser Firma zu arbeiten und meinen Ärger zu schlucken, anstatt mir etwas Neues zu suchen – außerdem verdiente ich nicht schlecht. Warum also sollte ich mich aufrappeln und mir etwas anderes suchen, wusste ich doch, was ich hatte und woanders konnte es ja noch schlimmer kommen.
Während dieser ganzen Zeit träumten Benjamin und ich immer wieder davon, eines Tages auszuwandern. Nach der Rückkehr aus einem fünfwöchigen Urlaub stand unser Ziel fest – Australien! Dieses Land und seine Leute beeindruckten uns so tief, dass wir uns einig waren, irgendwann einmal ganz dorthin zu gehen.
Noch immer ist Australien für mich der Kontinent, beziehungsweise das Land schlechthin. Die locker freundliche, aber auch emotional bindende Lebenshaltung der Menschen dort in Down-Under erscheint mir eine ganz andere zu sein als die unsere. Zugegeben, im Urlaub ist es wahrscheinlich fast überall schöner als dort, wo man mit den täglichen Sorgen und Nöten, nicht zu vergessen seiner Arbeit, konfrontiert wird. Doch wenn ich so an den Tag denke, an dem wir nach unserer fünfwöchigen Reise wieder zu Hause ankamen, bestätigt mir dies das zuvor behauptete.
Auf unseren Reisen nach Australien trafen wir immer und überall nur auf freundliche, vor allem aufgeschlossene Menschen. Egal, wo wir auf sie stießen, auf der Straße oder am Nachbartisch im Restaurant, stets wurden wir mit einem freundlichen ‚G’Day Mate‘ begrüßt und vor allem begleitet von einem Lächeln. Und wenn es darüber hinaus die Zeit zuließ, schien kaum jemand abgeneigt zu sein, schnell noch einen netten Plausch führen. Wir bekamen das Gefühl, dass die Leute offener und ehrlicher zueinander waren, außerdem schienen sie wirklich Interesse daran zu haben, Fremde kennen zu lernen und sich mit ihnen zu unterhalten. So kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass sie uns nach all diesen Wochen mit ihrem überschwänglich positiven Lebensgefühl ansteckten und unser Gesicht zierte fortan ein breites Lächeln.
Als wir dann aber am Ende unseres Trips wieder in Frankfurt landeten, erkannten wir sehr schnell: We are back in Germany! Wir standen am Kofferband und hielten, wie so oft, noch ein Schwätzchen mit Menschen, die wie wir die letzten Stunden im selben Flieger verbracht hatten. Um uns herum wurde gedrängelt und gemeckert. Eine Dame, die ihren Kofferwagen mitten im Gang stehen ließ, sodass niemand mehr vorbei kam, sie aber unmittelbar am Kofferband stehen konnte, bekam fast einen Tobsuchtsanfall, als Benjamin sich erdreistete, diesen etwas zur Seite zu rollen. Dabei wollte er lediglich einer vom Langstreckenflug geschlauchten und ausgepowerten Familie mit drei Kleinkindern das Vorbeigehen ermöglichen.
Als wir dann schließlich in der S-Bahn ankamen, es war gerade einmal kurz vor sieben in der Früh, und zum Hauptbahnhof fuhren, schauten wir immer noch freundlich drein. Doch wir waren alleine mit diesem Gesichtsausdruck. So sehr wir auch suchten, in diesem mit Berufspendlern gefüllten Waggon, war kein Hauch einer positiv dreinblickenden Mimik zu finden; absolut keine Spur eines Lächelns oder nur der Zufriedenheit war zu sehen. Am liebsten hätten wir uns wieder auf unseren Absätzen umgedreht und wären zurück nach Australien geflogen. Aber auch uns holte der Alltagstrott bald wieder ein und ich spielte weiter die mir angedachte Rolle in meinem Spiel des Lebens und insbesondere in meiner Berufswelt.
Benjamin, der nach seinem Abitur eine Ausbildung zum Bankkaufmann und anschließend ein Hochschulstudium absolvierte, trat 1994 den Dienst in einer Bank in Frankfurt an. Für ihn bedeutete dies, er musste fortan jeden Tag nach Frankfurt pendeln und das bei einer Fahrstrecke, für die er mindestens anderthalb Stunden einzuplanen hatte, in eine Richtung wohlgemerkt. Insbesondere im Winter hatte ich häufig Angst um ihn und wie oft tat er mir Leid, wenn er aufgrund von Schnee oder Glatteis stundenlang in kilometerlangen Staus stand. Also entschieden wir gemeinsam, dass er sich während der Wintermonate ein Appartement in Frankfurt nehmen und die Woche über dort wohnen sollte. Wenngleich wir uns nun auch nur an den Wochenenden sahen – oder sofern sich eine günstige Gelegenheit bot und die Witterungsverhältnisse es zuließen auch einmal den ein oder anderen Abend in der Wochenmitte – tat diese neue Situation unserer Beziehung keinen Abbruch. Aber wir spürten auch, dass dies keine Lösung auf Dauer sein konnte, insbesondere nach unserer Hochzeit – uns lag natürlich nichts daran eine Wochenendehe zu führen.
Also überwand ich meinen inneren Schweinehund und bewegte mich aus meiner bequemen, wenn auch nicht unbedingt geliebten Position heraus, und beschloss, mir ebenfalls eine Stelle in Frankfurt zu suchen. Tatsächlich schaffte ich es, mich – wenn zunächst auch nur in Gedanken – vom Trott meiner alten Berufswelt zu lösen. Ich wollte etwas ganz anderes, etwas ganz Neues ausprobieren. Das Schlimmste jedoch waren die Gedanken an den Umzug nach Frankfurt.
Als sich unser Vorhaben so nach und nach konkretisierte, kümmerten wir uns um eine kleine Wohnung in zentraler Lage. Wenn möglich, wollte ich zu Fuß zur Arbeit gehen können. Schließlich waren meine Panikattacken noch latent vorhanden, wenngleich mich auch seit geraumer Zeit keine mehr ereilte. Doch so kühn mit einer U-Bahn oder mit einem Bus, geschweige alleine mit dem Auto durch Frankfurt zur Arbeit zu fahren, war ich noch lange nicht. Zudem einigten wir uns, die Wohnung lediglich montags bis freitags zu benutzen und die Wochenenden in unserem gemütlichen kleinen Häuschen, unserer kleinen Villa Kunterbunt, zu verbringen. Wir waren zwar Weltenbummler, aber nicht wirklich Stadtmenschen. Wir hätten uns wahrscheinlich doppelt schwer getan, einen kompletten Umzug zu vollziehen, zumal wir in den letzten Jahren, neben Herzblut, vor allem Geld in unser Häuschen investiert hatten. Viel zu sehr genossen wir es, in unseren eigenen vier Wänden leben zu können, wenngleich Benjamin es durchaus reizvoll fand, in der Bankenmetropole Frankfurt zu arbeiten und auch zu wohnen. Für mich hingegen war es eher ein Mittel zum Zweck. Doch ich ging diesen Kompromiss ein und so pendelten wir wenige Monate später jedes Wochenende zwischen Frankfurt und Hachenburg.
Als Landei, das ich nun einmal war und das meine ich jetzt äußerst positiv, vermisste ich insbesondere die gute Luft und die leichte Westerwälder Windbrise. Mir fehlte der Duft von frisch gemähtem Gras oder überhaupt der Sommergeruch.
Außerdem waren wir – mangels Balkon – permanent gezwungen, wollten wir während der Schönwetterzeit nicht in unserer Bude sitzen, nach draußen zu gehen. Deshalb zog es uns abends des Öfteren in eine der zahlreichen Lokalitäten, was in Frankfurt weiß Gott nicht gerade billig war. Doch das wohlige Gefühl, einfach nur die Terrassentür zu öffnen, herauszutreten und sich bis spät in die Nacht mit einem schönen Glas Wein oder einem würzigen Hachenburger Pils in einen bequemen Liegestuhl zu flegeln, musste stets bis zum Wochenende warten. Es sei denn, der Stadtkoller packte uns dermaßen, dass wir auch schon einmal mittwochs nach Feierabend in unser kleines Häuschen auf dem Land ausrissen.
Natürlich wäre es Frankfurt gegenüber nicht fair, würde ich verhehlen, dass auch die Großstadt ihre Vorzüge aufwies. Wir nutzten unsere Zeit und waren sehr unternehmenslustig. Letztendlich verflüchtigte sich sogar meine U-Bahnphobie, wie auch der Rest meiner mehr oder weniger latent vorhandenen Gründe für meine Angstattacken. Montag galt als Schontag, dessen Abend wir in der Regel auf der Couch verbrachten. Dienstags fuhren wir stets hinaus ins Main-Taunus-Zentrum, um dort zunächst der Shoppinglust zu erliegen und anschließend im mexikanischen Restaurant des Kinopolis, einem riesigen Kinocenter, Leckeres zu essen, bevor wir uns den neuesten Blockbuster anschauten. Der Dienstag avancierte also zum Kinotag.
Benjamin, der schon immer einen Hang zur großen weiten Welt verspürte, fand anscheinend sein Stück davon in Frankfurt. Aber auch ich kann und will nicht leugnen, obwohl ich nie eine richtige Städterin werden würde, dass ich die Besuche in der alten und neuen Oper oder in anderen Schauspielhäusern – meist am Mittwoch oder Donnerstag – genossen habe. Nebenbei bemerkt, war die Möglichkeit, alle Shoppingmöglichkeiten einer Großstadt zu Fuß erreichen zu können, auch sehr verlockend und nicht ohne.
Beruflich änderte sich für mich einiges. Bereits meine erste Bewerbung in Frankfurt traf sofort mitten ins Schwarze. Benjamin erzählte mir von der Fertigstellung eines Hotelkomplexes, der seit zirka zwei Jahren direkt neben dem Messeturm entstand. Ich bewarb mich kurzerhand um eine Stelle in der Verwaltung und wurde prompt zu einem Vorstellungsgespräch in die Dependance dieser großen deutschen Hotelkette in Darmstadt eingeladen.
Mensch, war ich aufgeregt, als ich den beiden Direktoren, die das Haus in Frankfurt leiten sollten, und deren Personalleiterin, Frau Sabine Schäfer gegenüber saß. Herr Knauf, der ältere der Direktoren, wirkte mit seinem graumelierten Haar sehr väterlich und schloss mich anscheinend direkt in sein Herz. Auch Herr Schröder, Mitte Vierzig, adrett im dunklen Armanianzug gekleidet und sein Haar sorgfältig gescheitelt, brachte mir sehr viel Sympathie entgegen. Das Gespräch verlief äußerst locker und, nachdem ich für ein paar Minuten den Raum verlassen musste, boten sie mir noch am selben Nachmittag die Stelle der Assistentin der Personalleiterin an.
Ich konnte es gar nicht glauben, als ich mit der S-Bahn zum Frankfurter Hauptbahnhof fuhr – wohlgemerkt ganz alleine – und anstatt einer Angstattacke überkam ich mich ein Gefühl, das viel mehr einem Selbstbewusstseins-Flash glich. Vom Hauptbahnhof lief ich bis zum Messeturm und wartete in der riesigen braunmarmorierten Halle auf Benjamin. Glücklich und noch etwas ungläubig fuhren wir nach Hachenburg. „Nein, das kann doch nicht wahr sein! Wow, Sunshine, du bist meine Heldin! Das feiern wir aber heute Abend ganz groß in der Krone.“ Ich freute mich, dass Benjamin anscheinend kaum noch Worte fand, um seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Bei der Krone handelte es sich um ein romantisches Landhotel, das mitten in Hachenburg mit einer ausgezeichneten Küche und einem gemütlichem Ambiente aufwartete.
Hotels faszinierten Ben und auch mich schon immer, insbesondere, wenn es sich um architektonisch ausgefallene Häuser handelte und dort interessante Leute aus aller Welt abstiegen. In genau solch einem fand ich also meinen neuen Arbeitsplatz, einem nigelnagelneuen Fünfsternehotel. Das sich dieses direkt an der Messe befand, hatte den Vorteil, dass ich einerseits zu Fuß zur Arbeit gehen und zum anderen, dass ich mich sogar ab und zu mit Benjamin in der Mittagspause treffen konnte. Schließlich arbeitete er in der Nachbarschaft, genauer gesagt im 45. Stockwerk des bleistiftförmigen Messeturms.
Ich erinnere mich gerne an diese Zeit, da wir des Öfteren gemeinsam auf den Bänken vor dem Tower unsere Pause verbrachten und dem ‚Hammering Man‘ zuschauten – einer großen schwarzen Skulptur, deren rechter Arm, an dessen Ende eine Hand einen gigantischen Hammer hält, sich im ungebrochenen Rhythmus auf und ab bewegt. Das bunte Treiben der internationalen Besucher diverser Messen ließ in uns ein wenig Weltstadtflair aufkommen. Bei schlechtem Wetter lud mich Benjamin meist zum Mittagessen in die höchste Kantine Europas ein, die sich im 60. Stockwerk des Towers in schwindelerregender Höhe befand. Es war toll, konnte ich doch so ein paar seiner netten Kolleginnen und Kollegen kennen lernen, die mittlerweile zu unserem festen Freundeskreis gehören.
Mein Job im Luxushotel entpuppte sich jedoch ganz anders als es die extravagante Kulisse von außen erahnen ließe. Wer kennt nicht diesen Glamour, der einen gefangen nimmt, wenn man das mondäne spiegelblanke Atrium eines großen internationalen First-Class-Hotels betritt. In der Regel macht sich kaum ein Gast Gedanken darüber, wie es hinter der noblen Fassade aussehen könnte. Selten denkt jemand daran, welchem Zahlendruck das Management ausgesetzt ist und welches Schicksal die Mitarbeiter eines solchen Großbetriebes manchmal über Nacht ereilen kann. Oft schuften Mitarbeiter aller Nationalitäten, gerade in den Bereichen die man als Gast nicht zu sehen bekommt, für Hungerlöhne, wobei ihre Zukunft nicht selten an einem seidenen Faden hängt, dessen Tragkraft sich wiederum an einer Kennzahl namens Auslastungsquote messen lässt. Mangelnde Buchungen, saisonale Schwankungen und schon stehen die Mitarbeiter auf der Straße.
So kämpfte ich sehr oft mit meinem Gewissen. Als rechte Hand der Personalschefin, war ich unmittelbar an diesem Geschehen beteiligt. Nicht selten war ich es, das personifizierte Schicksal, das die unangenehme Aufgabe zu übernehmen hatte, bereits schriftlich verfasste Kündigungen zu überbringen. Meine Chefin erkannte sehr schnell, dass ich selbstbewusst meine Pflicht erfüllte und ließ mich fortan in der Regel die negativen Botschaften mitteilen. Prämienauszahlungen oder Aussprache von Belobigungen und dergleichen übernahm sie indes gerne selbst. Ich hatte wieder einmal das Pech mit einer Frau zusammen zu arbeiten, die mit mir, meinem Aussehen, meiner Art mit Menschen umzugehen oder was auch immer es war, anscheinend bereits nach kurzer Zeit ein Problem hatte.
Zunächst sah ich alles noch sehr positiv und dachte mir: ‚Mensch, die traut dir aber schon sehr früh sehr viel zu!‘ Immer öfter übertrug sie mir ihre Aufgaben und nun im Nachhinein kann ich gut und gern behaupten, ich machte meinen Job ausgesprochen gut. Lief aber etwas schief, ob von mir zu vertreten oder nicht, wies sie alle Schuld von sich und schob mir – auch vor anderen – ganz offen und arrogant die Schuld zu. Ich spürte sehr schnell, wie ich mich wieder in eine Situation manövrierte, in die ich nie wieder hineinwollte und von der ich wusste, dass sie mir nicht gut tat.
Nicht selten kam es vor, dass Frau Schäfer mal eben – sei es weil sie einen schlechten Tag hatte, ihr die Nase des Mitarbeiters nicht passte oder was auch immer es war – Kündigungen aussprach, die so nicht hätten erfolgen müssen; oftmals nur zur eigenen Befriedigung oder Demonstration ihrer Macht. Deshalb kam auch der Tag, der irgendwann einmal kommen musste: Wieder einmal war Madame schlecht gelaunt und kündigte spontan einem philippinischen Mitarbeiter aus dem Stewarding, also einem Tellerwäscher, der sie morgens nicht freundlich genug gegrüßt hatte. Es war nun meine Aufgabe, ihm auszurichten, natürlich nach Schichtende, dass wir ihn nicht mehr bräuchten. Meine Frage nach dem ‚Warum?‘, schließlich lief zurzeit die Ambiente, eine der größten Frankfurter Messen überhaupt und das Haus war voll bis unters Dach, blieb unbeantwortet. Ich tat mich schwer, dem fleißigen Mann noch am selben Nachmittag – wie mir energisch aufgetragen wurde – das Schreiben gegen Unterschrift auszuhändigen. Mit weitaufgerissenen Augen sah mich Herr Suprati an: „Aber warum? Ich haben alles gut gemacht! Ich haben Extraschicht gemacht! Ich haben Frau und zwei kleine Kind. Warum?“ Meine Augen füllten sich mit Tränen, ich konnte ihm keine Antwort auf seine Fragen geben. Gesenkten Hauptes verließ er das Büro. Ich hasste meinen Job, ich hasste meine Chefin!
Am nächsten Morgen erfuhr ich von einer Kollegin von der Rezeption, dass die Polizei im Haus sei und wegen des Selbstmordes von Herrn Suprati ermittelte. Anscheinend hatte dieser nach unserem Gespräch das Hotel verlassen und seinem Leben ein Ende gesetzt, indem er sich vor einen Zug unweit des Hauptbahnhofs warf.
Nachdem ein lautes Gespräch mit Frau Schäfer fruchtlos und uneinsichtig blieb, hielt ich es für meine Pflicht, meine beiden Direktoren über die Hintergründe aufzuklären. Doch die beiden netten Herren wollten oder konnten mir nicht weiterhelfen. Ihnen selbst sei noch nichts Negatives am Verhalten von Frau Schäfer aufgefallen und außerdem würde der Laden ja gut laufen. Ich musste meine Konsequenzen aus der ganzen Sache ziehen, um nicht einen noch größeren Riss in mein Inneres zu ziehen. Ich setzte mich hin und schrieb Bewerbungen. Zum Glück fand ich relativ schnell eine neue Stelle.
Meine langjährigen Erfahrungen in Sachen Reisen und mein nach außen sicheres Auftreten kamen mir bei dem Vorstellungsgespräch in einem großen Dienstleistungsunternehmen, das Fortbildungskurse jeglicher Art anbot, zugute. Man suchte eine Leiterin für die Reisestelle und hielt mich durchaus für geeignet. Ein halbes Jahr später, die Probezeit war gut überstanden, berief man mich sogar zur rechten Hand der Geschäftsleitung. Ich machte tatsächlich Karriere und meine Bezahlung konnte sich sehen lassen. Jetzt waren wir wirklich richtige DINKs.
Hört sich doch alles gut an, könnte man jetzt denken! Aber leider lief auch hier nicht alles wie es laufen sollte und ich rutschte wieder in eine Misere. Auch dieser Job hinterließ bei mir seine Seelenprägung, doch dieses Mal hatte es nichts mit meinen direkten Kolleginnen oder Kollegen zu tun. Nein, endlich hatte ich einmal so richtig nette Menschen um mich herum. Vor allem auch Menschen, die sich nicht einfach auf den Lorbeeren und Kosten anderer ausruhten. Pferdefuß dieses Jobs war, dass ich von morgens früh bis abends spät für meinen Chef da sein musste, einem sehr cholerischen Menschen mit dem passenden Namen Knurrhahn. Die wenigsten Kollegen im Haus konnten mit ihm umgehen. Sehr schnell erkannte ich zudem, weshalb ich anscheinend die richtige Mitarbeiterin zu sein schien. Knurrhahn saß täglich mehr als zwölf Stunden in seinem Büro und verlangte von seinen Mitarbeitern, mindestens genauso lange im Haus zu weilen. Seine Arbeitswut lag sicher auch darin begründet, dass Knurrhahn selbst keine Familie hatte, die zu Hause auf ihn wartete. Für ihn war es also ganz normal, sich für seinen Beruf aufzuopfern. Deshalb hielt mich die Personalabteilung auch für die optimale Besetzung der Stelle; ich, die keine Kinder hatte! Das hohe Einstiegsgehalt verstand ich somit schon gewissermaßen als Schmerzensgeld.
Natürlich versuchte ich meine Arbeit von Anfang an gut zu machen, doch mit der Arbeitszeit kamen wir nie überein und ich wollte mich auch diesbezüglich nicht beugen. Mir war meine Freizeit und insbesondere die Zeit mit Benjamin wesentlich wichtiger. Nach wenigen Wochen war mein Kampf gewonnen und er akzeptierte, dass ich meinen Job auch im Rahmen von acht bis neun Stunden hervorragend bewältigen konnte. Mit der letzten Tasse Kaffee, dich ich ihm immer gegen fünf mit einem Stapel Unterschriftenmappen auf den Schreibtisch stellte, verabschiedete ich mich stets und es funktionierte.
Knurrhahn blieb mir gegenüber sehr fair und aufgeschlossen. Häufig erzählte er mir sogar von privaten Angelegenheiten und seinen Problemen. Manchmal war er sogar so gut aufgelegt, dass wir miteinander scherzten, was die übrigen Mitarbeiter, zu denen ich sonst noch Kontakt hatte, überhaupt nicht glauben konnten. Doch genau diese Zutraulichkeit, ohne dabei zu irgendeinem Zeitpunkt zudringlich zu werden, wurde mir schließlich zum Verhängnis – seine Probleme wurden meine Probleme. Tag für Tag belud er mich mit seinen Themen; ja, er schnürte sie mir förmlich auf meinem Rücken und ich nahm sie abends mit nach Hause. Dabei machten mir natürlich nicht seine privaten Kleinkriege mit Nachbarn oder Vereinskollegen zu schaffen, sondern seine gebetsmühlenartigen Beschwerden über seine Mitarbeiter – meine Kollegen. An vielen mir mittlerweile sehr lieb gewonnenen Menschen ließ er kein gutes Haar. Doch anstatt selbst ein klärendes Wort mit ihnen auszutauschen, bürdete er mir alles auf – natürlich möglichst alles unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Tagtäglich raubte er mir meine Energie und bereicherte sich an ihr. Für ihn war ich ein guter Zuhörer. Da ich mir kein Urteil über andere anmaß, ging er davon aus, ich sei auf seiner Seite und somit vielleicht sogar eine Verbündete. Er war so mit sich und seinen Problemen beschäftigt, dass er überhaupt nicht in der Lage war, die seiner Mitmenschen wahrzunehmen. So kam es, wie es kommen musste. Nach einem halben Jahr in seinem Vorzimmer, wusste ich, lange konnte und wollte ich das nicht mehr aushalten. Ich betete, dass sich mein Leben, was das Berufliche betraf, möglichst bald ändern sollte. Dass mir der liebe Gott aber so schnell einen Rettungsring zuwerfen würde, hätte ich nicht gedacht, denn plötzlich ging alles ganz schnell. Es kam mir vor wie ein Wunder.
* * *
In der Personalabteilung einer Geschäftsbank in Hachenburg wurde die Stelle des Personalleiters vakant. Und da Benjamin in der Zentrale dieses Instituts in Frankfurt arbeitete, flatterte ihm eines Tages die interne Stellenausschreibung auf den Tisch. Er konnte es kaum glauben, doch tatsächlich wurde genau die Stelle ausgeschrieben, deren Profil ihn schon immer interessierte und deren Anforderungen ihm quasi auf den Leib geschnitten waren. Natürlich bewarb er sich; doch er war nicht der einzige Kandidat. So blieb es eine lange Zeit spannend, ob er den Job überhaupt bekommen würde. Nach einigen Verhandlungen zwischen seinen bisherigen und den neuen Vorgesetzten, die einen wollten ihn erst Ende März gehen lassen, die anderen ihn aber schon ab Januar in Hachenburg haben, einigte man sich auf Mitte Februar. Ja, Benjamin bekam die Stelle! Ich weiß noch, wie wir feierten, als Ben eines Abends nach Hause kam und mir die endgültige Zusage präsentierte.
‚Juchhu, wir dürfen wieder umziehen!‘, dachte ich. Diesmal allerdings war es ein Umzug, dem ich mit Freuden entgegen sah. Endlich kehrten wir wieder voll und ganz in unser gemütliches Heim zurück. Auch unsere Eltern und Freunde freuten sich mit uns, als es hieß, dass wir zurückkommen.
Allerdings bedeutete es für mich zunächst einmal wieder auf Stellensuche zu gehen. Doch wie zuvor, schien das Glück auf meiner Seite zu sein. Bereits nach wenigen Bewerbungen, fand ich eine Anstellung bei einer Krankenkasse. Und das Beste war, diese sah, nach einer zweimonatigen Einarbeitung in der ungefähr dreißig Kilometer entfernte Zentrale in Montabaur, tatsächlich meinen Einsatz in ihrer Filiale in Hachenburg vor. Zwar musste ich von meinem Verdienst erhebliche Abstriche machen, doch Geld war nun einmal nicht alles. Meine Freude war riesig. Nie hätte ich erwartet, so schnell wieder etwas zu finden, gerade in der heutigen Zeit. Ich hatte das Gefühl, unser Leben sei einem Sechser im Lotto ganz nahe gekommen. Ja, wir waren auf dem Weg zu einem perfekten Leben, doch dann kam alles ganz anders.“
Johanna hielt an diesem Punkt kurz inne. Wow, nun hatte sie schon einiges geschrieben. Es bereitete ihr Spaß, ihre zum Teil doch belastenden Gedanken, die sie nun schon lange in sich trug und die sie bewegten, auf dem Papier sichtbar zu machen. Dabei hatte sie gar nicht bemerkt, dass die Sonne mittlerweile hinter dem alten Fachwerkschuppen der Nachbarn verschwunden war. Ihre Füße, die sich schon länger im Schatten unter dem Tisch befanden, waren bereits ausgekühlt und der Rest des Kaffees, der in der Tasse neben ihr stand, schon längst nicht mehr zu genießen. Wie spät war es eigentlich?
Sie stand auf und ging hinein, um sich oben im Schlafzimmer ein Paar Socken anzuziehen. Die Luft selbst war zwar relativ warm, doch nachdem sie fast bewegungslos dagesessen hatte, in Erinnerungen vertieft, fröstelte es sie ein wenig. Auch ihr Nacken machte auf sich aufmerksam und ein stechender Schmerz signalisierte ihr, dass sich ihre Muskulatur mangels Bewegung vernachlässigt fühlte. Die Uhr im Schlafzimmer zeigte bereits halb vier, somit würde Benjamin in anderthalb Stunden von der Arbeit nach Hause kommen. Bestimmt würde er Augen machen ob ihrer schriftstellerischen Leistung.
Fast drei Stunden am Stück hatte sie geschrieben. Nur ein kurzes Schwätzchen mit ihrer Nachbarin Anneliese, die nach dem Mittagessen in den Garten kam, der direkt an ihre Terrasse grenzte, und sich gewohnheitsmäßig auf ihrer Liege zum zweistündigen Mittagsschläfchen legte, unterbrach ihren Schreibfluss. Johanna überlegte, wie lange es doch tatsächlich dauern könnte, würde sie wirklich ihre Memoiren aufschreiben. Angesichts ihres erst 33-jährigen Lebens könnten ihre Aufzeichnungen im Vergleich zu den anderen Persönlichkeiten – die im Allgemeinen erst im Herbst ihres Lebens damit begannen ihr Lebenswerk autobiografisch festzuhalten – nur die Ausmaße eines Augenblicks annehmen. Obwohl, wenn sie so überlegte, fielen ihr spontan diverse Erlebnisse, lustige Anekdötchen und Geschichten zum Nachdenken ein, die es schon Wert wären, festgehalten zu werden. Würde sie dies auch nur ähnlich ausführlich festhalten, wie das, was sie in den letzten drei Stunden alles zu Papier gebracht hatte, sicher käme dabei schon mehr als nur ein Faltblatt heraus. Benjamin witzelte damals, als er die bewegenden Augenblicke ihrer Hochzeit während ihres Honeymoons aufschrieb: „Das wird ein enormes Werk. Ich denke, ich veröffentliche es unter dem Titel: Das atemberaubende Leben des Benjamin M. aus H. – Illustriertes Faltblatt im doppelseitigen Druck!“ Sie lachten, denn sie wussten, er untertrieb. Bis zum heutigen Tag durften sie durchaus zahlreiche spannende und normale, lustige und auch traurige Momente erleben. An der Anzahl interessanter Augenblicke gemessen, da waren sie sich einig, würde so manch ein Erdenbürger dies nicht in 80 Jahren seines Lebens erfahren. Spontan fiel Johanna eines ihrer Gedichte ein, das sie in den Achtzigern verfasste, als sie sich schon einmal näher mit dem Sinne des Lebens und der Zeit auf Erden beschäftigt hatte:
Die Zeit
Nie stille steht die Zeit,
der Augenblick entschwebt,
und den Du nicht genutzt,
den hast Du nicht bewusst gelebt!
Nie stille steht die Zeit,
der Augenblick entschwebt,
und nur die Momente, an die Du Dich erinnerst,
die hast Du auch bewusst gelebt!
Viele Augenblicke hatten sie bereits genutzt und ganz bewusst gelebt oder besser erlebt. Augenblicke, wie ihr erster Kuss. Augenblicke der Ungewissheit bezüglich der Gefühle des anderen. Augenblicke des Glücks, so der Moment des unglaublich schönen Heiratsantrags in Würzburg. Der Augenblick im Glückszenit – die Hochzeit. Aber auch die nicht minder aufregenden Augenblicke nervlicher Anspannung – wie die während der Vorbereitung auf das Abi, die diversen Abschlussprüfungen oder die des Umbaus ihres Hauses. An alle erinnerte sie sich – wenn auch mehr oder weniger gerne – zurück. Doch es gab auch Augenblicke, die sie am liebsten aus ihrem Erinnerungsvermögen und ihrem Leben verbannen würde. Augenblicke, die plötzlich Körper, Geist und zu guter Letzt auch die Seele beherrschten. Augenblicke, die sie gelähmt hatten und auch jetzt noch paralysierten: Die Augenblicke der Angst. Mittlerweile hatte sie unterschiedliche Arten der Angst kennen lernen müssen: Die Angst vor der nächsten Prüfung, von denen sie ja einige hinter sich gebracht hatten. Die Angst vor dem Einbrecher, der eines Nachts im Haus ihrer Eltern stand. Angst vor dem Gespräch beim Chef. Angst, einen gravierenden Fehler zu begehen. Angst, den Partner oder die Eltern zu enttäuschen. Die Angst, Benjamin könnte einen schweren Unfall beim Pendeln nach Frankfurt erleiden. Angst, durch eine volle Fußgängerzone zu gehen. Angst, einfach Angst vor der Zukunft. Angst vor dem Tod.
Johanna nahm erneut auf der Terrasse Platz. Sie hatte sich eine leichte Strickjacke angezogen. Es war einfach zu schön draußen. Eine Tasse Kakao dampfte neben ihr. Sie überlegte: ‚Lässt die permanente Angst, die seit geraumer Zeit mein Leben beeinflusst, sich mit irgendetwas aus meinem bisherigen Leben vergleichen? Höchstens mit dem Erlebnis in Griechenland! Ja, das war schon eine ziemliche Grenzerfahrung gewesen. Gab es noch etwas?‘ Spontan viel ihr ein weiteres Erlebnis ein, dass sie erst im Februar dieses Jahres erlebt hatte.
* * *
Benjamins letzte Woche in Frankfurt lief, denn ab der nächsten Woche würde er seine berufliche Tätigkeit nach Hachenburg verlegen. Johanna musste noch bis Mitte März in Frankfurt ausharren, da sie erst zum Monatsletzten gekündigt hatte.
Es war Dienstag und Johanna beeilte sich mit ihrer Arbeit im Büro fertig zu werden, schließlich stand heute der letzte Kinoabend im Main-Taunus-Zentrum auf dem Programm. Das Glück schien auf ihrer Seite, denn ihr Chef hatte sich bereits für den Rest des Tages verabschiedet, um einige Termine außer Haus wahrzunehmen.
Zügig marschierte sie los. Zu ihrem Leidwesen regnete es in Strömen, was jedoch wieder den Vorteil mit sich brachte, dass die Frankfurter Haupteinkaufsstraße, die so genannte Zeil, vergleichsweise leer war. Auch in der mit Spezialitätenläden gesäumten Fressgasse tummelten sich nur vereinzelt Menschen und huschten von einem Laden zum nächsten. Schnellen Schrittes überquerte sie den Opernplatz, warf einen kurzen Blick auf die erleuchtete Alte Oper, beachtete den großen runden Brunnen in der Mitte des Platzes nicht weiter und hielt direkt auf die glasverspiegelten Hochhauszwillingstürmen der Deutschen Bank zu. Sie erreichte gerade die Ampel, wartete und dachte noch: ‚Mensch, ist das aber ein Sauwetter!‘, als sich unmittelbar vor ihr ein Szenario darzustellen begann, das derart auch in jedem Fernsehkrimi hätte stattfinden können.
Während Johanna mit anderen Passanten auf Grün wartete, trat auf der gegenüberliegenden Seite aus dem Nichts ein Mann auf die Straße, zog einen Revolver aus seiner Gesäßtasche hervor und gab einen Warnschuss in die Luft ab. Indem er sich anschließend mitten auf die Fahrbahn stellte, hielt er ein heranfahrendes Fahrzeug an. Allerdings rührte der Fahrer des zwangsweise gebremsten Wagens sich – wahrscheinlich unter Schock stehend – keinen Zentimeter, selbst dann nicht, als der Pistolenschütze an seine Türe herantrat und versuchte diese zu öffnen. Die Zentralverriegelung des Fahrzeugs hielt sämtliche Türen geschlossen und hätte nur von dem noch immer stocksteif im Inneren sitzenden Fahrer geöffnet werden können. Ziemlich nervös fuchtelte der Angreifer mit seiner Waffe durch die Gegend und schrie: „Mach die Karre auf, sonst knall’ ich dich ab!“ Aber der Fahrer, der sich wahrscheinlich nicht der Zerbrechlichkeit seines Schutzes bewusst war und sich hinter dem Glas in Sicherheit wähnte, rührte sich nicht.
Die Situation schien außer Kontrolle zu geraten und der Schütze in Panik. Er drehte sich um, hielt mit der linken Hand den Türgriff und schrie erneut. Diesmal waren seine Worte an die Passanten adressiert, zu denen auch Johanna gehörte: „Glotzt nicht so, sonst seid ihr auch gleich dran!“ Die Menge schrie auf, als sie sah, dass er mit der Waffe auf sie zielte. Die ersten liefen fluchtartig davon. Andere suchten wiederum reflexartig hinter anderen Leuten Schutz. Johanna selbst war geschockt und blieb wie angewurzelt stehen – die Angst lähmte sie. Die Szene kam ihr so unwirklich vor als säße sie bereits im Kinosessel und schaue dem Geschehen auf der riesigen Leinwand mit Dolby-Surround-Soundeffekten zu. Erst der reale, erschreckend laute Knall – der Mann feuerte tatsächlich erneut einen Schuss in die Luft – und das Geräusch einer unmittelbar zerspringenden Glasscheibe im gegenüber liegenden alten Allianz-Gebäude, zeigten ihr, dass es sich nicht um Fiktion handelte, sondern, dass sie sich vielmehr in der äußerst gefährlichen Realität befand. Sie zuckte zusammen und hielt sich die Hand vor den Mund. Mühsam unterdrückte sie ihren Drang nach einem befreienden Aufschrei. Weglaufen konnte sie noch immer nicht. Der lähmende Augenblick der Angst!
Erneut ertönte ein greller Schuss und wieder ging Glas zu Bruch. Diesmal war es die Rückscheibe des silberfarbenen Audis, den der Schütze angehalten hatte. Das Zerschmettern der Autoscheibe brach die vermeintlich stabile Schutzhülle auf und der Insasse, nun seiner fragilen Sicherheit beraubt, öffnete seine Tür zur Flucht. Doch noch bevor er aussteigen und fliehen konnte, stand sein Peiniger vor ihm. Mit seiner linken Hand packte er den Fahrer, der im Affekt ergebungsvoll die Arme nach oben riss, und zog ihn mit einem brutalen Ruck aus dem Fahrzeug: „Hau ab, du Sau, sonst schlachte ich dich ab!“ Die Panik und die Aggression des Angreifers steigerten sich einem äußerst gefährlichen Siedepunkt entgegen. Noch einmal schoss er in Richtung Ampel zielend, wenngleich weit über die Köpfe der dort zusammenkauernden Passanten hinweg.
Schließlich sprang er ins Fahrzeug, legte, gefolgt von einem krachenden Aufschrei des gequälten Getriebes, einen Gang ein und gab Gas. Es kam wie es kommen musste, er würgte den Wagen ab. Die Menschen auf der Straße zuckten erneut zusammen. ‚Hoffentlich steigt er nicht wieder aus!‘ Nach wenigen Augenblicken, er starrte hektisch, gar panisch um sich, startete er erneut. Mit quietschenden Reifen fuhr er davon, ohne darauf zu achten, dass die nächste Ampel noch auf Rot stand. Reifen quietschten, Fahrzeuge schlingerten, doch er schaffte es, seinen Weg unbeschadet fortzusetzen.
Mit zittrigen Knien lief Johanna durchs Westend nach Hause. Im Moment spürte sie die Angst, die sie zuvor noch paralysiert hatte, nicht mehr – sie wollte einfach nur weg von dieser Straße. Verwirrt ob dem, was sie gerade erlebt hatte und mit Tunnelblick erreichte sie keine zehn Minuten später, wie ferngesteuert, die Mendelssohnstraße. Wie sie die Straße in ihrem verwirrten Zustand überhaupt gefunden hatte, war ihr im Nachhinein stets ein Rätsel geblieben. Immer noch vollkommen durch den Wind öffnete sie die angelehnte Türe zum Treppenhaus. In Trance sprang sie die vier Etagen hinauf zu ihrer Wohnung und klingelte, sie war nicht in der Lage ihre Schlüssel aus der Handtasche zu ziehen. Benjamin war zum Glück bereits zu Hause und öffnete ihr. Noch bevor er auch nur „Hallo!“ sagen konnte, fiel sie ihm um den Hals. Sie drückten sich und Benjamin spürte, dass Johanna am ganzen Leib wie Espenlaub zitterte.
„Was ist passiert, Hanna?“ Es dauerte einen Moment, bis Johanna sich in der Lage fühlte, ihm zu schildern, was sich gerade ereignet hatte. Benjamin, der bereits einen Kaffee vorbereitet hatte, goss ihr eine große Tasse ein. „Jetzt setzt du dich erst einmal auf die Couch und trinkst einen Schluck. Deine Hände sind ja eiskalt und du siehst aus, als wärest du einem Geist begegnet.“ Johanna zog ihren Wollmantel aus und nahm, wie Benjamin ihr gebot, auf dem Sofa Platz. Mit beiden Händen umfasste sie die warme Tasse und trank einen kräftigen Schluck. Jetzt erst realisierte sie, dass sie es geschafft hatte, der Situation zu entfliehen und nun daheim war. Sie war in Sicherheit. Aber jetzt stieg plötzlich wieder das Gefühl in ihr empor, dass sie als Angst bezeichnen würde. Komisch, wieso erst jetzt?
Benjamin setzte sich zu ihr und nippte ebenfalls an seiner Tasse. Er sagte nichts, bohrte nicht und ließ ihr die Zeit, die sie brauchte. Doch ahnte er, irgendetwas Außergewöhnliches war passiert. Irgendetwas, was seinen Schatz aus der Bahn geworfen hatte, denn so ohne Weiteres verlor Johanna normalerweise nicht die Fassung. Augenscheinlich schien ihr selbst nichts zu fehlen. ‚Zum Glück!‘ Nach einigen Minuten gemeinsamen Schweigens sah Johanna auf und holte tief Luft.
„Nimmst du mich noch einmal kurz in den Arm? Ich muss ganz einfach spüren, dass ich heil zu Hause angekommen bin!“ Benjamin rückte näher und drückte sie an sich. Johanna begann ihm zu erzählen, was vorgefallen war und welches Glück alle unmittelbar Beteiligten gehabt hatten. Sie drückten einander fest und waren froh, dass letztendlich niemand körperlich zu Schaden gekommen war und sie nun gemeinsam auf der Couch saßen.
* * *
Doch nun sollte das Kapitel Frankfurt bald beendet sein und sie würden wieder zurück in die sichere Heimat – in ihren Westerwald – ziehen. Anderthalb Jahre, sie waren sich darin einig, schienen in der Großstadt genug. Außerdem lag Hachenburg ja nicht irgendwo im Neverland, sondern so ziemlich im Zentrum Europas und als solches nicht weit von einigen Großstädten. Sollten sie mal wieder einen Samstagabend in Frankfurt verbringen wollen, um zum Beispiel in die Alte Oper, ins Theater oder zu einer Veranstaltung in der Festhalle zu gehen, würde dies maximal eine Fahrzeit von einer Stunde in Anspruch nehmen; schließlich war es nur der nervige Berufsverkehr, der die Fahrten zeitraubend gestaltete.
Nur gerade einmal fünfzig Minuten dauerte die Fahrt ins Bonner Theater oder in die Oper. Auch ein Abend in Köln, zum Beispiel zum Besuch der Philharmonie, war total easy; schließlich konnten sie von Au an der Sieg, dessen Bahnhof sie – nach ihrer Aktion im Zusammenhang mit ihrem Trip zum Eurodisney nach Paris – mittlerweile im Schlaf fanden, innerhalb von fünfzig Minuten den Kölner Hauptbahnhof erreichen. Da Au/Sieg zudem dem öffentlichen Nahverkehrsverbund Rhein-Sieg angehörte, waren in der Regel mit dem Kauf der Event-Tickets sogar die Bahnfahrten schon inklusive. Was will man mehr?
Aber auch das üppige und qualitativ bemerkenswerte Kulturprogramm in Hachenburg konnte sich mit so manch einer – selbst viel größeren – Stadt messen und ließ allzu häufige kulturelle Ausflüge in die großen Zentren obsolet erscheinen.
Vergleichbar mit dem Refrain des bekannten Liedes der Sylt-Fans, ‚Ich will zurück nach Westerland!‘, sangen die Lokalpatrioten Benjamin und Johanna – wie schon so oft – ihre ganz eigene Version des Songs:
„Ja, ich hab’ solche Sehnsucht,
ich verlier’ den Verstand,
ich will wieder an die Nister,
ich will zurück,
ich-will-zurück-
in den W e s t e r w a l d!“