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Bernd Hillebrand | Tübingen

geb. 1970, Dr. theol., Hochschulpfarrer, Coach und Supervisor

hillebrand@khg-tuebingen.de

Scheue Frömmigkeit

Da lädt der gläubige Muslim Navid Kermani in einer Feierstunde, bei der Überreichung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im letzten Herbst, die anwesenden Gäste zum Gebet ein. Und alle Anwesenden folgen dieser Einladung und erheben sich – zu stiller Meditation, zum Gebet und – wem dies nicht nahe liegt – eben zu einem säkularen Wünschen, dem Wünschen des Guten, für die bedrohten und verfolgten und verschleppten und ermordeten Christen in Syrien. An einem anderen, ebenfalls „weltlichen“ Schauplatz überrascht eine italienische Ordensfrau, Schwester Cristina Scuccia aus dem Orden der Ursulinen. 2014 gewinnt sie die italienische Gesangscastingshow The Voice of Italy und lädt am Ende alle Besucher ein, mit ihr ein Vater Unser zu beten. Nun mag der italienische Kontext noch eine relative Volksfrömmigkeit nahelegen, dennoch bleiben der Ort und der Zeitpunkt besonders exponiert.

Nach Kermanis Gebetseinladung wurde die Frage vielfach diskutiert: Wie öffentlich darf Religion sein? Gehört Beten nicht in den Privat- und Intimbereich? Und wie verhält sich die Forderung von Religionsfreiheit zur Forderung nach religionsfreiem Raum? Gerade durch die Zunahme von Muslimen in Deutschland, die häufig ihren Glauben aktiv und ausdrucksstark leben, stellen sich Christen die Frage, in welchem Modus sie ihren Glauben leben und über ihren Glauben Zeugnis geben. Bräuchte es also mehr Mut, über seinen Glauben zu sprechen, vom eigenen Glauben Zeugnis zu geben oder Glaubenssymbole, wie Kreuze oder einen Kollar, offen zu tragen?

Auf diese Fragen reagieren diverse Szenen christlicher Frömmigkeit v.a. auf zweierlei Weise. Die einen greifen offensive Ausdrucksformen aus dem freikirchlich-evangelikalen Spektrum auf und tragen bewusst christliche Bekenntnisse und Gebetsformen öffentlich nach außen. Sie füllen große Hallen bei Lobpreiskonzerten, vermitteln klare und einfache Glaubensformeln, bestärken sie durch persönliche Glaubenszeugnisse und erreichen ihr Publikum primär emotional. Die anderen sind zurückhaltender, wollen der Suche nach einem persönlichen Stil von Frömmigkeit Raum geben, betonen die Stille, öffnen feste Glaubensformeln und versuchen, dem tiefen Vertrauen aus dem Glauben durch diskrete Art und Weise Ausdruck zu geben. Es ist eine „scheue“ Form, die einlädt, zu kommen, aber auch wieder zu gehen. Und in dieser Begegnung kann es zu einer religiösen Erfahrung kommen, die tiefer nach dem Glauben fragt. Dieser zweite Ansatz ist diskreter als der erste und vertraut auf die Selbstgewissheit und die verschwiegene, geheimnisvolle Botschaft in jedem Menschen.

Dennoch bleibt eine gewisse Spannung zwischen den beiden Ansätzen des Sich-Zeigens und des Sich-Verbergens, von „Religion öffentlich“ und von „Religion privat“, von Bekenntnis und geheimem Gefühl. Genau aus dieser Polarität heraus entwickelt sich Scham. In beidem spielt das Gefühl eine zentrale Rolle. Und ich meine, dass hinter all den oben gestellten Fragen das oft verdeckte Verhältnis von Religion und Scham liegt.1 So soll in diesem Artikel zuerst das Phänomen Scham in einer zeitgeschichtlichen Perspektive zu Wort kommen. Daran wird sich die Frage nach einem „verschämten Christentum“ anschließen, das von einem „bekennenden Christentum“ angefragt wird und umgekehrt. Daraus entwickelt sich die Forderung nach einem sensiblen Umgang mit Scham im Kontext religiöser Praxis, also die Forderung nach einer „scheuen Frömmigkeit“, die in einem dialektischen Verhältnis von objektiv und subjektiv, von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen, von außen und innen steht. Das Beispiel scheuer Frömmigkeit in der Gemeinschaft von Taizé soll die Überlegungen abschließen.

Scham – zeitgeschichtlich

Über das Phänomen Scham wurde in den letzten Jahren fast inflationär geschrieben. Allerdings wurde sie meist mit dem Begriff der Peinlichkeit umschrieben. Über ihre mannigfaltigen Gesichter schreibt Martin Hecht in Psychologie heute: „Es gibt jene (Scham), die wir empfinden, wenn andere in unsere Intimsphäre eindringen oder wir versehentlich in ihre. Oder jene, die wir empfinden, wenn wir beim Lügen erwischt wurden oder anderen Unrecht getan haben. Und es gibt jene soziale Scham, die man heute meint, wenn man von peinlichen Situationen spricht. Sie steigt in uns auf, wenn uns bewusst wird, dass wir uns in einer bestimmten Situation nicht angemesssen verhalten haben, gleichgültig ob tatsächlich oder nur vermeintlich.“2 Scham bewegt sich am Limit zur Intimität und bei Überschreitung dieser Grenze wird es als unangenehm, als peinlich erlebt – und dies in doppeltem Sinne. Zum einen entsteht Angst, aufgrund des Fehlverhaltens ausgeschlossen zu werden und zum anderen macht sich ein Schuldgefühl breit, den anderen verletzt zu haben. Scham scheint sich aus zwei Urgefühlen zu nähren: „Schuld und Angst. Schuld regt sich, denn in jedem Peinlichkeitserlebenis rührt sich eine Stimme, die sagt: Das hätte dir nicht passieren dürfen! Angst kommt auf, deshalb die Achtung der anderen zu verlieren.“3 Man könnte also von einem moralischen und einem sozialen Gefühl sprechen, das die Scham auslöst. Beide Gefühle finden sich auch in der religiösen Praxis, wenn die Schamgrenze überschritten wird.

Scham ist ein Phänomen, das wieder stärker ins Bewusstsein rückt. Kristian Fechtner beschreibt es als „Gefühlssignatur der spätmodernen Kultur“4. Nach einer kulturkritischen Analyse der letzten Jahre des fortschreitenden Schamverlusts und medialer Schamlosigkeit wird sie wieder bedeutsamer. Man muss eingestehen, dass trotz der Parolen: „Du sollst dich nicht schämen müssen!“ keiner der Peinlichkeit entgeht. In Fernsehsendungen werden diejenigen, die sich über die Schamgrenze hinaus bloßstellen, nochmals bloßgestellt. Dahinter verbirgt sich offensichtlich ein verletztes Selbstwertgefühl, ferner die Not mit der eigenen Lebensgeschichte umzugehen und die Sehnsucht, man selbst sein zu dürfen. Scheinbare Schamlosigkeit bewegt sich also keineswegs in einer schamfreien Zone.

Der Psychoanalytiker Léon Wurmser spricht von einer „Maske der Scham“5: „Schamaffekte tarnen sich gleichsam in ‚schamabwehrenden Deckaffekten‘, sei es im Trotz, im Spott oder sogar im Stolz, mithin im Gegenteil dessen, was als Scham erlebt wird.“6 So kann sich paradoxerweise hinter aggressiv zur Schau gestellter Schamlosigkeit ein Moment von Schamangst verbergen: „Die Angst, beschämt zu werden, wird gleichsam offensiv gewendet.“7

In gleicher Weise definiert der Soziologe Norbert Elias im Gegenzug zur heute verbreiteten Vorstellung, Scham schwinde in der historischen Entwicklung mehr und mehr, Schamgefühle als „verinnerlichte Zwänge der Selbstkontrolle, mittels derer die Individuen lernen, ihre Affekte zu zügeln und damit zu verbergen. Sie setzen voraus, dass sich (…) eine Sphäre der Intimität ausgebildet hat, die durch Schamgrenzen gesichert wird.“8 Schamgefühle sichern also Intimität, auch wenn sich die Schamgrenzen verschoben haben, gerade im körperlichen Bereich.

Diese zeitgeschichtliche Analyse von Schamgefühlen hebt heraus, dass Scham ein komplexes Gebilde ist, das manchmal verdeckt und manchmal offensichtlich ist. Gerade wenn sie verloren scheint, mag es lohnenswert sein, die verschobene Schamgrenze zu identifizieren.

Bleibt das Schamgefühl in der religiösen Praxis unbeachtet, führt es zu Entfremdung, zu Exklusion und Widerstand. Gerade Religion ist etwas sehr Persönliches, das mit Scham behaftet ist, beispielsweise die innere Frage, ob ich gläubig genug bin oder ob ich zu fromm wirke. Diese Fragen mag der eine oder andere unbewusst fühlen, jedenfalls werden sie selten thematisiert. Religiöse Äußerungen und christliche Glaubensvorstellungen kommen in der alltäglichen Kommunikation, zumindest im europäischen Raum, kaum vor. Glaube ist gar ein Tabu. Gibt es also ein verschämtes Christentum, dem dezidiert bekennende Christen, wie Freikirchen und Charismatiker, bewusst entgegen wirken möchten?

Verschämtes Christentum

Meist weiß man nicht, wie Kolleg(inn)en am Arbeitsplatz oder Freunde im Sportverein ihrem Glaubensleben Ausdruck geben, ob sie ab und zu beten oder in der Bibel lesen. „Der Verzicht darauf, religiös in persönlicher Weise zu kommunizieren, ist mehr als eine kulturelle Konvention, der man als gesellschaftlicher Regel folgt. Er ist auch mit der Empfindung gefüttert, dass Religion etwas vom Innersten einer Person offenbaren kann, mithin etwas von ihr zeigen würde, das nicht nach außen gehört.“9 Religion hat jedenfalls etwas mit Emotion zu tun und mit etwas sehr Persönlichem, das im Zusammenhang mit einer Schamgrenze steht.

Die Vorstellung von einem verschämten oder distanzierten Christentum kommt v.a. in Bezug auf distanzierte Kirchlichkeit zur Sprache. Besonders suchende Menschen, die sich noch nicht ganz mit der Kirche und ihrem Glauben identifizieren wollen, empfänden es als unangenehm, wenn sie mit denen verwechselt würden, „die ihre Religiosität so exponiert leben, wie die kleine Schar derjenigen, die sonntags zum Gottesdienst kommen“10. Allerdings stellt Fechtner heraus, dass es sich bei distanzierter Kirchlichkeit nicht nur um einen kirchentheoretischen Aspekt handelt, sondern dass die religionspsychologische Perspektive die Innenseite der Medaille ist – nämlich eine emotionale.11 Sich von einem kirchlichen Teilnahmeverhalten zu distanzieren ist eine innere Abgrenzung in der persönlichen Identitätsbildung. Als kirchlich Distanzierte(r) greift man punktuell in außergewöhnlichen Situationen des Lebens auf Kirche zu und braucht ansonsten Kirche oder einen Gottesdienst nicht. Die innere Scham besteht darin, dass man nicht als kirchlich Bedürftige(r) identifiziert werden möchte, sondern die emotionale Distanz als innere Intimität empfindet. „Distanzierte Kirchlichkeit erscheint als eine Form des Christentums, das in den Grenzen der Scham gelebt wird.“12

Mit dieser Definition vom „distanzierten Christentum“ soll nun der Begriff der „scheuen Frömmigkeit“ von Thomas Halik in Verbindung gebracht werden.13 Halik beschreibt damit eine Form der Spiritualität, die Glaube und Kirche v.a. aus der Distanz beobachtet, die noch nach einem eigenen Stil der Frömmigkeit sucht und die sich noch vorrangig im Modus des Fragens befindet. Er vergleicht diese Menschen scheuer Frömmigkeit mit Zachäus, der sich neugierig, aber aus der Distanz Jesus nähert und nach der Begegnung mit ihm, nicht zwingend zu seinem Jünger, zu einem gläubigen Mensch wird. Diese Menschen möchten sich in ihrer Frömmigkeit nicht zeigen, Religion halten sie für privat. Die Öffentlichkeit als religiöses Forum würde in ihnen emotionale Scham auslösen.

Dennoch ist es diesen Menschen möglich, sich religiös öffentlich zu zeigen, „wenn dies eingefasst wird in institutionelle Formen (…), auch wenn sie vielen Umstehenden eher fremd anmuten mögen. Aber diejenigen, die sich beteiligen, sind nicht ‚privat‘ unterwegs, sondern agieren in einer rituellen Rolle.“14 Bei einer Prozession oder bei einer Erstkommunion können sie sich durchaus religiös zeigen. Allerdings darf auch hier die Schamgrenze nicht überzogen werden. Eine zu aktive Beteiligung am liturgischen Geschehen würde ein Unwohlsein auslösen, das aus der Scham heraus eine innere Distanz und Blockade hervorrufen würde.

An dieser Stelle soll das Phänomen der „scheuen Frömmigkeit“ jedoch noch weiter gefasst werden. Nicht nur bei den Distanzierten oder den Suchenden oder den Neugierigen gibt es diese Scheu oder Nüchternheit, sondern gerade auch bei den tief Verwurzelten im Inneren der Kirche. Glaube ist mehr als katechetisches Wissen und bildet sich in der eigenen Subjektwerdung als persönliche Erfahrung, die gerade in ihrer Emotionalität nicht zu fassen ist, sondern in einer geheimnisvollen Distanz steht. Diese sehr persönliche Erfahrung des Glaubens, des Entdeckthabens des Heiligen, ist etwas emotional Zerbrechliches, das viele nicht vor sich hertragen und nur im geschützten Rahmen artikulieren möchten. Daher meine ich, dass verschämtes Christentum im Bezug auf eine „scheue Frömmigkeit“ einen geschützten Raum und Respekt in der religiösen Praxis braucht, um die religiöse Schamgrenze persönlich ziehen zu können. Kirchenräume bieten dazu häufig einen Entscheidungsspielraum, der Distanz für Scheue im Rückraum hinter Säulen oder Nähe exponiert in den vorderen Bänken bietet.

Im Gegensatz zu dieser „scheuen Frömmigkeit“ steht der biblische Missionsauftrag, Bekenntnis für den Glauben in aller Welt abzulegen und dieser Auftrag scheint ein Kontrast zu dem persönlich Heiligen zu sein, das nach einem Schutzraum ruft. Lässt sich im Rahmen des Missionsauftrags die „scheue Frömmigkeit“ halten oder braucht es zu einem verschämten Christentum auch ein bekennendes Christentum und in welcher Beziehung könnten sie zueinander stehen?

Bekennendes Christentum

Zweifellos kann der Glaube auch implizit bezeugt werden, indem das eigene Leben ihn erfahrbar macht und ihn so bezeugt. Im Zeugnis wird Glaube kommuniziert und bekannt. Der Glaube wird nach außen hin bekannt gemacht – im Sinne eines Zeugen. Ein implizites Zeugnis kann dann dazu führen, dass man zum Bekenntnis herausgefordert wird und dafür Zeugnis ablegt. Deutlicher als das implizite Zeugnis ist das Bekenntnis, durch das der Glaube nachdrücklich bezeugt wird. Bekennen meint eingestehen und zugeben. Das Bekenntnis ist unmissverständlich. Im Mittelalter wurde der Begriff „bekennen“ im Sinne von „bekanntmachen“ genutzt. Bekennendes Christentum meint hier das explizite Zeugnis und Bekanntmachen des Glaubens.

Diesem Auftrag fühlen sich v.a. viele Freikirchen, charismatische Erneuerungsgruppen und neue geistliche Bewegungen verpflichtet. Dabei spielt das persönliche Zeugnis eine wichtige Rolle, das vor einer großen Gruppe in der Öffentlichkeit preisgegeben wird. Das Zeugnis erzählt meist von einer persönlichen Glaubenserfahrung, die das Leben des Gläubigen verändert hat. Ein weiteres Kennzeichen ist das öffentliche, freie Gebet, das normalerweise an Christus gerichtet ist. Markant schließlich ist die emotionale Musik der Lobpreislieder, dem Worship. Die Lieder sind sehr eingängig, gehen unter die Haut und beinhalten kurze, klare Glaubensbotschaften. Diese Art der Frömmigkeit zieht Menschen aus einem großen Umkreis zusammen. Die Antworten auf Fragen des Lebens und des Glaubens sind meist sehr kompakt und in ihrer Komplexität vereinfacht.

Dadurch entsteht allerdings die Gefahr, eine Glaubensdialektik von Gottesnähe und Gottesferne, von Glaube und Zweifel aufzulösen; und eine zweite Gefahr: Das Glaubenszeugnis führt oft zu einer dualistischen Exklusion. Die einen haben Jesus für ihr Leben entdeckt und sind gerettet. Die anderen stehen außerhalb des Glaubens und verspielen anscheinend ihr Leben, ihre Rettung durch Jesus. Ihnen wird allerdings die Hoffnung gemacht, dass durch Gebet und Bibellektüre, also durch spirituelle Übungen, auch sie noch im Glauben wachsen können. Damit wird die Liebe Jesu von ihrer spirituellen Leistung und ihrem Bekenntnis abhängig gemacht. Gnadentheologisch ist dieser Aspekt bedenklich, da die Bibel Gott unterstellt, „dass er mit Gewalt und Zwang nichts bei den Menschen erreichen kann. Bis dass er in der Perspektive des leidenden Gottesknechtes bzw. des Jesus am Kreuz völlig auf jede Art von zwingender Herrschaft verzichtet, um so den Menschen etwas zu schenken, was sie zwischenmenschlich in dieser radikalen Bedingungslosigkeit kaum erfahren können.“15

Expressives Bekenntnis steht in der Versuchung, Zweifler, Suchende und Fragende zu exkludieren, da ihre Frömmigkeit noch zu scheu ist, sie in ihrem Glauben noch nicht genug gefestigt sind oder noch nicht die entsprechende Leistung bringen. Der/Die Nicht-Gläubige fühlt sich angesichts des ungenügenden Glaubens verschämt. Bei ihm/ihr ist noch mehr verborgen als das, was er/sie von seinem/ihren Glauben zeigen möchte oder kann. Bekenntnis kann dann leicht mit Machbarkeit des Glaubens verwechselt werden, der durch entsprechendes Gebet und Lobpreis erreicht werden kann, aber gerade in seiner scheinbaren Machbarkeit Druck und Schamgefühle auslöst.

Aber auch der bekennende Christ selbst kommt unter Druck und tarnt eventuell eigenes Schamgefühl durch expressives Bekenntnis. Eigene Unzulänglichkeit und eigener Zweifel, die als Scham erlebt werden, da sie in diesem bekennenden Kontext nicht vorgesehen sind, stauen sich unter der Oberfläche. Neben der personalen Exklusion findet sich also noch ein weiterer prekärer Exklusionsbereich: die Leidexklusion. Im Lobpreis wird v.a. der Dank- und Lobaspekt der menschlichen Wirklichkeit abgebildet. Der Leid- und Theodizeeaspekt findet so gut wie keine Beachtung. Die Klageperspektive gerade jüdischer Tradition wird durch das Lob überblendet und somit ein Teil menschlicher Realität ausgeklammert. Auch diese Exklusion führt zu einem Schamgefühl. Denn durch die Ausblendung von Leid oder erlittenem Leid wird Gott mit dieser Seite nicht mehr in Beziehung gebracht, sondern Leid wird auf persönliche Schuld reduziert. Diese Reduktion unterdrückt eine Klageexpression und gibt dem/der Betroffenen das Gefühl nicht gläubig genug zu sein, bzw. mit Gott nicht mehr in Beziehung zu stehen. Diese Erfahrung wird dann oft als Scham erlebt.

Die große Versuchung expressiven Bekenntnisses ist die Exklusion von Nicht-Gläubigen und Gläubigen und darüber hinaus von Teilen der Lebenswirklichkeit. Die dialektische Spannung zwischen Glaube und Glaubensüberzeugung auf der einen Seite und der zweifelnden Lebenswirklichkeit auf der anderen Seite wird nicht standgehalten. Im Rekurs auf das verschämte Christentum stelle ich die Hypothese auf, dass Glaubenskommunikation oder religiöse Praxis im Allgemeinen zur Exklusion neigt, wenn eine Schamgrenze überschritten wird und die Spannung zwischen Sich-Zeigen und Sich-Verbergen nicht ausreichend Platz bekommt. Daher stellt sich am Ende nicht mehr die Frage, ob unsere Zeit ein verschämtes oder ein bekennendes Christentum braucht, sondern ob in der religiösen Praxis eine Schamgrenze in der Dialektik zwischen Sich-Zeigen und Sich-Verbergen als Intimitätsschutz des Glaubens ausreichend Raum findet. Scheue Frömmigkeit wäre dann ein Konstitutivum für beide.

Sensibler Umgang im Kontext religiöser Praxis

Ob sich Menschen in einer scheuen oder in einer bekennenden Frömmigkeit wohlfühlen, sie als ansprechend erfahren und dann auf sie zugreifen, wird auch von ihrem sensiblen Umgang mit der Schamgrenze der Menschen abhängen. Die Haltung einer scham-dialektischen Spannung wurde bereits angedeutet. Die Voraussetzung dafür könnte sein, dass Scham die Intimität schützt und behütet, wie die Philosophin K. Meyer-Drawe konstatiert. Dabei soll eine kurze Darstellung einer dreifachen Entfaltung von Scham hilfreich sein, um die dialektische Wendung einer scheuen Frömmigkeit bestimmen zu können: Scham drückt sich zum Ersten körperlich aus. Man ist der Scham also ausgesetzt und erleidet sie gleichsam. „Scham ist erstens ein negatives Selbstverhältnis. Sie entzündet sich daran, dass ich mich als schwach oder mangelhaft empfinde.“16 Scham ist zweitens als Selbstverhältnis immer ein Beziehungsgeschehen, gesehen zu werden und hoffentlich nicht gesehen zu werden. Durch Scham könnte ans Licht treten, was ich immer schon bin. „Scham entsteht demnach im sozialen Akt des Blickens und des Angesehenwerdens.“17 Durch Scham wird drittens eine private Sphäre geschaffen. In diesen Bereich haben andere keinen Zutritt: So will ich nicht gesehen werden, das will ich nicht von mir preisgeben. Insofern verbirgt sich in der Scham drittens ein unveräußerliches Wertgefühl. Scham äußert sich also immer in einer Doppelbewegung: „Sie ist ein Sich-Zeigen und ein Sich-Verbergen (…) Zwischen beiden Polen hat sich auch eine schamsensible Erkundung gegenwärtiger kirchlicher Praxis zu bewegen.“18

In der Beschreibung einer Doppelbewegung, in der sich Scham zeigt, wird eine religiöse Schamdialektik eröffnet, die eine neue und besondere Beachtung erfordert. In ihrer Grundbewegung findet sie sich in der Spannung, etwas von seinem Glauben zu zeigen, ihn aber auch zu verbergen, ihn nicht sagen zu können oder ihn geheimnisvoll zu erleben. Es ist die Dialektik von Bekenntnis und verschämtem Geheimnis, von objektivem Anspruch und subjektiver Demut, von außen und innen. Nur im Aushalten dieser dialektischen Spannung werden ein Glaubenszeugnis, Glaubenskommunikation und religiöse Praxis nicht übergriffig, abstoßend, sondern vielmehr authentisch erfahren werden. Ein solch sensibler Umgang möchte ich mit Halik eine scheue Frömmigkeit nennen, die diskret und nüchtern genug ist, um Schamgrenzen wahrzunehmen und sie in einer dialektischen Spannung zu halten. Sie ist gleichsam die Kehrseite der Schamdialektik.

Schwester Cristina Scuccia hat es offensichtlich bei The Voice of Italy geschafft, so meine ich, sensibel die Spannung zwischen Bekenntnis und gnadenoffenem Geheimnis zu halten.

Nach welchen Kriterien aber lässt sich eine scheue Frömmigkeit bestimmen und definieren? In aller Kürze soll eine semiotische Kriteriologie angedeutet werden, die beschreibt, wie es gelingen kann, eine Beziehung in dem beschriebenen Spannungsverhältnis herzustellen.

Ein kriteriologischer Schlüssel für eine scheue Frömmigkeit, die in einem Beziehungsverhältnis zwischen innen und außen steht, zwischen Bekennen und Verbergen, zwischen Anspruch und Demut, bietet der amerikanische Pragmatismus, speziell Charles Sanders Pierce. Pierce sucht nach einem Zeichen, das in einer Beziehung zum Innen und zum Außen steht, ohne dass das eine über dem anderen steht oder das eine sich im anderen auflöst. Das gesuchte Zeichen, die Ausdrucksform für eine scheue Frömmigkeit also, muss nach dieser Kriteriologie von Pierce eine Beziehung haben zum Sich-Zeigen und Sich-Verbergen, zum Bekenntnis und zum Geheimnis. Eine religiöse Feierform oder eine Artikulation von Frömmigkeit müssen somit beides aufweisen können: sie müssen so viel Bekenntnis zeigen, dass es die Schamgrenze im entsprechenden Kontext nicht überschreitet, also passt, und das Geheimnis muss so erkennbar sein, dass das Bekenntnis darin noch resoniert, also passt. Innen und außen, das Bekenntnis und das Geheimnis passen dann im Zeichen, in der passenden Ausdrucksform, zueinander.

Taizé als Beispiel einer scheuen Frömmigkeit

Ein Praxisbeispiel, dem es gelingt, mit Scham in der religiösen Praxis sensibel umzugehen, ist die Glaubensgemeinschaft von Taizé. Dieser Ort wird zum Zeichen, das die Schamdialektik von Bekennen und Verbergen in einer passenden Beziehung erlebbar macht. Es ist ein Ort scheuer Frömmigkeit, das die religiöse Schamgrenze nicht überschreitet.

Der ausgeprägt meditative Ansatz des Ortes und der Gebetszeiten in Taizé ist ein Erfolgsrezept, das seit über 50 Jahren Menschen aller Altersschichten anspricht. Unterschiedliche Formen von Frömmigkeit können sich in der Taizéspiritualität wiederfinden. Es gibt die Möglichkeit der eucharistischen Anbetung oder der Kreuzverehrung, des meditativen Gebetes oder der Eucharistiefeier, des Mitsingens oder des Mithörens, des Bibel- und Glaubensgesprächs oder des Schweigens. Allein diese Formen ermöglichen mal ein stärkeres Bekennen und dann wieder ein stärkeres Verbergen. Offenbar gelingt es an diesem Ort, eine gute Balance zwischen objektiv und subjektiv, zwischen Sich-Zeigen und Sich-Verbergen zu schaffen, ohne die religiöse Schamgrenze zu überschreiten, ohne religiös übergriffig zu werden. Taizé ist wohl ein Zeichen der Zeit, das in einer lebendigen Beziehungskonstellation zur persönlichen Religiosität im Innen und dem Angebot, dem Raum im Außen ermöglicht.

Diese Spannung zu halten gelingt sowohl bei den Gebetszeiten als auch bei den Bibeltreffen. Durch eine Elementarisierung von Gebet und Lied schafft die Taizéliturgie einen offenen Raum, in dem jede(r) sich aktiver oder weniger aktiv, bekennender oder verschämter einbringen kann. Man kann weiter vorne in der Kirche oder weiter hinten sitzen, man kann schweigen oder mitbeten, die Augen öffnen oder schließen. Es gibt Möglichkeiten zu Symbolhandlungen, die aber nicht verpflichtend sind und die auch keine Exklusion nach sich ziehen. Beispielsweise kann man freitags zur Kreuzverehrung zum Kreuz gehen, es berühren oder den Kopf darauf legen. Oder in der samstäglichen Auferstehungsfeier werden Kerzen verteilt, die später entzündet werden, in absoluter Freiwilligkeit.

Auch bei den Bibelgesprächen ist es möglich, sich einzubringen oder auch nicht. Es gibt sogar Ausweichräume an einem benachbarten See oder in der Kirche. Sowohl in den aktiven bekennenden Katechesen durch die Brüder als auch in den Gebetszeiten ist eine scheue Frömmigkeit zu finden, die eher zurückhaltend ist und sich nicht aufdrängt. Der Ort ist von einer gläubigen Selbstgewissheit tiefen Vertrauens geprägt, der die religiöse Schamgrenze jederzeit einhält. Diese Selbstgewissheit wird dort stärker gelebt als verbal zum Ausdruck gebracht.

Simone Weil bringt in einem Gedicht zur Auferstehungshoffnung auf den Punkt, was mit scheuer Frömmigkeit gemeint ist: „Als die Pforte sich auftat, ließ sie so große Stille hindurch, // Dass kein Garten erschien und auch keine Blume;/ Nur der unendliche Raum aus Leere und Licht.“19 Scheue Frömmigkeit braucht also die Dialektik aus beidem: aus Leere und Licht.

1 Mit diesem Beziehungszusammenhang setzt sich erstmals K. Fechtner auseinander, auf den ich mich im Folgenden immer wieder beziehen werde, vgl. ders., Diskretes Christentum. Religion und Scham. Gütersloh 2015.

2 M. Hecht, Oh, ist das peinlich!, in: Psychologie heute 02/2009, 1.

3 Ebd., 1.

4 K. Fechtner, Diskretes Christentum, 18 [s. Anm. 1].

5 L. Wurmser, Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Eschborn 2010, 305.

6 Ebd.

7 K. Fechtner, Diskretes Christentum, 22 [s. Anm. 1].

8 Ebd., 23.

9 Ebd., 25.

10 Ebd., 27.

11 Vgl. ebd., 27f.

12 Ebd., 28.

13 Vgl. T. Halik, Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute. Freiburg i.Br. u.a. 720 1 4, 90ff.

14 K. Fechtner, Diskretes Christentum, 30 [s. Anm. 1].

15 O. Fuchs, Gewaltanfälligkeiten im Gottesglauben. Einige Aspekte zur Ent-Zwingung des Glaubens, in: ThQ 191 (2011), 258.

16 Ebd., 44.

17 Ebd., 46.

18 Ebd., 48.

19 S. Weil, Cahiers. Aufzeichnungen. München 1991.

Geist & Leben 3/2016

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